Aus dem Englischen von Ulrike Seeberger
Vollständige eBook-Ausgabe der Hardcoverausgabe
© 2012 bloomoon, ein Imprint der arsEdition GmbH, München
Text copyright © Simon Scarrow, 2011
Titel der Originalausgabe: Gladiator. Fight for Freedom
First published in Great Britain in the English language by Penguin Books Ltd.
© 2012 bloomoon, ein Imprint der arsEdition GmbH, München
Alle Rechte vorbehalten
Text: Simon Scarrow
Übersetzung: Ulrike Seeberger
Coverillustration: Helge Vogt
ISBN eBook 978-3-7607-8712-1
ISBN Printausgabe 978-3-7607-8377-2
www.bloomoon-verlag.de
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Für Rosemary Sutcliffe,
die in so vielen von uns die Liebe
zur Geschichte geweckt hat
Prolog
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Zenturio Titus Cornelius Pollenius wischte sich den Schweiß von der Stirn, während er die Augen über das Schlachtfeld schweifen ließ, das sich rings um ihn erstreckte. Der Hang war mit Leichen übersät. An den Stellen, wo der Kampf besonders erbittert getobt hatte, lagen sie zu Haufen zusammen. Seine Männer suchten nach verwundeten Kameraden oder rafften die geringe Beute zusammen, die sie bei den gefallenen Feinden finden konnten. Hier und da schrien mitten in diesem Blutbad Verwundete und wanden sich in Schmerzen. Unter den Leichen waren auch römische Legionäre in ihren roten Tuniken und blutgetränkten Kettenpanzern. Titus schätzte, dass in dieser Schlacht Tausende seiner Kameraden umgekommen waren. Und trotzdem waren die Verluste der Römer nichts im Vergleich zu der Zahl der gefallenen Feinde.
Titus schüttelte den Kopf, während er an die Männer und Frauen dachte, die ihnen vor Kurzem in der Schlacht entgegengetreten waren. Viele waren nur mit Messern und Ackergerät bewaffnet gewesen, die meisten trugen keinen Schutzpanzer, hatten nicht einmal einen Schild. Und doch hatten sie sich Titus und seinen Kameraden entgegengeworfen, mit wütenden Schreien und weit aufgerissenen Augen, in denen der Mut der Verzweiflung aufblitzte. Doch all das hatte sie nicht davor bewahrt, den besser ausgebildeten und ausgerüsteten Soldaten des Generals Pompeius zu unterliegen, des Befehlshabers der römischen Truppen, die sie unbarmherzig verfolgt und in die Enge getrieben hatten.
»Sklaven«, murmelte Titus verwundert vor sich hin, während er auf die Leichen starrte. »Einfach nur Sklaven.«
Wer hätte gedacht, dass diese Männer und Frauen, die für die meisten Römer nicht mehr als Werkzeuge auf Beinen waren, so viel Kampfgeist zeigen würden? Der Sklavenaufstand hatte vor beinahe zwei Jahren begonnen, und seither hatten die Aufständischen fünf der Legionen besiegt, die Rom gegen sie ausgeschickt hatte. Außerdem hatten sie viele Villen niedergebrannt und Anwesen geplündert, die den mächtigsten Familien Roms gehörten. Einmal, erinnerte sich Titus, waren die Sklaven sogar auf Rom selbst zumarschiert.
Er blickte nach unten auf den Leichnam eines kleinen Jungen, der wohl kaum älter als zehn Jahre sein mochte. Er hatte flachsblondes Haar und feine Gesichtszüge, und sein Kopf war kraftlos auf den Panzer eines toten Legionärs gesunken. Die Augen des Jungen starrten in den strahlend hellen Himmel, und sein Mund stand leicht offen, als wollte er etwas sagen. Titus verspürte einen dumpfen Schmerz in seinem Herzen, als er auf dieses Kind schaute. Kinder hatten in einer Schlacht nichts zu suchen, dachte er für sich. Ein Kind zu besiegen oder zu töten, damit konnte man sich keine Ehre erwerben.
»Zenturio Titus!«
Titus fuhr herum, als er den Ruf hörte, und sah wie eine kleine Gruppe von Offizieren quer über das Schlachtfeld auf ihn zukam. Angeführt wurden sie von einer massigen Gestalt mit breiten Schultern und einem silbern blitzenden Brustschild. Die darüber drapierte rote Schärpe gab den hohen Rang des Trägers an. Im Gegensatz zu den Männern, die im dichtesten Gewühl der Schlacht gekämpft hatten, waren General Pompeius und seine Offiziere allem Blut und Elend entgangen. Einige der jüngeren Männer verzogen angewidert das Gesicht, als sie sich den Weg durch die vielen Leichen bahnten.
»General.« Titus stand stramm und neigte den Kopf, als sein Befehlshaber näher trat.
»Was für ein Blutbad«, bemerkte General Pompeius und deutete mit der Hand auf das Schlachtfeld. »Wer hätte gedacht, dass gewöhnliche Sklaven so viel Kampfgeist haben, was?«
»Sehr wohl, General.«
Pompeius schürzte die Lippen und runzelte die Stirn. »Ihr Anführer, dieser Spartakus, das muss ein toller Bursche gewesen sein.«
»Er war Gladiator, General«, antwortete Titus. »Das ist ein besonderer Menschenschlag. Zumindest diejenigen, die in der Arena längere Zeit überleben.«
»Wisst Ihr viel über ihn, Zenturio? Ich meine, über die Zeit, ehe er Rebell wurde.«
»Nur Gerüchte, General. Anscheinend ist er nur einige Male in der Arena zu sehen gewesen, ehe der Aufstand ausbrach.«
»Und doch scheint er der geborene Anführer zu sein«, überlegte Pompeius. »Schade, dass ich nie die Gelegenheit hatte, diesen Spartakus kennenzulernen. Ich hätte ihn vielleicht bewundert.« Er blickte zu seinen Offizieren. Kurz spielte ein Lächeln auf seinen Lippen, als seine Augen auf einen seiner Männer fielen, einen hoch aufgeschossenen jungen Kerl mit schmalem Gesicht. »Keine Sorge, Gaius Julius. Ich bin nicht zum Feind übergelaufen. Spartakus ist – vielmehr war – schließlich nur ein Sklave. Unser Feind. Und jetzt ist er vernichtend geschlagen worden und die Gefahr ist gebannt.«
Der junge Offizier zuckte die Schultern. »Die Schlacht haben wir gewonnen, General. Aber der Ruhm mancher Männer hallt noch wider, wenn sie schon lange gefallen sind. Falls er überhaupt unter den Opfern ist.«
»Dann suchen wir seine Leiche«, erwiderte Pompeius knapp. »Und wenn wir sie gefunden und für alle weithin sichtbar zur Schau gestellt haben, wird das den Gedanken an einen Aufstand im Herzen jedes verdammten Sklaven in ganz Italia für immer ein Ende setzen.«
Er fuhr zu Titus herum. »Zenturio, wo könnte Spartakus gefallen sein?«
Titus schürzte die Lippen und deutete auf einen kleinen Hügel, der etwa hundert Schritte entfernt lag. Dort türmten sich die Leichen höher als irgendwo sonst auf dem Schlachtfeld. »Ich habe während des Kampfes seine Standarte dort drüben gesehen, und an dieser Stelle haben die letzten Sklaven bis zum bitteren Ende gekämpft. Wenn wir ihn überhaupt finden, dann dort.«
»Gut, dann wollen wir mal sehen.«
General Pompeius machte sich auf den Weg und schritt über die Toten hinweg auf den Hügel zu. Titus und die anderen folgten ihm im Eilschritt. Die über das Schlachtfeld verteilten Soldaten salutierten, als die kleine Gruppe an ihnen vorüberhastete. Sobald sie den Hügel erreicht hatten, blieb Pompeius stehen und starrte auf den schrecklichen Anblick, der sich ihm dort bot. Hier hatte der heftigste Kampf getobt und die Leichen waren von unzähligen Wunden übersät. Titus schauderte, als er sich daran erinnerte, dass viele der Sklaven mit bloßen Händen, sogar mit den Zähnen gekämpft hatten, bis sie mit dem Schwert niedergestreckt wurden. Die meisten Leichen waren so verstümmelt, dass man sie kaum noch als Menschen erkennen konnte.
Der General seufzte tief und stützte die Hände in die Hüften, während er weiter über die Leichen den Hang hinaufstieg. »Nun, wenn Spartakus wirklich hier getötet wurde, dann werden wir einige Schwierigkeiten damit haben, ihn zu identifizieren. Ich gehe davon aus, dass uns die Gefangenen wohl kaum dabei helfen werden, ihn zu finden.« Er deutete mit einer Kopfbewegung auf das kleine Häuflein von Leuten, die von Legionären bewacht wurden und ein wenig abseits des Schlachtfelds standen. »Verdammt! Wir brauchen seine Leiche …«
Titus beobachtete seinen Befehlshaber, wie er sich vorsichtig einen Weg über die verdrehten Gliedmaßen und verstümmelten Körper zum Gipfel der kleinen Anhöhe bahnte. Pompeius war bereits auf halber Höhe, als Titus aus dem Augenwinkel eine Bewegung wahrnahm. Zwischen den Leichen erhob sich ein Kopf, und schon Sekunden später war eine blutbespritzte Gestalt, die Titus für tot gehalten hatte, hinter dem General aufgesprungen.
Der Sklave hatte strähniges dunkles Haar und einen schütteren Bart. Er riss den Mund auf und fletschte die schiefen Zähne. Mit einem Kurzschwert in der Hand taumelte er über die aufgehäuften Leichen auf den römischen General zu.
»General!«, schrie Gaius Julius. »Vorsicht!«
Aber Titus war schon losgelaufen, während sich Pompeius noch umdrehte und zurückschaute. Die Augen des Generals weiteten sich vor Schreck, als er den Sklaven sah, der mit vorgestrecktem Schwert auf ihn zustürzte. Titus zog seine Klinge aus der Scheide und raste den Leichenhügel hinauf, wobei die Körper der Toten unter seinen genagelten Stiefeln nachgaben. Der Sklave zielte mit seinem Schwert auf Pompeius’ Hals, und der General taumelte zurück, um dem Hieb zu entgehen. Dabei verfing er sich mit der Ferse an einer Leiche. Schwerfällig fiel er zu Boden und stieß einen Angstschrei aus. Der Sklave torkelte weiter zu ihm hinauf und richtete sich mit erhobenem Schwert drohend über dem General auf.
Mit zusammengebissenen Zähnen lief Titus verzweifelt weiter auf die beiden zu. Im letzten Augenblick spürte der Sklave die nahende Gefahr und warf einen Blick über die Schulter. Doch da krachte Titus bereits mit seinem ganzen Körpergewicht auf ihn und schlug dem Sklaven das Schwert aus der Hand. Beide Männer fielen zu Boden und wären um ein Haar auf General Pompeius gestürzt.
Titus versuchte, sein Schwert zu bewegen, aber es war unter dem Angreifer eingeklemmt. Er ließ es los und packte den Sklaven stattdessen an der Kehle. Der bäumte sich unter dem Würgegriff auf; seine Hände krallten sich in Titus’ Armen fest und er knurrte wie ein wütendes Tier. Der Zenturio packte noch fester zu und der Laut verstummte. Der Sklave ergriff mit der linken Hand Titus’ Handgelenk und versuchte, dessen Finger von seinem Hals zu lösen, während seine Rechte zu Titus’ Gesicht hochwanderte und er ihm mit zersplitterten Fingernägeln über die Wange kratzte. Die Finger des Sklaven tasteten immer weiter nach oben, und Titus kniff die Augen so fest zu, wie er nur konnte, und verstärkte mit aller Kraft den Druck seiner Hände. Die Knie des Sklaven begannen wild zu zucken, und die Augen traten ihm beinahe aus dem Kopf, während er seinerseits mit seinen Fingernägeln Titus die Augen auszukratzen versuchte. Der Zenturio drehte den Kopf zur Seite.
Immer wilder wurden die Bewegungen des Mannes, doch dann lockerten sich plötzlich seine Hände, und der Kopf fiel ihm nach hinten. Titus hielt ihn noch einen Augenblick länger fest, um ganz sicher zu sein, dass keine Gefahr mehr drohte. Als er die Augen, die er immer noch zugekniffen hatte, öffnete, sah er, dass dem Toten die Zunge aus dem Mund hing. Titus ließ den Hals des Sklaven los, schob sich unter der Leiche hervor und rappelte sich keuchend hoch. Als er nach unten blickte, bemerkte er, dass sein Schwert sich in die Rippen des Mannes gebohrt hatte. Deswegen hatte er es nicht bewegen können. Der Sklave wäre ohnehin gestorben.
Neben ihm kam der General, den das Gewicht seines kunstvoll verzierten Brustschilds zu Boden drückte, mühselig wieder auf die Füße. Er schaute auf den toten Sklaven und auf Titus, der sich über den Leichnam beugte und sein Schwert aus der Leiche des Mannes zog.
»Bei allen Göttern! Das war knapp!« Pompeius warf einen Blick auf den Toten. »Wenn Ihr nicht gewesen wärt, Zenturio Titus, hätte er mich umgebracht.«
Titus antwortete nicht, sondern wischte nur mit der Tunika des Sklaven das Blut von der Klinge seines Schwertes. Dann steckte er die Waffe wieder in die Scheide und stand stramm. Der General sagte mit einem leisen Lächeln: »Ich verdanke Euch mein Leben. Das werde ich Euch niemals vergessen.«
Titus nickte.
»Ihr sollt eine Belohnung bekommen.« Der General fuhr sich übers Kinn und deutete dann mit der Hand auf die Gruppe gefangener Sklaven. »Nehmt Euch einen davon, in meinem Namen. Das ist ein angemessener Preis für mein Leben. Aber eines müsst Ihr auch wissen, Zenturio: Wenn Ihr je meine Hilfe benötigt, dann habt Ihr mein Wort, dass ich alles für Euch tun werde, was in meiner Macht steht.«
»Ihr seid zu freundlich, General.«
»Nein. Ihr habt mir das Leben gerettet. Dafür ist keine Belohnung groß genug. Jetzt wählt Euch einen Gefangenen aus, der Euer Sklave sein soll. Oder eine gute Sklavin vielleicht.«
»Jawohl, General. Was ist mit den anderen? Werden die unter den Männern aufgeteilt?«
General Pompeius schüttelte den Kopf. »Sonst würde ich das so machen. Aber ich will allen Sklaven im Römischen Reich eine gründliche Lektion erteilen. Man muss ihnen zeigen, was die zu erwarten haben, die sich gegen ihre Herren auflehnen.« Er hielt inne und sein Gesichtsausdruck verhärtete sich. »Sobald Ihr Eure Wahl getroffen habt, gebt den Befehl, dass man diejenigen, die im Kampf gefangen genommen wurden, hinrichten soll. Sie sollen ans Kreuz genagelt werden, und zwar an der Straße von Rom nach Capua, wo der Aufstand begonnen hat.«
Titus lief ein kalter Schauer über den Rücken, als er den brutalen Befehl des Generals hörte. Einen Augenblick lang verspürte er den dringenden Wunsch, ihm zu widersprechen. Die Sklaven waren besiegt. Der Aufstand war niedergeschlagen. Wozu brauchte man da noch eine so barbarische Bestrafung? Doch dann siegten seine Ausbildung und seine Disziplin, und Titus salutierte seinem General, ehe er sich auf den Weg über das Schlachtfeld zu den Gefangenen machte, um sich den einen auszusuchen, der diesem schrecklichen Schicksal entrinnen würde, ehe die meisten anderen zu einem langen, schmerzvollen Tod abgeführt wurden.
Marcus wusste, dass es Ärger geben würde, als der alte Aristides eines frühen Sommermorgens atemlos auf den Hof gerannt kam. Marcus hatte zufrieden mit Zerberus gespielt und versucht, dem rauhaarigen Jagdhund beizubringen, sich auf Befehl zu setzen und hinzulegen. Aber Zerberus hatte nur den Kopf schief gelegt, die Zunge heraushängen lassen und seinen jungen Herrn ausdruckslos angestarrt. Sobald er Aristides sah, trabte er auf den alten Mann zu und wedelte mit dem Schwanz. Der Ziegenhirt japste nach Luft, lehnte sich auf seinen Hirtenstab und schluckte, bis er wieder sprechen konnte.
»Drei Männer.« Mit zitternden Fingern deutete er auf den Pfad, der von Nydri aus den Hügel hinaufführte. »Große Männer … Soldaten, glaube ich.«
Marcus’ Vater saß im Schatten der weinumrankten Laube an dem langen, verwitterten Holztisch. Titus Cornelius war damit beschäftigt gewesen, die Bücher des Bauernhofs zu führen, doch nun legte er seinen Griffel auf das Wachstäfelchen, erhob sich von der Bank und kam mit großen Schritten auf den kleinen Hof.
»Soldaten, sagst du?«
»Ja, Herr.«
»Aha.« Titus lächelte leise, ehe er mit milder Stimme sagte. »Was weißt du schon von Soldaten, alter Mann? Mit Tieren kennst du dich aus. Aber mit Soldaten?«
Aristides richtete sich auf und starrte seinem Herrn geradewegs in die Augen. »Zwei von ihnen tragen Speere und alle haben Schwerter.«
Marcus schaute zu seinem Vater und bemerkte, wie ein kurzer Anflug von Furcht über dessen Gesicht huschte. Noch nie zuvor hatte Marcus seinen Vater ängstlich gesehen. Auf dem zerfurchten Gesicht des alten Soldaten prangten mehrere Narben, Erinnerungen an seinen Dienst in den Legionen des Generals Pompeius. Er war Zenturio gewesen – ein in vielen Schlachten gestählter Offizier – und hatte dann seinen Abschied genommen und die römische Armee verlassen.
Er hatte sich einen Bauernhof auf der Insel Lefkada gekauft und sich mit Marcus’ Mutter dort niedergelassen, die wenige Monate zuvor ihrem Sohn das Leben geschenkt hatte. Eine kleine Ziegenherde, um die sich Aristides kümmerte, brachte Titus regelmäßig einige Einkünfte, vor allem aber verdiente er an den Weinreben, die auf seinem Land wuchsen. Marcus erinnerte sich an sorglosere Zeiten, als er noch ein kleiner Junge war.
In den letzten drei Jahren jedoch war der Regen ausgeblieben, und die Dürre und der Mehltau hatten die Ernte zerstört. Titus hatte Geld leihen müssen. Marcus wusste, dass es viel Geld gewesen war – er hatte gehört, wie seine Eltern sich nachts flüsternd darüber unterhielten, wenn sie meinten, er schliefe schon, und er hatte sich noch lange darüber Sorgen gemacht, nachdem seine Eltern bereits verstummt waren.
Leise Schritte ließen Marcus herumfahren. Seine Mutter trat aus dem Zimmer, das auf den Hof hinausführte. Sie war dabei gewesen, ihm eine neue Tunika zu weben, hatte aber ihren Webstuhl im Stich gelassen, sobald sie Aristides’ Worte gehört hatte.
»Sie haben Speere«, murmelte sie und starrte zu Titus. »Vielleicht gehen sie in die Berge, um Wildschweine zu jagen.«
»Das glaube ich nicht.« Der alte Zenturio schüttelte den Kopf. »Wenn sie auf der Eberjagd sind, wozu dann die Schwerter? Nein, hier geht es um etwas anderes.« Er trat einen Schritt vor und klopfte Aristides anerkennend auf die Schulter. »Du hast recht daran getan, mich zu warnen, alter Freund.«
»Alt?« Die Augen des Ziegenhirten zwinkerten fröhlich. »Nun, ich bin kaum zehn Jahre älter als Ihr, Herr.«
Titus lachte, ein tiefes, herzhaftes Lachen, mit dem Marcus sein Leben lang vertraut war und das ihm stets ein Gefühl der Sicherheit gegeben hatte. Obwohl sein Vater in den Legionen ein hartes Leben geführt hatte, war er stets fröhlich. Manchmal hatte er Marcus streng behandelt, hatte darauf bestanden, dass er seine Kämpfe mit den Kindern unten in Nydri selbst austrug, aber an seiner Zuneigung hatte Marcus nie gezweifelt.
»Warum kommen die hierher?«, fragte seine Mutter seinen Vater. »Was wollen sie von uns?«
Marcus sah, wie das Lächeln auf den Lippen seines Vaters erstarb. »Ärger«, knurrte er. »Ärger wollen sie uns machen. Decimus muss sie geschickt haben.«
»Decimus?« Marcus sah, wie seine Mutter entsetzt die Hand vor den Mund schlug. »Ich habe dir doch gesagt, dass wir mit ihm nichts zu tun haben sollten.«
»Nun, dafür ist es nun zu spät, Livia. Ich werde mit ihm verhandeln müssen.«
Marcus hatte die Reaktion seiner Mutter Angst gemacht. Er räusperte sich. »Vater, wer ist Decimus?«
»Decimus?«, höhnte Titus und spuckte auf den Boden. »Ein blutsaugendes Schwein, dem jemand schon vor vielen Jahren eine gehörige Lektion hätte erteilen müssen.«
Marcus blickte ihn verständnislos an und Titus musste lachen. Er streckte die Hand aus und fuhr seinem Sohn liebevoll durch die dunklen Locken. »Er ist ein richtiger Mistkerl, dieser Decimus. Der reichste Geldverleiher auf Lefkada und wegen seiner guten Beziehungen zum römischen Statthalter nun auch noch Steuereintreiber.«
»Eine sehr ungünstige Kombination«, fügte Livia ruhig hinzu. »Einige Bauern in Nydri und Umgebung hat er bereits in den Ruin getrieben.«
»Nun, mit mir wird ihm das nicht gelingen!«, knurrte Titus. »Aristides, hol mir mein Schwert.«
Der Ziegenhirt zog besorgt die Augenbrauen hoch und eilte ins Haus. Zerberus starrte ihm einen Augenblick lang hinterher und trottete dann wieder zu Marcus zurück. Der strich dem Hund liebevoll über den Kopf. Livia packte Titus an seinem muskulösen Arm.
»Was hast du vor? Du hast doch Aristides gehört. Sie sind zu dritt und bewaffnet. Soldaten, hat er gesagt. Du kannst es nicht mit ihnen aufnehmen. Denk nicht einmal daran.«
Titus schüttelte den Kopf. »Ich habe schon viel aussichtslosere Kämpfe gewonnen. Und das weißt du nur zu gut.«
Livias Gesichtsausdruck verhärtete sich. »Das ist lange her. Nun hast du seit über zehn Jahren keinen Kampf mehr ausgetragen.«
»Ich kämpfe nicht mit ihnen, wenn es nicht sein muss. Aber Decimus hat sie bestimmt geschickt, um das Geld einzutreiben. Sie gehen nicht fort, ehe sie es nicht bekommen haben.«
»Wie viel Geld ist es?«
Titus senkte die Augen und kratzte sich im Nacken. »Neunhundert Sesterze.«
»Neunhundert!«
»Ich bin mit drei Zahlungen im Rückstand«, erklärte Titus. »Ich habe mit einem Besuch gerechnet.«
»Kannst du zahlen?«, fragte sie ängstlich.
»Nein. Wir haben nicht viel in der Schatulle. Nun, gerade genug, um uns durch den Winter zu bringen, und dann …« Er schüttelte den Kopf.
Livia runzelte wütend die Stirn. »Das erklärst du mir besser später. Marcus!« Sie wandte sich an ihren Sohn. »Geh den Geldkasten holen, der im Atrium unter dem Schrein aufbewahrt wird. Jetzt gleich.«
Marcus nickte und wollte ins Haus flitzen.
»Bleib, wo du bist, Junge!«, rief Titus laut genug, dass man ihn im Umkreis von hundert Schritten hören musste. »Lass den Kasten, wo er ist. Ich lasse mich nicht zwingen, auch nur eine Münze herauszurücken, ehe ich dazu bereit bin.«
»Bist du verrückt geworden?«, fragte Livia. »Du kannst doch nicht allein gegen drei bewaffnete Männer kämpfen.«
»Das werden wir ja sehen«, antwortete Titus mit ernster Miene. »Und jetzt nimm den Jungen und geh mit ihm ins Haus. Ich werde schon mit denen fertig.«
»Sie werden dich verletzen oder umbringen, Titus. Und was wird dann aus Marcus und mir? Sag mir das!«
»Geht ins Haus!«, befahl Titus.
Marcus sah, wie seine Mutter den Mund aufmachte, um zu protestieren, aber verstummte, als Titus’ stahlharter Blick sie traf. Livia schüttelte ärgerlich den Kopf und streckte dann Marcus die Hand hin. »Komm mit.«
Marcus starrte sie an, dann seinen Vater. Er rührte sich nicht von der Stelle. Er war wild entschlossen, seinem Vater zu beweisen, was in ihm steckte.
»Marcus, komm mit. Sofort.«
»Nein, ich bleibe hier.« Er richtete sich zu seiner vollen Körpergröße auf und stemmte die Hände in die Hüften. »Zerberus und ich können Vater zur Seite stehen, wenn es zu einem Kampf kommt.« Er wollte, dass diese Worte mutig klangen, aber seine Stimme bebte ein wenig.
»Was willst du? Hierbleiben?«, fragte Titus überrascht. »Du bist noch nicht so weit, dass du in der Kampflinie stehen kannst, mein Junge. Geh mit deiner Mutter.«
Marcus schüttelte den Kopf. »Du brauchst mich. Uns.« Er deutete auf Zerberus, und der Hund stellte wie auf Befehl die Ohren auf und wedelte mit dem buschigen Schwanz.
Ehe Titus protestieren konnte, kam Aristides aus dem Haus geeilt. In der einen Hand hielt er seinen Hirtenstab, in der anderen ein Schwert in einer Scheide, an der ein Lederriemen baumelte. Titus ergriff die Waffe und legte sich den Riemen um, schob die Schultern hin und her, bis er sicher war, dass das Schwert gut hing und der Griff leicht zu erreichen war. Aristides ging zum Tor und beobachtete die Straße, die den Hang hinunter nach Nydri führte. Plötzlich packte Titus den Schwertgriff und riss die Klinge mit einer so raschen Bewegung heraus, dass Marcus zusammenzuckte und einen kleinen Schrei ausstieß. Zerberus knurrte.
Sein Vater schaute lächelnd zu ihm und steckte das Schwert wieder ein. »Immer mit der Ruhe. Ich habe nur geprüft, ob sich die Klinge ohne Probleme ziehen lässt. Deswegen habe ich alles immer gut eingefettet – für alle Fälle.«
Marcus schluckte aufgeregt. »Für alle Fälle? Was meinst du damit, Vater?«
»Für Augenblicke wie diesen hier. Jetzt lass mich nur machen. Geh ins Haus, bis ich dich rufe.«
Marcus starrte trotzig zurück. »Mein Platz ist an deiner Seite, Vater. Ich kann kämpfen.« Er griff nach dem Leder und den Riemen der Schleuder, die er sich in den Gürtel gesteckt hatte, mit dem seine Tunika in der Taille zusammengehalten wurde. »Ich kann damit auf fünfzig Schritte Entfernung jemanden treffen.«
Seine Mutter hatte die beiden nicht aus den Augen gelassen. Nun rief sie: »Um Himmels willen, Marcus! Komm sofort mit ins Haus!«
»Livia«, fuhr ihr Mann dazwischen. »Geh du. Versteck dich in der Küche. Ich rede mit Marcus; er kommt gleich nach.«
Sie wollte protestieren, doch dann sah sie das wilde Leuchten in den Augen ihres Mannes, wandte sich ab und lief über die Pflastersteine des Hofs zurück ins Haus. Titus wandte sich zu Marcus um und lächelte ihn liebevoll an. »Mein Junge, du bist noch zu jung, um meine Schlachten für mich zu kämpfen. Bitte geh mit deiner Mutter.«
Aber es war schon zu spät. Ehe Titus zu Ende gesprochen hatte, hörte man, wie Aristides laut durch die Zähne zischte. Der Ziegenhirt hielt sich die Hand vor den Mund und rief so laut, wie er nur wagte: »Herr! Sie kommen!«
Marcus’ Vater deutete auf den Eingang des Hauses. »Marcus – stell dich da drüben hin. Keine Bewegung.«
Marcus nickte und schnipste mit den Fingern, um Zerberus zu rufen. »Komm her!«
Sie bezogen ihre Stellung im Schatten des Durchgangs, der in das bescheidene Atrium des Bauernhauses führte. Vom Tor aus waren sie nun nicht mehr zu sehen. Aristides packte seinen Hirtenstab fester und stellte sich auf der einen Seite des Tores auf.
Einen Augenblick lang war alles still. Marcus spürte sein Herz heftig in der Brust pochen und sein Mund war ganz trocken. Dann hörte er die gedämpften Stimmen der drei Männer, die auf dem Pfad auf das Tor zukamen. Einer machte eine Bemerkung und die anderen lachten. Es war ein harsches, unangenehmes Geräusch. Marcus fluchte. Er hatte dem Vater gesagt, er könnte ihm helfen, hatte dabei aber nicht an die Munition für seine Schleuder gedacht. Außerdem brauchte er Platz und Zeit, um seine Waffe vorzubereiten.
Marcus wusste, dass er ein gutes Auge hatte, und Aristides hatte ihn hervorragend ausgebildet – gut genug, um im Frühjahr einen wilden Hund zu töten, der den Zicklein nachgestellt hatte. Aber in der gegenwärtigen Lage war die Schleuder so gut wie nutzlos.
In diesem Augenblick sah Marcus, dass eine der Stützen aus dem Weinberg seines Vaters im Hauseingang lehnte. Er packte sie und hielt sie bereit. Marcus war entschlossen, mit dem knorrigen Ende fest zuzuschlagen, wenn es zu einem Kampf kommen sollte.
Die Stimmen der Männer wurden leiser, als sie sich dem Tor näherten, aber ihre Stiefel knirschten über den Kies, als sie in den Hof eintraten. Marcus linste um die Ecke der Eingangshalle und erhaschte einen Blick auf die ungebetenen Gäste. Ihr Anführer war ein hoch aufgeschossener, muskulöser Mann, dessen struppiges, von grauen Strähnen durchzogenes Haar mit einem Lederriemen zurückgehalten wurde. Marcus schätzte, dass der Mann nicht viel jünger als sein Vater war. Der Kerl sah ziemlich massig aus, und die Narbe, die schräg über sein Gesicht verlief, bewies, dass er das Kämpfen gewöhnt war. Zu beiden Seiten, aber je einen Schritt hinter ihm, standen die beiden anderen, die genauso grimmig aussahen wie ihr Anführer und die zusätzlich zu den Schwertern an ihren Gürteln auch noch jeder einen Speer trugen.
Titus musterte die Eindringlinge vom Scheitel bis zur Sohle, ehe er sich räusperte und sie direkt ansprach: »Wer seid ihr? Sagt, was ihr hier wollt, und dann macht, dass ihr wegkommt.«
Das verbissene Gesicht des Anführers verzog sich zu einem Lächeln, und er hob seine Hand, um Titus zu besänftigen. »Nur mit der Ruhe! Es besteht kein Anlass, den harten Zenturio zu spielen! Wir sind nur gekommen, um Euch eine Botschaft zu überbringen. Von Decimus.« Das Lächeln verschwand.
»Nennt mir zuerst eure Namen.«
»Warum?«
»Ich möchte wissen, mit wem ich es zu tun habe«, erwiderte Titus gelassen, während seine Hand zum Griff seines Schwertes wanderte und dort liegen blieb.
»Nun gut, ich bin Thermon. Ich beschäftige mich mit den schwierigeren Kunden meines Herrn.«
»Sag, was du zu sagen hast, Thermon, und dann geh.«
»Aber, aber! Es gibt keinen Anlass, so ungastlich zu sein. Der Grund, warum wir hier sind, ist einfach genug: Ihr schuldet unserem Herrn Geld, genau genommen tausendfünfzig Sesterze. Er hat uns geschickt, um die Schuld einzutreiben.«
»Neunhundert«, antwortete Titus gleichmütig.
»Verzeihung?«
»Ich schulde ihm neunhundert Sesterze, nicht tausendfünfzig.«
Der Anführer verschränkte seine Hände und ließ die Knöchel krachen. »Ah, Ihr müsst verstehen, dass da zusätzliche Zinsen hinzugekommen sind. Jetzt schuldet Ihr Decimus tausendfünfzig Sesterze, wie ich es gesagt habe. Mein Herr wünscht sein Geld zu bekommen. Jetzt.«
Titus seufzte schwer. »Ich habe es nicht. Und Decimus weiß das. Ich habe seinem Verwalter bereits gesagt, dass ich nächstes Jahr zahle, sobald ich eine gute Ernte hatte. Nun geht zu Decimus zurück und erklärt es ihm gründlich, damit es diesmal kein Missverständnis gibt. Sagt ihm, dass er sein Geld bekommt, sobald ich es mir leisten kann, es ihm zu zahlen.« Titus machte eine kurze Pause. »Und zusätzliche Zinsen gibt es nicht. Er bekommt, was ich ihm schulde, und nicht mehr. Nun fordere ich euch zum letzten Mal auf: Verlasst meinen Grund und Boden.«
Der Anführer blies die Backen auf und schüttelte den Kopf. »Es tut mir leid, Zenturio, das geht nicht. Entweder gehen wir mit dem Geld oder mit Wertgegenständen, die dieser Summe – der gesamten Summe – entsprechen. So ist es und nicht anders.«
Titus starrte die drei wortlos an. Die beiden anderen Männer packten ihre Speere fester und richteten sie auf den ehemaligen Zenturio. Marcus spürte, dass es jetzt jeden Augenblick zu Gewalttätigkeiten kommen würde. Er umklammerte seinen Stock. Auch Zerberus witterte die Gefahr. Die Nackenhaare des Hundes sträubten sich und er knurrte und fletschte drohend seine großen, weißen Reißzähne.
Doch ehe Titus oder seine Besucher etwas tun konnten, war plötzlich eine Bewegung neben dem Tor zu sehen. Aristides trat vor, den Hirtenstab in den gebrechlichen Händen.
»Der Herr hat euch aufgefordert, seinen Grund und Boden zu verlassen!« Seine Stimme war dünn und näselnd, aber es gab keinerlei Zweifel an seiner Entschlossenheit, die in den tief liegenden Augen unter dem weißen Haarschopf funkelte. »Raus!«
Thermon zwinkerte verwundert und lachte dann schallend los. Seine beiden Begleiter fielen, wenn auch etwas nervös, in das Lachen ein, während sie von Aristides zu Titus blickten.
»Zenturio, wo um alles in der Welt habt Ihr denn diese traurige Gestalt her?« Thermon schüttelte den Kopf und schaute Aristides abschätzend an. »Ich bezweifle, dass wir den auf die Liste der Wertgegenstände aufnehmen müssen. Für den würden wir ja wohl gar nichts bekommen – den müssten wir schon verschenken.«
Marcus spürte, wie eine brennende Wut sein Herz ergriff, als die Männer Aristides so beleidigten. Er sah, dass auch sein Vater finsterer blickte. Titus biss die Zähne zusammen und knurrte: »Mein Sklave steht nicht zum Verkauf. Und ihr macht, was er gesagt hat, und verlasst meinen Grund und Boden.«
Thermons Züge verfinsterten sich. Er zog das Schwert und wandte sich mit einem Nicken zu seinen Männern, die sofort ihre Speerspitzen senkten. Thermon drehte sich wieder zu Titus um: »Ihr habt es nicht anders gewollt, Zenturio. Zahlt oder Ihr werdet es bereuen.«
Titus grinste, als er sein Schwert zog und sich in Kampfposition stellte. »Ich glaube nicht, dass ich es bereuen werde.«
Marcus starrte ängstlich auf seinen Vater. Er zitterte an allen Gliedern. Auf keinen Fall konnte Titus allein die drei Männer besiegen. Marcus musste etwas unternehmen.
Genau in diesem Augenblick stürzte sich Aristides mit einem schrillen Schrei auf den von Thermons Männern, der am nächsten bei ihm stand, und hieb mit seinem Hirtenstab auf ihn ein. Der Mann drehte sich um und blockte den Schlag mit dem hölzernen Griff seines Speers ab. Laut krachte Holz auf Holz. Der Ziegenhirt hielt dagegen, aber er stöhnte vor Anstrengung. Thermons Mann war jünger und stärker und den Umgang mit der Waffe eher gewöhnt. Er konnte den Angriff des alten Sklaven leicht abwehren. Er stemmte sich gegen Aristides und drängte ihn nach hinten. Mit einem Schmerzenslaut fiel der Ziegenhirt auf den Rücken. Sogleich stand sein Gegner über ihm und holte mit dem Speer aus, als wollte er zustoßen.
»Zerberus! Fang!«, rief Marcus und schleuderte gleichzeitig die hölzerne Rebstütze nach dem Mann. In einem Wirbel von Fell und Zähnen raste der Hund los, um das Wurfgeschoss zu fangen. Dabei rammte er den Mann, der Aristides angreifen wollte, und brachte ihn so zu Fall, dass ihm der Speer aus den Händen glitt. Aristides rollte sich zur Seite, rappelte sich wieder auf und versuchte verzweifelt, so weit wie möglich fortzukommen, ehe der Mann sich wieder erholt hatte.
Inzwischen hatte sich Titus mit lautem Brüllen ins Gefecht gestürzt. Er drängte den von Thermons anderem Gefährten auf ihn gerichteten Speer mit einer gewaltigen Bewegung zur Seite und schlug dabei dem Angreifer den schweren Messinghandschutz seines Schwertes ins Gesicht. Der fuhr mit dem Kopf zurück und fiel ohnmächtig zu Boden.
Ehe sich Titus nun Thermon zuwenden konnte, war der Eindringling schon zum Angriff übergegangen. Er stieß sein Schwert geradewegs auf Titus’ Brust zu, doch der Zenturio riss sein eigenes Schwert herum und konnte den Schlag noch rechtzeitig parieren. Die Schwertspitze sauste wenige Zentimeter von seinem Kopf entfernt durch die Luft. Sogleich zog Thermon die Waffe zurück und stieß erneut zu. Diesmal war Titus nicht schnell genug und die Klinge traf ihn am Schwertarm.
»Ahhh!«, schrie Titus auf und lockerte instinktiv den Griff. Thermon nutzte geschickt seinen Vorteil und schlug Titus mit einem mächtigen Hieb das Schwert aus der Hand.
Marcus spürte, wie sich Angst und Schrecken wie eine eisige Faust um sein Herz krallten. Er holte tief Luft, rannte blitzschnell aus dem Hauseingang auf den Hof, sprang Thermon von hinten an und schlang die dünnen Arme um den Hals des Mannes.
»Was, beim Hades?«, knurrte Thermon überrascht. Marcus hielt die Kehle des Soldaten umklammert, so fest er konnte – er stand Todesängste aus, war aber entschlossen, auf keinen Fall loszulassen. Er hörte erregtes Bellen, dann sprang Zerberus vor und hieb seine Zähne in Thermons Schwertarm. Thermon hatte nun nicht nur mit dem Jungen zu kämpfen, der ihn zu erwürgen versuchte, sondern auch mit dem Hund. Er verfluchte beide wütend durch die zusammengebissenen Zähne. Er lockerte seinen Griff, und das Schwert fiel klirrend zu Boden.
»Braver Junge!«, rief Titus, als er sein Schwert wieder aufhob und auf den Mann zustürmte, der Aristides gegenüberstand.
»Pass auf!«, rief Thermon warnend.
Die Aufmerksamkeit seines Gefährten war jedoch noch ganz auf den alten Ziegenhirten gerichtet, und er hatte kaum Zeit, auf diese Warnung zu reagieren, ehe Titus mit dem Schwert seinen Arm traf und bis auf den Knochen hieb. Mit einem schrillen Schmerzensschrei ließ der Mann seinen Speer fallen und hielt den Arm vor der Brust umklammert. Titus kickte Aristides den Speer zu und eilte zu Marcus zurück.
»Hier, nimm den. Wenn er dich angreift, durchbohre ihn.«
»Ja, Herr.« Der Ziegenhirt grinste. »Es wird mir ein Vergnügen sein.«
Titus legte Thermon das Schwert an den Hals. »Lass ihn los, Marcus, und rufe den Hund zurück.«
Marcus lockerte seinen Griff und ließ sich zu Boden fallen. Sein Herz klopfte wild. Er holte tief Luft und schnippte mit den Fingern. »Zerberus! Aus!«
Widerwillig ließ der Hund Thermons Arm los, tappte um den Mann herum, knurrte ihn noch einmal an und trottete dann zu Marcus. Der tätschelte ihm stolz den Kopf. »Braver Junge!«
Thermon rieb sich den Hals mit der Hand. Aus den Bissspuren an seinem anderen Arm troff Blut. Er starrte Titus voller Hass an.
Titus lächelte. »Ich glaube, du nimmst jetzt besser deine Leute und gehst, um Decimus Bericht zu erstatten. Sag ihm, dass er sein Geld beizeiten bekommen wird. Sag ihm, wenn er versucht, noch mehr Schergen zu schicken, um mich unter Druck zu setzen, dann können die sich auf die gleiche Behandlung gefasst machen, wie ihr sie bekommen habt.«
Er deutete auf den Mann, der am Boden lag. »Und jetzt sammelt den ein und macht, dass ihr von meinem Land kommt.«
Thermon und der Mann mit dem verletzten Arm hoben mit einiger Mühe ihren Kameraden hoch. Sie legten seine Arme über die Schultern und schleppten sich zum Tor. Thermon blieb kurz stehen und schaute über die Schulter zurück. »Zenturio, die Sache ist nicht ausgestanden. Ich warne Euch. Ich komme wieder, mit mehr Leuten. Es wird Euch teuer zu stehen kommen, dass Ihr Euch Decimus widersetzt habt.«
»Pah!« Titus spuckte auf den Boden.
Dann waren die ungebetenen Gäste wieder fort und man hörte nur noch ihre Stiefel über den Pfad schlurfen.
Marcus blickte seinen Vater an, dann Aristides. Alle drei atmeten schwer. Plötzlich stieß Titus einen Freudenschrei aus und Marcus tat es ihm nach. Sein Herz raste voller Erleichterung, dass sie alle unverletzt geblieben waren, und voller Stolz, dass sie ihre Feinde besiegt hatten. Titus legte ihm schwer die Hand auf die Schulter.
»Na, du kommst ganz nach dem Vater, da gibt es keinen Zweifel!«
Marcus schaute zu ihm auf und strahlte, überglücklich über dieses Lob. »Und Zerberus auch, Vater. Er hat auch geholfen.«
»Ja, wirklich!« Liebevoll strich Titus dem Hund über den Kopf.
Aristides warf den Speer zur Seite und gesellte sich zu ihnen. Obwohl der Mann ein Sklave war, legte Titus den freien Arm um die Schulter des alten Hirten. »Einen besseren Sieg habe ich kaum je errungen. Gut gemacht, Männer!«
Marcus und Aristides lachten glücklich, und Titus lachte mit, bis er eine Gestalt wahrnahm, die in der Haustür stand und kalt zu ihnen herüberschaute.
»Ich hoffe, du bist zufrieden mit dir«, sagte Livia.
Titus reckte sich trotzig in die Höhe. »Ja, das bin ich.«
»Wirklich? Du glaubst doch nicht, dass die Sache ausgestanden ist? Ich habe alles gehört. Er hat gesagt, dass er wiederkommt und mehr Leute mitbringt.«
Titus machte eine wegwerfende Handbewegung. »Das bezweifle ich. Wir haben ihm und Decimus eine Lektion erteilt, du wirst schon sehen. Wenn er gegen einen römischen Bürger vorgeht, noch dazu gegen einen mit Orden ausgezeichneten Zenturio, dann weiß er, dass ihm das nicht gut bekommen wird. Aber wenn du dich damit besser fühlst, werden wir weiter Ausschau nach ihnen halten.«
Marcus sah, wie seine Mutter den Kopf schüttelte. Dann wandte sie sich ab und ging wieder ins Haus zurück. Obwohl sein Herz vor Stolz glühte, weil er an der Seite seines Vaters gekämpft hatte, fragte er sich doch, ob sie nicht vielleicht recht hatte. Was war, wenn Decimus mehr Leute ausschickte? Beim nächsten Mal würden sie bestimmt besser vorbereitet kommen.
»Na, das hat doch Spaß gemacht!«, sagte Titus grinsend. »Das müssen wir feiern. Aristides!«
»Ja, Herr?«
»Schlachte deine beste Ziege. Heute Abend feiern wir unseren Sieg mit einem Festmahl!«
Marcus schaute auf und lächelte seinen Vater an. Titus tätschelte ihm die Wange und nickte.
»Mein kleiner Soldat. Aus dir wird einmal ein guter Kämpfer. Du wirst schon sehen.«
Einige Tage nachdem sie Decimus’ Männer vertrieben hatten, saßen Marcus und Aristides auf einem Felsblock und hüteten die Ziegen.
»Zerberus hat dir neulich gute Dienste geleistet«, sagte Aristides lächelnd. Doch dann wurde sein Gesichtsausdruck ernster. »Aber es wird noch eine ganze Weile dauern, bis der Hund richtig abgerichtet ist.«
Marcus schaute zu Zerberus hinunter. Der Hund schien seine Aufmerksamkeit zu spüren, sah ihn voller Hingabe an und wedelte glücklich mit dem Schwanz. »Er scheint aber doch ziemlich zahm zu sein.«
»Zahm ist er, aber nicht ausgebildet«, erwiderte Aristides mit Nachdruck. »Das war ein guter Gedanke, den Stock für ihn zu werfen, aber beim nächsten Mal kannst du dich nicht darauf verlassen, dass es wieder klappt.«
»Beim nächsten Mal? Meinst du, dass diese Männer wiederkommen?«
»Möglich ist es.« Aristides rang sich ein verächtliches Lächeln ab. »Und selbst wenn sie nicht zurückkehren, ist das kein Grund, Zerberus nicht weiter auszubilden. Er hat gute Fortschritte gemacht, seit du ihn gefunden hast, junger Herr Marcus.«
Marcus nickte. Es war über ein Jahr her, dass der Hausierer mit seinem Karren voller alter Töpfe, Messer, Becher und anderer Waren an ihrem Haus vorbeigekommen war. Zerberus war hinten am Karren angebunden gewesen, um die Fracht zu bewachen. Der Mann hatte ihn hungern lassen und geschlagen, um ihn so bösartig wie möglich zu machen, damit er jeden abschreckte, der auch nur einen Versuch unternahm, etwas vom Wagen zu stehlen. Marcus’ Mutter hatte einen raschen Blick auf den Inhalt des Wagens geworfen und wollte den Hausierer gerade wieder weiterschicken, als Marcus dazwischenging. Der Anblick des Hundes hatte ihm einen Stich versetzt.
»Lass mich den Hund kaufen, Mutter«, hatte er ihr zugeflüstert.
»Ihn kaufen?« Livia schaute belustigt. »Womit denn? Du hast kein Geld.«
»Dann kauf du ihn. Bitte.«
Sie schüttelte den Kopf. »Er ist ein wertloses, wildes Tier, Marcus. Zu nichts nutze.«
Marcus betrachtete den Hund und sah mehr als nur das verfilzte Fell und die gefletschten Zähne – er sah die gequälte und furchtsame Kreatur darunter. »Er ist übel behandelt worden. Es muss sich jemand um ihn kümmern. Bitte kaufe ihn mir, und ich verspreche, dass ich ihn abrichte, damit er sich auf dem Hof nützlich machen kann. Bitte!« Er zupfte sie am Ärmel ihrer Tunika und starrte zu ihr hoch. »Wenn dieser Mann ihn noch viel länger behalten darf, dann muss der arme Hund sterben.«
Seine Mutter schaute unverwandt zu ihm zurück und runzelte nachdenklich die Stirn, als wäre eine Erinnerung in ihr aufgestiegen. Sie sah zu dem Hausierer hinauf und fragte knapp: »Was soll der Hund kosten?«
Die Augen des Hausierers verengten sich listig. »Zwanzig Sesterze, weil er ja für den jungen Burschen da sein soll.«
»Zehn und nicht mehr.«
»Zehn?« Der Hausierer tat so, als wäre er überrascht. »Aber Zerberus ist ein erstklassiger Jagdhund. Mit einem guten Stammbaum und so weiter. Der ist ein Vermögen wert.«
»Zehn.« Livia blieb standhaft.
Der Hausierer machte eine Pause, als müsste er über ihr Angebot nachdenken. Dann nickte er. »Nun gut, aber das ist so gut wie geschenkt.«
Er machte den Hund von seinem Karren los und hielt Marcus das Seil hin. Livia hielt Marcus zurück und sagte zu dem Hausierer: »Nein. Bindet ihn an diesen Pfosten hier hinter der Scheune.«
Sobald der Hund sicher festgebunden war, ging sie ins Haus, um das Geld zu holen, und zählte dem Hausierer die Münzen auf die Hand. Er schloss sofort seine Faust darum und lief zu seinem Karren zurück.
»Viel Glück mit ihm. Das werdet ihr nötig haben.«
Dann ließ er die Peitsche knallen und der Karren holperte fort. Marcus stand da und starrte den Hund an, der sich an die Scheunenwand drückte und seinen neuen Besitzer misstrauisch beäugte.
Aristides besaß ein besonderes Geschick dafür, Tiere zu zähmen, und verbrachte seine Freizeit damit, diese Fertigkeit auch an Marcus weiterzugeben. Zusammen hatten sie in einem verriegelten Vorratsraum hinter der Olivenpresse mit Zerberus gearbeitet. Marcus erinnerte sich noch gut an jenen ersten Abend: Der alte Mann hatte dem Hund einen Schlaftrunk verabreicht und dann waren sie beide zu ihm hineingeschlichen und hatten seine Wunden gesäubert.
Nachdem das Tier wieder aufgewacht war, hatten sie es mit einer Grütze aus geschroteter Gerste und Fleischresten gefüttert. Wochen vergingen, und der Hund war schon bald wieder kerngesund. Das Fell war über die kahlen Stellen gewachsen und hatte seine Narben und Beulen zugedeckt. Unter Aristides’ Anleitung begann Marcus, dem Hund Fleischstücke anzubieten. Zunächst reichte er ihm das Fleisch nur durch die Gitterstangen, und Zerberus näherte sich vorsichtig, ehe er den Brocken schnappte und schnell damit in die hinterste Ecke des Lagerraums flitzte, um ihn dort zu verschlingen. Dann gingen Aristides und Marcus in den Raum, und Aristides forderte Marcus leise auf, dem Hund das Fleisch mit der Hand anzubieten. Marcus musste all seinen Mut zusammennehmen, um einen Schritt vorwärts zu gehen und seine Hand auszustrecken.
»Nicht zucken!«, warnte ihn der Hirte. »Du darfst ihn nicht merken lassen, dass du dich fürchtest.«
Die ersten paar Male schnappte Zerberus sich das Fleisch und rannte fort. Doch nach wenigen Tagen nahm er es und fraß es gleich an Ort und Stelle. Eines Tages dann kam er, nachdem er das Fleisch verschlungen hatte, vorsichtig auf Marcus zu und schnupperte an seiner Hand. Marcus war aufgeregt, als er den warmen Atem des Hundes auf der Haut spürte, aber er hielt die Hand ruhig, bis er schließlich fühlte, wie der Hund an seinen Fingern leckte. Stolz und eine warme Zuneigung zu dem Tier erfüllten seine Brust und er schaute mit einem begeisterten Lächeln zu Aristides hoch. »Hast du das gesehen?«
Der alte Ziegenhirt nickte und lächelte zurück. Er tätschelte dem Jungen den Kopf. »Da siehst du, ich habe es dir doch gesagt. Wenn du Geduld hast, können wir ihn für uns gewinnen.«