Martina Meuth
Bernd Neuner-Duttenhofer

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Auf der Suche nach dem
verlorenen Geschmack

Vom Glück kulinarischer Entdeckungen

BASTEI ENTERTAINMENT

  1. Wie Sie auf den Geschmack kommen
    Warum Essen und Trinken die Grundlage für unser Dasein sind und eine täglich zu erbringende Kulturleistung. Weshalb es so wichtig ist, sich ständig damit zu beschäftigen. Und welches Vergnügen das machen kann.
  2. A
    1. Artischocken brauchen Stiel
      Wie man das feine, bittere, köstliche Gemüse aussucht, was man damit machen kann und wie es am besten schmeckt.
    2. Nachtschatten über Auberginen
      Wieso es fast nur noch Einheitsfrüchte gibt, warum man sich jedoch damit nicht zufriedengeben muss und ein paar Lieblingsrezepte dafür.
  3. B
    1. Balsamico – die edle Rarität und ihre Karriere als »Essig«
      Wie es möglich war, dass eine Kostbarkeit so ordinär werden konnte. Warum es auf ein kleines Wörtchen ankommt. Und wie man Balsamico am besten einsetzt.
    2. Kann Bratwurst eine Delikatesse sein?
      Warum manche Bratwurst so delikat wie carne cruda im Piemont ist und simple Ravioli eine preiswürdige Offenbarung sein können.
    3. Unser täglich Brot …
      Vom Unterschied zwischen gutem und schlechtem Brot. Und warum Brotbacken eine Kunst ist, die leider nicht jeder beherrscht.
  4. D
    1. Das Dorschwunder
      Warum wir guten Gewissens wieder Kabeljau aus der Ostsee essen dürfen. Und wieso es schade ist, wenn man Angst vor Gräten hat.
  5. E
    1. Ein Ei ist ein Ei ist ein Ei?
      Warum ein Ei eigentlich eine Kostbarkeit ist und wir endlich dem Huhn dafür dankbar sein und ihm adäquate Lebensbedingungen zugestehen müssen.
    2. Vom Egli und anderen Fischen aus der Fremde
      Warum man im Restaurant genauer nachfragen sollte, woher der Fisch stammt, und warum es immer besser ist, ihn im Ganzen statt als Filet zu bestellen.
    3. Ernährungsempfehlungen von gestern
      Warum man nicht irgendwelchen Regeln folgen, sondern lieber auf sein eigenes (Hunger-) Gefühl achten sollte.
  6. F
    1. Gute Fertiggerichte – gibt es die überhaupt?
      Weshalb jeder, der nicht selbst kochen will, auf mehr als das Bio-Zeichen achten muss. Und warum immer nur das herauskommt, was man hineingetan hat.
    2. Fisch pur – auf Mallorca und Ibiza
      Wo und wie man das größtmögliche Fischvergnügen erleben kann. Und warum das Einfache einfach das Beste ist.
    3. Die lebende Forelle
      Warum die Forelle einmal eine exquisite Rarität war und der wahre Forellengenuss heute immer noch selten und kostbar ist.
  7. G
    1. Ein köstliches Krabbentier: die venezianische granseola
      Von einem Meeresgetier, das im Restaurant eine teure Delikatesse ist. Und wenn man es selber zubereitet, kaum etwas kostet.
    2. Wofür man ganz besonders schwärmt: Gulasch
      Vom Charme klassischer Schmorgerichte und von den vielen Wegen, die nach Rom beziehungsweise zum perfekten Gulasch führen.
  8. H
    1. Das arme Huhn
      Warum das Huhn bei uns ein armes Schwein ist, wir das nicht zulassen dürfen, es ihm aber nichts nutzt, wenn wir aufhören es zu essen.
    2. Hunger
      Wie wir mit wenig Aufwand einen stattlichen Beitrag gegen den Hunger in den Entwicklungsländern leisten könnten.
    3. Zu viel Hygiene
      Warum Keimfreiheit gar nicht wünschenswert ist und zu viel Sauberkeit sogar tödlich sein kann. Und wieso die Größe des Betriebs dafür wichtig ist.
  9. I
    1. Innereien? Delikat!
      Von den inneren Werten unserer Schlacht- und Jagdtiere. Warum wir sie unbedingt wertschätzen sollten. Und warum wir manchmal für den bizarren EU-Rechts-Irrsinn dankbar sind.
  10. K
    1. Vom Kalb am liebsten die Bäckchen!
      Warum einige Gustostückerl verboten sind und wie man sich trotzdem darüber hinwegsetzen kann.
    2. Kochen mit Kindern statt Kochen für Kinder
      Warum man für Kinder nicht anders kochen muss. Aber warum es so wichtig ist, mit ihnen und für sie zu kochen und mit ihnen zu essen!
    3. Knoblauch & Zwiebel – nicht gesellschaftsfähig?
      Zur Frage, ob kräftige Düfte tatsächlich unzumutbar sind und man Angestellten vorschreiben kann, was sie essen.
    4. Vom Kompilieren und Komponieren
      Warum man mit Hochstapeln nicht weiterkommt. Und von den verschlungenen Irrwegen in der modernen Gastronomie.
    5. Ein Hoch auf frischen Kopfsalat
      Vom Luxus frischer Zutaten. Warum man Salat nicht schleudern muss. Und wieso das »Kochen« mit Kräutern ein Vergnügen ist.
  11. L
    1. Landwirtschaft: Bio contra konventionell
      Warum man die konventionelle Landwirtschaft nicht verteufeln darf. Und Bio allein kein Qualitätsmerkmal ist. Was vielmehr sonst die Kriterien dafür sind.
  12. M
    1. Wer rettet das Mittagessen?
      Warum man sich zum Essen Zeit nehmen und Muße gönnen sollte. Und damit sogar die Gastronomie retten kann. Ein überragendes Beispiel aus Baden.
    2. Vorratshaltung und Mindesthaltbarkeit
      Von der einstmals verantwortungsvollen Arbeit in Keller und Vorratsraum und wer sie heute macht. Und warum die Mindesthaltbarkeit ein irreführender Begriff ist.
    3. Miese Muschelgeschäfte
      Warum Miesmuscheln ganz und gar nicht mies sind, und wieso es trotzdem nicht leicht ist, gute Qualität zu finden. Außerdem: Wie man sie am besten zubereitet.
  13. N
    1. Niedertemperaturgaren – nicht nur ein Unwort!
      Wie eine gute und richtige Garmethode erst vergessen, dann verhunzt und übertrieben wurde. Und wie sie wieder aufersteht!
    2. Die delikaten Nordseekrabben
      Von ihren absurden Reisen durch Europa. Über menschlichen Erfindergeist und wieso Thunfischfangquoten auch sie treffen.
  14. O
    1. Mythos Olivenöl
      Warum es so wichtig ist, gut darüber Bescheid zu wissen. Wie man Olivenöl beurteilt, einschätzt und in der Küche einsetzen kann.
  15. P
    1. Wo der Pfeffer wächst
      Warum man auch bei Gewürzen darauf achten muss, woher sie kommen. Wieso das Teure eigentlich das Billigere ist und weniger immer mehr.
  16. Q
    1. Qualitätswein für Aldi
      Der Beweis, dass sich Qualität auch im Massenmarkt durchsetzt. Und dass, wenn viele sich zusammentun, sie miteinander Großes schaffen können.
  17. R
    1. Vom Rind: Bio-Fleisch und Knochenreife
      Warum es so wichtig ist, seinem Metzger vertrauen zu können. Und manchmal Bio drin ist, obwohl es gar nicht draufsteht.
    2. »Restaurant 181« – ein intelligentes Restaurantkonzept
      Wie Traditionen und Innovationen zueinanderpassen. Und wie fast Unmögliches möglich wird: ein Ausflugsrestaurant mit Spitzenküche.
  18. S
    1. Schwarzwälder Schinken aus der Scheinidylle
      Was man wissen muss, damit man die Lügen, die der Gesetzgeber erlaubt, durchschauen und ordentliche Produkte finden kann.
    2. Weingenuss statt Sauferei
      Warum schon Kinder den Umgang mit Wein lernen müssen. Und wieso diese Erfahrung sie auch vor anderen Drogen schützt.
    3. Wer gibt seinen Senf dazu?
      Wozu man Senf braucht. Und warum die Vielfalt von Geschmäckern hier weniger wichtig ist als die Qualität der Grundzutaten.
    4. Der Sommelier
      Warum der Gast im Restaurant froh sein müsste, wenn es ihn gibt, und ruhig seinem Rat folgen sollte. Und Tipps, wie er ihn herausfordern kann.
    5. Supermarkt: Architektur oder Schuhschachtel
      Wie Unternehmen sich darstellen, und warum schon der äußere Eindruck auf die Qualität der Produkte schließen lässt.
  19. T
    1. Sushi & Thun
      Warum Sushi kein Fast Food ist, wir den Roten Thunfisch unbedingt schonen müssen und dabei ganz neue Möglichkeiten entdecken können.
  20. V
    1. Vegan, vegetarisch oder Tiere essen?
      Warum es keinem Tier hilft, wenn wir alle Veganer sind. Und die Frage, wieso Vegetarier nicht gerne gutes Gemüse essen.
  21. W
    1. Spätburgunder, weiß gekeltert
      Warum ein Wein, der eigentlich rot wäre, weiß ist und tatsächlich die Eigenschaften beider Weinarten in sich trägt – und wie viel Vergnügen das machen kann.
  22. Z
    1. Keine Zeit zum Kochen
      Warum es Spaß macht, sich die Zeit zu nehmen. Und wie man trotzdem was Gutes auf den Tisch bringt, wenn man wirklich keine hat.
    2. Zen Mallorquin
      Vom Luxus der Ruhe. Von einem Ort, der Labsal ist für Augen, Herz und Gaumen, Ferien für Leib und Seele. Und das auf Mallorca!
    3. Zucchini, Zwiebeln und andere Gemüse
      Von Gemüse, dem man seinen Geschmack erst weg- und dann wieder angezüchtet hat. Und warum das letztlich mitunter gar nicht so schlecht ist.
  23. Verzeichnis der Rezepte
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Wie Sie auf den Geschmack kommen

Warum Essen und Trinken die Grundlage für unser Dasein sind und eine täglich zu erbringende Kulturleistung.
Weshalb es so wichtig ist, sich ständig damit zu beschäftigen.
Und welches Vergnügen das machen kann.

Das Thema Essen und Trinken liegt immer wieder und immer mehr im Trend, davon zeugt nicht nur die wachsende Zahl der Kochshows im Fernsehen. Wie rege das Interesse ist, beweisen auch andere Entwicklungen: die Vielzahl neuer Zeitschriften zu dem Thema, ein weiterhin boomender Kochbuchmarkt, eine sich ständig ausweitende Gastronomie – weil die Menschen immer weniger selber kochen – und nicht zuletzt neue Formen kulinarischer Erlebniswelten. Man könnte meinen, dass das Essen und Trinken in unserer Gesellschaft den gebührenden Stellenwert hat.

Allerdings werden daraus, wie wir finden, keine Konsequenzen gezogen. Die Gründe? Eine merkwürdige Verklemmtheit und das Desinteresse der Meinungsführer zum einen, der mangelnde Mut zum Eingeständnis, dass man zu Hause durchaus gerne etwas unbescheidener genießt, als es die öffentliche Meinung zu verlangen scheint, zum anderen. Aber auch die Angst, für oberflächlich gehalten zu werden, wenn man sich in Küchenfragen als versiert erweist.

Dabei sind Essen und Trinken die Grundlage unseres Lebens. Unser Körper braucht regelmäßig neue Energie. Wir könnten nicht leben, nicht gehen, nicht stehen, nicht arbeiten – nicht sein, wenn wir ihn nicht ständig mit den nötigen Kalorien, Nährstoffen und Mineralien versorgen würden. Wir tun das, indem wir essen und trinken, jeden Tag.

Essen ist für uns jedoch – das unterscheidet uns von den Tieren und Pflanzen – nicht allein eine Sache der Brennstoffzufuhr, dient nicht nur der Erhaltung und Erneuerung unserer Kräfte. Es ist vielmehr der Motor, der uns Menschen antreibt, das Band, das unsere Welt zusammenhält, die Basis unserer Kultur – dieses Wort, das Lebensart, Künste, Sport und Spiel umfasst, leitet sich schließlich ab vom römischen Wort für die Bodenbearbeitung zur Nahrungsgewinnung. Weil wir essen und trinken, betreiben wir Landwirtschaft und Handel, erzeugen Produkte und erbringen Dienstleistungen. Um zu essen und zu trinken wurden Erfindungen gemacht, der Erdkreis erforscht, man hat deshalb Kriege geführt und Frieden darüber geschlossen.

Und trotzdem gilt bei uns alles, was mit Essen und Trinken zu tun hat, als eher unwichtig, als zweitrangig, zu vernachlässigen, gehört eher zum Bauch als in den Kopf: ist nicht maßgeblich, wenn es um entscheidende Fragen des Daseins geht. Vor allem ein großer Teil der Intellektuellen, auch viele der Meinungsführer in den Medien, misst der Esskultur nur eine nachrangige Bedeutung zu. In diesen Kreisen beschäftigt man sich mit ernsthaften Dingen – und die sind nach Meinung dieser Leute gewiss nicht im kulinarischen Bereich angesiedelt.

Freilich ist auch dort mitunter Genuss angesagt, das wird nachsichtig lächelnd zugestanden – man gönnt sich ja sonst nichts. Doch am Ende wird das Thema wegwerfend als hedonistisch abgetan, und sobald sich Ansprüche daran knüpfen und etwa Qualität gefordert wird, als elitär. Hauptsache satt, heißt es dann, ist doch egal, wie’s schmeckt, es gibt Wichtigeres!

Zwar erregt die Belastung unserer Umwelt und die Ausbeutung der Ressourcen durch eine exzessiv betriebene Landwirtschaft immer wieder einmal die Gemüter, vor allem wenn gerade mal wieder zu viel Dioxin in Eiern gemessen, BSE im Fleisch oder gepanschte Futtermittel entdeckt wurden. Aber nach kurzer Zeit legt sich die Aufregung wieder, und man wendet sich den »wirklich wichtigen« Dingen zu.

Es mangelt an der Erkenntnis, wie innig hier die Rädchen ineinandergreifen, wie zwingend Genuss und Notwendigkeit zusammengehören. Denn nur in dieser Verbindung kann man die Menschen dazu bewegen, sich richtig zu ernähren! Und wie dringend nötig das ist, lässt sich an den katastrophalen Zahlen unserer Krankenversicherer ablesen, die eine deutliche Sprache sprechen – der Zusammenhang zwischen falscher, um nicht zu sagen, schlechter Ernährung und erschreckenden Krankenzahlen ist natürlich nicht unbekannt. Wenn man allein die ernährungsbedingten Krankheiten abziehen könnte – Krankheiten, an denen wir Menschen selbst schuld sind, aus Unwissen oder Desinteresse, nur weil wir Dinge essen, die uns dick und krank machen –, dann hätten die Krankenkassen kein Problem mehr.

Das ließe sich recht einfach, relativ rasch und ziemlich grundlegend ändern, wenn bereits im Kindergarten dem Nachwuchs ein Gefühl dafür vermittelt würde, wie wichtig das Thema Essen und Trinken ist. Man müsste die Kinder miteinander frühstücken und zu Mittag essen, die Mahlzeiten gemeinsam zubereiten, zusammen am Tisch sitzen lassen und so von klein auf lernen, ganz selbstverständlich Rücksicht aufeinander zu nehmen, Gemeinschaftssinn und nicht zuletzt Manieren einzuüben. Mit zunehmendem Alter könnten sie dann die kulinarischen Zusammenhänge entdecken, spätestens in der Schule, wie die Lebensmittel entstehen, in den höheren Klassen auch, wie sehr Essen und Trinken unser Leben und die Weltläufe bestimmen und beeinflussen. Und damit wären sie nicht nur in der Lage, dem Thema den Stellenwert beizumessen, den es verdient, sondern auch zu erkennen, welches Vergnügen es macht, wenn man sich damit beschäftigt. Immer wieder aufs Neue der Frage nachzugehen, woher unsere Lebensmittel kommen, wie sehr Qualität und Geschmack davon abhängen, wie und von wem sie erzeugt werden, und letztlich natürlich auch, wie sie zubereitet werden. Wir glauben an das Motto: Mehr Wissen schafft mehr Genuss.

In unserem Buch »Wo die glücklichen Hühner wohnen« (im Herbst 2008 bei Lübbe erschienen) haben wir die Qualität unserer Lebensmittel aufs Korn genommen und unsere Erkenntnisse beschrieben. Damit wollten wir Orientierungshilfen für den Einkauf liefern und Argumente fürs Gespräch mit den Produzenten oder Händlern.

Das vorliegende Buch ist in unseren Augen eine Fortsetzung. Indem wir einzelne Themen herausgreifen, uns bestimmte Produkte vorknöpfen, unsere Erfahrungen einbringen und Erlebnisse schildern, möchten wir den Blick auf Zusammenhänge lenken, die die Sinne schärfen, das Bewusstsein erweitern und Verständnis wecken. Und zwar losgelöst und völlig frei von weltanschaulichen Scheuklappen, ohne Eingrenzungen durch die ideologische Sicht eingleisig orientierter Weltbilder.

Die Welt ist groß und reich, und sie ist für alle da. Wir dürfen sie nutzen und genießen, aber behutsam, vorsichtig und mit Umsicht – so, dass sie wirklich für alle reicht, auch für unsere Nachkommen. Wir wollen erklären, warum wir es für wichtiger halten, unsere Landwirtschaft in Einklang mit der Natur zu betreiben, als mit einem Bio-Siegel ausgeschilderte Produkte um den halben Erdball zu schicken. Und warum es den Tieren nichts nützt, wenn wir sie nicht essen, wir vielmehr dafür zu sorgen haben, dass sie ein artgerechtes, anständiges – ja, warum nicht? – ein glückliches Leben führen. Und dass wir dann aber auch verpflichtet sind, alles zu nutzen, was sie uns schenken, nachdem wir ihnen das Leben genommen haben. Also auch jene Teile zu achten und wertzuschätzen, die zu verarbeiten und zuzubereiten womöglich Mühe macht und deren Zubereitung vielleicht auch nicht beim ersten Versuch von Erfolg gekrönt ist.

Wenn es uns gelingt, Sie mitzunehmen auf unsere Rundreise durch die Ernährungsthemen unserer Zeit, Ihr Verständnis dafür zu wecken, dass Essen und Trinken in unserem Leben die große Verpflichtung darstellen, auf der im Grunde alles basiert, wenn wir Ihnen Appetit darauf machen können, auch mal Unbekanntes, Fremdes, Neues zu erforschen, aber auch Ihren Blick zu schärfen für die ganz einfachen, alltäglichen Genüsse und Sie so das Glück miterleben, das uns unsere kulinarischen Entdeckungen bereiten – dann haben wir unser Ziel erreicht.

A

Artischocken brauchen Stiel

Wie man das feine, bittere, köstliche Gemüse aussucht, was man damit machen kann und wie es am besten schmeckt.

Mit Geduld und Stehvermögen hatten wir uns auf dem freitäglichen Wochenmarkt im ligurischen Imperia an die Spitze der Schlange vorgewartet. Endlich waren wir am Lastwagen angekommen, auf dem sich mannshoch Kisten türmten, vollgepackt mit Artischocken. Zwei Männer, jeder mit der typisch sizilianischen Schiebermütze über dem zerfurchten Gesicht, hatten alle Hände voll zu tun. Der eine hielt sein Messer hiebbereit, eine geradezu martialische Machete.

»Senza foglie, colle gambe?«, fragte er und trennte, wenn man nickte, mit harschem Schlag die Blätter ab. Dann packte der andere die jetzt mit ihrem gut 30 Zentimeter langen Stiel geradezu szeptergleichen, stacheligen Knospen in Tüten und steckte das Geld ein.

»Also, was jetzt, ohne Blätter, mit Stiel?«, wollte der Mann wissen.

»Was ist besser?«, fragten wir.

»Wollen Sie sie gleich essen oder noch aufbewahren?«

Ein bisschen erinnert uns diese Gegenfrage an die Tankstelle in der amerikanischen Pampa, wo das Mädel an der Kasse mit sicherem Griff die beiden Bierflaschen aus unserem Einkaufskorb gezogen und weit außerhalb unserer Reichweite deponiert hatte. Und auf unsere irritierte Frage, warum, unwillig ihren Kaugummi in die Backe schob und knatschte: »Heute ist Sonntag!« Der Zusammenhang erschien uns wenig einleuchtend, und erst später erkannten wir: Wir befanden uns in einem Staat, in dem man sonntags keine alkoholischen Getränke kaufen durfte – wer kommt denn auf so was?

An diesem Tag bekamen wir glücklicherweise eine Antwort auf unsere Rückfrage, ob das eine Rolle spiele, und lernten daraus, dass Artischocken sich aus ihrem Stiel versorgen können und viele Tage frisch bleiben, wenn der nur lang genug ist. Tatsächlich stellten wir später fest, dass ein im Gemüsefach vergessenes Exemplar noch nach drei Wochen besser aussah und knackiger geblieben war als die angeblich erntefrische Ware bei uns im heimischen Supermarkt. Und wir verstanden, warum die beiden Händler die Artischockenstiele nicht platzsparend gekürzt hatten, bevor sie sich auf die lange Reise von Sizilien nach Ligurien machten. Das muss man sich vorstellen, im 80-Kilometer-Tempo auf der Autobahn fast tausend Kilometer nach Imperia zum Wochenmarkt, wo sich die beiden ein besseres Geschäft versprechen konnten als daheim. Denn in Ligurien gibt es im Februar nicht genügend von den carciofi nostrani, den Artischocken aus der Region.

Tatsächlich waren diese weit gereisten Artischocken makellos, geradezu taufrisch, die Blätter knackig, die Stiele strack, als kämen sie direkt vom Feld. Und die Leute standen dafür Schlange.

»Außerdem kann man die Stiele essen!«, erklärte uns der mit dem Geldbeutel. »Es wäre dumm, sie wegzuwerfen!«

Jetzt mischten sich auch die Wartenden hinter uns ins Gespräch.

Artischocken: Ihr langer Stiel hält sie frisch.

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»Natürlich, ein Artischockenrisotto ohne Stiele hat viel zu wenig Artischockengeschmack!«, meinte die eine.

»Die Stiele nehme ich auch für meine Artischockencremesuppe mit Garnelen«, verkündete ihre Nachbarin.

Wir waren glücklich, dass wir kein Hotelzimmer, sondern eine Wohnung mit Küche gemietet hatten, und probierten gleich die verschiedenen Rezepte aus. Artischocken sind eines unserer Lieblingsgemüse, in jeder Form und jeglicher Zubereitung.

Carpaccio aus jungen Artischocken

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Besonders lieben wir die kleinen, ganz jungen, mädchenfaustgroßen Exemplare, die so zart sind, dass man sie roh essen kann. Man braucht nicht viel, pro Person je nach Größe eine bis zwei Artischocken und jeweils tropfen- bis teelöffelweise Olivenöl und Zitronensaft.

Dafür muss man die äußeren Blätter entfernen, das obere Drittel quer mit einem Messer kappen und Stiel sowie den Boden sorgsam schälen. Diese Artischockenherzen auf einem Gurken-, besser mit einem Trüffelhobel (ideal ist auch eine elektrische Aufschnittmaschine, aber an der mangelte es in der Ferienwohnung) dünn aufschneiden, am besten direkt auf den Teller. Wenn man zuvor Salz, Pfeffer und ein, zwei Esslöffel Olivenöl auf dem Teller verstreicht, werden die Artischockenscheibchen schon mal von unten gewürzt. Von oben muss man sofort mit Zitronensaft kommen, der verhindert, dass die leuchtend hell gelbgrünen Scheiben sich unschön braun verfärben. Jetzt auch von oben salzen, pfeffern und mit Olivenöl beträufeln. Es fehlt dann nur ein wenig fein gehackte glatte Petersilie – und ein herrlich bitterer, erfrischender Salat ist fertig. Man kann ihn so essen oder fix gebratene Hühnerlebern, Garnelen oder auch nur Roastbeef- oder Schinkenscheiben dekorativ darauf anrichten und hat im Handumdrehen eine elegante Vorspeise.

Für zwei Personen:

2 – 4 junge Artischocken

Olivenöl

Salz

Pfeffer

Zitronensaft

glatte Petersilie, fein gehackt

Frittierte Artischockenscheiben mit neonati

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Bei Caterina Lanteri, der wunderbaren Köchin in ihrem plüschigen Restaurant »San Giorgio« in Cervo, hoch überm Meer, in den schmalen Gassen hinter der Chiesa di San Giovanni Battista mit der blendenden Barockfassade versteckt, gibt es um diese Jahreszeit, wenn man Glück hat, eine hübsche Portion neonati dazu. Das sind jene stecknadelkleinen Fischchen, die man einfach im Sieb kurz in siedendes Meerwasser taucht, gut abtropft und dann mit dem Saft und etwas abgeriebener Schale der herrlichen ligurischen Gartenzitronen, die hier überall prächtig gedeihen, sowie mit jungem, gerade gepresstem Olivenöl würzt. Das Krokante der Artischockenscheibchen mit der Sanftheit der warmen Fischchen, dazu der Duft vom frischen Öl – eine unwiderstehliche Kombination!

Der Augenstern der Venetianer

Die kleinsten und feinsten Artischocken sind die castraure (castrauhre gesprochen) – so nennt man in Venetien die allererste Artischocke, die eine Pflanze produziert. Sie muss entfernt werden, damit sich die Pflanze an dieser Schnittstelle verzweigt und mehrere neue Triebe bildet, an denen dann weitere Artischocken wachsen. (Vielleicht bezieht sich der Begriff tatsächlich aufs Kastrieren?) Diese allererste, pro Stock einzige Artischocke galt von jeher als begehrenswerte Delikatesse. Nicht nur weil sie so rar war, sondern wegen ihrer ausgeprägt bitteren Würze und gleichzeitigen Zartheit.

In Venedig betreibt man damit geradezu Kult. Traditionell kamen die castraure von der Garteninsel Sant’Erasmo, die die Lagunenstadt schon seit alters mit Gemüse versorgt. Die dort heimische Sorte, die violetten castraure di Sant’ Erasmo, wurde inzwischen sogar als »Presìdio« von Slow Food anerkannt, als schützenswerte traditionelle Varietät. Und es kümmert sich ein Consortium um ihre Pflege und ihren Erhalt.

Man erkennt die castraura an ihrer typischen hellen Farbe, die sie behält, weil sie so dicht in Blättern versteckt gedeiht, die sie vor Sonnenlicht schützen, und deshalb wenig Chlorophyll bildet. Allerdings: Bis es Ende März so weit ist – Stichtag ist der 24. –, dass man auf Sant’Erasmo die ersten castraure ernten kann, mag in Venedig niemand warten. Deshalb werden sie bereits im Januar aus Sardinien oder aus der Toscana auf den Rialtomarkt geschafft, fürs Weihnachts- oder Silvestermenü muss man sie sogar aus Sizilien holen. Zu uns nach Deutschland gelangen die kleinen Artischöckchen, die nicht größer sind als etwa Walnüsse aus Kalifornien (die größer sind als unsere), leider nur selten – und bleiben dann fast ausschließlich der Spitzengastronomie vorbehalten. Selbst wenn sie aus Italien kommen, werden sie meist unter der französischen Bezeichnung poivrade angeboten, woraus man in Hamburg Poveraden gemacht hat, was ja eher nach Ärmlichkeit als nach einer Delikatesse klingt. Ihre Haltbarkeit ist deutlich kürzer, denn ihr Stiel ist nicht lang genug, um sie mehrere Tage zu versorgen, und so können sie die ewig langen Wege durch den deutschen Handel kaum überstehen. Schade!

Castraure schmecken einfach umwerfend köstlich, und zwar roh. Man braucht nur die Spitze zu kappen, die äußerste Reihe der Blätter abzubrechen, das bisschen Stiel und den Boden hübsch zu schälen, dann kann man durch alle Blätter hindurch wie in ein Äpfelchen hineinbeißen. Oder auf die übliche französische Art verspeisen, von der sich ihre Bezeichnung ableitet: einfach in eine Mischung aus Pfeffer (frz. poivre) und Salz stippen.

Besser noch schmeckt uns die venezianische Art: Die geputzten Artischocken auf Tellern anrichten, dazu Olivenöl, frisch gemahlenen Pfeffer und italienisches Fior di Sale oder französisches Fleur de Sel – nach Belieben Weißbrot, luftgetrockneten Schinken, Salami und etwas gereiften Käse dazu, auf jeden Fall aber einen Wein, der diesen kräftigen Aromen standhält: Das kann der Aperitif-Prosecco sein, dessen verhaltene Süße die Bitterkeit gleichzeitig herausstreicht und angenehmer macht, ein herzhafter Sauvignon aus dem Collio oder sogar eine gewürzige Ribolla vom Karst.

Praktisches Marktangebot: Artischockenböden, säuberlich und gebrauchsfertig geschält

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Unterhalb der Schnittstelle, die man mit der castraura-Ernte setzt, wachsen nach und nach mehrere der in Italien üblichen schlanken Artischocken, die sich außen mehr oder weniger lila färben. Moderne Züchtungen tragen nur noch selten jene martialischen gelben Stacheln an den Blattspitzen, an denen man sich übel verletzen kann. Diese der Wildform noch näher verwandten Artischocken sind allerdings bei vielen Südländern besonders begehrt, denn sie schmecken noch bitterer, aber auch intensiver, gemüsiger, nussiger als die Varianten ohne Dornen, deren zartere Bitterkeit man im Norden Italiens, inzwischen auch in Frankreich und vor allem in Deutschland, der Schweiz und Österreich vorzieht. Bei uns haben mit der Wertschätzung des Bitteren ja viele Menschen ihre Schwierigkeiten – dabei ist es gesund, hilft dem Stoffwechsel und regt den Appetit an!

Wie Sie der Stachelgefahr entgehen

Artischocken braucht man vor der Zubereitung im Ganzen nur zu waschen. Am besten fließendes Wasser von oben hineinlaufen lassen und mehrmals kräftig ausschlagen, sodass zwischen den Blättern versteckter Schmutz und Ungeziefer, das sich dort möglicherweise verfangen oder eingerichtet hat, entfernt werden.

Der Umgang mit den dornigen Sorten, die noch stark an die Ur-Artischocken, eine wehrhafte Distelart aus Nordafrika, erinnern, ist jedoch durchaus gefährlich. Man sollte sie nach dem Einkauf dick in Zeitungspapier einwickeln (lassen), nicht einfach in die dünne Plastiktüte stopfen, die von den Stacheln sofort durchstochen wird. Diese Stacheln müssen unbedingt, am besten mit einer Schere, gekappt werden, bevor die Knospen zubereitet werden und auf den Tisch gelangen – in älteren Kochbüchern wird dies immer wieder genau beschrieben, und man sieht auf den Rezeptbildern sorgfältig in geometrisch wirkenden Stufen gestutzte Knospen. Zu uns kommen sie nur selten – vielleicht fürchten die Importeure Verletzungsgefahr, womöglich sogar Produkthaftung?

Lieblingsrezepte fürs Lieblingsgemüse

In Italien liebt man es, die ganzen Artischocken über Holzkohle zu grillen (in und rund um Neapel eine Spezialität), in heißer Asche (auf Sizilien vorzugsweise aus Zitronenholz) oder im Ofen zu backen oder zu frittieren (in Rom mit der runden Sorte Mammole eine beliebte Spezialität: à la giudea, auf jüdische Art).

Aber noch häufiger werden in italienischen Rezepten die Artischocken immer zunächst geputzt und geschält, bevor man sie weiterverarbeitet. Diese Herzen muss man unbedingt bis zur endgültigen Verwendung in Zitronenwasser aufbewahren, damit sie schön hell bleiben. Erst wenn man sie braucht, werden sie gewürfelt, in Segmente oder in Scheiben geschnitten und dann gebraten, gedünstet, geschmort – als Gemüse, für sughi (Saucen) zur Pasta oder im Risotto.

Da die eleganten Italienerinnen diese die Finger unschön einfärbende Tätigkeit nicht sehr schätzen, kann man auf den Märkten der Städte an den Gemüseständen stets auch schon geputzte Herzen kaufen. Man sollte meinen, sie wären teurer als die ganzen Artischocken – mitnichten, denn dafür schält die kluge Händlerin die Artischocken vom Vortag oder von vorgestern, die nicht mehr ganz so schön aussehen. Natürlich sind sie dann nicht so alt, dass die Herzen erschlafft wären, aber eben nicht mehr taufrisch. Und sie dürfen sich im Zitronenwasser ein wenig erholen. Betrachtet man sich die manchmal ausgesprochen ältliche Ware in deutschen Läden, wünscht man sich solche intelligente Dienstleistung umso dringender.

Artischockenrisotto

Als wir das erste Mal fürs Artischockenrisotto, wie auf dem ligurischen Markt angeraten, die Stiele verarbeiten, sind wir begeistert: Man muss sie sehr gründlich und großzügig schälen, bis auf ihr hellgrünes Mark – aber man darf ja überhaupt mit Artischocken nicht geizig sein, alles muss weg, was nicht schön hell gelbgrün gefärbt ist, denn alles, was dunkler ist, bietet nachher der Zunge keinen Genuss, ist hart und rau, faserig und ledrig und von einer unangenehmen Bitterkeit. Übrig bleiben ein Riesenberg von Abfall und eine kleine Schüssel mit den Herzen oder, bei größeren Exemplaren, den Böden und den Stielen.

Nur das Innere der Stiele und die Herzen der Artischocken werden am Ende gewürfelt, etwas größer als die Zwiebel, mit der zusammen man sie in etwas Olivenöl andünstet. Schließlich den Reis mitschwitzen, bis er glasig geworden ist. Am liebsten nehmen wir den rundkörnigen Riso Carnaroli, Riso Rosa Marchetti oder auch den kleineren spanischen Paellareis Arroz Bomba. Erst wenn alle Körnchen vom Öl überzogen glänzen, wird mit Weißwein abgelöscht. In diesem Moment sollten die Zwiebeln und Artischocken den gerade richtigen Biss haben – die Säure des Weins hält nämlich jetzt den Garprozess an, was bei zu harten Zwiebeln kein Vergnügen wäre.

Schließlich wird immer wieder, kellenweise, heiße Brühe angegossen, der Risotto muss ständig leise brodeln, bis er die rechte Konsistenz erreicht hat. Dann wird gewürzt, zuerst mit Zitrone (ganz wichtig! Macht die Sache leichter, trotz der Butter und des Parmesans, der ja noch reichlich hineinkommt), natürlich der richtigen Menge Salz und ordentlich frisch gemahlenem, weißem Pfeffer. Schließlich Parmesan und Butter. Und erst auf die im Teller angerichtete Portion werden einige in Olivenöl gebratene Artischockenachtel verteilt, unter die am Ende feingehackte glatte Petersilie geschwenkt wurde.

Dazu braucht es einen herzhaften Wein, eine Inzolia aus Sizilien etwa oder – warum nicht – einen weiß gekelterten Spätburgunder aus Franken, zum Beispiel vom Weingut Fürst.

Für zwei bis drei Personen:

2 3 Artischocken (je nach Größe)

1 Zwiebel

2 EL Olivenöl

150 g Risottoreis

1 Glas Weißwein

Saft und Schale einer halben Zitrone

½ TL Salz

¾ – 1 l Brühe

20 g Butter

20 30 g Parmesan

weißer Pfeffer

Petersilie

Köstliche Dips

In Frankreich das beliebteste Rezept für Artischocken ist eine Art Blattfondue: Die Knospen werden gewaschen und geputzt (nur die äußeren, unten nicht fleischigen Blätter entfernen und den Boden glatt schneiden), gekocht oder gedämpft (ideal ist dafür der Dampfgarer oder Dampfdrucktopf, weil darin die Farbe schöner erhalten bleibt). Bei Tisch zupfen die Gäste von ihrer Artischocke nach und nach die einzelnen Blätter ab, um sie in verschiedene Saucen zu tauchen und auszulutschen.

Kalte Saucen, wie eine selbst gerührte Senf-, Kräuter- oder Knoblauchmayonnaise, eine mit Senf gebundene Vinaigrette (die auch Zitronensaft anstelle von Weinessig als Basis haben kann), gut passt auch eine Tomataise (aus mit Zwiebel und Knoblauch gedünsteten Tomaten, die man wie eine Mayonnaise mit Olivenöl cremig aufmixt).

Auch warme Saucen – zum Beispiel eine Hollandaise, eine Sauce Mousseline (mit einem Schlag Sahne aufgelockert) oder Maltaise (mit Blutorangensaft gewürzt) sind köstlich dazu. Ob man die Artischocken selbst heiß, lauwarm oder kalt dazu serviert, ist Geschmackssache.

Je weiter man beim Essen zur Mitte vordringt, desto weniger fleischig sind die Blattwurzeln – man nähert sich dem Herzen aus Heu. Letzteres wird mit einem Messer am Boden entlang abgeschnitten und weggeworfen – man muss dabei gefühlvoll arbeiten und aufpassen, dass die ganze Angelegenheit nicht auseinanderbricht, sonst verteilt sich das Heu über den ganzen Boden, und man wird die Stacheln nie mehr los, was den Genuss doch stark einschränkt.

Artischocken aus dem Holzofen

Eines unserer nachdrücklichsten Artischockenerlebnisse verdanken wir unserm sizilianischen Freund Vittorio in seinem wunderbaren Fischrestaurant in Porto Palò bei Menfi: carciofi al forno!

»Ahhh!«, rief er, als er hörte, dass wir das nicht kennen. »Passt auf!«

Vittorio kippte einen Haufen Artischocken auf die Arbeitsfläche und machte sich mit fliegender Eile darüber her – Akkuratesse ist seine Sache nicht. Er brach ein paar äußere Blätter weg, schnitt die Stacheln ab, kappte die Knospe oben, packte sie dann am Stiel, knallte sie mit aller Kraft kopf-über auf sein Arbeitsbrett und haute mit der flachen Hand noch mal drauf – so wurde sie regelrecht auseinander, fast platt gedrückt. Dann streute er Salz und Pfeffer zwischen die zerquetschten Blätter, beträufelte sie groß-zügig mit Olivenöl und packte sie schließlich dicht an dicht, die Stiele nach oben, in eine flache feuerfeste Form. Diese schob er in den Holzofen, nachdem er die Glut darin von der Mitte an den Rand gefegt hatte.

Nach 15 Minuten waren die Artischocken außen knusprig und innen butterzart und von geradezu unglaublich konzentriertem Wohlgeschmack – ein herrliches Vergnügen. Dazu goss er mit großer Geste den Chardonnay von Planeta in riesige Pokale – eine grandiose Kombination. Na, was waren wir glücklich!

Aus Arabien in die Parks und in die Küchen

Aus Arabien sollen die Artischocken nach Europa gelangt sein, wie schon andere gute Sachen, die Mandeln beispielsweise, mitsamt dem Marzipan, das man daraus machen kann. Über Spanien und Sizilien haben sich die Artischocken rund um das Mittelmeer angesiedelt und sind dort bis heute ein beliebtes Gemüse, ja geradezu Volksnahrungsmittel, während sie bei uns eher den Nimbus einer teuren, erlesenen Delikatesse haben. Auch der Name soll sich aus dem Arabischen herleiten, von al-harschuf sagen die einen, die anderen von ardi-schauki (kein Scherz), ins Deutsche mit Erddorn übersetzt. Gezüchtet wurde die essbare Distelknospe aus der Karde, einer hüfthohen Staude, deren fleischige Blattrippen man zum Kochen nur fädeln und in fingerlange Stücke schneiden muss. Ein weiteres bei uns gänzlich unbekanntes Gemüse, das besonders gut schmeckt, wenn man es in etwas Hühner- oder Kalbsfond weich dünstet. Im Perigord hobelt man gern noch ordentlich schwarze Trüffel drüber, geschmacklich eine ideale Verbindung und optisch ein hübscher Kontrast.

In nördlicheren Regionen machten Artischocken lange Zeit eher als Zierpflanze in verwöhnten Parks Furore – die silbrig glänzenden, aufrecht stehenden, gezackten Blätter und die violett blühenden Distelköpfe sind ja in der Tat sehr dekorativ. Heute findet man bei uns Artischockenpflanzen allenfalls vereinzelt in privaten Gemüsegärten, erst zögerlich beginnen einige Gärtnereien sie in den Weinbaugegenden gewerbsmäßig anzupflanzen.

Wir müssen also mit dem vorliebnehmen, was die Gemüsehändler für uns importieren. Und das ist fast immer eher kläglich. Obwohl man aus den verschiedenen Gegenden Italiens, aus Frankreich und Spanien sowie aus der Türkei die unterschiedlichen Sorten rund ums Jahr bekommen könnte. Immer jung geschnitten, das heißt, ehe sich im Herzen der Knospen die stacheligen Blütenblätter bilden, das sogenannte Heu – oder zumindest dieses Heu noch nicht zu hart geworden ist und sich mit einem Löffel leicht aus der Mitte herausschaben lässt. Im Winter und frühesten Frühjahr importiert man sie vor allem aus Sizilien, Apulien und Sardinien, ab dem Frühling aus Spanien und der Provence und schließlich in der heißen Jahreszeit aus der Bretagne, weil sie im milden Meeresklima nicht so schnell in Blüte gehen wie im heißen Süden. Ab Herbst kommen dann schon wieder die ersten Knospen aus den südlichen Gefilden …

Aber leider sind die Artischocken meist schon ziemlich derangiert, wenn sie es endlich in unsere Läden geschafft haben – weil man ihnen aus Unverstand und falscher Sparsamkeit mit ihrem Stiel die Energieversorgung genommen hat. Dass man dann trotzdem hier für sie das Doppelte bis zum Zehnfachen dessen zahlen muss, was sie im Herkunftsland kosten, ist höchst ärgerlich. Denn da beißt sich die berühmte Katze in den Schwanz: Wegen des teuren Preises bleiben die jungen Knospen liegen, altern vor lauter Kummer womöglich noch schneller, und dann will sie erst recht keiner mehr haben … ein Circulus vitiosus.

Riesig: Artischocken aus der Bretagne

Eine gewisse Sonderstellung nehmen die gewaltigen, fast kugelförmigen Artischocken ein, die von Mai bis Oktober aus der Bretagne kommen. Eine tüchtige Vermarktungsorganisation sorgt dafür, dass die Ware im Allgemeinen einigermaßen frisch in die Läden gelangt. Sie werden nicht ganz so jung geerntet, sondern erst, wenn sich die stacheligen Distelblütenblätter innerhalb der Knospe gebildet haben. Dann ist der Boden dick und fleischig. Natürlich rächt sich auch bei ihnen, wenn man mit dem Stiel ihren Reiseproviant kappt. Dann färben sich die gebogenen Blattspitzen schnell braun, und im Boden bilden sich scheußliche Fäden, vor allem, wenn das Wachstum schon weit fortgeschritten ist. Diese Fasern lassen sich bis zu einem gewissen Stadium entfernen, indem man den Stiel mit einer Drehung herausbricht. Besser ist allerdings, die Knospen zu verspeisen, solange sie noch jung, frisch und faserfrei sind. Das harte, stachelige Heu macht weniger Probleme – man kann es beim Essen einfach wegschneiden.

Die säuberlich geputzten, bissfest gekochten Böden einer solch stattlichen, leicht bis zu 500 Gramm schweren Artischocke werden in der feinen bürgerlichen und Restaurantküche gerne als essbare und wohlschmeckende Schale für ein feines Vorspeisenragout verwendet – aus Gemüsen beispielsweise, von Erbsen bis zu Spargelspitzen, aus blitzschnell pochierten Sepiastreifchen mit viel Petersilie (mit Zitrone und Olivenöl angemacht) oder mit geschnetzeltem, rasch im Wok gebratenem, chinesisch gewürztem Hähnchenfleisch. So hat man ohne großen Aufwand ein feines Zwischengericht in einem eleganten Menü, in dem die Artischocke ihre ernährungsphysiologisch wertvolle Rolle dann so richtig ausspielen kann: Da hilft das darin enthaltene Cynarin, den Appetit anzuregen, die Verdauung zu fördern, die schlechte Art von Cholesterin zu senken, das Blut zu reinigen und der Leber und Galle die Arbeit zu erleichtern … Das alles begleitet von so viel Wohlgeschmack – was will der Genussmensch mehr?

Eine Artischocke kurz vorm Aufblühen – eine wahre Pracht!

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Nachtschatten über Auberginen

Wieso es fast nur noch Einheitsfrüchte gibt, warum man sich jedoch damit nicht zufriedengeben muss und ein paar Lieblingsrezepte dafür.

Was ist eigentlich mit den Auberginen los? Die spanischen Früchte, die heute im Gemüseladen liegen, sehen aus wie geklont. Eine das Ebenbild der anderen. Sie sind groß und so hochglanzpoliert, dass man sich drin spiegeln kann – einerseits ein Zeichen der Frische, aber auch verdächtig, weil die Makellosigkeit auf Einsatz von Pflanzenschutzmitteln schließen lässt. Uniforme, dunkle, lila Keulen, heute strack und prall – viel öfter noch finden wir sie aber, wenn sie bereits so welk und matt sind, als hätten sie Cellulite, dann tragen sie schon nach leichter Berührung einen Fingerabdruck. In beiden Fällen kann man sich jedenfalls zu Hause alle erdenkliche Mühe mit ihnen geben: Sie sind und bleiben weitgehend geschmacksfrei, gleichgültig, auf welche Weise man sie zubereitet.

Der Dokumentarfilm des Österreichers Erwin Wagenhofer aus dem Jahr 2005, »We Feed the World«, in dem er die erschreckenden Auswirkungen der Globalisierung am Beispiel der Nahrungsmittelproduktion vorführt, hat uns klargemacht, was da passiert ist:

Die Vielfalt der Auberginen war den Produzenten und dem Handel lästig. Also hat die Saatgutindustrie geforscht und gezüchtet, bis schließlich eine Sorte herausgekommen war, die überall gleich gut gedeiht, sich mühelos ernten und schadlos transportieren lässt, auch noch im Laden lange gut aussieht. Vor allem aber ist sie eines: hybrid. Das heißt, sie beschert ihrem Schöpfer, dem Samenproduzenten, regelmäßig und verlässlich neue Umsätze, weil sie sich auf herkömmliche Weise nicht vermehren kann. Das nennt man Fortschritt. Wie die Sachen schmecken, interessiert sowieso keinen. Mangels Alternativen ist das dann am Ende auch vollkommen egal.

Abgesehen davon, dass der arme Bauer – der Film zeigt ein Beispiel in Rumänien – damit nie auf einen grünen Zweig kommen kann, weil er auf Gedeih und Verderb auf den Saatguterzeuger angewiesen ist. Der ihn obendrein nicht nur mit dem Saatgut, sondern auch mit den dazu gehörigen Pflanzenschutz- und Düngemitteln völlig in der Hand hat.

Nicht nur dick und lila

Dabei gab es mal eine schier unendliche Fülle der unterschiedlichsten Auberginensorten. In anderen Ländern, etwa Frankreich und Italien, werden immer noch verschiedene Sorten angebaut – doch zu uns kommen sie immer seltener, sind nur manchmal noch auf Märkten, in Spezialgeschäften oder in Läden von Ausländern zu finden. Die waren und sind beileibe nicht alle lila, wie wir heute meinen, weil wir sofort bei »aubergine« an diese typische Farbe denken. Unsere Urgroßeltern kannten noch ganz helle, fast weiße Früchte – daran erinnert ja der englische Name für das Gemüse heute noch: Eggplant ist die Eierfrucht. In Blumengeschäften werden Varianten davon als extravagante Zierpflanzen angeboten.

Tipp: Auberginen selbst anbauen

Wer einen Garten hat, kann sie sich selber anbauen. Die Samen der älteren und nicht »modernisierten« Hybridsorten gibt es aber nur bei kleineren Saatgutspezialisten übers Internet. Leider sind die Gärtner bei uns wenig innovativ und lassen sich diese Vielfalt entgehen. Aber vielleicht hilft ja vereinte, stete Nachfrage, wie das bei Tomaten schon erreicht wurde …

Die Aubergine ist ein Nachtschattengewächs, wie unsere Kartoffeln und die Tomaten. Mit der Kartoffel hat sie gemein, dass man sie nicht roh essen kann, mit der Tomate, dass sie die Wärme liebt.

In Asien reicht der lange Arm der Saatgutindustrie noch nicht überall hin. Hier kann man immer noch aus einer Fülle von absolut unterschiedlichen Auberginen wählen. Eine hierzulande ganz unbekannte Variante sind die schlanken, leuchtend grünen Früchte in Thailand, die übrigens eine sehr kurze Garzeit haben und umwerfend köstlich schmecken, wenn man sie einfach so auf den Grill legt; nach kurzer Zeit lässt sich das glasigsaftige Fleisch auskratzen, und ist – mit Ingwer, Knoblauch, Zitrone und Fischsauce gewürzt – eine umwerfend wohlschmeckende, salatartige Beilage.

Natürlich gibt’s auf asiatischen Märkten auch lila Früchte, am häufigsten sind die schlanken (bei uns am ehesten im türkischen Gemüsegeschäft zu finden), hübsch sind lila-weiß gestreifte Früchte, niedlich die nur fingerlangen Exemplare, die geschmort, frittiert oder in Essig eingelegt werden. Es gibt eiförmige Auberginen in weiß, in gelb, auch gelb-weiß gestreift, teils mit weichem, teils mit sehr festem Fleisch. Dann kugelförmige, tischtennisballgroße grüne Früchte, die man – eine absolute Ausnahme – tatsächlich roh essen kann, in Salaten mit Fischsauce und Limettensaft. Und schließlich die kleinen Kirschauberginen, die tatsächlich kaum kirschgroß sind, in Büscheln wachsen und eine verblüffende Schärfe in sich tragen.

Sehr gern kaufen wir Auberginen im italienischen Gemüseladen, vor allem wenn er die fast runden Früchte mit der helllila Farbe aus Sizilien anbietet. Die Farbe schillert mitunter, spielt manchmal sogar ins Weiße. Und sie können so groß wie Pampelmusen sein. Es sind die Allerbesten! Ihr Fleisch ist, gleich ob gebraten oder geschmort, von so intensivem Eigengeschmack, so unwiderstehlich schmelzend, dass man die »normalen« Auberginen dann gar nicht mehr mag. Es macht nichts, dass deren Schale nicht so spiegelnd glänzt oder auch mal die eine oder andere Macke zeigt.

Da jede Frucht anders schmeckt, kennt man auch für jede eine Menge unterschiedlicher Rezepte. Sie werden in Currys geschmort, gebraten, gegrillt, auch pfannengerührt. Viele dieser Sorten kann man in guten Asia-Shops auch bei uns frisch kaufen –regelmäßig aus Thailand eingeflogen.

Kugelrund, von unterschiedlich heller Farbe bis ins Dunkle spielend: die köstlichen Auberginen aus Sizilien

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Auberginen auf Szechuan-Art

Auch in der chinesischen Küche liebt man Auberginen, zum Beispiel auf Szechuan-Art geschmort, am liebsten mit Schweinefleisch, in Würfeln oder gehackt. Das wird zuerst angebraten, sogleich mit gewürfeltem Ingwer, Knoblauch und reichlich Chili gewürzt. Dann kommen die gewürfelten Auberginen dazu. Mit Reiswein oder Sherry, Sojasauce und Brühe angießen und langsam schmoren, bis das Fleisch gar ist und die Auberginenwürfel schmelzend weich geworden sind. Reichlich Koriandergrün darüberstreuen und körnigen Reis (Siam Duftreis) dazu reichen. Das macht nicht viel Arbeit und steht schnell auf dem Tisch!

Für vier Personen:

2 3 Auberginen (ca. 500 g)

Schweinefleisch, gehackt oder gewürfelt (500 g)

3 cm Ingwer

4 Knoblauchzehen

1– 3 frische Chilischoten

2 EL Reiswein oder Sherry

2 EL Sojasauce

150 ml Brühe

Koriandergrün

Der Imam fällt in Ohnmacht

Mit dem Glück des Suchenden findet man im türkischen Gemüsegeschäft die schlanken Auberginen, wie sie noch in der Türkei angebaut werden. Sie sind die richtige Sorte für eines unserer Lieblingsgerichte mit Auberginen mit dem wunderschönen Namen »Der Imam fällt in Ohnmacht«. Gern wüssten wir, ob der Imam in Ohnmacht fällt, weil ihn der Wohlgeschmack der ganzen Speise umwirft, oder ob es der viele Knoblauch ist, der ihn vom Stuhl haut. Jedenfalls können wir seine Reaktion verstehen. Es gibt vermutlich so viele Rezepte dafür wie Imame. Wir machen es immer so: