Ebook Edition
DER FALSCHE PRÄSIDENT
Was Pfarrer Gauck noch lernen muss, damit wir glücklich mit ihm werden
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ISBN 978-3-86489-527-2
© Westend Verlag GmbH, Frankfurt/Main 2012
Satz: Publikations Atelier, Dreieich
Druck und Bindung: CPI – Clausen & Bosse, Leck
Printed in Germany
Inhalt
Empört Euch nicht! Joachim Gauck – der Anti-Hessel
Der Beschöniger
Grob unterschätzt: Die Macht der Finanzwirtschaft
Die Freiheit des Einzelnen
Auch solidarische Risikovorsorge ist ein Kernelement der Sozialstaatlichkeit
Gauck warnt vor Systemveränderern und hat die neoliberale Systemveränderung nicht bemerkt
Gauck bewundert die Märkte
Ein bisschen ökonomisches Wissen wäre hilfreich
Im Zweifel für den Kriegseinsatz
Unverständnis für die Politik der alten Bundesrepublik
Die Verständigung mit dem Osten
Unausgegorenes zu den 68ern, zur Anti-Atom-Bewegung und den Wutbürgern
Der Präsident des Sowohl-als-auch
Joachim Gauck spaltet statt zu versöhnen
Der Demokratielehrer kennt sein Lehrbuch – kennt er auch die Realität?
Der TINA-Präsident
Wegbereiter für Schwarz-Grün
Nicht auf der Höhe der Zeit
Empört Euch nicht! Joachim Gauck – der Anti-Hessel
Schon vor seiner Nominierung war Joachim Gauck mit einer Zustimmung von 54 Prozent der klare Favorit für die Wahl zum Bundespräsidenten. Eine übergroße Koalition aus CDU/CSU, SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP hat sich für ihn ausgesprochen. Die lange zähe Periode der Wulffschen Selbstdemontage ist vorbei und wir bekommen einen Präsidenten, der zu repräsentieren und gut zu formulieren versteht. Können wir nun alle glücklich sein? Allen begeisterten Stimmen und der »Einheitsfront« der etablierten Parteien zum Trotz: Pfarrer Gauck ist der falsche Präsident.
Dabei passt Joachim Gauck sehr gut zu den unterschiedlichen Parteien, die ihn nominiert haben. Er erspart ihnen den neoliberalen Offenbarungseid. Werden sie sich rechtfertigen müssen für die Agenda 2010, die sehr viele Menschen ins Unglück gestürzt hat? Vermutlich nicht. Wird Joachim Gauck die Fehlentscheidungen im Zuge der Finanzkrise kritisieren? Wird er darauf hinweisen, welche großen Hypotheken daraus für uns und unsere Kinder und Enkel entstanden sind? Das ist zumindest zweifelhaft. Zur Erinnerung: Der Rettungsschirm für die Banken hat 480 Milliarden Euro umfasst – das sind 136 Prozent des Bundeshaushalts. Die Krise um Griechenland und den Euro wurde verschärft. Wird Gauck die immer weiter fortschreitende Militarisierung der Außenpolitik kritisieren? Auch diese Frage kann man wohl schon jetzt mit Nein beantworten. Das wird vor allem eine große Entlastung für die Führungen von SPD und Grünen sein. Sie tun sich immer noch schwer damit, die Militäreinsätze im Kosovo und in Afghanistan vor ihrer Anhängerschaft zu rechtfertigen.
Wir sehen: Mit Gaucks Wahl können viele Politiker glücklich sein. Aber können das auch wir Bürger?
Stéphane Hessel, der französische Widerstandskämpfer und Überlebende des KZ Buchenwald, ein weltgewandter Diplomat, hat vor zwei Jahren eine Streitschrift mit dem Titel Empört Euch! veröffentlicht. Sie ist ein Aufruf zum Widerstand gegen die Macht der Finanzwirtschaft, gegen den Abbau der sozialen Sicherheit und gegen militärische Gewalt. Nicht nur in Frankreich hat Empört Euch! eine Millionenauflage erreicht. Der Überraschungsbestseller eines 93-Jährigen zeigt, dass die Zahl der Unzufriedenen wächst, und das weltweit.
Auch in Deutschland wird die neoliberale Politik immer mehr in Frage gestellt. Auf der einen Seite werden Banken, die sich verspekuliert haben, mit viel Aufwand gerettet. Zur gleichen Zeit fehlt es in Schulen und Universitäten, bei der Altersvorsorge, in Pflegeeinrichtungen und bei der Kinderbetreuung an Geld. Viele verstehen nicht, dass Investmentbanker auch mitten in der Krise mit Milliarden Dollar und Euro an Bonuszahlungen und Vergütungen belohnt werden. Es blieb nicht beim Protest des greisen Widerstandskämpfers aus Frankreich. Junge Menschen demonstrieren in New York, Frankfurt, Madrid und anderswo gegen die Macht der Finanzwirtschaft. Selbst Investoren wie George Soros und Warren Buffett melden sich selbstkritisch zu Wort. In Deutschland sind es Spitzenmanager großer Unternehmen, wie beispielsweise Franz Fehrenbach von Bosch, Jürgen Heraeus vom gleichnamigen Technologieunternehmen oder Ernst Prost von Liqui Moly, die hinterfragen, warum die Wirtschaft Spekulantentum tolerieren müsse. »Da können Sie in der Realwirtschaft schuften und machen, was Sie wollen, gegen diese Spekulation kommen Sie nicht an«, ließ der Chef von Bosch im September 2011 wissen. In der Frankfurter Allgemeinen Zeitung erschien eine Serie von kritischen Beiträgen zur bedrohlichen Entwicklung im Verhältnis von Finanzwirtschaft und Politik, angestoßen vom Herausgeber Frank Schirrmacher. Er hatte am 14. August 2011 eine breite öffentliche Debatte mit der Schlagzeile provoziert: »Ich beginne zu glauben, dass die Linke recht hat.« Und er konstatiert, dass im bürgerlichen Lager die Zweifel daran, ob man richtig gelegen habe, wachsen. Schirrmacher beruft sich mit seinem Überschriftenzitat auf den erzkonservativen Publizisten und Thatcher-Biographen Charles Moore, der festgestellt hat: »Es zeigt sich – wie die Linke immer behauptet hat –, dass ein System, das angetreten ist, das Vorankommen von vielen zu ermöglichen, sich zu einem System pervertiert hat, das die wenigen bereichert.«
Man sieht: Aufklärung ist auch von konservativer Seite möglich. Es bewegt sich etwas in Deutschland und in Europa.
Doch nun bekommt Joachim Gauck seinen Auftritt. Er wird zum Präsidenten gewählt mit dem Auftrag, die Kluft zwischen Politik und Bürgern zu schließen und zu diesem Zweck die Bürger zu lehren, dass wir in einer guten Welt leben. Er ist hörbar gewillt, diesen Auftrag zu erfüllen. Empört Euch nicht! So lautet seine Botschaft. Mit der Wahl von Joachim Gauck zum Bundespräsidenten werden die herrschenden Verhältnisse zementiert statt aufgebrochen. So erklärte er am 19. Februar 2012 bei der Vorstellung seiner Person als Kandidat:
»Von allen Dingen, die Sie mir heute gesagt haben … ist mir am wichtigsten, dass die Menschen in diesem Land wieder lernen, dass sie in einem guten Land leben, das sie lieben können. Weil es ihnen die wunderbaren Möglichkeiten gibt, in einem erfüllten Leben Freiheit zu etwas und für etwas zu leben und diese Haltung nennen wir Verantwortung. … Und dort will ich wirken, wo wir Menschen wieder neu einladen, diese Haltung von Verantwortung anzunehmen und nicht nur als Zuschauer und kritischer Begleiter der öffentlichen Dinge herumzustehen.« Nominierungspressekonferenz im Bundeskanzleramt vom
19. Februar 2012, zitiert nach Spiegel Online
Joachim Gauck wurde uns als Widerstandskämpfer nahe gebracht. Doch er nennt »kritische Begleiter« und »Zuschauer« in einem Atemzug. Warum? Wie auch bei anderen Gelegenheiten äußert sich Gauck unnötig abfällig über kritische Zeitgenossen, wie er es schon über die Occupy-Bewegung getan hat. Wer die wachsende Entpolitisierung, das Fehlen von kritischem Sachverstand oder die mangelnde Kontrolle unserer politischen Entscheidungsträger beklagt, der muss zutiefst besorgt sein, dass mit diesem Präsidenten der kritische Verstand und das politische Engagement entmutigt werden. Gauck plädiert zwar oft für Einmischung, schmäht aber die Protestierer.
Unsere politische Elite möchte, dass Gauck den Menschen vermittelt, dass es insgesamt gut steht in unserem Land, dass die politisch Handelnden im Großen und Ganzen alles richtig machen.
Einer der Kerngedanken in meinem Buch Meinungsmache lautet: Wer über finanzielle oder publizistische Macht verfügt, kann die politischen Entscheidungen weitgehend bestimmen. Das ist auch die Sorge des Franzosen Hessel. Deshalb kritisiert er in seinem Buch die Konzentration der Medienmacht.
Auch bei uns sollte man da genauer hinschauen. Joachim Gauck wurde SPD und Bündnis 90/Grünen schon beim ersten Wahlversuch gegen Christian Wulff von Thomas Schmid, dem Herausgeber von Springers Welt-Gruppe, schmackhaft gemacht. Die erste Anlaufstelle von Thomas Schmid war wohl Jürgen Trittin, der Fraktionsvorsitzende der Grünen. So hat es Albrecht von Lucke in der taz vom 28. Februar 2012 beschrieben.
Vor allem die Bild-Zeitung, aber nicht nur sie, macht seither massiv Reklame für den Kandidaten Gauck. Einem Bundespräsidenten müsste die meinungsbildende Macht des Springer-Verlages Bauchschmerzen bereiten. Ein auf Demokratie und Freiheit pochender Präsident zum einen und das Auswahlverfahren und die massive Unterstützung durch die Bild-Zeitung und andere Blätter zum andern – das passt nicht zusammen.
Nun haben wir ihn aber und behalten ihn mit hoher Wahrscheinlichkeit auch für längere Zeit als Bundespräsident. Da bleibt uns als demokratisch gesonnene Zeitgenossen nur noch übrig, auf ein bisschen Einsicht zu hoffen. Und darauf zu setzen, dass sich nach der ersten Welle der Begeisterung viele Bürgerinnen und Bürger aufmachen, sich ein bisschen mehr Informationen über den neuen Präsidenten zu beschaffen. Beim Schreiben dieses Buches habe ich mit einigen Freunden und Bekannten gesprochen. Auch unter ihnen sind einige für die Wahl von Gauck und verbinden damit einige Hoffnungen. Bei nahezu allen diesen Gesprächen habe ich allerdings festgestellt, dass man äußerst wenig von ihm weiß. Der positive Eindruck wird allein durch die Meinungsebene, jedenfalls emotional, begründet, er wird nicht durch Fakten untermauert.
Das Potenzial an Menschen, die nach Kenntnis der Person und Gaucks Äußerungen ihr Urteil zumindest hinterfragen werden, ist vermutlich hoch. Der neue Bundespräsident täte also gut daran, seine Ansichten zu reflektieren, damit er ein Präsident aller Bürgerinnen und Bürger sein kann. Ich möchte möglichst viele Menschen dazu ermuntern, sich besser zu informieren und Gaucks Präsidentschaft konstruktiv kritisch zu begleiten. Deshalb dieses Buch.
Freitag