Inhalt

  1. Cover
  2. Titel
  3. Impressum
  4. DANKSAGUNGEN
  5. 1. – Feuer und Wasser
  6. 2. – Erde und Feuer
  7. 3. – Erde und Luft
  8. 4. – Luft und Wasser
  9. 5. – Der Ring der Elemente
  10. 6. – Eltairion
  11. EPILOG
  12. FIGUREN UND ORTE
  13. Über den Autor

Alexander Lohmann

RING DER
ELEMENTE

BASTEI ENTERTAINMENT

DANKSAGUNGEN

Auch bei diesem Buch möchte ich mich wieder bei meinen bewährten Testlesern bedanken, bei Andrea Broichhausen, Marcel König und Jörg Spinger, die mir mit ihren Rückmeldungen zur Seite gestanden haben.

Mein besonderer Dank gilt Linda Budinger, die nicht nur wie üblich meine erste Testleserin war, sondern die mich von Anfang an dazu ermuntert hat, diesen Roman zu schreiben.

1.
FEUER UND WASSER

Dünne Wolkenstreifen glühten noch rot am Horizont, und im brackigen Hafenwasser spiegelte sich bereits das klare Sternenlicht. Wie silberne Kerzenflammen schwebten die Sterne in der trägen Dünung, dann kräuselte ein leichter Wellenschlag das Wasser, und die Lichter zerbarsten in einem Funkenregen.

Ein Kutter glitt in das Hafenbecken. Vier Schmuggler saßen darin. Sie hatten im Schatten der Klippen von Ilfar die Segel eingeholt und den Mast umgelegt. Von der eigenen Masse getrieben, schlich das kleine Schiff unter dem Leuchtturm der huldvollen Dame um die Spitze der Landzunge herum. Dann und wann half einer der Schmuggler mit den Rudern nach, die sie an den Seiten eingehängt hatten.

Der flache Rumpf schmiegte sich dicht an die Wasseroberfläche. Zoll für Zoll kroch er zwischen den hoch aufragenden Galeeren hindurch auf den Kai zu.

»Dargei, halt das Boot ruhig«, zischte eine Stimme vom Rumpf her. Es war Horgan, der Anführer der Schmuggler, ein vierschrötiger Mann in mittleren Jahren, der sein wettergegerbtes Gesicht unter einem schwarzen Vollbart verbarg. »Wenn wir eins von den großen berühren, kündigen wir uns mit einem Glockenschlag beim Hafenmeister an!«

Der junge Bursche am Heck bestätigte die Zurechtweisung mit einem hektischen Ruderschlag.

»Ssssst!«, zischte Horgan zornig. »Lass Bahome steuern, sorge du nur für Fahrt. Sie ist geschickter in diesen Dingen.«

»Sei nicht ungerecht, Horgan. Dargei ist neu im Geschäft.« Der vierte Schmuggler war kaum älter als der junge Bursche an den Rudern, aber er klang sehr selbstsicher. Sein wirrer Haarschopf war ein weniger heller als der Bart seines Kapitäns, und er grinste. Helger war schon seit einigen Jahren mit Horgan unterwegs.

»Wenn Dargei so weitermacht, wird er in unserem Geschäft auch nicht alt werden«, wisperte Horgan. Dann schnappte er nach Luft. »Nein, halt, was tust du da? Wir sind zu schnell!«

Der Kutter ließ die großen Schiffe hinter sich und driftete zum Rand des Hafenbeckens. Nur kleinere Ruderboote lagen hier vertäut und ein paar Kähne, ungefähr so groß wie ihr eigener. Horgan richtete sich auf und spähte über den Hafen. Eine Laterne schaukelte unruhig in der Ferne und verriet die Nachtwache. Die Patrouille war weit genug entfernt, und Horgan beruhigte sich.

»Beidrehen, langsam jetzt. Kein Laut. Wir dürfen die Mauer nicht berühren …«

Dargei schlug fahrig mit dem Ruder, und Wasser spritzte gegen den Rumpf. »Lass Bahome steuern, hab ich gesagt!«, herrschte Horgan ihn an. Nur mühsam dämpfte er seine Stimme. »Und halt endlich dein verdammtes Ruder still!«

»Horgan meint es nicht so«, wisperte Helger. »Wir machen diese Fahrten oft, und es ist nicht halb so gefährlich, wie er tut. Er ist nur jedes Mal so aufgeregt …«

Horgans Augen funkelten empört im Sternenlicht, dann wandte er den Blick wieder den Hafenanlagen zu. Tarsus war in den Hang eines Berges hineingebaut. Die Stadt stieg vom Hafen aus steil an, und die verschachtelten Häuser türmten sich an den Flanken des Berges wie Strandgut. Horgan versuchte, trotz der undurchdringlichen Finsternis, den besten Weg durch die schmalen Gassen abzuschätzen. Sie legten jedes Mal an einer anderen Stelle des Hafens an, wo die Durchfahrten und die zufälligen Lücken zwischen den vor Anker liegenden Schiffen sie gerade hinführten. So mussten sie sich jedes Mal einen neuen Schleichweg vom Hafen aus und durch die Stadt suchen.

Der Kutter drehte sich träge mit der Backbordseite zur Hafenmauer. Mit einem hohlen Gurgeln bremste das Wasser die Fahrt. Mehrere Handbreit vor der Mauerkante blieb er liegen und stampfte noch ein wenig nach. Horgan sprang auf die Reling und landete geduckt auf dem Kai. Er fing die Taue auf, die Helger ihm zuwarf, und zog das Schiff das letzte Stück heran, bevor er es sicher vertäute.

»Helger, du kommst mit mir. Bahome, du und Dargei, ihr gebt auf die Seeschwalbe acht. Legt euch auf den Boden, in den Schatten, dann sehen euch die Wachen nicht, wenn sie hier vorbeikommen. Ein kleines Boot mehr oder weniger wird ihnen kaum auffallen, wenn nicht Eltar selbst sie darauf hinweist.«

Die Frau nickte. Ihr langes dunkles Haar verschmolz in der Nacht mit dem Mantel, sodass es aussah wie eine Kapuze.

Der junge Dargei maulte: »Wie soll ich etwas lernen, wenn ihr mich nie mitnehmt?«

»Genau«, warf Helger ein. »Soll nicht lieber ich hier im Dunkeln bei Bahome bleiben?«

Dargei kicherte verlegen. Horgan murmelte unwillig: »Nimm es nicht zu leicht, Helger, nimm es nicht zu leicht … ich nehme dich lieber mit und behalte dich im Auge!«

Der Platz bei der Anlegestelle war mit Kopfstein gepflastert und nicht gut geschützt vor Blicken. Nur ein paar Stoffballen boten Schatten und Deckung. Zum Glück patrouillierte die Hafenwache weit entfernt; sonst regte sich nichts in Tarsus. Es war Neumond. Die Bürger hatten die Häuser verriegelt und hofften auf einen ungestörten Schlaf – denn welcher Mensch würde sich hinauswagen, wenn selbst der Himmel sein Auge schloss?

Helger und Horgan überquerten rasch den ungeschützten Streifen. Am Rande des Hafenvorplatzes, in der Deckung der Fischhallen, hielt Helger seinen Freund zurück. Jetzt, da Bahome und der Junge nicht mehr dabei waren, klang er viel ernsthafter: »Dargei hat recht. Wenn er jemals die Schmuggelwege durch Tarsus lernen soll, musst du ihn mitnehmen.«

»Es ist noch zu früh«, sagte Horgan. »Wenn ich die Fracht hole, will ich keinen dabeihaben, der leicht in Panik gerät. Und auch keinen, der auf dem Weg durch die Stadt zu viel redet.«

Schweigend kamen sie an eine Treppe, die über die innere Hafenmauer in ein verschlungenes Netz schmaler Gassen führte, und langsam ertasteten sie sich ihren Weg den Hang hinauf. Die Straßen, denen sie folgten, waren nicht einmal eine Mannslänge breit. Zu beiden Seiten ragten die Häuser drei Stockwerke hoch auf und beugten sich oben oft ein Stück nach vorne, als wollten sie die Eindringlinge zu ihren Füßen genauer betrachten. Bei manch einem Gebäude ragte ein Winkel oder eine Grundmauer vorwitzig in die Straße hinein und bildete einen scharfen Knick, der den beiden Männern zusätzlich Deckung bot.

Sie gelangten an die Rückseite eines großen Bauwerks ganz oben am Berg. Verwinkelt wie ein eingestürzter Prunkpalast beherrschte es diesen Teil der Stadt. Im Dunkel der Neumondnacht wirkte das Gebäude genauso verlassen wie alle anderen in der Stadt. Dennoch kribbelten Helgers Haarwurzeln, und sein Mund wurde trocken.

Ein schmaler Garten erstreckte sich zwischen ihnen und dem großen Haus, durch eine hohe Mauer von der Straße getrennt. Horgan suchte die Ritzen und Fugen zwischen den Lehmziegeln und kletterte hinauf. Helgers Finger fühlten sich steif an und wollten nicht zugreifen. Unwillig schüttelte er den Kopf.

Er biss die Zähne zusammen, überwand seine Beklommenheit und sprang mit Anlauf die Mauer hinauf. Er fand kurz Halt, stieß sich ab, und mit zwei Schwüngen saß er auf der Mauerkrone. Dort wartete er auf seinen Kapitän. Er grinste selbstgefällig in sich hinein.

Horgan bemerkte es. »Vorsicht«, zischte er. »Ganz vorsichtig …«

Helger schnaubte und ließ sich auf der anderen Seite hinunterfallen. Horgan machte sich zu viele Sorgen. Das Anwesen war unheimlich, gewiss, bei Nacht noch mehr als am Tage. Aber über die Mauer und hinab in den Garten zu gelangen war nicht schwer, wenn man die rechte Stelle wusste. Horgan kam jeden Lidschlag hierher, um die Fracht abzuholen, und Helger begleitete ihn meistens. Bisher war noch nie etwas schiefgelaufen.

Jenseits der Mauer sahen sie von dem großen Haus noch weniger als von der Straße aus. Der Garten war hoch überwuchert mit fremdartigen Bäumen, die sich nach oben hin stark verzweigten. Unter den Bäumen wuchsen Farne, und in deren Schatten lagen kleine dunkle Teiche im morastigen Boden. Die Luft stand schwer und stickig zwischen den Pflanzen, ringsum von Mauerwerk umschlossen. Helger keuchte, und sein Übermut schwand.

Die Stille hier drin war bedrückender als in der Stadt, so als müssten eigentlich Nachtvögel zwischen den Zweigen zwitschern. Helger vermisste das Rascheln kleiner Tiere im Gehölz, das Platschen von Fröschen im Morast. Nichts regte sich hier, kein Laut war zu hören, nur der schwere Atem der beiden Männer.

Selbst Horgan verharrte einen Augenblick, als müsse er sich erst an den weiteren Weg erinnern. Aber natürlich kannte er sich aus. Mit wenigen Schritten war er bei einem nackten, sandigen Hügel inmitten des Dickichts.

Helger verharrte am Fuß des Hügels, geduckt und still. Nie hätte er gehofft oder auch nur gewünscht, diesen Garten oder das Haus dahinter zu betreten, und doch ging der beste Freund seiner Kindheit hier zur Vordertüre ein und aus, während er selbst nun des Nachts seine Botendienste an der rückwärtigen Türschwelle verrichtete. Er spähte zwischen den Pflanzen zur Rückseite des Gebäudes, aber dort blieb alles dunkel und still. Schliefen auch dort alle Bewohner in den dunkelsten Nächten? Lag auch er dort in einem Bett und ahnte nichts?

Horgan hockte am Boden. Ungeduldig musterte er seinen Begleiter, aber er wagte nicht mehr zu sprechen. Die beiden Männer holten einen Spaten aus ihrer Ledertasche, oder vielmehr nur das eiserne Blatt eines Spatens, dessen Stiel sie entfernt hatten. Sie schoben den lockeren Sand beiseite, und bald schlug ihnen ein schwacher süßlicher Gestank entgegen. Helger erahnte andere Gerüche dazwischen, es roch ganz leicht nach Feuer und nach längst erkalteter Asche.

Es war dunkel in dem Garten, dunkler noch als in der sternklaren Nacht außerhalb der Mauern. Die Männer sahen kaum, was sie ausgruben. Vorsichtig tasteten sie durch den Sand und legten Stück um Stück in ihre dickhäutigen Ledersäcke. Sie fühlten sich unbehaglich, trotz der Handschuhe, und die üble Ausdünstung des Ortes trieb ihnen ebenso den Schweiß auf die Stirn wie die Anstrengung.

Helger hielt etwas hoch, das er ausgegraben hatte. Vor einer Lücke im Blätterdach erkannte er die Umrisse eines kleinen Affen in seiner Hand. Der Kopf war nach vorn gezogen, die Arme waren überlang, die Beine sehr kurz. Der entstellte Kadaver war über und über mit kleinen hakenförmigen Stacheln besetzt; andere Gliedmaßen, die sie ausgruben, hatten lange Klauen. Horgan und Helger bewegten sich langsam, damit sie sich nicht verletzten. Keiner von ihnen konnte den Gedanken abschütteln, ob diese Geschöpfe lebende Artgenossen hatten, die in diesem Augenblick womöglich in den Bäumen über ihnen lauerten!

Endlich fanden ihre tastenden Finger nichts mehr. In stillschweigender Übereinkunft schlossen die beiden das Loch. Sie strichen den Sand glatt und nahmen die wohlgefüllten Säcke mit.

Das Schiff hob und senkte sich träge im Hafenwasser. Cidos hatte ein flaues Gefühl im Magen, und doch fühlte er sich großartig. Hier stand er nun, Cidos Eltairion, in seiner eigenen Kabine und in einer Position mit Verantwortung!

Er betrachtete prüfend seine Unterkunft: Die Möbel waren mit gelber Seide bezogen, die Vorhänge und selbst die Wandbehänge bestanden aus Seide. Der Stoff knisterte unter seinen Fingern. Die Marine Ihrer Majestäten sorgte gut für ihre Schiffsmagier.

Aber die Seide war über und über mit schwarzen Sternen und stilisierten Tierkreiszeichen bestickt, und Cidos empfand das Muster als aufdringlich. So mochte sich ein Krämer aus der Gosse den Wohnsitz eines Zauberers vorstellen, aber Cidos’ Geschmack traf es nicht.

Er zuckte die Schultern. Sei’s drum.

Er schlug die Vorhänge zur Seite. Seine Kabine auf der massigen Kriegsgaleere lag neben der des Kapitäns und hatte ein Heckfenster, genau wie diese. Nichts an dem Raum erinnerte an die dunklen, muffigen Unterkünfte, wie man sie gemeinhin auf einem Schiff vermutete und unter Deck auch fand. In den wohlgepflegten Holzrahmen steckten trübe Bleiglaskacheln und ließen gedämpftes Licht zu ihnen ein, aber keine Blicke.

Zum ersten Mal seit seiner Kindheit war Cidos unbeaufsichtigt und allein – ein junger, blondhaariger Magier, der das Schulgebäude niemals verlassen hatte, seit er dort aufgenommen worden war. Und er war froh, dass er der Zucht seines Ordens endlich entronnen war. Hier an Bord war er sein eigener Herr. Mehr noch: Er genoss die Achtung aller Menschen auf diesem Schiff. Endlich begann sein wahres Leben, das Schicksal, das er sich immer erträumt und für das er die letzten zwölf Jahre ertragen hatte. Das Schicksal, das ihm bestimmt war!

»Darf ich Euch behilflich sein, Herr?« Cidos schrak auf. Der Junge, der ihm an Bord zu Diensten stand, war unbemerkt an seine Seite getreten. Der Page öffnete mit einem raschen Griff einen Fensterflügel. Warme, schwere Hafenluft quoll herein.

»Kann ich Euch etwas bringen? Ihr seht … müde aus!«

Tatsächlich war ihm von den schaukelnden Bewegungen inzwischen übel geworden. Cidos ärgerte sich, dass die Empfindungen seines Leibes so gar nicht zu den hochfliegenden Gedanken in seinem Kopf passen wollten.

»Du kannst gehen«, fuhr er den aufdringlichen Pagen an. »Und klopfe das nächste Mal, bevor du hereinkommst. Oder, besser noch: Warte, bis ich dich rufe!«

»Kapitän Kytheiros schickt nach Euch«, antwortete der Junge gleichmütig. Cidos vermisste den gebührenden Respekt in seiner Stimme.

»Warum?«

Der Knabe zuckte die Achseln. »Ich habe einen Auftrag bekommen, aber keine Erklärung.«

Cidos beäugte den Pagen und runzelte die Stirn. Er brauchte keine Magie, um die Wahrheit hinter den Worten zu erkennen: Der Junge hatte zwar keine Erklärungen erhalten, aber er wusste sehr wohl, um was es ging. Doch dieses aufgeschnappte Wissen würde er nicht mit dem Zauberer teilen, denn der gehörte nicht zu seiner Welt der erlauschten Gespräche und der bruchstückhaften Gerüchte.

War das eine Form von Respekt? Cidos Eltairion jedenfalls, junger Absolvent der Schule des Allwissenden und Adept Eltars im ersten Grade, wusste nicht, wie er damit umgehen sollte. Er trat aus der Kabine hinaus und ging die wenigen Schritte über den Flur bis zu der Kajüte des Kapitäns.

Als Kind, bevor er auf die Schule gekommen war und sein Kopf mit anderen Dingen gefüllt wurde, hatte Cidos viele Geschichten über »alte Seebären« gehört. Doch Kytheiros, der Kapitän der Meerwolfs Zorn, entsprach diesem Bild überhaupt nicht. Er mochte nicht mehr so jung sein, wie er auf den ersten Blick wirkte, und er legte gewiss viel Wert auf sein Äußeres. Sein Bart war zu einem exakten Dreieck gestutzt, und die Spitzen seines eingefetteten Schnurrbarts ragten über die Mundwinkel hinaus. Was das tiefe Schwarz seiner Haare betraf, so ging Cidos davon aus, dass der Kapitän mit den dunklen Nebeln der Sepia nachgeholfen hatte, und zwar beim Haupthaar wie beim Bart gleichermaßen. Kytheiros’ Kleidung hatte nichts Seemännisches an sich, sie entsprach der Mode der Edlen bei Hofe. Nur der Säbel an seiner Seite wirkte ein wenig zu schwer neben den anmutigen Falten des Gewandes.

»Ah!« Kytheiros lächelte betont und ging mit ausgebreiteten Armen auf Cidos zu. »Hier ist er ja, der neue Begleiter meines Schiffes, der frische Segen Eltars, der über unseren Fahrten liegen soll …«

Einige Schritte vor dem Zauberer blieb Kytheiros stehen und deutete eine Umarmung an. Mit einer gleichfalls nur angedeuteten Berührung der Schulter führte er Cidos zu einem kleinen Tisch beim Fenster. Cidos schwieg, und der Kapitän schien auch keine Antwort zu erwarten.

Er fuhr fort: »Mein lieber Freund, ich habe Anweisungen erhalten, die auch für Euch von Bedeutung sein dürften … Doch verzeiht. Es ist nicht angemessen, dass ich Euch derart mit den Belangen des Dienstes überfalle, kaum dass Ihr an Bord seid. Ist die Unterkunft zu Eurer Zufriedenheit?«

Cidos holte Atem, doch der Kapitän hielt nicht inne und beantwortete die Frage sogleich selbst: »Der verehrte Polior, Euer Vorgänger, hat sie recht zauberisch ausgestaltet. Er zeigte viel Gespür für das angemessene Ambiente. Es erleichtert Euch gewiss die Eingewöhnung, wenn die Umgebung so vertraut wirkt.«

Kytheiros schien der Ansicht zu sein, dass er mit diesem Monolog der Höflichkeit Genüge getan hatte. Er nahm das Gespräch da wieder auf, wo er angefangen hatte: »Wie ich bereits so vorschnell anmerkte, ich habe Befehle erhalten. Bereits morgen früh soll die Meerwolf auslaufen. Wir suchen nach Schmugglern, üblen Piraten und Halsabschneidern. Diese Schurken ängstigen schon des Längeren die edlen Damen unserer Stadt, doch erst heute nimmt sich die Flotte dieser Angelegenheit an.«

Er zwinkerte Cidos vertraulich zu. Der stand unbehaglich neben dem Tisch, trat von einem Bein auf das andere und ließ den Redeschwall über sich ergehen. Er dachte daran, dass dies der Mensch war, mit dem er auf dem Schiff zuvorderst seine Zeit verbringen sollte …

»Der Orden meinte, bei der Suche nach diesen Piraten kämet Ihr gerade recht. Ihr müsstet nur Eure Verbindungen nutzen, und im Nu trügt Ihr Eltars gerechten Zorn zu den Gesetzlosen.«

Zwischen den Papyri auf der Tischplatte lag ein kleines versiegeltes Bündel aus Seide. Kytheiros reichte es ihm. Cidos schaute den Kapitän an. Er las Neugier in dessen Augen, eine gespannte Erwartung, und mit einem Mal sah er die vorangegangene Rede in einem neuen Licht: In seiner wortreichen Art hatte Kytheiros eine Botschaft an ihn weitergegeben, die er selbst nicht verstanden hatte.

Cidos verstand genauso wenig. Was für »Verbindungen«? Der Kapitän mochte glauben, dass dies alles in der geheimnisvollen Terminologie der Magier einen Sinn ergab. Aber wenn dem so war, hatte Cidos seine Lehrzeit zu früh beendet.

Unschlüssig drehte er das Bündel in den Händen. Es trug das Siegel seiner Schule. Cidos brach das Wachs zwischen Daumen und Zeigefinger, zäh löste es sich von dem Tuch, und das Bündel ließ sich auseinanderschlagen. Ein hölzerner Dolch fiel heraus, ein Kinderspielzeug.

»Helger!«, sagte Cidos und verstand.

»Was meint Ihr?«, fragte der Kapitän.

»Es … Ich … Es bedeutet nichts.« Cidos hatte den Kapitän beinahe vergessen. »Nur ein Begriff meines Ordens.«

Die Lüge klang lahm in seinen Ohren, aber wie hätte der Kapitän es besser wissen sollen?

»Ihr seid blass.« Kytheiros sprach mitfühlend. »Ihr seid noch nicht seefest, oder täusche ich mich da? Das Wasser ist unruhig in den letzten Tagen. Eigentümliche Strömungen bis in den Hafen hinein. Aber draußen auf dem Meer wird es nicht besser werden, und ich muss wissen, ob ich auf Euch zählen kann?«

»Keine Sorge, ich werde bereit sein … Wenn ich mich nun zurückziehen dürfte? Ich weiß jetzt, was ich zu tun habe.« Er zögerte kurz, dann fügte er hinzu: »Vielleicht gehe ich noch einmal an Land. Ich muss … einige Dinge besorgen.«

Kapitän Kytheiros nickte. »Vielleicht wäre es besser, wenn Ihr an Bord bliebet. Gewohnheiten wachsen aus Gewöhnung, wie ich immer sage. Wenn Ihr Euren letzten Tag an Land verbringt, mag es Euch bei der Rückkehr umso schlechter gehen. Und morgen müsst ihr imstande sein, Eure Zauber zu weben, hier an Bord meiner Meerwolf

Cidos Eltairion deutete eine Verbeugung an – nicht zu tief, denn immerhin war er ein Zauberer und Eltars Auserwählter. Dann nahm er den Dolch mit dem Seidentuch und verließ die Kajüte des Kapitäns. Draußen auf dem schmalen Flur zog er die Türe hinter sich zu. Er fühlte sich nicht gut, und der Schweiß perlte ihm von der Stirn. Der Page stand noch da und wartete auf weitere Aufträge. Er musterte den Zauberer von der Seite, aber Cidos versuchte, ihn nicht zu beachten. Dieser Knabe war ohne Bedeutung, er war es nicht wert, dass Cidos seinetwegen Kraft verschwendete und sich um Haltung bemühte.

Was sollte er tun?

Er umklammerte immer noch das Seidentuch und den Dolch aus Holz, den er notdürftig wieder darin eingeschlagen hatte. Cidos Finger waren schon ganz steif geworden, so krampfhaft hielt er es fest. Helger bedeutete etwas, ungeachtet all der Jahre, die vergangen waren.

Der hölzerne Dolch war Helgers liebster Besitz gewesen und sein Abschiedsgeschenk für den besten Freund, als Cidos in der Schule aufgenommen worden war. Ein sinnloses Opfer: Cidos hatte nicht sehr lange Freude an dem Spielzeug gehabt, denn die Schüler mussten ihre persönlichen Habseligkeiten »zur Verwahrung« abgeben, bis ihre Ausbildung abgeschlossen war.

Vor zwei Tagen war es bei Cidos so weit gewesen: Er hatte die Schule verlassen – und gar nicht mehr an die Gabe seines Freundes gedacht. Er hatte Helger beinahe vergessen, und jetzt schämte er sich dafür.

Cidos kehrte in sein Kämmerchen zurück. Der Dunst der Stadt schwebte in der Kabine. Er hatte das Fenster offen gelassen, und die Meerwolfs Zorn lag in der Leeseite von Tarsus, im Windschatten des Berges.

Er setzte sich in seinen Sessel und rutschte unruhig auf dem Sitz herum. Mit den Fingernägeln fuhr er über das Schnitzwerk der Armlehnen und ertastete die feinen Facetten des eingelassenen Kristalls. Von der Stadt her hörte er ein Rauschen, und einige größere Wellen schwappten gegen den Rumpf. Einer der kleinen Erdstöße möglicherweise, die Tarsus von Zeit zu Zeit heimsuchten. Aspagos streckt die Füße in den Fesseln, so hatte Cidos auf der Akademie flüstern hören, während der letzten Tage …

Er beschloss, diese Unruhe in der Unterwelt als Anstoß zu nehmen und sich selbst in Bewegung zu setzen. Er rief den Pagen herbei.

»Hilf mir beim Ankleiden – die Rüstung, ich will in der Rüstung in die Stadt!«

Die Rüstung gehörte zur Ausstattung eines Kriegsmagiers der Flotte. Wenn das Schiff sank, dann sank auch er. Aber bis dahin schützte das Metall ihn vor verirrten Pfeilen, und vielleicht auch für einen Augenblick vor den Angriffen, die der Aufmerksamkeit seiner Beschützer entgingen.

Es gab nur wenige Metalle, die ein Zauberer tragen konnte, ohne dass seine Magie gestört wurde. Darum war der Harnisch schwerer und weicher als bei einer gewöhnlichen Rüstung. Aber er glänzte golden und bot einen beeindruckenden Anblick. Cidos hoffte, dass ihm das nützlich war, wenn er um eine Audienz beim Gouverneur ersuchte.

Ein Händler schlenderte an der Anlegestelle vorüber und äugte in den Kutter. »Leer ausgegangen?«, fragte er.

»Was? Ich, wir …« Dargei druckste herum.

Helger sprang ihm bei. »Wir bekommen anderswo mehr für die Fische. Und was wir in der Stadt kaufen wollen, kriegen wir anderswo billiger als bei dir!«

Der abgerissen aussehende Aufkäufer ging gekränkt seiner Wege.

Wieder lagen sie mit der Seeschwalbe im Hafen von Tarsus, diesmal am hellen Vormittag und an einem gemeldeten Liegeplatz. Ein paar alte Netze und fleckige Holzfässer mit Rissen, die man von außen nicht sah, ließen den Kutter auf den ersten Blick aussehen wie ein Fischerboot.

Horgan war beim Hafenmeister und kümmerte sich um die Anmeldung. Es war nicht ungewöhnlich, dass Fischer von den umliegenden Inseln in der Stadt festmachten. Allerdings brachten gewöhnliche Fischer selten harte Münzen mit, sondern nur ihren Fang, den sie in der Stadt erst zu Geld machen mussten. Gewöhnlich achteten Horgans Schmuggler besser auf ihre Tarnung. Sie kauften, bevor sie nach Tarsus fuhren, zumindest einige gefüllte Fässer mit Meeresgetier auf, die sie vorweisen konnten.

Heute allerdings hatte ihnen die Zeit gefehlt. Die Insel, auf der sie Zuflucht gefunden hatten, war unruhig geworden und begann sich zu regen. Mit leichten Stößen hatte sie in den vergangenen Tagen schon mehrmals versucht, die Eindringlinge abzuschütteln, und zuletzt hatte ein überraschender Steinschlag ihren zweiten Kahn zerschlagen. Für kurze Zeit waren unzählige Möwen um die Hänge des namenlosen Eilands geschwärmt, hatten dort ihr Gefieder geputzt und palavert. Am gestrigen Tage waren sie dann in einer einzigen Wolke aufgeflogen und in die Morgensonne verschwunden.

Seitdem hatte Helger keinen Laut mehr vernommen, bis auf das Flüstern von Bahome, die mit einem Mal gläubig geworden war und dem allgegenwärtigen Atem der Höllen die Kraft ihrer Gebete entgegensetzte. Dargei war unbeholfener und zerstreuter als ohnehin schon, und auch Helger konnte die Anspannung kaum ertragen.

Aber so ungünstig die Umstände auch waren, sie konnten sich nicht einfach auf ihrer Insel verkriechen: Eines ihrer Boote war beschädigt, und sie mussten den Markt und die Handwerker von Tarsus aufsuchen, solange zumindest die Seeschwalbe noch fahrtüchtig war. Denn zu riskieren, dass sie ganz ohne Schiff auf einer einsamen und unfruchtbaren Insel festsaßen, das wäre viel leichtsinniger gewesen, als es die Fahrt selbst unter diesen Umständen sein konnte.

Cidos warf einen letzten Blick zurück auf das Schiff, das in den nächsten Jahren sein Zuhause werden sollte. Der schmale Rumpf der Galeere verschwand fast ganz im Wasser, und nur die weit darüber hinausragenden Ruderbänke und das hohe Achterkastell waren zu sehen. Die Seewolf sah aus diesem Blickwinkel fast aus wie ein kantiger Kasten, der plump und unerschütterlich auf dem Wasser lag. Nichts zeugte von den Bewegungen des Schiffes, die Cidos an Bord doch ganz deutlich gespürt hatte.

Er schluckte und war froh, dass er wieder festen Boden unter den Füßen hatte.

Er wandte sich zur Stadt hin. Rings um ihn lag das Hafenviertel, das sich zu Füßen des Berges erstreckte. Cidos konnte nicht viel davon sehen, denn die Hallen rings um die Docks und Werften überragten die Wohngebäude dahinter.

An den Berghängen konnte man kleinere Häuser sehen, graue Kästen, die vom Hafen aus betrachtet anmuteten wie durcheinandergeworfene Würfel, mit dunklen, verwinkelten Gassen, an die Cidos nur verschwommene Erinnerungen aus frühester Kindheit hatte.

Einige höhere Gebäude ragten dazwischen hervor, und das war jetzt seine Welt – ebenso wie die breiten Straßen zwischen diesen herrschaftlichen Anwesen.

Cidos fasste die Präfektur ins Auge, den Sitz der weltlichen Macht und der Verwaltung von Tarsus. Der Bau mit seinen vielen kleinen Fenstern und dem roten Dach darüber war schon aus der Ferne deutlich zu sehen, und der gewaltige Torbogen allein war höher als die umliegenden Häuser. Die Präfektur lag etwa auf halber Höhe des Berges.

Der Seewind verlor sich zwischen den Gebäuden, und auf den Hauptstraßen gab es während der Mittagsstunden kaum Schatten. Cidos verfluchte bald seine Rüstung, auch wenn die Bürger und selbst schwere Karren und Fuhrwerke ihm ehrfürchtig Platz machten und er unbehelligt von Gewühl sein Ziel erreichen konnte.

Vor der Präfektur hielt Cidos erleichtert inne. Er hob den Helm und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Dann floh er in die hohe, kühle Vorhalle und ließ sich melden.

Gouverneur Kalairan bat den unerwarteten Besucher gleich zu sich, so rasch, dass Cidos nach dem anstrengenden Weg kaum zu Atem gekommen war.

Der Empfangssaal des mächtigsten Mannes von Tarsus war groß, die Fensteröffnung wirkte lächerlich klein für den Raum. So blieben die spärlichen, aber erlesenen Möbel und Gemälde im Halbdunkel. Kalairan saß auf einem zierlichen Stuhl vor einem Fenster mit Blick über die Stadt.

»Der junge Eltairion!«, begrüßte er seinen Besucher. Dann wandte er sich an seinen Sekretär. »Sorg dafür, dass wir eine Weile ungestört bleiben. Für die Angelegenheiten des Ordens nehmen wir uns immer Zeit!«

Kalairan wedelte mit der knochigen Hand, und der fette Domestik an der Tür nickte bei jeder Bewegung wie eine Marionette und eilte davon. Cidos trat auf Kalairan zu.

Der Gouverneur war ein alter Mann mit kahlem, fleckigem Schädel. Ein letzter spärlicher Kranz von Haaren, lang, fahlweiß und strähnig, umrahmte die Glatze, und das Gesicht darunter war von tiefen Furchen durchzogen. Mit der großen und schmalen Hakennase und in seinem schwarzen Gewand sah der Gouverneur viel eher aus wie ein geheimnisvoller Meister der arkanen Künste als sein junger Besucher in der strahlenden Rüstung.

»Euren Namen habe ich in letzter Zeit häufiger gehört, junger Adept.« Kalairans Blick glitt beiläufig über Cidos. »Nun sehe ich auch das Gesicht dazu. Das ist gut. Dinge, von denen man einmal hört, haben die Gewohnheit, immer wieder aufzutauchen. Aber was genau führt Euch zu mir?«

Cidos schätzte es nicht, als »Ding«, bezeichnet zu werden. Aber hier stand er vor dem Herrn über Hafen und Flotte, und nur hier konnte er darauf hoffen, von der unangenehmen Aufgabe entbunden zu werden, die ihm zugefallen war.

»Es geht um die Befehle, die Ihr für die Meerwolfs Zorn erteilt habt. Sie soll …«

»Ja, die Schmuggler. Euch ist eine bedeutsame Rolle zuteilgeworden, gleich bei Eurem ersten Auftrag. Fühlt Ihr Euch den Anforderungen nicht gewachsen?«

Kalairan schaute nach draußen, während er sprach. Die Jagd auf eine Hand voll Schmuggler war nichts, was Cidos als »bedeutsam«, bezeichnet hätte. Er war überrascht, dass der Gouverneur überhaupt wusste, worum es ging. Kalairan hatte den Befehl also nicht nur beiläufig abgezeichnet – er nahm selbst Anteil an dieser scheinbar alltäglichen Mission!

Die Erkenntnis verunsicherte Cidos. »Nein … doch …«, stammelte er.

Er fühlte sich der Aufgabe tatsächlich nicht gewachsen, aber gewiss aus anderen Gründen, als der Gouverneur glauben mochte. Bot sich ihm hier möglicherweise ein Ausweg? Konnte er einfach vorgeben, dass ihm die Fähigkeit für diese Aufgabe fehlte?

Er holte tief Atem, doch er bekam die Worte nicht über die Lippen. »Natürlich bin ich dem gewachsen«, sagte er stattdessen. »Ich frage mich nur … warum? Was soll mit diesen Schmugglern geschehen?«

»Ihr müsst sie nur aufspüren.« Der Gouverneur lachte leise. »Was kümmert Euch das Übrige? Denkt daran: Ihr seid nur Teil eines Ganzen und müsst beizeiten lernen, Euren Platz einzunehmen – und an diesem Platz zu bleiben.«

Cidos war empört. Wollte Kalairan ihn etwa zu einem Ochsen im Gespann degradieren? Gewiss, er war jung und unerfahren, er nahm nur den niedersten Rang unter den Zauberern ein. Aber der Gouverneur von Tarsus war trotz seiner weltlichen Macht nichts weiter als ein Ungeweihter! Kalairan hatte nicht das Recht, einen Zauberer zu belehren.

»Diese Aufgabe ist nichts für mich«, stieß Cidos hervor, vielleicht ein wenig schroffer, als es angemessen war. »Ihr sucht nach einem Menschen, den ich kenne. Schickt ein anderes Schiff. Warum soll überhaupt ein großes Kriegsschiff nach ein paar Gaunern suchen, die bestenfalls ein Boot besitzen? Für Euch kann das nur eine kleine Sache sein, doch von mir verlangt Ihr, dass ich dafür einen Freund verrate!«

Der Gouverneur beugte sich auf seinem Stuhl vor. Etwas blitzte in seinen Augen auf – Belustigung!

Cidos fühlte sich gekränkt.

Doch Kalairans Stimme klang scharf, als er antwortete: »Was denkt Ihr, weshalb Ihr auf diesem Schiff seid? Ihr seid überhaupt erst der Grund, dass wir die Meerwolfs Zorn schicken! Gerade weil Ihr einen dieser Männer kennt, könnt Ihr ihn aufspüren. Diesem Umstand verdankt Ihr Euren Posten. Das ist der Anlass Eurer Beförderung, und ein frühzeitiges Lehrstück noch dazu: ein Lehrstück darüber, dass man seine Aufgaben nicht nach Gutdünken auswählen kann.«

Wut kochte in Cidos hoch. Kalairan mochte sein Dienstherr sein, aber ein Mitglied des Ordens von Eltar war niemandes Lakai! »Ich kann von meinem Posten zurücktreten. Und Ihr könnt mir gar nichts befehlen, denn Ihr versteht nichts von den Dingen, die ich mache!« Er schrie die Worte und war selbst erschrocken, als er bemerkte, wie sich seine Stimme überschlug.

Kalairan erhob sich und trat auf Cidos zu. »Du wagst es, so mit mir zu reden, du Welpe von einem Zauberer? Dabei weißt du noch nicht einmal, was in deinem eigenen Hause vor sich geht. Was glaubst du denn, wer dir diesen Auftrag erteilt? Was glaubst du, weshalb die Flotte sich plötzlich um ein paar erbärmliche Schmuggler kümmert, weshalb ein großes Kriegsschiff ausfährt, um eine Nussschale aufzubringen? Dein eigener Orden ist es, der die Fäden zieht. Ich habe nur das Siegel auf die Befehle gedrückt, aber deine eigenen Leute haben mir diese Befehle vorgelegt. Sie haben dich an diesen Platz gesetzt. Sie wollen, dass du für den Orden deine Pflicht tust.«

Cidos wich zurück. »Nein«, sagte er. »Warum sollten die Weisen Eltars sich um eine Hand voll Schmuggler kümmern? Für ein Kriegsschiff ist das keine angemessene Aufgabe, aber noch viel weniger ist es eine Aufgabe, mit der sich die Wissenden befassen würden.«

Kalairan senkte die Stimme. Mit einem Mal schien die ganze Müdigkeit seines Alters auf seiner Zunge zu lasten. Cidos konnte die Worte kaum verstehen, so leise sprach der Gouverneur. Dennoch war die Stimme voll von Bosheit und Verbitterung: »Was versteh ich schon davon? Ich kenne Meister Theimenes seit Jahren, doch von dem, was hinter den Mauern der Schule vor sich geht, weiß ich wenig. In den Gassen der Stadt munkelt man von Praktiken weit jenseits der von Eltar gesetzten Grenzen. Doch es ist nur das Volk, das da redet, und ich höre nicht zu. Wo das Geheimnis regiert, gedeiht das Gerücht, und der Orden hat viele Geheimnisse. Aber er sorgt auch selbst für seine Reinigung, wenn es notwendig ist. Meister Theimenes wird sterben, und der Rat der Wissenden hat bereits seinen Nachfolger bestimmt.«

»Theimenes stirbt?« Wie konnte der Erzmagier von Tarsus im Sterben liegen, ohne dass Cidos davon gehört hatte? Er blickte Kalairan fassungslos an. »Das kann nicht sein. Ich habe den Meister vor zwei Tagen noch gesehen. Er ist alt, aber noch lange nicht vom Tode gezeichnet.«

Kalairan wandte Cidos brüsk den Rücken zu. Er stützte sich auf das Fenster und blickte hinaus in die hellen, warmen Gassen von Tarsus. Höhnisch sprach er weiter: »Ich habe dir gesagt, was es zu sagen gibt. Ob du es verstehst, hängt allein davon ab, ob du bereits denken kannst wie ein Zauberer. Und als Zauberer wolltest du mir doch gegenübertreten?

Es wird nicht gern gesehen, wenn ein Einzelner sich über den Rat erhebt. Und wenn der Rat der Wissenden weiß, wie er seine Meister diszipliniert, so wird er auch mit unbotmäßigen Adepten umzugehen wissen. Womöglich solltet Ihr den Auftrag als Prüfung Eurer Treue ansehen. Und wenn es das ist, zu welchen Schlussfolgerungen werden die Weisen Eltars wohl gelangen, wenn ich ihnen von diesem Besuch berichte?«

»Seht mich an«, sagte Cidos kalt. Die Wut füllte nun sein ganzes Inneres. Ihm war nicht entgangen, wie sehr sich der Tonfall des Gouverneurs verändert hatte. Wie konnte dieser Mann es wagen? Eltar selbst hatte Cidos ausgewählt! So hatte es der Erzmagier verkündet, als Cidos an der Schule aufgenommen worden war, und Eltars Urteil zählte mehr als der Rat. Vor allem zählte es mehr als dieser alte Mann, der hier vor ihm stand und ihn verhöhnte …

Kalairan drehte sich um. Ein verächtlicher Zug lag auf seinen Lippen. Cidos konnte sich nicht beherrschen. Ein Schatten zog vor seinen Blick, und er schlug zu. Die gepanzerte Faust traf Kalairan ins Gesicht. Blut spritzte, Cidos spürte, wie etwas unter seinem Schlag zerbrach. Erschrocken riss er die Hand zurück. Er hatte nicht bedacht, dass er die Rüstung trug. Sie war hart und scharfkantig, und der Schlag hatte das Gesicht des Herrn von Tarsus gezeichnet. Die Lippe war aufgeplatzt, die Nase eingedrückt. Cidos schnappte nach Luft.

Kalairan taumelte rückwärts zum Fenster und stützte sich gegen den Rahmen. Er spuckte Blut.

»Aus der Gosse haben sie dich geholt, junger Zauberer«, stieß er hervor. »Und in die Gosse gehörst du immer noch!«

Cidos geriet in Panik. Er wartete nicht ab, ob der Gouverneur jemanden herbeirufen wollte. Seine Hand schoss wieder nach vorn. Er packte den alten Mann am Hals und drückte zu. Kalairan keuchte erstickt. Cidos spürte, wie der Mann sich unter seinem Griff anspannte, und er packte ihn mit der Linken bei den Haaren. Dann schlug er Kalairans Kopf gegen den Rahmen des Fensters.

Der hagere Körper sank zu Boden. Blut rann über Kalairans Kopf und aus den Ohren.

Cidos erstarrte. Er konnte immer noch nicht klar denken. Er atmete einmal, zweimal, starrte auf den Mann zu seinen Füßen, der sich nicht mehr rührte. Er sah alles wie durch einen Schleier, das Blut pochte ihm in den Ohren.

Was habe ich getan? Jetzt ist alles vorbei!

Aber was hätte er tun sollen?

Kalairan hatte ihm gedroht. Aber was auch immer der Gouverneur oder der Rat mit ihm angestellt hätten, es hätte ihm nicht schlimmer ergehen können als jetzt. Cidos wusste selbst nicht, was über ihn gekommen war. Er hatte die Herrschaft über sich verloren.

Jetzt stand er in seiner goldenen Rüstung im Empfangssaal des Gouverneurs, und sein Herz schlug gegen den metallenen Halskranz. Sein Blick suchte die Tür.

Wie lange mochte der Sekretär fortbleiben? Wie viel Zeit blieb ihm? Was sollte er tun?

Gehetzt suchte er nach einem Ausweg. Das Blut in seinen Ohren dröhnte und brauste so laut, dass es die Stimmen von der Straße übertönte, die eben noch in den Raum gedrungen waren. Der Schleier vor seinem Blick hob sich nicht, nein, Cidos wurde sogar schwarz vor Augen. Unwillkürlich griff er nach der Lehne des Stuhls. Er hatte Angst, dass er das Bewusstsein verlor, gleich neben der Leiche des Gouverneurs …

Und dann waren die Stimmen von der Straße wieder da, lauter als je zuvor, aber das Dröhnen in seinen Ohren blieb. Schreie drangen durch das Fensterglas in den Raum. Und die Dunkelheit, die seinen Blick trübte, kam nicht aus seinem Inneren – sie war wirklich! Am hellen Mittag legte sich ein Schatten über die Stadt.

Cidos erschrak. Hatte die Sonne selbst ihr Antlitz verhüllt vor seiner Tat? Er schüttelte den Gedanken ab. Ein solcher Aberglaube war seines Standes nicht würdig. Widerstrebend beugte er sich über den leblosen Gouverneur hinweg und sah aus dem Fenster.

Die Gassen von Tarsus waren dunkel geworden, und mit jedem Augenblick wurde es noch dunkler. Dunst zog in rasender Geschwindigkeit von Norden her über den Himmel. Er wurde dichter und färbte das Firmament erst grau, dann schwarz. Ein Brausen hallte über die Bucht wie von einem Sturm, den man nicht fühlte, begleitet von den Donnerschlägen eines verborgenen Unwetters. Menschen drängten sich zwischen den Häusern, sie rannten in Panik durcheinander, erstarrten oder fielen auf die Knie.

Cidos stand da wie gelähmt. Das Ende der Welt kam heran, und die Sorgen, die ihn eben noch geplagt hatten, das, was er getan hatte – es war bedeutungslos.

Dann dachte er wieder klar. Was auch immer über die Stadt gekommen war, es konnte seine Rettung sein! Wenn er schnell handelte, bevor jemand auf die Idee kam, zum Gouverneur zu laufen und dort Rat zu suchen.

Rasch ging er zur Tür. Die goldenen Panzerplatten an seinem Leib knirschten bei jedem Schritt, und Cidos fluchte, dass er seinen Harnisch angelegt hatte. Aber längst übertönte der Gesang der Winde jedes Geräusch. Er blickte hinaus. Die Vorhalle war leer. Wenn dort jemand auf den Gouverneur gewartet hatte, so war er von dem heranziehenden Unheil nach draußen getrieben worden.

Cidos zögerte nicht länger.

Er lief durch die Flure und die große Freitreppe hinab, über weiche rote Teppiche und vorbei an den Statuen der Heiligen Eltars, deren fließende Gewänder aus weißem Sandstein gehauen waren. Bald schwitzte er wieder unter der Last seiner Rüstung und keuchte wegen des brandigen Geruchs, der die Luft erfüllte. Niemand achtete auf ihn, alle liefen durcheinander, gefangen in ihren eigenen Ängsten. Sie bildeten einen Strom, in dem der Magier unterging.

Auf dem Platz der Theokratie trafen die Menschenmassen aufeinander. Cidos bahnte sich einen Weg den Berg hinab. Mit der Ellbogenplatte stieß er zu, um sich Platz zu verschaffen. Die Menschen wichen zurück, doch im nächsten Augenblick drängten sie zu ihm hin.

»Helft uns, Herr!«

»Der Zorn der Götter liegt über uns – was ist geschehen?«

»Wohin sollen wir uns wenden?«

»Vergebt uns, lasst es enden!«

Das Gold und die eingravierten arkanen Embleme der Rüstung funkelten im verblassenden Licht der Sonne. In den Augen der Menge glänzten sie wie die Hoffnung. Cidos’ Blick huschte über die leeren Gesichter der Menschen, er hörte ihr Flehen, doch er wusste nicht, was er tun sollte.

Über die Dächer der tiefer liegenden Häuser hinweg sah er im Norden finstere Wolken, die sich immer höher auftürmten. Dort in der Ferne, weit draußen auf dem Meer, gloste das Feuer der Höllen. Es folgte der Schwärze, die sich auf Tarsus zuwälzte, wie eine blutrote Glut hinter einem Vorhang. Die Menschen wollten dem Unheil entfliehen, doch es kam vom Meer her, und jede Flucht über den Hafen führte tiefer hinein in die Dunkelheit und in die Höllenglut, die dort lauerte. Und wenn all diese Menschen zugleich auf die Schiffe drängten, würden diese noch im Hafenbecken untergehen, und sie würden alle ertrinken.

Zur anderen Seite verstellte ihnen der Berg den Weg, er war steil und die Pfade um ihn herum waren schwierig zu begehen. Die Bürger von Tarsus blickten zu dem Magier auf und suchten nach Führung.

»Ilfar wird euch Schutz geben«, rief Cidos ihnen zu. Ilfar war der Berg, aus dessen Flanke Tarsus herauswuchs wie ein Fuß: zum Meer hin flach, doch auf den Berg zu stieg es in immer steileren Gassen an, bis die Stadt dort vor beinahe senkrechten Klippen endete. »Flieht in den Schatten der Klippen, und wenn noch Zeit bleibt, bringt den Berg zwischen euch und die Dunkelheit. Aber bleibt so hoch über dem Meer, wie ihr nur könnt, und immer im Schutz der Felsen!«

Dann hastete Cidos die Straßen bergab. Die Bürger von Tarsus wollten ihn als Führer, und er war doch nur ein Mörder auf der Flucht.

Dennoch sprach er zu den Menschen, während er lief. Er nahm die Stärkeren beiseite und teilte ihnen Aufgaben zu, ließ sie die Flucht ordnen und denen helfen, die zurückblieben. Er war vielleicht jung und selbst auf der Flucht, ein Adept im ersten Grade, der sich hilflos fühlte und dessen Stolz verflogen war im Angesicht der Heimsuchung, die auf Tarsus zukam. Doch ihm blieb etwas, was all die hilflosen Menschen um ihn her nicht hatten: eine Ahnung von dem, was geschah.

In den Büchern der Schule konnte man vieles lesen, was aus dem Gedächtnis der Stadt bereits entschwunden war. Darin fand sich auch die Geschichte von Aspagos, den Eltar vor vielen Generationen gebunden hatte, damit er die Inseln der Theokratie nicht mehr verwüsten konnte. Heute hatte Aspagos diese Bande abgestreift. Der Berg musste sich geöffnet haben, und in den Jahrhunderten der Gefangenschaft war sein Feuer noch zorniger geworden.

Aspagos lag weit draußen auf See. Aber Cidos hatte in den Schriften der Schule gelesen, dass er glühende Steine und Asche bis Tarsus schleudern konnte. Sein giftiger Odem kroch über das Meer und würde sich im Kessel der Hafenbucht sammeln. Das war schon einmal geschehen, und darum durfte kein Mensch in Tarsus zurückbleiben.

Cidos wusste um diese Gefahr, und er traf Entscheidungen für all die Leute, die an ihn glaubten und die zu ihm aufblickten, auch wenn er sich in seinem Innersten unwürdig fühlte und schwach und sich selbst zusah wie jemand anderem.

Er stürmte über den Marktplatz und blieb unvermittelt stehen. »Helger!«, rief er aus. Die Menschen um ihn bildeten eine Gasse, und er lief auf den Freund zu. Cidos wusste selbst nicht, wie er Helger wiedererkannt hatte, wie es überhaupt möglich war, dass man einen Menschen erkannte, auf den ersten Blick inmitten einer Menschenmenge, wenn man ihn vor zwölf Jahren das letzte Mal gesehen hatte. Damals war Cidos sechs gewesen und Helger zwei Jahre älter, ein Kind, das keine Ähnlichkeit mehr hatte mit dem hochgewachsenen Seemann, der nun vor ihm stand.

Dennoch schaute Cidos Helger ins Gesicht und erkannte ihn sofort.

Helger hörte, wie jemand seinen Namen rief, über all den Lärm auf den Straßen hinweg. Er sah sich um, erstarrte. Aus weit aufgerissenen Augen starrte er Cidos an.

Helger sah nur einen gerüsteten Würdenträger der Kriegsflotte vor sich, der seinen Namen rief – und Helger war ein Schmuggler, wie Cidos wusste!

Helger schwankte unschlüssig, er schien fliehen zu wollen und verharrte doch fassungslos. Er musterte die Embleme und Zeichnungen auf den Panzerplatten. Cidos las in Helgers Augen, wie er nach einer Erklärung suchte, warum dieser unbekannte Offizier seinen Namen wusste.

Dann sah er in den Augen seines alten Freundes einen Funken aufblitzen.

»Cidos?«, fragte Helger zaghaft. Er trat einen Schritt vor. »Cidos?«

Cidos ging das Herz über. Es bedeutete ihm etwas, dass Helger ihn von sich aus erkannt hatte, mochte es ein Zufall sein oder der Beweis für einen wachen Geist. Er breitete die Arme aus. So viele Worte lagen ihm auf der Zunge, er wusste nicht, was er zuerst sagen sollte. »Helger! Ich habe dich gefunden. Ich weiß nicht, wie das sein kann. Eltar will, dass ich dich finde! Selbst der Rat hat das gesagt …«

Cidos umarmte seinen Freund; am liebsten hätte er ihm alles erzählt, was in den letzten zwölf Jahren gewesen war. Aber Helger unterbrach ihn.

»Wir müssen weg«, sagte er. »Wir haben ein Boot im Hafen. Keine Ahnung, wie du mich gefunden hast. Aber das ist nicht der beste Zeitpunkt für ein Wiedersehen!«

Horgan drängte sich zwischen Cidos und Helger. Er beugte sich weit vor und zischte mit gedämpfter Stimme, damit die Umstehenden seine Worte nicht hörten:

»Ich hoffe, die Schwalbe liegt nicht mehr im Hafen, sonst haben die Flüchtlinge sie schon in den Grund getrampelt. Wenn Dargei seinen Grips beisammenhat, dann hat er den Liegeplatz verlassen und wartet unter der ›huldvollen Dame‹ auf uns. Aber Dargei vergisst vieles, und wenn Ihr ein Magier seid und uns helfen wollt, so schickt bitte unseren Freunden eine Botschaft und leitet sie an.«

»Geht das?« Helger sah seinen Freund an. »Wenn wir jetzt auf gut Glück zum Leuchtturm der huldvollen Dame laufen und Dargei wartet dort nicht auf uns, dann sitzen wir fest.«

Auf der einen Seite der Stadt führte eine flache Landzunge in einem Bogen vom Berg fort und umschloss diesen Teil der fast kreisförmigen Bucht, die den Hafen von Tarsus bildete. Der Leuchtturm der huldvollen Dame lag an der äußersten Spitze dieses schmalen Streifens, fast schon im Meer, ein hohes und schmales weißes Bauwerk, das aus mehreren ineinander verdrehten steinernen Pfeilern bestand. Diese wanden sich so elegant empor, dass die Form an eine lange, zierliche Blüte erinnerte – oder an eine schlanke Dame in einem weißen Kleid.

Helger starrte besorgt auf den fernen Turm und auf die schwarzen Wolken, die diesen zu verschlingen drohten. »Es wäre wirklich nützlich, wenn du uns vorher Gewissheit verschaffen könntest, bevor wir dorthin laufen.«

»Das ist nicht so einfach«, erklärte Cidos. »Ich kenne diesen Dargei nicht. Ich weiß nicht einmal, wo euer Boot liegt! Ich habe kein Ziel, an das ich eine magische Botschaft schicken könnte.«

Alle drei sahen einander an und schwiegen. Die Menschen, die Cidos auf dem Weg durch die Stadt gefolgt waren, bestürmten ihn nun: »Herr, wir müssen weiter. Was sollen wir tun?«

Cidos wandte sich den Leuten zu und sah die blassen Gesichter in der Dunkelheit. »Geht zu den Klippen von Ilfar und noch weiter, wenn euch die Zeit bleibt. Sammelt unterwegs alle Menschen, denen ihr begegnet. Geht rasch, wartet nicht auf mich. Ich muss mich anderen Dingen zuwenden.«

Es war so dunkel geworden wie in einer Neumondnacht, und die Straßen hatten sich geleert. Schwefel und Brandgeruch lagen über der Stadt. Die schwarzen Wolken schienen sich vom Himmel herabzusenken, sie legten sich als Dunst zwischen die Häuser. Ascheflocken schwebten in den körperlosen Schwaden.

In der Ferne über dem Meer, wo der Schatten am dichtesten war, wuchs die rote Glut an. Es sah aus, als würde ein Großbrand dort, behäbig flackernd, den ganzen nördlichen Horizont verzehren. Diese Glut war das einzige Licht, das noch geblieben war vom Tag, und selbst dieses dumpfe Glühen wurde allmählich verschlungen von dem Regen aus Asche. Immer dichter fielen die Flocken, wie grauschwarzer Schnee.

»Ich kann vielleicht deinen Geist nutzen.« Cidos wandte sich an Helger. »Du kennst deine Freunde. Wenn ich durch deine Gedanken blicke, finde ich sie vielleicht.«

Helger zögerte, doch er wehrte sich nicht, als Cidos mit beiden Händen an seine Schläfen fasste und die Augen schloss. Stimmen zogen durch Helgers Kopf, Gedanken formten sich. Ein Bild von Dargei schwebte durch seinen Geist, und von Bahome. Cidos’ Gesicht verzerrte sich vor Anstrengung, und er sackte ein wenig zusammen in seiner Rüstung, als seine Kraft in die Verbindung floss.

Ungelenk tastete seine Magie nach den ihm fremden Seelen. Doch dann stieß er auf eine ganz andere, eine vertraute Aura. Eine Stimme erklang in seinem Kopf: