Gina Mayer
Zitronen im Mondschein
Roman
ISBN 978-3-8412-0035-8
Aufbau Digital,
veröffentlicht im Aufbau Verlag, Berlin, Oktober 2010
© Aufbau Verlag GmbH & Co. KG, Berlin 2010
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Erstes Kapitel
I.
II.
III.
Zweites Kapitel
I.
II.
III.
Drittes Kapitel
I.
II.
III.
Viertes Kapitel
I.
II.
Fünftes Kapitel
I.
II.
III.
Sechstes Kapitel
I.
II.
Siebtes Kapitel
I.
II.
III.
Achtes Kapitel
I.
II.
III.
Neuntes Kapitel
I.
II.
Zehntes Kapitel
I.
II.
III.
Elftes Kapitel
I.
II.
Zwölftes Kapitel
I.
II.
III.
II.
Epilog
Nachwort
Leseprobe
Mersterne, Morgenrot,
Anger ungebrachot,
Dar ane stat ein bluome,
Diu liuhtet also scone:
Si ist under den anderen
So lilium undern dornen,
Sancta Maria.
(aus dem Melker Marienlied, 12. Jhd.)
O Marietta Kripistika
Thronkanapee im Serail im Sevilla,
Du bist wertvoller als die juchzende
Säubande von Hosenträgern,
Deren Rüssel
An deinem Bauch
Zu schnuppern
Gewohnt sein pflegt.
(Hugo Ball, 1918)
Für Agnes Mayer,
meine Mutter
Sie stand manchmal mitten in der Nacht auf, schlüpfte aus ihrem Zelt und schlich durch den Zirkus. Leise ging sie an den Zelten vorbei, in denen die anderen schliefen. Sie hörte Josef schnarchen und Direktor Lombardi im Schlaf sprechen und Domenica und Pito streiten. Sie stritten, weil Pito Domenicas Meinung nach zu viel trank und weil Domenica Pitos Meinung nach zu viel meckerte. Oder aus irgendeinem anderen Grund.
Im Sommer lief sie mit nackten Füßen über die kühle Erde und das zertrampelte Gras. Im Winter zog sie Schuhe an, aber keine Strümpfe. Sie hatte stets dasselbe Ziel. Die Menagerie hinter dem Hauptzelt.
Die Tiere waren immer wach, wenn sie kam. Es war, als warteten sie auf sie, aber natürlich stimmte das nicht. Sie waren wach, weil sie Nachttiere waren.
Sie ging von links nach rechts an den Käfigen vorbei, und die Blicke der Tiere folgten ihr. Der Wolf mit seinen gelben Augen. Die kahle Wildkatze. Die fette Eule, die seit 1897 in der Menagerie lebte, fast so lange, wie Madame Argent beim Zirkus war.
Vor dem letzten Käfig blieb sie stehen.
Im Gegensatz zu den anderen Tieren beachtete sie der kleine Schneefuchs nicht. Er lag zusammengerollt da und leckte seine Schwanzspitze oder starrte auf seine Vorderpfoten. Sie atmete den scharfen Fuchsgeruch ein, den die Besucher tagsüber so abscheulich fanden, dass sie die Gesichter verzogen und sich die Nasen zuhielten.
Vor zwei Jahren hatte Direktor Lombardi den Schneefuchs einem anderen Wanderzirkus abgekauft. Voller Ungeziefer und Dreck war das Tier gewesen, als sie es in den Zirkus gebracht hatten, an einem der Hinterbeine hatte es einen tiefen eiternden Riss, den Esmeralda behandelt hatte. Es hatte sehr lange gedauert, bis die Wunde verheilt war.
Damals hatten Madame Argents nächtliche Wanderungen begonnen.
Sie wachte auf und ging los, ohne darüber nachzudenken, wohin sie ging, warum sie überhaupt losging. Es war wie Schlafwandeln und auch wieder nicht, denn am nächsten Morgen erinnerte sie sich ganz genau an alles. Sie wusste auch, dass sie bald wieder aufstehen und losgehen würde.
Als Maria im Zirkus auftauchte, sah Madame Argent sie zuerst vor dem Käfig des Schneefuchses. Das war natürlich kein Zufall. Es gab keine Zufälle. Alles was geschah, hatte einen Sinn.
In manchen Nächten verlor sie sich selbst vollkommen, dann war sie plötzlich der Fuchs und lag hinter den Gitterstäben, und er war ein Mensch und betrachtete sie.
Warum berührte der Schneefuchs sie so? Darauf wusste sie keine Antwort.
Vielleicht war es seine Einsamkeit. Vielleicht waren es die vielen Wunden, die Esmeralda nicht behandelt und geheilt hatte, weil er sie verborgen in seinem Inneren trug. Vielleicht war es die Kälte, aus der er kam und sie auch.
Oft blieb sie nur wenige Minuten vor dem Käfig stehen, manchmal mehr als eine Stunde. Sie wartete immer so lange, bis der Schneefuchs den Kopf hob und ihrem Blick begegnete.
Erst dann ging sie wieder zurück in ihr Zelt.
Ihr Vater war der stärkste Mann der Welt. In der Mitte der Manege stellte er sich auf, breitbeinig. Dann ging er in die Knie, atmete ein und packte gleichzeitig die Metallstange, an deren Enden die schweren runden Scheiben steckten. Ausatmend stemmte er sie hoch, bis weit über seinen Kopf, und während die Leute jubelten und applaudierten, schien es plötzlich, als ob er die Stange nicht mehr festhielt, sondern sein großer, kräftiger Körper vielmehr von den Gewichten nach oben gezogen wurde. Es sah aus, als ob er an der Stange hing, zuerst mit beiden Händen und dann mit einer. Er lächelte dabei, aber an seinen Schläfen traten die Adern hervor wie blaue Würmer. »Wer wagt es, gegen mich anzutreten?«, brüllte er ins Publikum, nachdem die Gewichte mit dumpfem Aufprall wieder auf den Sägespänen gelandet waren. »Einhundert Mark für den, der mich besiegt.« Aber es meldete sich nie jemand. Auf der ganzen Welt war keiner so stark wie er.
»Einmal eins bis drei?« Die laute Stimme der Kassiererin riss Mira aus ihrer Träumerei. Sie löste ihren Blick von dem Kinoplakat, das in grellen Farben einen Zirkusfilm ankündigte, und trat vor den Schalter.
»Platz 16«, sagte die Dame, obwohl Mira noch gar nicht geantwortet hatte. Sie reichte ihr ein hellgrünes Pappkärtchen durch das Fenster.
Mira gab ihr fünf Groschen. Für fünfzig Pfennige bekam man im Düsseldorfer Odeon-Theater auf der Martinstraße einen Sitzplatz. Es war natürlich kein Logenplatz, sondern nur ein Holzsitz in einer der ersten drei Reihen, der automatisch hochklappte, wenn man aufstand. Aber immerhin ein Sitzplatz. In den großen Lichtspielhäusern auf der Graf-Adolf-Straße kostete seit Anfang des Jahres 1926 bereits ein Stehplatz fünf Groschen.
An den Wänden des Saals verstrahlten kunstvoll verschnörkelte Glaslampen gelbes Licht. Der rote Vorhang vor der Leinwand hatte sich bereits geöffnet. Als Mira ihren Platz fast erreicht hatte, gingen die Lampen aus. Einen Moment lang stand sie in vollkommener Dunkelheit, bis ein paar kleine Notleuchten angingen. Wie so oft überlegte sie, ob es irgendjemanden auffallen würde, wenn sie sich auf einen der weichen Samtsessel setzen würde. Die Platzanweiserin stand immer noch oben am Eingang und konnte sie in der Dunkelheit unmöglich sehen. Aber dann tastete sich Mira doch nach vorn zu den Holzsitzen.
Sie ging jede Woche ins Odeon. Es war natürlich ungeheuerlich, wenn man bedachte, wie viel Geld sie dafür ausgab. Sie nahm sich auch jeden Montag vor, dass sie sich den Eintritt diese Woche sparen oder für etwas Sinnvolles ausgeben wollte, und manchmal schaffte sie es auch, bis zum Mittwoch durchzuhalten. Mitunter ging sie auch am Donnerstag noch nicht hin. Aber spätestens am Freitag gab sie alle guten Vorsätze auf und schob ihre fünfzig Pfennige durch das Kassenfenster. Es war eine heimliche Sucht.
Was die Filme anging, war sie nicht wählerisch. Sie sah Liebesfilme, Abenteuerfilme, Filme mit richtigen Schauspielern und Zeichentrickfiguren, Anspruchsvolles und Seichtes, Trauriges und Komisches. Sie schaute sich an, was gerade lief. Meistens kannte sie nicht einmal den Titel des Films, wenn sie sich auf dem dünnen Holzsitz niederließ.
Am liebsten kam sie allein hierher. Sie tauchte ein in das schwarz-weiß-graue Flimmern, und nach einer Stunde oder zwei tauchte sie wieder auf, aber sie wollte nie darüber reden, was sie erlebt hatte. Sie wollte auch nichts über die Schauspieler wissen, wie sie im wirklichen Leben waren, wen sie liebten, wo sie lebten. Wenn man zu viel wusste, verlor sich die Illusion, fand Mira.
Man kannte Mira im Odeon, selbst der alte Pianist, der die Filme auf dem leicht verstimmten Klavier begleitete, begrüßte sie mit einem leichten Nicken, wenn sich ihre Blicke begegneten, aber ansonsten wechselten sie nie ein Wort.
Mira schloss die Augen, lehnte den Rücken an die harte, blank geriebene Lehne und atmete den vertrauten Kinogeruch ein. Diese Luft! Im Sommer zu warm, im Winter zu kalt, immer ein bisschen staubig. Neben ihr raschelte eine Papiertüte. Zigarettenrauch zog an ihr vorbei. Vor ihren geschlossenen Lidern erschien wieder ihr Vater, er ging in die Knie, um die Gewichtstange aufzuheben. Dann begann das Bild zu flackern. Mira machte die Augen wieder auf. Der Film begann.
Sie summte die Melodie, die der alte Pianist auf dem verstimmten Klavier gespielt hatte, während der kleine Mann mit dem schwarzen Schnurrbart auf der Leinwand zwei Brötchen tanzen ließ. Damtatadamtadam. Im Residenz-Theater und im Asta-Nielsen begleitete eine richtige Kapelle mit Streichern, Bläsern und einem Schlagzeug die Filmvorführungen. Im Odeon-Theater auf der Martinstraße war es nur ein einzelner Pianist. Es gab nicht einmal eine Kinoorgel, dafür war der Eintritt so billig. Damtatadamtadam. Auf dem schadhaften Pflaster glänzte eine Pfütze. Mira machte ein paar schnelle Schritte darum herum und fühlte sich dabei selbst leicht und schwerelos wie eine Tänzerin. Damtatadamtadam. Es war Juli; die Nacht stieg langsam von unten nach oben. Während es auf den Straßen schon dunkel war, zeichneten sich die Dächer noch klar und deutlich gegen den tiefblauen Abendhimmel ab.
Als sie auf die Bilker Allee einbog, gingen gerade die Straßenlaternen an, von einer Sekunde zur anderen verbreiteten sie ihr kaltes, weißgelbes Licht. Mira überquerte die Straße und ging nach rechts in die Friedenstraße. Ihr Schatten tauchte vor ihr auf und wanderte dann an ihr vorbei, als führte er ein Eigenleben. Immer wenn sie eine Laterne erreicht hatte, zerfloss er unter ihren Füßen, aber wenn sie weiterging, erschien er wieder vor ihr, klar und scharf definiert auf dem beleuchteten Pflaster.
Vielleicht war es dieses seltsam eigenwillige Schattenspiel, vielleicht war es die Finsternis, die sich hinter den Lichtkreisen der Straßenlaternen dicht und feindselig zusammenballte – auf jeden Fall verlor sich die Schwerelosigkeit, die sie soeben noch gespürt hatte. Stattdessen fühlte sie eine große Unruhe.
Sie wohnte in der Sedanstraße, direkt neben dem Evangelischen Hospital. Tagsüber knatterten hier oft die Rettungswagen entlang, ein paar Mal wäre sie fast von einem der lang gezogenen Automobile überfahren worden, aber jetzt in der Nacht war alles still. Sie schloss die Haustür auf und trat in den dunklen Hausflur und hatte sofort das Gefühl, das irgendetwas nicht stimmte. Die Petroleumlampe an der Wand war aus, aber das war nichts Ungewöhnliches, die Zimmerwirtin löschte sie immer schon um neun, um Brennstoff zu sparen. Von draußen drang stets ein wenig Licht ins Treppenhaus, so dass Mira ihren Weg nach oben ohne Schwierigkeiten fand. Was war heute anders als sonst? Der Geruch – sie roch irgendetwas, das nicht hierher gehörte. Es war ein blumiger, süßer Parfümduft, stellte Mira fest und merkte gleichzeitig, wie sie wieder ruhiger wurde. Verbrecher und Wegelagerer parfümierten sich für gewöhnlich nicht.
»Hallo«, rief sie mit fester Stimme in die Dunkelheit. »Ist hier jemand?«
»Mira«, kam es von oben zurück. »Bist du das?«
»Gudrun!« Mira hastete jetzt nach oben in den zweiten Stock. »Du hast mich erschreckt … Was willst du denn, um diese Zeit?«
»Ich warte!«, gab Gudrun zurück. »Wo kommst du denn jetzt her, zu dieser späten Stunde?« Wie ärgerlich sie klang! Hatten sie eine Verabredung gehabt, die Mira vergessen hatte? Sie konnte sich beim besten Willen nicht erinnern. Sie hatten sich doch am Mittag noch gesehen, als Gudrun zum Essen in die Rheinterrasse gekommen war, wo Mira als Serviermädchen arbeitete.
»Ich war im Kino.« Mira schloss ihre Wohnungstür auf und drehte den Lichtschalter an. »Und du? Wie lange hast du gewartet?«
»Stunden«, sagte Gudrun vorwurfsvoll, obwohl das überhaupt nicht stimmen konnte.
»Was ist denn geschehen? Bist du krank?«
»Unsinn.« Gudrun ging zu dem kleinen Tisch unter dem Dachfenster und ließ sich auf Miras einzigen Stuhl fallen. »Ich war gerade bei deiner Mutter.«
Mira spürte ein leises Flattern in ihrer Magengegend, ein Trippeln, Pochen und Ziehen, das Gefühl, das sich immer in ihr ausbreitete, wenn sie an ihre Mutter dachte. Es war eine Mischung aus Ärger, Überdruss und schlechtem Gewissen. Warum kann sie mich nicht in Ruhe lassen? dachte Mira. Das war natürlich unsinnig, ihre Mutter hatte sie ja gar nicht aufgesucht, sondern Gudrun.
Aber dennoch. Wahrscheinlich steckte Mutter wieder in Schwierigkeiten, sie brauchte Geld, hatte sich mit ihrem Hauswirt überworfen, oder sie hatte eine ihrer Visionen gehabt, ein Toter, ein Heiliger oder die Muttergottes persönlich hatten ihr eine wichtige Botschaft überbracht. Deshalb war Gudrun jetzt hier.
»Was ist mit ihr?«, fragte Mira unwillig.
»Nichts«, sagte Gudrun. »Was soll mit ihr sein? Es geht um mich.«
Mira setzte sich auf die Bettkante. Das Trippeln und Pochen löste sich ins Nichts auf.
»Mir haben sie heute gekündigt.«
»Aber wie … warum das denn? Sie waren doch immer so zufrieden mit dir.«
Gudrun arbeitete seit über einem Jahr im Warenhaus Tietz am Hindenburgswall als Verkaufsfräulein. Sie schnitt Stoffe zu, suchte Schnittmuster aus und beriet die Kundschaft bei der Auswahl der passenden Garne, Litzen und Knöpfe.
»Zumindest schien es so.« Gudrun zog ihre lange, gerade Nase kraus und zuckte mit den Schultern. Sie war die schönste Frau, die Mira kannte. Obwohl sie nach dem langen Arbeitstag verschwitzt war, strahlten ihre klar geschnittenen Gesichtszüge, ihre feine weiße Haut eine klassische Eleganz aus. So wie Gudrun hatten die Statuen der griechischen Göttinnen ausgesehen, bevor ihnen im Lauf der Jahrtausende die Nasen und alle Gliedmaßen abgeschlagen worden waren. »Ist ja auch egal. Jedenfalls bin ich die Anstellung nun los. Am nächsten Ersten stehe ich auf der Straße.«
»Aber Gudrun, das ist ja furchtbar. Was willst du denn jetzt anfangen?«
Gudrun starrte über Miras Schulter auf die zersprungenen Kacheln über dem Waschbecken und antwortete nicht.
»Ich kann gleich morgen einmal in der Rheinterrasse nachfragen, ob sie nicht noch eine Bedienung einstellen wollen. Bestimmt nehmen sie dich …«
»Nein, Unsinn, ich werde bestimmt kein Serviermädchen.« Gudrun klang mit einem Mal ungehalten.
»Aber wovon willst du denn leben?«
»Bis vor einer Stunde wusste ich es ganz genau. Aber dann bin ich zu deiner Mutter …«
»Ich verstehe kein Wort! Was hat meine Mutter mit der Sache zu tun?«
Gudrun ließ sich auf einen von Miras Stühlen fallen. »Ich will mein eigenes Geschäft aufmachen – einen Modesalon für die Damen.«
»Aber das ist doch … Du hast doch überhaupt kein Geld, und um eine Schneiderei aufzumachen, brauchst du wenigstens eine Nähmaschine.«
»Eine Nähmaschine?« Gudrun stieß verächtlich die Luft durch die Nase. »Ich brauche angemessene Räume, eine Adresse, die man angeben kann, ohne gleich zu erröten. Ich brauche Stoffe, Accessoires und Paravents und ein silbernes Teegeschirr mit vierundzwanzig Teilen, denn ich muss meinen Kundinnen ja auch Erfrischungen servieren können. Ich brauche Möbel, Teppiche und Vorhänge und ein Grammophon und ja, eine Nähmaschine brauche ich natürlich auch.«
Mira sah ihre Freundin misstrauisch an. Machte sie sich über sie lustig? Gudrun hatte immer davon geträumt, eine eigene Modellschneiderei für anspruchsvolle, reiche Damen aufzumachen. Aber genau wie Mira war Gudrun arm wie eine Kirchenmaus. Ein paar Notgroschen in einer angeschlagenen Kaffeetasse auf dem Küchenbord – das reichte wohl kaum für die Eröffnung eines eleganten Damensalons.
»Na ja, jedenfalls wollte ich das, aber jetzt bin ich ganz und gar durcheinander«, fuhr Gudrun fort. »Deine Mutter – also sie kann einen wirklich verrückt machen mit ihren Ratschlägen. Nun weiß ich gar nicht mehr, was ich anfangen soll.« Ihre langen Finger flatterten nach oben zu ihrem Kopf, sie fummelten eine Weile an ihrer Frisur herum, dann sanken sie wieder in ihren Schoß.
»Wovon redest du eigentlich, Gudrun?« Mira stand wieder auf und lief mit großen Schritten durchs Zimmer. Sie wusste allerdings nur zu gut, wovon Gudrun redete. Gudrun war zu ihrer Mutter gegangen und hatte sich von ihr weissagen lassen. Sie hatte ihr aus der Hand gelesen oder aus dem Kaffeesatz. Ich sehe etwas sehr Großes, sehr Düsteres, mein Kind, hörte Mira die rauchige Stimme ihrer Mutter. Sieh dich vor. Hokuspokus Fidibus dreimal schwarzer Kater. Vielleicht hatte sie ihr auch die Karten gelegt. Warum um alles in der Welt hatte sich Gudrun darauf eingelassen! Was fand sie überhaupt an Miras Mutter, dass sie ständig zu ihr rannte!
»Ich kann vielleicht einen Salon anmieten«, erklärte Gudrun. »Auf der Hohen Straße, oben am Carlsplatz. Ich wollte, dass sich deine Mutter die Räume einmal ansieht wegen der …« Sie unterbrach sich und starrte auf ihre Fingernägel, die weißrosa glänzten wie das Innere von Muscheln.
»Warum soll sie sich die Räume ansehen?«, fragte Mira scharf, als Gudrun nicht weitersprach. Plötzlich musste sie wieder an den Film denken, den sie vorhin gesehen hatte. Wie Big Jim den kleinen Charlie Chaplin im Hungerwahn für ein Huhn gehalten hatte und mit dem Messer hinter ihm hergejagt war. Genauso war ihre Mutter. Sie nahm die Dinge nicht so, wie sie waren, sondern lebte in ihrer eigenen Welt, die voll verdrehter Wahnvorstellungen war.
»Wegen der Geister«, meinte Gudrun trotzig. »Immerhin will ich mein gutes Geld nicht für teure Räumlichkeiten ausgeben, in denen irgendwelche unselige Geister herumspuken und mir die Kundinnen vertreiben, ohne dass man den Grund dafür kennt.«
Mira schüttelte den Kopf. Sie holte zwei Gläser aus dem wackligen Kabinett neben dem Ofen und schenkte sich und Gudrun Apfelmost ein. Warum ließ sich Gudrun auf die Verrücktheiten ihrer Mutter ein? fragte sie sich wieder. Sie stand doch sonst mit beiden Beinen auf der Erde, spottete über Gott und den Teufel und ihre bigotte Vermieterin, die fünfmal in der Woche in die Kirche rannte.
»Und warum bist du nun so durcheinander?« Mira reichte Gudrun ein Glas Apfelmost, ohne sie vorher zu fragen, ob sie etwas trinken wollte. »Wart ihr schon dort, und sie hat dir das Ganze ausgeredet?« Es ärgerte sie auch, dass Gudrun ihrer Mutter von ihren Plänen erzählt hatte, bevor sie mit Mira darüber gesprochen hatte.
»Nein, nein.« Gudrun nahm gedankenverloren einen Schluck und verzog das Gesicht. »Es war ja viel zu spät für eine Besichtigung. Ich werde in der nächsten Woche mit ihr hingehen. Obwohl …«
»Obwohl? Nun erzähl doch schon! Was ist geschehen?«
»Ich hab ihr von der Sache erzählt. Was ich vorhabe und wie ich mir das Ganze vorstelle. Es war dasselbe, was ich auch dir gesagt habe, nicht mehr und nicht weniger, aber deine Mutter, sie hatte plötzlich … sie ist … es war wie eine Erscheinung.«
»Sie hat angefangen zu zittern, und ihre Stimme wurde tief und fremd, als ob ein Geist von ihr Besitz ergriffen hätte und aus ihr spräche.« Mira lächelte müde.
»Ja, aber es war kein Hokuspokus.«
»Was denn sonst?«, meinte Mira. »Meinst du, es ist wirklich ein Gespenst in sie eingedrungen?«
»Es war jedenfalls kein Hokuspokus«, sagte Gudrun noch einmal.
»Was hat sie gesagt?«
»Sie hat mich erst lange mit einem sehr seltsamen, furchtbaren Blick angesehen, und dann drehte sie sich weg und murmelte und brummelte etwas, das ich nicht verstand. Danach schaute sie mich wieder an und begann zu schreien. Wie eine Wahnsinnige war sie auf einmal. Du machst einen Fehler, schrie sie, merkst du denn nicht, dass du irregehst. Er führt dich ins Verderben. Er wird dich vernichten, mit Haut und Haaren. Verstehst du, Mira, es war nicht deine Mutter, die da mit mir geredet hat, es war jemand anderes, der aus ihr sprach. Wenn du nur dabei gewesen wärest!«
Mira schlüpfte aus ihren Schuhen, zog die Füße aufs Bett und stützte das Kinn auf die Knie. Genau wie früher, merkte sie plötzlich. Genau so hatte sie sich damals hinter der Kiste auf dem Flickenteppich zusammengekauert, so dass man sie vom Tisch aus nicht sehen konnte. Auch sie konnte kaum etwas sehen, nur den Hinterkopf ihrer Mutter und eine ihrer Schultern. Manchmal reckte sie den Kopf, weil sie so neugierig war, weil sie so gerne wissen wollte, wie die Besucher aussahen, die auf der anderen Seite des Tisches saßen, aber sie erhaschte niemals mehr als eine Haarsträhne oder einen Hut. Sie sah nichts, doch sie hörte alles. Sie hörte die ängstlichen Fragen und die Antworten ihrer Mutter, sie hörte, wie sich ihre Stimme veränderte und tief und furchtbar wurde, wie sie Geheimnisse aus dem Jenseits enthüllte und in die Zukunft schaute, wie sie summte und sang und murmelte. Damals hatte Mira im Grunde schon geahnt, dass es nichts als leerer Zauber war, Humbug, Betrug. Aber die Besucher hatten ihrer Mutter vertraut. Jedenfalls erschien es Mira so. Vielleicht hatte sie sich das allerdings auch nur eingebildet, sie war ja noch so klein und dumm.
Sie schüttelte den Kopf und riss sich aus der Erinnerung.
»Ich verstehe gar nicht, was das soll«, meinte sie zu Gudrun. »Wer führt dich ins Verderben? Wer wird dich vernichten? Was meinte sie denn damit?«
Gudrun schluckte. Ihre Hände lagen um das Apfelmostglas und drehten es hin und her, hin und her, als wären sie und das Glas miteinander verbunden wie eine Maschine.
»Ich habe jemanden kennengelernt«, sagte sie dann.
Mira schenkte noch einmal Apfelmost nach, erst sich und dann Gudrun, obwohl ihre Freundin ihr Glas bisher kaum angerührt hatte. Sie wollte, dass die mechanische Dreherei aufhörte, es machte sie ganz nervös, aber kaum hatte sie den Krug weggezogen, als Gudruns Hände die Bewegung auch schon wieder aufnahmen.
»Aha«, sagte Mira. »Da liegt also der Hase im Pfeffer. Ein Mann.«
»Nein«, erwiderte Gudrun. »Es ist nicht so, wie du denkst.«
»Was denke ich denn?«
»Es ist keine Affäre. Herr Pressmann ist auch schon alt und verheiratet.«
»Wie bitte? Wovon redest du eigentlich? Nun erzähl doch alles einmal der Reihe nach, du bringst mich ja vollkommen durcheinander.«
Gudrun nickte, drehte ihr Glas und nickte wieder. »Ich kenne ihn über seine Frau. Frau Pressmann ist … sie war eine meiner Stammkundinnen bei Tietz. Also, meistens kam das Dienstmädchen, aber ein paar Male hat Frau Pressmann sie begleitet, und einmal kam auch Herr Pressmann mit. Während seine Frau die Stoffe aussuchte, gerieten wir ins Gespräch. Und danach kam er immer öfter mit, auch allein, aber es ist nicht so …«
»… wie ich denke«, beendete Mira den Satz und seufzte. »Hat er dich auch ausgeführt?«
»Sie haben mich zum Essen eingeladen.«
»Aber seine Frau hatte zufällig keine Zeit, also wart ihr alleine miteinander.«
»Nein«, sagte Gudrun empört. »Seine Frau war natürlich dabei. Was denkst du von mir!«
»Und er will dir nun deinen Laden finanzieren. Einfach so. Aus reiner Nächstenliebe.«
»Es ist ein Geschäft. Wir machen einen Vertrag, er übergibt mir das Geld sozusagen als Kredit, und ich zahle es ihm Monat für Monat aus meinen Gewinnen zurück.«
»Und wenn du keine Gewinne machst?«
»Dann werde ich den Salon irgendwann wieder schließen müssen«, meinte Gudrun. »So ist das mit jedem Unternehmen.«
»Was will er sonst noch dafür? Kein Mensch gibt sein Geld einfach ohne Gegenleistung her, er erwartet sich doch etwas.«
»Aber nein! Es steckt kein Pferdefuß dahinter, ich bin doch nicht naiv, ich habe mir die Sache genau überlegt.«
»Wenn es nun so ist – warum bringt dich dann meine Mutter mit ihren Visionen so ins Grübeln?«
»Weil sie doch gar nichts von Pressmann wusste. Ich habe ihr nur erzählt, dass ich eine Schneiderei eröffnen will, und sie fängt mit dieser komischen Stimme davon an, dass mich einer ins Verderben führen und mit Haut und Haaren vernichten will.«
»Aber Gudrun«, meinte Mira. »Es liegt doch auf der Hand, dass man für ein solches Vorhaben Geld braucht. Du hast dir nun sogar schon die Räumlichkeiten für dein Geschäft ausgesucht, also konnte meine Mutter annehmen, dass du einen Finanzier gefunden hast. Und wer hat das Geld in dieser Welt? Die Männer. Meine Mutter hat keine übersinnlichen Fähigkeiten. Sie hat nur eins und eins zusammengezählt. So macht sie es immer.«
Gudrun stützte ihr schönes Gesicht in die Hände. Ihre Schneidezähne zogen ihre Unterlippe nach innen und ließen sie dann langsam wieder nach außen gleiten. »Vielleicht hast du recht.« Sie nickte nach einer Weile. »Wahrscheinlich habe ich mich einfach verrückt machen lassen …«
Mira beugte sich über den Tisch und legte ihre plumpe, rote Hand auf Gudruns schmale, weiße Finger. »Ganz bestimmt sogar.«
Gudrun stieß erleichtert die Luft aus. Dann schüttelte sie den Kopf. »Mein Gott, wie dumm ich war! Ich bin froh, dass ich mit dir gesprochen habe.«
»Aber was willst du denn jetzt tun?«
Gudrun sah sie erstaunt an. »Das ist doch keine Frage. Ich werde die Sache beherzt angehen. Das ist meine Chance auf das ganz große Glück.«
»Aber Gudrun, dieser Mann, wer weiß, was er bezweckt.«
»Pressmann ist wirklich nicht so, wie du meinst. Er ist wie ein Vater. Hat sich immer eine Tochter gewünscht. Seine Frau auch.«
»Ich weiß nicht …«
»Aber ich weiß es jetzt. Du hast recht, ich habe mich durch deine Mutter ganz schön ins Bockshorn jagen lassen. Aber jetzt bin ich wieder bei Sinnen. Willst du dir die Räume morgen einmal gemeinsam mit mir ansehen, bevor ich sie anmiete?«
»Morgen? Von neun bis sechs muss ich aber arbeiten. Außerdem sollte dich doch meine Mutter begleiten.«
Gudrun lachte. »Das werde ich mir nun besser sparen. Nein, die Räumlichkeiten sind traumhaft, der Zeitpunkt ist günstig, ich muss nur mit beiden Händen zugreifen und mein Glück machen.«
»Nun lass es dir doch noch ein paar Tage durch den Kopf gehen«, versuchte es Mira noch einmal. »Ich bitte dich, Gudrun!«
Aber Gudrun war schon aufgesprungen, sie stand vor Mira, nahm ihr Gesicht in die Hände und küsste sie auf die Stirn. »Lass gut sein, Mira, ich war noch nie so klar und entschlossen wie heute. Glaub mir, ich weiß, was ich tue.«
Die Tür zum Flur schlug hinter ihr zu, ehe Mira noch etwas sagen konnte. Sie blieb noch eine Weile sitzen, dann stand sie langsam auf und schob den Riegel vor. Danach begann sie sich auszuziehen. Gudrun hätte vermutlich die Finger von der Sache gelassen, wenn ich meinen Mund gehalten hätte, dachte sie, während sie sich die Bluse aufknöpfte und ihr Mieder aufhakte. Sie wusch sich das Gesicht, die Brust und die Achseln, löste ihr Haar und kämmte es aus. Meine Mutter kann nicht in die Zukunft schauen, niemand kann das, dachte sie. Aber was sie Gudrun gesagt hatte, war richtig. Und sie selbst hatte alles wieder zerstört, als sie die Worte ihrer Mutter entzaubert hatte.
Nachdem sie ihr Nachthemd angezogen hatte, betrachtete sie ihr Gesicht in dem trüben Spiegel über dem Waschtisch. Ihre dichten schwarzen Brauen, die Oberlippe, fast ohne Einkerbungen, ein rundes Ebenbild der Unterlippe. Es waren die Züge ihrer Mutter.
Was hast du nur gegen mich, Mirabella? hörte sie plötzlich ihre Stimme, so laut und deutlich, dass sie zusammenfuhr. »Das weißt du nur zu gut«, gab sie genauso klar zurück.
Ihre Mutter hatte Gudrun etwas vorgegaukelt, aber Mira selbst hatte die Wahrheit gesagt. Und allein darauf kam es an, sagte sie sich, während sie das Licht löschte und unter die Bettdecke kroch. Sich an die Wahrheit zu halten und an das, was sicher war. Das hatte sie gelernt in harten und schmerzhaften Lektionen.
Natürlich konnte sie nicht einschlafen. Sie atmete ruhig ein und aus, aber es half nichts. Sie machte sich Sorgen. So lange sie Gudrun kannte, hatte sie immer ihren Kopf durchgesetzt. Schon damals im Religionsunterricht bei Kaplan Sommermann. Sie hatte sich einfach geweigert, den Katechismus auswendig zu lernen. »Ich kann es mir nicht behalten«, erklärte sie dem Kaplan bedauernd, wenn er sie wieder einmal abfragte. »Was bewirkt die helfende Gnade?« »Gott erleuchtet durch die helfende Gnade unseren Verstand und bewegt unseren Willen, dass wir das Böse meiden und das Gute tun.« Im Gegensatz zu Gudrun hatte Mira die Sätze immer gelernt. Sie hatte immer alles getan, was man von ihr verlangt hatte, weil sie wusste, dass das das Vernünftigste war. Aber Gudrun war stur geblieben, selbst als der Kaplan damit gedroht hatte, sie von der Heiligen Kommunion auszuschließen. Sie war aber am Ende doch zugelassen worden.
Nach der Schule war Gudrun bei einem Damenschneider in die Lehre gegangen, gegen den Willen ihrer Eltern, die gewollt hatten, dass sie in ihrer Metzgerei Würste und Speck verkaufte. Die Lehrstelle hatte Gudrun sich selbst gesucht. »Das ist der Laden, in dem ich lernen werde«, hatte sie Mira erklärt, als sie auf dem Heimweg von der Schule an der Schneiderei vorbeigekommen waren.
»Wann wurde das denn arrangiert?«, fragte Mira erstaunt.
»Noch gar nicht.« Gudrun trat etwas unsicher von einem Fuß auf den anderen. Hinter den hohen Fenstern der Damenschneiderei sahen sie ein Vorzimmer mit einem Ladentisch, dahinter stand eine ältere Frau, die ihrerseits zu Mira und Gudrun heraussah.
»Ich werde jetzt hineingehen und mich vorstellen«, sagte Gudrun, und bevor Mira noch irgendetwas sagen konnte, hatte sie ihr schon ihre Schultasche in den Arm gedrückt und war im Laden.
Mira sah sie lange mit der Frau reden, die immer wieder die Arme hob und den Kopf schüttelte, aber irgendwann trat sie hinter ihrem Ladentisch hervor und führte Gudrun in ein Hinterzimmer. Später kam sie allein zurück und stellte sich wieder hinter die Theke.
Dann wartete Mira und wartete und wartete, doch Gudrun kam nicht wieder heraus. Sie wurde immer unruhiger und besorgter. Was war, wenn da hinten irgendein Unhold saß, der Gudrun etwas zu Leide tat? Und sie stand hier dumm und unnütz herum und kam ihrer Freundin nicht zu Hilfe. Du lieber Gott, hilf ihr, hilf mir, dachte sie, obwohl sie gar nicht an Gott glaubte.
Ihre eigene Schultasche auf ihrem Rücken, Gudruns Schultasche in den Händen stand sie da und wartete so lange, bis die Glocken vom Dominikanerkloster halb zwei schlugen. Dann hielt sie es nicht mehr aus. Sie legte die beiden Taschen neben dem Eingang ab und öffnete die Tür. Die kleine Glocke über ihr klingelte hell und feindselig. Mira war auf einmal sehr heiß. »Guten Tag«, sagte sie. Die Frau hinter der Theke war älter, als es von draußen ausgesehen hatte. Ihre grauen Haare waren zu einem Dutt gesteckt, ihr Gesicht wirkte müde und ungeduldig. »Kommst du jetzt auch noch und fällst uns auf die Nerven?«, fragte sie.
»Nein.« Mira wäre am liebsten direkt wieder gegangen, doch dann dachte sie an Gudrun und das Ungeheuer und räusperte sich. »Ich wollte nur fragen …«
Im selben Moment kam Gudrun aus dem Hinterzimmer, mit einem triumphierenden Lächeln im Gesicht und einem Blatt Papier in den Händen.
»Das ist mein Lehrvertrag«, erklärte sie Mira, als sie wieder draußen auf der Straße waren. »Ich habe darauf bestanden, dass wir gleich alles aufschreiben, weil der Meister gar so widerwillig war und durchaus kein Lehrmädchen akzeptieren wollte.«
»Wie hast du es denn dann geschafft, ihn zu überzeugen?«, fragte Mira.
»Ich habe einfach geredet und geredet, bis er vor lauter Überdruss klein beigegeben hat.«
Nach zwei Jahren kündigte sie die Stellung von einem Tag auf den anderen, weil sie nun alles gelernt hätte, was man ihr hier beibringen konnte. Sie arbeitete ein halbes Jahr in einem Salon auf der Königsallee, aber dann überwarf sie sich wegen einer Nichtigkeit so mit der Frau des Inhabers, dass sie auch diese Stellung aufkündigte. Danach hatte sie als Ladenmädchen bei Tietz angefangen. Und jetzt war auch das vorbei.
Gudrun war immer verrückt gewesen, eigensinnig und impulsiv. Aber dieser Salon für die feine Dame, den sie jetzt gründen wollte, das war eine andere Sache. Das war vermessen – im wahrsten Sinne des Wortes: ein paar Kragenweiten zu groß für Gudrun. Und dieser Pressmann und sein Geld – wie konnte Gudrun sich nur auf ihn einlassen?
Mira versuchte, ihre Gedanken von Gudrun fortzubewegen. Sie stellte sich vor, dass sie in einem dunklen, kühlen Meer schwamm, schwerelos und zufrieden. Sanfte Wellenbewegungen trugen sie weg vom Ufer, hinein in eine tiefe Weite. Dann tauchten mitten in der Leere wieder die Manege auf und der kräftige, große Mann, der seine Gewichtsstange vor sich in die Sägespäne warf. »Wer wagt es, gegen mich anzutreten?« Niemand wagt es, dachte Mira. Weil du ein Gespenst bist. Danach zerfloss das Bild ihres Vaters in der Dunkelheit.