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Nr. 733

 

Der Weg des Diktators

 

Er schaltet seine Konkurrenten aus – und greift nach der Alleinherrschaft

 

von HANS KNEIFEL

 

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Überall dort im Kosmos, wohin Teile der Menschheit verschlagen wurden, gibt es Kämpfe und Konflikte.

Da sind die Terraner und deren Nachkommen, die auf vielen Planeten der Galaxis verstreut leben. Die meisten von ihnen führen ein Sklavendasein, andere wieder müssen sich der Nachstellungen der Laren und ihrer Vollzugsorgane, der Überschweren, erwehren.

Nur die unter Atlans und Julian Tifflors Führung in die Dunkelwolke Provcon-Faust evakuierten Terraner des Neuen Einsteinschen Imperiums (NEI) können sich einer einigermaßen gesicherten Existenz erfreuen – bislang jedenfalls.

Die SOL, die, mit Perry Rhodan und Tausenden seiner Getreuen an Bord, seit Jahrzehnten auf dem Rückweg vom Mahlstrom der Sterne zur Milchstraße begriffen ist, hat in Balayndagar und in der Dakkarzone der Zgmahkonen schwere Kämpfe zu bestehen.

Und jene Milliarden Terraner, die mit ihrem Heimatplaneten und seinem Trabanten durch den Soltransmitter gingen und im Mahlstrom landeten, sind zwar in Sicherheit vor der Macht des Konzils, gerieten dafür aber fast zur Gänze in den Bannkreis der Aphilie, die sie und ihre Kinder in Geschöpfe ohne Nächstenliebe verwandelt hat.

Um diese Menschen geht es nun. Wir blenden zurück zu den Ereignissen, die sich auf Terra Ende August des Jahres 3580 abspielen.

Dort, auf der Welt der Aphiliker, beginnt sich Trevor Casalle durchzusetzen, ein hoher Flottenoffizier mit überragenden Fähigkeiten. Er schaltet seine Konkurrenten aus und greift nach der Macht. Sein Weg ist DER WEG DES DIKTATORS ...

Die Hauptpersonen des Romans

 

 

Trevor Casalle – Der Admiral strebt das höchste Staatsamt an.

Heylin Kratt – Casalles Vertrauter.

Leifer Khantank und Schmenk Ructyn – Casalles Konkurrenten.

Roi Danton, Reginald Bull und Sergio Percellar – Prominente Mitglieder der OGN.

Vater Ironside – Ein verschworener Kämpfer gegen die Aphilie.

1.

 

Meldung der Flottenleitung: Aufgefangene Meldung der Schiffe POWER OF REASON und BEAUTY OF LOGIC, die mit dem Rest der Flotte von ihrer Mission zurückkehren. Der Auftrag führte sie 325 Lichtjahre weit zum Bazinski-Cluster, einer Sternengruppe von neunzehn Sternen, deren elf Sol-Ähnliche auf eventuell vorhandene Kolonisationswelten untersucht werden sollten. TEXT: »Nach langwierigen Suchmissionen und zahlreichen Zwischenfällen, die einen Teil der Expeditionsflotte kosteten, sind wir zu der Feststellung gezwungen, dass innerhalb dieser Sternenballung kein einziger Sauerstoffplanet auch nur annähernd den Anforderungen entspricht, die an eine Fluchtwelt gestellt werden müssen. Die Flotte unter der Leitung des Flaggschiffs BEAUTY OF LOGIC kehrt daher zurück. Genaue Meldungen erfolgen nach Ankunft auf Terra. Ende.«

Archiviert

 

*

 

Trevor Casalles Gesicht zeigte keinerlei Ausdruck, als er langsam aufstand und in den Tumult hineinschrie: »Ruhe! Ich befehle Ihnen, sich Ihres Ranges entsprechend würdig zu verhalten!«

Dabei wusste er, dass sein Leben in wenigen Sekunden beendet sein konnte. Die Projektormündungen mehrerer Strahler deuteten auf seinen Kopf und seine Brust. Die Offiziere des Flottengerichts zuckten zusammen, die meisten von ihnen schwiegen.

»Sie haben nicht nur versagt, Enkher Hodj«, sagte Casalle leidenschaftslos, aber mit Bestimmtheit und Autorität. »Sondern Sie haben, anstatt einen guten Planeten für die Erde zu besetzen, einen Teil der Flotte und den Planeten selbst in die Luft gesprengt. Und nun besitzen Sie die Unverfrorenheit, meinen Stellvertreter und mich zu beschuldigen. Betrachten Sie sich als von mir angeklagt.«

Die Gegnerschaft zwischen »Flüchter« und »Standhaftem« war ausgebrochen. Gleichzeitig nahmen sowohl Hodj als auch Vizeadmiral Casalle die Segnungen und Maximen der Vernunft und Logik für sich in Anspruch. Und darüber hinaus ging es für beide um das Leben und die weitere Karriere. Derjenige, der zuerst wieder ein stabiles Gleichgewicht herstellte, war der Überlebende. Es gab eigentlich keinen Sieger. Auch die Verwirrung besitzt ihre eigene logische Vernunft.

In dieser fraglichen Sekunde verlor Hodj die Nerven.

Er reagierte falsch, und die Lawine, die er ins Rollen brachte, brauchte nur ganz kurze Zeit, um anzuschwellen und furchtbare Zerstörungen zu hinterlassen.

Admiral Enkher Hodj fuhr herum, riss die Waffe hoch und feuerte auf Casalle. Trevor hatte diese Reaktion förmlich erwartet, und er handelte mit der ihm eigenen kaltblütigen Schnelligkeit.

Er ließ sich fallen, rollte ab und tauchte ein zweites Mal in die Deckung. Neben ihm sprang Major Heylin Kratt in die entgegengesetzte Richtung. Beide hielten, als der Strahlenschuss röhrend zwischen ihnen hindurchfuhr, die Waffen in den Händen und standen etwa sieben Meter voneinander entfernt. Es war deutlich zu erkennen, dass die Anhängerschaft Casalles nach diesem Schuss größer wurde. Die Offiziere, mit dem Kodex und dem Reglement bestens vertraut, werteten diesen unüberlegten Akt als Schuldeingeständnis.

»Und jetzt«, donnerte Casalle mit schneidender Stimme, »versuchen Sie noch, mich vor den Augen der Offiziere und der Mannschaften umzubringen.«

Ohne seine wachsame Haltung zu ändern, deutete er mit der linken Hand auf die Linsen, die diese Verhandlung übertrugen oder wenigstens aufnahmen und in die Speicher leiteten.

»Sie haben die wertvollen dreizehn Schiffe und deren Mannschaften umgebracht – durch Ihre Nachlässigkeit!«, schrie Hodj zurück. Im Schiff begannen Alarmsignale zu gellen.

Die Todesfurcht war unter den Mannschaften ausgebrochen, und nicht nur dort, wie Kratt und Casalle sehen konnten. Mindestens die Hälfte der anwesenden Offiziere glaubte inzwischen, dass Hodj versucht hatte, Casalle zu liquidieren. Ein solches Schicksal drohte auch ihnen. Einer der ranghöchsten Männer schrie laut: »Hören Sie auf, Hodj. Verantworten Sie sich vor uns!«

Mit fahlem Gesicht starrte Enkher Hodj zurück und stöhnte auf: »Ihr seid Verräter, ihr alle!«

Kratt und Casalle, hervorragende Psychologen und Kenner der Geschichte der Aphilie, wussten, welche Gedanken jetzt die meisten Frauen und Männer der Besatzung und ebenso die Offiziere erfüllten. Kratt und seine Mittelsmänner hatten lange genug versucht, diese Überlegung hervorzurufen. Unter einem Befehlshaber wie Admiral Hodj war niemand seines Lebens sicher. Dies war durch die Nachricht der Vernichtung auf schauerliche Weise bestätigt worden. Für einige Sekunden bewegte sich in diesem Raum niemand, dann beging Hodj seinen zweiten, entscheidenden Fehler.

»Ich fordere Sie auf«, sagte er entschlossen und hob die Waffe, umfasste mit zitternden Fingern den Kolben und zielte auf den Kopf des Vizeadmirals, »Ihre Behauptungen zu widerrufen. Sie sind unwahr, und niemand wird beweisen können, dass ich mit der Vernichtung Signals das geringste zu tun habe.«

Einige seiner getreuen Anhänger stellten sich zu ihm und zogen ebenfalls die Strahler.

»Ich habe Sie bereits einmal beschuldigt, geistig nicht zurechnungsfähig zu sein. Wenn Sie ins Schiff hineinhorchen, dann werden Sie erkennen, dass auch die Mannschaften überzeugt davon sind, von einem wahnsinnigen Mörder beherrscht zu werden«, sagte Casalle. »Legen Sie die Waffen weg.«

Hodj duckte sich, dann schoss er. Wieder verschwand Casalle hinter dem Speicherschrank, tauchte am anderen Ende auf und sah, dass sich die beiden Gruppen bekämpften. Der Raum hatte sich in ein Inferno aus Strahlen und hastig durcheinanderspringenden Körpern verwandelt. Die Todesfurcht war auch unter den Offizieren voll durchgebrochen. Das Ziel der Mehrheit war, zu überleben, indem sie die Drohung ausschalteten.

Die Drohung hieß Enkher Hodj.

Er und seine Anhänger verteidigten sich mit der Rücksichtslosigkeit von Männern, die genau wussten, dass sie nichts mehr zu verlieren hatten.

Die Strahlen der Waffen schnitten lange Spuren in Tische und Pulte. Visiphone zerbarsten knallend. Brennendes Plastik entwickelte ätzende Rauchwolken. Die überlasteten Maschinen der Luftreinigungsgeräte arbeiteten kreischend. Immer wieder fauchten die Blasterschüsse auf. Ein Mann schrie gellend. Trevor Casalle, der seine Aktionen im Hinblick auf eine spätere Verteidigung steuerte, griff nicht an. Er verteidigte sich nur.

Enkher Hodj war getroffen worden.

Sein linker Arm war mit rauchenden Fetzen der Kleidung bedeckt. Riesige Brandblasen bedeckten die Haut. Vermutlich spürte Hodj im Schock des Kampfes die Wunde noch nicht. Er zog sich schrittweise, immer wieder auf die Angreifer schießend, in die Richtung des geschlossenen Schottes zurück.

Die Sirenen und Summer wurden lauter, als ein anderes Schott sich öffnete und eine Gruppe jüngerer Offiziere einließ, die sich mit Schutzschirmen ausgerüstet hatten. In ihren Armen schimmerten die gedrungenen Läufe schwerer Paralysatoren.

Die Waffen donnerten auf.

Wieder sprang Casalle zur Seite und entging knapp einem Treffer, der eine Handbreit neben seiner Schläfe vorbeizuckte und in die Wand fuhr.

Im Fallen schoss er und traf den Admiral in die Brust. Röchelnd krümmte sich Hodj zusammen und kippte nach vorn. Er rollte langsam, sich zweimal überschlagend, die wenigen Stufen des Podestes hinunter, der letzte Reflex erfasste die rechte Hand und löste einen weiteren Schuss aus, der parallel zum Boden entlangfuhr und ein Energiekabel zerschnitt. Eine Stichflamme zuckte zur Decke und erlosch knallend.

Fast schlagartig, als sei dies ein Signal gewesen, hörte der Kampf in dem Gerichtssaal auf. Trevor Casalle, dessen schmales Gesicht unbewegt war, hob die Hand.

»Admiral Enkher Hodj ist tot«, sagte er in einer Ruhe, die fast unnatürlich wirkte. »Ich bin sein designierter Nachfolger. Die Expeditionsflotte untersteht meinem Befehl.«

Seine braunen Augen blickten wachsam in die Richtung der bewaffneten Männer. Er sah paralysierte Offiziere, Medorobots und andere Maschinen, die sich mit summender Geschäftigkeit um die Zerstörungen kümmerten. Die entstandene Ruhe wirkte unnatürlich und irritierte ihn.

»Laut Flottenreglement haben Sie jetzt das Kommando, Sir!«, sagte Major Kratt, der mit zerfetzter Jacke und einem glimmenden Brandkreis auf der linken Brustseite aufstand und seine Waffe wegsteckte. »Aber ich glaube, die Offiziere haben eine Botschaft für uns alle, Admiral!«

Das letzte Wort betonte er unüberhörbar.

Fast alle Männer in diesem Raum hatten die Waffen gesichert und weggesteckt. Der Alarm hörte auf, es drangen aber verworrene Geräusche von draußen herein. Etwas anderes musste die Mannschaften aufgeregt haben.

Einer der jüngeren Offiziere hob die Hand.

»Sir«, sagte er steif und unsicher, »ich habe die Pflicht, Sie von einem Hyperfunkspruch zu verständigen, der vor wenigen Minuten unsere Funkzentralen erreicht hat.«

»Wir hören!«, sagte Casalle und stieg langsam die Rampe in die Richtung auf das Schott hinauf. Er fühlte keinen Triumph, aber die ruhige Sicherheit einer Lösung im Sinn der Logik, des Lichts der Vernunft.

»Wir haben in Form einer kurzen Meldung erfahren, dass Reginald Bull erkrankt ist und die Gemeinschaft der Aphilen fluchtartig unter dramatischen Umständen verlassen hat.«

Lähmendes Schweigen breitete sich aus. Die soeben erfolgte Machtübernahme durch Trevor Casalle versank angesichts dieser Nachricht in Bedeutungslosigkeit. Casalles Gedanken begannen augenblicklich in eine andere Richtung zu gehen; er musste sich so schnell wie möglich auf diese neue Situation einstellen.

»Wiederholen Sie das!«, sagte Casalle.

Der Umstand, dass im Augenblick Terra ohne Führung war und Bull offensichtlich ins Lager der kranken Immunen übergewechselt zu sein schien, konnte für Casalle nur günstig sein. Er hörte zu, wie die Ordonnanz die Botschaft wiederholte und sagte dann, inzwischen neben Kratt in der Mitte der größeren Anzahl Offiziere stehend: »Ich bin der Auffassung, dass dies ein schwerer Schlag für die weitere Ausbreitung des Lichts der Vernunft ist. Geben Sie mir darin recht?«

Etwa zwei Drittel der Anwesenden stimmten laut zu. Trevor Casalle wusste, dass er die Flotte der fünfundzwanzig Einheiten ziemlich fest in der Hand hatte. Jetzt musste er es nur noch schaffen, die Mannschaften unter die Kontrolle des von ihm vertretenen Reglements zu bringen.

»Ein schwerer Schlag. In Imperium-Alpha wird Chaos herrschen. Ratlosigkeit breitet sich aus. Die Immunen der Organisation Guter Nachbar werden ihre Stunde erkennen. Sie verfügen mit Reginald Bull auch über dessen intimstes Wissen. Wir, die Aphilen, brauchen eine Truppe, die vom Keim der Krankheit nicht infiziert worden ist. Richtig?«

Während im Hintergrund eine Schar von Maschinen hantierte und einige Medorobots die Leiche Admiral Hodjs auf eine Antigravbahre hoben, wurde die Masse der zustimmenden Flottenoffiziere immer größer. Was Casalle sagte, war logisch. Das »Licht der Vernunft« war tatsächlich in größter Gefahr. Sowohl Flüchter als auch Standhafte hatten unter dieser Prämisse keine andere Wahl.

Der Schachzug Trevor Casalles schien den Sieg zu bringen.

Das Schachmatt für sämtliche Flüchter und die zögernden Anhänger des toten Admirals.

»Richtig!«

»Völlig klar ...!«

»Wir müssen zurück nach Terra!«

Trevor Casalle warf einen Blick in das Gesicht Major Kratts, das seltsam angestrengt wirkte. Auch Kratt wusste, dass der Erfolg unmittelbar bevorstand. Kratt war sicher, dass in dem auf Terra herrschenden Chaos bestimmte Vorteile für Casalle bereitlagen. Deswegen war er nervös und gespannt. Trevor verstand ihn.

Er wartete ab, bis die zustimmenden Kommentare verklungen waren. Dann erklärte er sachlich und kühl: »Sie haben recht. Die Aphilie braucht uns. Eine Flotte von fünfundzwanzig hervorragend ausgerüsteten Schiffen. Wir sollten unsere Pflicht tun.«

»Wir sollten unsere Pflicht sehr schnell tun! Unverzüglich!«, pflichtete ihm der hagere Major bei.

»Unsere Pflicht ist klar definiert«, fuhr Casalle fort und führte die logische Kette weiter. »Wir haben im Augenblick der Not Terra und Luna zu helfen und Goshmos Castle. Was hält uns noch davon zurück, sofort auf Erdkurs zu gehen?«

Es lag in der Natur der Aphilen, dass ihre Philosophie wenig mit der Vergangenheit zu tun hatte. Die zurückliegenden Ereignisse verblassten sehr schnell. Der Schock der Todesangst war ebenso schnell vergessen. Nur das, was unmittelbar bevorstand, zählte für die Offiziere und die Besatzungen. Sie brauchten nicht mehr zu befürchten, dass der wahnsinnige Admiral auch ihre Flotte aus einem nicht verständlichen Grund zerstörte.

Sie wurden unzweifelhaft gebraucht.

Das bedeutete für sie: mehr Chancen auf der Erde. Bessere Posten. Beförderung.

Trevor Casalles große Stunde war gekommen. Er ging an der Spitze der Offiziere aus dem Raum hinaus, in dem beinahe sein Todesurteil beschlossen und vollstreckt worden wäre. Er sagte mit klarer, empfindungsloser Stimme: »Admiral Trevor Casalle befiehlt, dass die Expeditionsflotte so schnell wie möglich auf Erdkurs geht und sich dort in den Dienst der Aphilie stellt.

Wir haben eine neue Aufgabe. Sie ist groß und schwierig. Wir werden die Erde zu retten helfen. Das ist wichtiger, als einen halb unbrauchbaren Fluchtplaneten hier zu suchen. Folgen Sie mir!«

Die Offiziere gehorchten. Seine Direktiven waren klar und präzise. Der Aufenthalt im Bazinski-Cluster ging zu Ende.

In den nächsten Stunden entfesselten Casalle und sein Vertreter Kratt eine hektische, aber zielgerichtete Betriebsamkeit.

Fast jedes einzelne Besatzungsmitglied wurde voll beschäftigt und von überflüssigen und gefährlichen Gedanken abgelenkt.

Nacheinander setzten sich die fünfundzwanzig Einheiten, voran die BEAUTY OF LOGIC, in Bewegung, wurden schneller und rasten schließlich der Erde entgegen.

Admiral Trevor Casalle erkannte deutlich, dass die Zukunft für ihn noch einige wertvolle Möglichkeiten barg. Er würde sie wahrnehmen.

2.

 

»Das ›Licht der Vernunft‹ ist der offizielle Titel des Staatsoberhaupts. Diese Bezeichnung ist niemals bewusst geschaffen worden – vielmehr hat sie sich im Lauf der Zeit, wurzelnd im Volksmund, in der Bedeutung verstärkt und wurde auf diese Weise verbreitet. Es geschah mit aphiler Zwangsläufigkeit, dass irgendwann die tiefe und weitreichende Bedeutung auch von offizieller Stelle erkannt wurde. Seit diesem Augenblick schmückt dieser Titel das Staatsoberhaupt, und er sagt genau aus, was die Ziele der neuen, emotionslosen Lebensweise sind. Da das Licht der Vernunft autark ist und keiner störenden Ratsversammlung oder dergl. verpflichtet, wird die Reichweite dieser faszinierenden Strömung nur noch zunehmen und schärfer die Vorteile erkennen lassen ...«

Chronik

 

*

 

Es war Mitternacht, und als Can Rothman den Kopf hob, irrten seine geröteten, übermüdeten Augen über die Ziffernblöcke der Uhr. Der erste September hatte angefangen. Wieder eine halbe Nacht im Dienst Ructyns vergangen, dachte Rothman müde. Er gähnte, stand auf und wählte aus dem Automaten ein Getränk, das eine Mischung aus Kaffee und Alkohol darstellte, eine Flüssigkeit, die stark stimulierte, ohne süchtig zu machen. Dann glitt auf einen weiteren Fingerdruck hin eine Glasscheibe zur Seite.

Kühle Nachtluft drang in den Raum und vermischte sich mit den Rauchschwaden und dem Geruch alter Akten.