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Maja Winter

Die Drachenjägerin

Das Hohe Spiel

Roman

Originalausgabe

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1. Auflage

Originalausgabe Juni 2011 bei Blanvalet,

einem Unternehmen der Verlagsgruppe
Random House GmbH, München

Copyright © 2011 by Lena Klassen

Umschlaggestaltung: Umschlagmotiv: © Illustration Marion Hirsch/HildenDesign

Lektorat: Angela Troni

Karte: © Jürgen Spech

HK · Herstellung: sam

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN: 978-3-641-o5773-2

www.blanvalet.de

Der Mann trug den Helm eines Ritters, aber keine Rüstung, nur einen dunklen Umhang. Seine Stiefel waren staubig und abgewetzt. Er zog den Fuß nach; mit größter Anstrengung kletterte er über die Steine. Die blutige Spur, die er hinterließ, kam ihm wie ein Leuchtfeuer vor, doch er hatte keine Wahl. Wenn sie ihn fanden, dann durfte das auf keinen Fall hier geschehen, wo er unter dem Gebüsch das Kostbarste versteckt hatte, was er besaß. Er fluchte leise, während er sich an einem Vorsprung abmühte. Seine Hände rissen an den spitzen Steinen auf. Noch mehr Blut. Er klammerte sich an einem jungen Baum fest, der aus dem Geröll herauswuchs, und wuchtete das Knie über die Kante. Schwer atmend zog er sich hoch. Nur ein Mal, einen kurzen Augenblick lang, gewann der Schmerz. Tränen schossen ihm in die Augen. Sein Rücken krümmte sich, doch keinen Moment ließ seine Wachsamkeit nach. Dort unten lag wie ein riesiger glitzernder Schatz der tote Drache, die geknickten Flügel um sich her wie ein abgestreiftes Kleid.

Der Mann lachte heiser – und er machte sich Sorgen wegen der Blutstropfen auf den Steinen. Der Himmel über ihm war offen. Keine hohen Bäume, keine überhängenden Felsen. Es war nur eine Frage der Zeit.

Aber nicht hier. Bitte nicht hier

Er kämpfte sich weiter. Der verletzte Knöchel gab unter seinem Gewicht nach, er stürzte nach vorne, fing sich mit beiden Händen auf. Vor seinen Augen wurde es dunkel. Sofort wurde die Versuchung, einfach liegen zu bleiben, übermächtig. Sich an den Fels zu pressen und zu hoffen, dass sie ihn nicht entdeckten … Aber gerade das sollten sie. Wenn nicht ihn, dann … Nein. Es gab keine andere Möglichkeit. Er musste ihre Blicke auf sich lenken, ganz gleich, was es ihn kostete.

Mühsam rappelte der Ritter sich wieder auf. Mit bebenden Fingern löste er die Schließe seines dunklen Umhangs, der ihn mit dem Gestein verschmelzen ließ. Das mit goldenen Verzierungen bestickte Wams darunter war rot, blutrot. Sie konnten es nicht übersehen. Er nahm seinen Helm ab und löste das Band, das sein dickes rotbraunes Haar zu einem Pferdeschwanz zusammenhielt. Wie eine Flamme würde er sie anlocken. Das markant geschnittene Gesicht mit der scharfen, gebogenen Nase und dem eckigen, von dunklen Bartstoppeln übersäten Kinn wirkte müde, doch er biss entschlossen die Zähne zusammen.

Nie hatte Erschöpfung oder Verzweiflung ihn davon abhalten können, das zu tun, was er für richtig hielt. Die Augen, von einem hellen Goldbraun, offenbarten ein Wissen, das seinem Körper noch fremd war. Dieser schrie nach Flucht, wollte rennen – nur wie, mit dem verletzten Bein? Es war ein Wunder, dass es ihm gelungen war, sich so weit vom Kampfplatz zu entfernen. Noch mehr Wunder würde es an diesem letzten Tag nicht geben.

Mein letzter Tag, dachte er. Durch die Bitterkeit und den Schmerz strahlte wie ein Funke das Glück. Auch wenn es hier endet – ich habe alles erreicht, was ich wollte … Ich kann aufrecht sterben. Und meine Familie ist in Sicherheit.

Gut sichtbar legte er den Helm auf die ebene Fläche vor dem nächsten Felsvorsprung. Bei diesen Gegnern würde der Kopfschutz ihm ohnehin nichts nützen.

Der Himmel blieb leer. Sofort schlug die Hoffnung zu. Vielleicht kann ich doch entkommen … Wir werden fliehen. Wir bauen uns ein neues Leben auf.

Ein verführerischer Gedanke. Er wusste es besser. Und trotzdem Nimm ihn mit, diesen einen Moment der Hoffnung Er lachte auf, während er sich vorwärtsschleppte und den nächsten Vorsprung erklomm.

»Wo seid ihr?«, schrie er.

Wie immer kamen sie ohne Vorwarnung. Das Rauschen ihrer Flügel erklang in seinen Ohren, als es bereits zu spät war. Gigantischen Adlern gleich stürzten sie aus dem Blau des Himmels. Er hatte kaum Zeit, das Schwert zu ziehen, als die ledrige Schwinge des ersten ihn zu Boden riss. Der Ritter rollte sich herum; mit erstaunlicher Wendigkeit für einen so großen, breitschultrigen Mann warf er sich nach vorne. Die Klinge schnitt durch den Flügel, und ein Regen feiner Blutströpfchen wehte ihm ins Gesicht.

Der Drache heulte auf. Aus den Augenwinkeln sah der Mann die beiden anderen, die gierig die Hälse vorstreckten. Er riss schützend die Arme hoch, als die Flammen über ihn hinwegzüngelten, woraufhin das Schwert klirrend auf die Steine fiel. Seine Tunika fing Feuer. Er wälzte sich über den Fels, tastete nach seiner Waffe, während der Schmerz sich durch seine Haut grub, und krallte die Finger um den Schwertgriff.

Der Drache neigte den Kopf. Seine Augen schienen zu brennen, ein Teich glühender Lava.

»Wo?«, fragte er. »Wo ist sie?« Die Stimme aus der fremdartigen Kehle knisterte und zischte.

»Ihr bekommt sie nicht, so viel steht fest.« Wenigstens blieb ihm diese letzte Genugtuung, sie zu verhöhnen. »Wenn ihr mich tötet, erfahrt ihr es nie.«

Der Drache zögerte einen Moment, den der Mann sofort nutzte. Er sprang nach vorne und hieb das Schwert quer über das gewaltige Kinn, von dem lange Barten herabhingen. Heißes Blut sprudelte aus der Wunde und ergoss sich auf den Fels. Der Drache brüllte. Dann riss er das Maul so weit auf, dass der Mann ihm bis ins Innere des Rachens blicken konnte, dorthin, wo die winzige bläuliche Feuerkugel zu einem mächtigen Ball wuchs.

Er versuchte noch zu fliehen, ein halbherziger Versuch, von vornherein zum Scheitern verurteilt. Obwohl der Schmerz glühend durch sein Bein schoss, drehte er sich um und rannte los, aber gleich darauf spürte er, wie sich die Zähne um seinen Leib schlossen. Der Drache riss ihn hoch und schwenkte den Kopf hin und her. Dem Ritter vergingen beinahe die Sinne, doch gleichzeitig war er sich auf groteske Weise seiner Situation bewusst. Er sah die Reihe der Hauer aus seinem Fleisch aufragen, fremde weiße Knochen, die nicht zu ihm gehörten. Zwischen seinen Rippen, aus seinem Bauch, aus seinem Bein. Auf einmal wurde es unmöglich zu atmen. Blut füllte seine Lunge, er schmeckte es in seinem Mund. Der Schmerz war zu groß, um ihn zu fühlen.

Das war es also, dachte er, fuhr mit dem frei baumelnden Schwertarm herum und trieb die Klinge so weit er konnte in den Schädel des Drachen. Aber meine Familie habt ihr nicht gefunden. Und sie werdet ihr niemals bekommen.

Als Nächstes fiel der Ritter. Blut färbte sein Gesichtsfeld. Er kämpfte sich auf die Knie und sah den Drachen mit einem markerschütternden Schrei über die Felsen taumeln. Sofort stürzten sich die beiden anderen auf den Verletzten. Der Hieb einer krallenbewehrten Pranke riss ihm den halben Schädel auf. Er fiel nach vorne und wunderte sich darüber, dass Sterben so leicht war. Der zweite Drache schmetterte ihn mit dem dornenbewehrten Schweif gegen die Felswand. Knochen brachen; er wollte gar nicht wissen, welche. Benommen blinzelte er mit dem einen Auge, das ihm noch geblieben war, aber er konnte nichts erkennen außer dem Grau der Steine. Direkt vor ihm in einer Spalte wuchs etwas, ein kleiner grüner Spross mit zarten Blättern.

Ich sterbe.

Er hatte gewusst, dass dieser Tag kommen würde. Er hatte ihn in Kauf genommen, mit allen seinen Entscheidungen, seinen Taten, trotzdem war es eine Überraschung, dass der Zeitpunkt nun tatsächlich da war. Er wusste nicht, ob das Rauschen, das er hörte, in seinen Ohren dröhnte oder ob es die Drachenflügel waren.

Stille kehrte ein.

Ein einzelner Gedanke flatterte durch seinen Geist, ein Falter, vom Licht angezogen, das bereits irgendwo in der Ferne aufleuchtete.

So kann es nicht enden.

Durch den roten Nebel fand dieser Gedanke sein Ziel, vereinigte sich mit seinem unbeugsamen Willen.

Nein. So kann es nicht enden.

Unendlich langsam, mit einer Anstrengung, die alles übertraf, kämpfte der Ritter sich hoch. Schließlich stand er, mit beiden Händen auf den Schwertknauf gestützt. Er atmete keine Luft mehr. Nur noch die Stille.

Dann durchdrang ein ohrenbetäubendes Kreischen die Wirklichkeit. Ein Schrei, der den Himmel in tausend Teile zerriss. Der Sterbende versuchte, Blut und Schweiß und Tränen fortzublinzeln. Der Drache fiel aus dem Licht. Er war rot wie die untergehende Sonne und genauso strahlend, herrlich und wild. Ein Drache, wie es keinen zweiten gab. Er landete auf dem Gestein; das Vibrieren seiner Macht floss in Wellen von ihm fort. Auf dem unteren Vorsprung kam der Helm ins Schaukeln und rollte über die Steine. Scheppernd schlug er gegen die Felswand. Einmal, zweimal, dreimal und tauchte dann ins weiche Grün.

Der Mann hustete, dickes Blut floss ihm über die Lippen. Er schwankte, als er die Waffe hochriss, die Klinge nach oben gerichtet.

»Nicht am Boden«, sagte er. Die Worte waren kaum zu verstehen, in Blut und Schmerz gebadet. »Ich will aufrecht sterben, so, wie ich gelebt habe.«

Der Drache bäumte sich auf und breitete die Flügel aus. Wie ein Gott aus Feuer ragte er über dem Ritter auf, gleißendes rotes Licht tanzte auf seinen Schuppen. Er warf den Kopf in den Nacken, und eine gewaltige Flamme schoss daraus empor. Wieder schrie er.

Der Mann lachte leise, und als wollte er mit seinem eigenen Feuer dagegenhalten, sprudelte das Blut über seine Lippen.

»Unser … letzter … Kampf, Gah Ran.«

Der Drache ließ sich nach vorne fallen, mit geöffnetem Maul. Sein Feuer hüllte den Ritter ein. Bläuliches Licht spielte um das zerstörte Gesicht, um den blutenden, geschundenen Leib. Die braunen Haare glühten rot wie nie zuvor. Für den Bruchteil eines Augenblicks leuchtete sein triumphierendes Lächeln auf.

Dann stand der Drache allein auf dem Felsen. Sein Atem wehte die Asche davon, über die grünen Wipfel unten im Tal.

1

Drachen.eps

Nur Träumer schauten nach oben in die Wolken. Kindsköpfe versuchten, Figuren zu erkennen, Schafe oder Hügel. Manchmal sah Linn ganze Gebirge, die sich am Himmel auftürmten und im Feuerschein der untergehenden Sonne brannten. Schlösser wuchsen aus grauen Wiesen heraus, Türme und Dächer, wie von einem verspielten Gott in einem Augenblick geschaffen und im nächsten zerstört – sie erschienen und zerfielen wieder. Die Türme und Mauern sackten zusammen und zerflossen zu einem See, einem Pferd oder gar einem Ungeheuer. Seltsam, dachte sie manchmal, dass ich nie einen Drachen in den Wolken erkenne. Drachen zu sehen ist … anders.

Heute war der Himmel leer; keine einzige Wolke trübte das Sommerblau. Es gab keinen Grund hinaufzublicken, keinen einzigen, außer

Sieh nicht hin, befahl sie sich. Geh einfach weiter, schau auf den Weg, nicht nach oben

Natürlich tat sie es doch.

Ein rotbrennendes Aufblitzen, wie ein Funke, der sofort verglüht. Für einen Moment lang verdunkelte sich die Sonne, der Schatten huschte über die Wiese, glitt die Wand hinauf und verschwand über dem Dach.

Die Umrisse eines riesigen Vogels, wenn sie es nicht besser gewusst hätte.

»Siehst du wieder was?«, fragte Binia. Linns kleine Schwester spielte bevorzugt Aufseherin und ahmte erfolgreich die vorwurfsvolle Stimme ihrer Mutter nach.

»Ach, Unsinn. Geh mir aus dem Weg.« Wenn man die schweren Getreidesäcke schleppte, durfte man nicht anhalten, bis man sie mit Schwung von sich werfen konnte. »Lauf zu deinen Freundinnen. Oder hast du dich mit denen gestritten?«

»Ich weiß es. Ich merke es an deinem Gesicht«, beharrte Binia, ohne sich ablenken zu lassen.

»Ich ahne, was passiert ist«, mischte Rinek sich ein. »Wetten, du hast Hayon gespielt und musstest wieder einem von diesen dreckigen kleinen Nachbarjungs die Schuhe putzen? Lass deinen Ärger nicht an uns aus, kapiert?«

Es hatte schon seine Gründe, warum Rinek Linns Lieblingsbruder war. Seine Nähe verhieß Schutz vor allen Spöttern, ob es sich nun um Geschwister handelte oder um Quälgeister aus dem Dorf. Wie immer hatte er es gleich mit zwei Säcken aufgenommen und wankte wie ein unförmiger Buckliger an ihr vorbei ins dunkle Innere der Mühle. Mit seinen gerade mal zwanzig Jahren war er jetzt schon so groß und breitschultrig wie ein Bär und überragte seinen Vater um Haupteslänge.

»Ich verrate es Mama«, zischte Binia und rannte höhnisch lachend davon.

Linn verdrehte die Augen. »Sie kann es einfach nicht lassen, mich zu ärgern.«

»Sie ist frustriert, weil sie ständig bei diesen dummen Kinderspielen verliert. Nimm das bloß nicht ernst.«

»Ach ja? Kluge Ratschläge, ausgerechnet von dir?«

Rinek handelte stets nach seinem eigenen Kopf und gab nicht viel auf die weisen Bemerkungen anderer. Damit brachte er ihre Mutter zwar oft zur Verzweiflung, war aber im Dorf ungeheuer beliebt; er hatte eine Art, die nicht nur die Blicke der Mädchen auf ihn lenkte, sondern ihm sogar die Herzen der grantigsten Alten zufliegen ließ. Dass er so angesehen war, glich Linns Schauergeschichten wenigstens etwas aus. Wenn Lester es tatsächlich schaffte, die Mühle zu kaufen, würde sein ältester Sohn eines Tages einer der begehrtesten Junggesellen von Brina sein.

»Du hast also wieder … einen … gesichtet?«, fragte er.

»Ja, gerade eben.«

»Komisch«, murmelte er. »Warum kann ich es nicht?«

»Weil du nie nach oben schaust. Weil alle sich nur dann für den Himmel interessieren, wenn es ums Wetter geht.« Sie seufzte. »Er ist schnell. Und er fliegt direkt vor der Sonne. Manchmal sehe ich nur seinen Schatten. Oder ein Glitzern. Glaubst du mir das?«

»Wenn du es sagst, natürlich. Dann ist da wirklich ein …«, diesmal schaffte er es, das Wort auszusprechen, » ein Drache.«

Das Wort hing zwischen ihnen wie ein verlorenes Kind, das niemand aufnehmen wollte. Keiner sprach über Drachen, es sei denn, man erzählte sich die Legende von Brahan und erinnerte sich an jene schrecklichen Tage vor achthundert Jahren, als sie über den Ländern zwischen dem Stillen Meer und der Ebene der wilden Reiter gewütet hatten. Niemand dachte an Drachen, es sei denn, man beging den Laranstag und feierte jenen unvergesslichen Helden, der die Menschen von ihrem Joch befreit hatte. Und, als Allerwichtigstes, keiner sah Drachen, denn das alles war Vergangenheit.

Wenn sie an diese Ungeheuer nur ständig gedacht und darüber geredet hätte, hätte man ihr noch verziehen. Doch dass sie Drachen sehen konnte – das war ungehörig, seltsam und ganz und gar verrückt.

Linn wies in den blendend blauen Himmel. »Man muss nur gut aufpassen, dann erwischt man ihn irgendwann. Ich würde ihn dir so gerne zeigen.«

»Das tust du eines Tages. Bestimmt.« Er grinste sie an. »Hay, hay, hay. Ich wette, so wird es kommen. Wenn nicht, schneide ich mir die Haare ab.«

»Bloß nicht!« Seine glänzende pechschwarze Mähne war sein ganzer Stolz. Aber er glaubte so fest an Linn und das, was sie von sich gab, dass er bereit war, alles einzusetzen. Manchmal geriet sie genau aus diesem Grund ins Zweifeln. Und wenn es bloß Einbildung war? Wenn alle anderen recht hatten? Denn Rinek würde ihr auch glauben, wenn sie behauptete, fliegende Frösche zu sehen.

Linn packte den rauen Stoff des Leinensacks fester und überholte ihren Bruder. Das Klappern des Mühlrades wurde mit einem Schlag lauter, als sie sich unter der Tür hindurchduckte. Der ganze Boden vibrierte, weißer Staub wehte ihr ins Gesicht. Sie blinzelte und kämpfte sich die Holzstufen hinauf.

Am Trichter wartete Lester schon auf sie. »Da seid ihr ja. Rein damit.«

Jedes Mal, wenn man den Sack endlich ans Ziel gebracht hatte und loswurde, war es ein Gefühl, als würde man eine Handbreit über dem Boden schweben. Linn schüttelte die verkrampften Schultern aus und streckte sich.

»Ha, das tut gut.«

»Das ist ja eigentlich keine Arbeit für eine Frau.« Merok, der in der Geschwisterreihe direkt nach ihr kam und sich mit seinen vierzehn Jahren schon wie ein Mann fühlte, baute sich im Eingang auf und schaute ihr missbilligend entgegen. Seit Lester ihm die Aufgabe übertragen hatte, die Preise für das Korn, das die Bauern anlieferten, auszuhandeln – eine Aufgabe, die eigentlich Rinek zugestanden hätte, dem das jedoch einfach nicht lag –, versuchte er, immerzu ernst und würdig dreinzuschauen und möglichst selten zu lachen.

»Auf ihn!« Der Schrei der Geschwister kam wie aus einer einzigen Kehle. Rinek und Linn stürmten gleichzeitig auf Merok los und warfen ihn zu Boden. Er fluchte eine Weile, während seine Geschwister sein Gesicht mit ihren staubigen Händen bearbeiteten. Linn schmierte ihm mit größtem Vergnügen geschrotete Gerste in die Haare.

»So sieht er gut aus. Wetten, Finchen kann ihm nicht widerstehen?«

Finera, die stupsnasige Tochter des Schusters, hatte Merok ein geflochtenes Freundschaftsband geschenkt. Seitdem ließen Rinek und Linn keine Gelegenheit aus, ihn mit seiner kleinen Freundin aufzuziehen.

»Nein, so ganz ohne Bart wirkt er wie ein kleiner Junge. Sollen wir dir einen Bart malen?« Hingebungsvoll tätschelte Rinek die Wangen seines Bruders und hinterließ darauf schmutzig braune Spuren.

»Lasst mich in Ruhe.« Merok stieß die beiden von sich herunter und machte sich mitsamt seiner verletzten Würde davon.

Rinek und Linn lachten, bis sie nicht mehr konnten. Vielleicht ließen sie sich beide zu viel gefallen, aber ganz gewiss nicht von Merok.

»Was ist daran lustig?« Binia war schon wieder von irgendwo aufgetaucht. »Merok ist bald alt genug für eine Braut. Wenn ihn denn eine nimmt. Wahnsinn in der Familie«, streng sah sie von Linn zu Rinek, »ist reichlich abschreckend.«

Sie streckte ihnen die Zunge heraus, doch bevor sie ein ähnliches Schicksal ereilte wie Merok, rannte sie zum Haus hinüber, das sich an die Mühle schmiegte. Lester hatte es gebaut, als Merina mit Binia schwanger gewesen war. Auch hier war das Lärmen des Mühlrads allgegenwärtig. Im Müllerhaus gab es genug Schlafräume für eine sechsköpfige Familie, und eigentlich sollten sich die beiden Schwestern ein Bett in der kleinen Kammer teilen, aber weil sie sich ständig stritten, war Linn vor einigen Monden auf den Dachboden der Mühle umgezogen und benutzte das Mädchenzimmer nur im Notfall. Die Gesellschaft von fünf struppigen Katzen war selbst dann, wenn sie Flöhe hatten, angenehmer als die einer garstigen Zwölfjährigen.

Nachts, wenn Lester das Schott absenkte, drehte das Mühlrad sich langsamer. Linn kam es immer vor, als würde es sich wie jemand, der heftig träumt, im Schlaf wälzen. Dann klapperten die Stangen auch nicht mehr. Selbst oben in der kleinen Dachkammer, im hintersten Winkel unter dem Mühlendach, konnte sie gut schlafen, begleitet vom Rauschen des Wassers, bis das stärker werdende Vibrieren des Bodens und das heftige Rattern ihr verrieten, dass Lester das Schott wieder geöffnet hatte und das Tagewerk begann.

»Jetzt geht sie petzen.« Rinek seufzte. »Das hinterhältige Biest.«

»Sie soll froh sein, dass ich sie verschont habe«, meinte Linn gut gelaunt. Der Gedanke an die Reaktion ihrer Mutter sollte ihr nicht den Tag verderben. Die Geschwister nahmen sich gegenseitig die unsanfte Behandlung nicht übel, doch Merina, die resolute Müllerin, regte sich über jede zerrissene Schürze und jedes verdreckte Haarband unangemessen auf. Anders als der gutmütige Lester hatte sie keine Scheu, ihren Kindern Ohrfeigen zu verpassen und Strafen wie zusätzliche Hausarbeit oder Ausgehverbot zu verhängen.

»Linn! Rinek!«

Kaum war Binia durch die Tür verschwunden, erschien Merina auf der Schwelle. Ihre laute, scharfe Stimme war selbst durch das Klappern der Mühle und das Rauschen des Baches zu vernehmen.

»Bloß schnell weg!«

Sie duckten sich hinter den Wagen, auf dem die abzuladenden Getreidesäcke lagen, und schlugen sich ins Gebüsch. Kichernd bahnten sie sich den Weg durchs Gestrüpp.

»Was hat Binia ihr wohl erzählt?« Linn duckte sich unter einem Ast hindurch, den Rinek gerade vor ihr losgelassen hatte. »Dass wir Merok verprügelt haben oder dass ich wieder was gesehen habe?«

»Diese kleine Göre ist diejenige, die spinnt«, erklärte Rinek mit Nachdruck. »Sobald du nur einmal die Augen zumachst, erzählt sie jedem, du hättest eine Vision.«

Linn presste die Lippen zusammen.

»Linnia!«, rief ihre Mutter so laut, dass es durch das ganze Mühltal zu hören sein musste. »Linnia Adora! Willst du wohl herkommen!«

Es wäre so viel einfacher gewesen, wenn auch die anderen den Schatten gesehen hätten, der die Sonne verdunkelte, flüchtiger als ein Blinzeln. Das leuchtende Aufflammen und Glitzern von irgendetwas, das am Himmel vorüberzog. Sie blickten nicht oft genug hoch in die Wolken, denn für Träumer gab es in Brina keinen Platz. Bis die meisten mit ihrer Arbeit fertig waren, funkelten längst die Sterne.

»Taria hat sich wieder über mich beschwert«, sagte Linn mutlos. »Wetten?«

Liebevoll tätschelte Rinek ihre Schulter. »Hab keine Angst«, sagte er. »Sobald Gefahr droht, werde ich dich beschützen. Genau wie Vater. Und sogar Merok, dieser hirnverbrannte kleine Idiot. Wir alle beschützen dich. Niemand wird es schaffen, dich aus dem Dorf zu vertreiben.« Er grinste zufrieden. »He, wo bleibt jetzt: ›Danke, du bist mein Held?‹ Oder sparst du dir das für Yaro auf?«

Linn knuffte ihn in die Seite. »Sei nicht so frech. Yaro ist bloß ein Bekannter.«

»Ein sehr guter Bekannter.« Rinek lachte in sich hinein. »So, Mutter ist wieder im Haus verschwunden, die Luft ist rein. Vater wartet bestimmt schon auf die nächste Ladung. Kommst du?«

Sie zögerte. Die Gelegenheit war günstig, um sich davonzumachen. Nicht weil sie müde war – Linn war es gewohnt, wie ein Pferd zu ackern. Aber gerade jetzt wäre ein Stündchen oben im Wald eine angenehme Abwechslung.

»Geh schon«, flüsterte Rinek verschwörerisch. »Ich komme allein klar.«

»Willst du nicht mit?«

»Später vielleicht. Ich lade noch schnell den Wagen hier ab. Dauert ganz bestimmt nicht mehr lange. Nun lauf ruhig, mir fällt sicher eine gute Ausrede für dich ein, wenn Lester fragt.«

»Sag ihm, ich komme ja gleich.«

Ihr Stiefbruder schüttelte lächelnd den Kopf. Wenn Linn »gleich« sagte, konnte sie Stunden vertrödeln. Aber während Merina überhaupt kein Verständnis dafür aufbrachte, ließ ihr Stiefvater sie meistens gewähren. Lester verstand sie oft viel besser, als ihr eigentlich lieb war.

Linn kämpfte sich durch die Weißdornsträucher. Ungeduldig schlug sie die langen Triebe der Weiden, die sich hier am Bachufer wohlfühlten, beiseite. Gebückt kroch sie durchs Gebüsch; erst als sie den Trampelpfad erreichte, der zwischen den Büschen den Hang hinaufführte, konnte sie sich wieder aufrichten. Seit sie und Rinek vor ein paar Jahren zufällig die schmale Rinne zwischen Gestrüpp und Felsen hindurch entdeckt hatten, kam sie regelmäßig hierher. Ihr Bruder machte sich nicht mehr so viel daraus, durch den Wald zu streunen, und auch Linn war eigentlich längst zu alt dafür, aber sie schätzte die Einsamkeit, die es ihr erlaubte, ungestört ihren Gedanken nachzuhängen. Sie liebte den Wald fast noch mehr als die Mühle.

Der Pfad führte aus dem kleinen Dickicht heraus und zwischen mannshohem Bärenklau weiter nach oben. Die sanfte Stimme des Baches war hier zu hören, ein Murmeln und Glucksen, ohne dass das Rauschen und Klappern der Mühle sie überdeckte. Moos überwucherte die großen, glattpolierten Kiesel, die das Ufer säumten. Hohes Brennnesselgestrüpp verwehrte den Zugang zum Wasser, aber diese Stelle räumte Linn regelmäßig frei, sodass sie hier, an ihrem Lieblingsplatz, ungestraft sitzen und die Füße ins klare Nass halten konnte.

Lester hatte ihr geraten, sich im Bach abzukühlen, wenn sie gar zu heftig von feuerspeienden Drachen träumte. Sie hatte ihm erzählt, es helfe tatsächlich, denn es machte ihn glücklich, wenn sie seine Ratschläge befolgte. Während ihre Mutter nur unwillig schnaubte und sie anschrie, sie solle den Mund halten, war ihr Stiefvater immer sehr um sie bemüht. Linn hatte oft das Gefühl, dass er zu erraten versuchte, was ihr richtiger Vater in so einem Fall getan hätte. Zu keinem seiner eigenen Kinder war er so freundlich und rücksichtsvoll wie zu ihr – weder zu Rinek, den er als Witwer mit in die Ehe gebracht hatte, noch zu Merok und Binia, den gemeinsamen Kindern mit Merina. Manchmal hasste Linn ihn dafür, denn wenn er so nett war, fragte sie sich unwillkürlich, ob ihr Erzeuger auch so gewesen wäre oder ob sie von ihm nicht längst eine Tracht Prügel eingesteckt hätte.

Am blassblauen Himmel zeigten sich ein paar leichte Federwölkchen. Irgendwo im Wald schrie ein Kuckuck.

Eine leuchtend rote Libelle schwebte über das Wasser, verhielt eine Weile über den schlanken Mädchenbeinen, schien zu überlegen, ob sie sich setzen sollte, und flog dann im hektischen Zickzack weiter.

Linn zog sich ihre Halskette über den Kopf und befreite ein paar braune Haarsträhnen, die sich in den feinen Gliedern verfangen hatten. Niemand im Dorf hatte ein ähnliches Schmuckstück, aber nicht etwa deshalb bedeutete es ihr so viel. Diese Kette war die einzige Erinnerung an ihren Vater.

War er ein Fürst gewesen? Oder ein reicher Gutsherr? Da ihre Mutter keine Fragen über ihn beantworten wollte, blieb Linn nichts anderes übrig, als ihrer Fantasie freien Lauf zu lassen. In ihren Träumen war er nicht tot. Bestimmt irrte Merina sich darin. Harlon war verschwunden, mehr nicht – und irgendwann würde er zurückkommen, ein gut aussehender Mann, der so braunes, leicht rotstichiges Haar hatte wie sie selbst. Eines Tages würde sein Pferd vor der Mühle stehen – ein edles Ross, das den derben Ackergäulen nicht im Mindesten glich –, und er würde aus dem Sattel springen, in einem goldbestickten Wams, das Schwert an der Seite. »Wohnt hier nicht Linnia Adora Harlon?«, würde er fragen und sie mustern, mit einem solchen Lächeln, dass ihr Herz ganz warm würde, und an der Art, wie er den Namen Harlon aussprach, würde sie erkennen, dass es sein eigener Name war.

»Ja«, würde sie sagen, »das bin ich. Und Ihr seid …?«

»Harlon.« Da war er wieder, dieser Name, den sie mit sich trug wie ein Versprechen. »Dein Vater. Ich bin gekommen, um dich in mein Schloss zu holen. Mein Schloss. Meine Burg. Meinen Gutshof.«

Jedes Mal, wenn sie davon träumte, änderte sie etwas an den Details und machte es noch schöner, noch perfekter. Sie malte sich seine Kleidung aus und die Verzierungen des Zaumzeugs. Nur wenn es an sein Gesicht ging, versagte ihre Vorstellungskraft. Das Lächeln war ihr eigenes, in der Halskette gespiegelt.

»Eines Tages«, flüsterte sie.

Die Kette bestand aus feinen, runden Gliedern, jedes in das nächste gefügt. Das Silber war schwarz angelaufen, doch wenn Linn es polierte, glänzte es heller und strahlender als jedes Sonnenfunkeln auf dem Bach. Das Schönste waren die zierlichen gewundenen Verzierungen rund um die große silberne Scheibe mit dem roten Edelstein. Die feinen Verästelungen links und rechts davon hielten kleinere Steine umschlungen – vielleicht Rubine. Von einem durchziehenden Kaufmann aus Khanat, den sie im zarten Alter von sechs Jahren ausgefragt hatte, hatte sie erfahren, dass man rote Edelsteine so nannte. Ihre Mutter war darüber entsetzt gewesen und hatte herumgeschrien: »Der steckt dich in seinen Sack und nimmt dich mit, wenn du nicht aufpasst!«, denn obwohl man Leuten aus der Ebene der Freien Städte durchaus ihre Waren abkaufen durfte, wenn sie billig genug waren, gehörte es sich dennoch nicht, mit ihnen zu reden. Sie hatten keine Könige, deshalb hatten die Götter sich von ihnen abgewandt – und wer konnte schon sagen, was so ein gottloser älterer Mann mit einem kleinen Mädchen tun würde, das auch noch so dumm war, ihm seinen Schmuck zu zeigen?

Linn hatte den Händler trotzdem für angenehme Gesellschaft gehalten, und seine abenteuerlichen Geschichten hatten sie einige Monde lang beschäftigt. Dagegen verblasste für das Kind, das sie damals gewesen war, die Information, dass die Kette ungeheuer wertvoll sein musste. Der Khanater hatte ihr erzählt, dass selbst kleine Splitter äußerst teuer seien, und der mittlere Stein war groß wie ein Hühnerei, wenn auch so flach wie ein Strohhalm. Man konnte weder die beiden kleineren noch den großen Rubin von der silbernen Einfassung lösen; sie hatte es einst versucht, als sie im Alter von sieben oder acht Jahren mit einem davon das Pony des Schmiedes hatte kaufen wollen. Die ganze Kette einzutauschen war ebenfalls missglückt. Yaro, der Schmiedejunge, war fröhlich damit weggelaufen, und Linn hatte das Pony stolz wie eine Prinzessin nach Hause geführt.

»Bist du verrückt?«, hatte ihre Mutter geschimpft. »Willst du Tod und Verderben auf uns herabziehen? Du gibst diese verfluchte Kette niemandem! Hol sie zurück, sofort!«

Merina hatte Linn gezwungen, sie zur Schmiede zu begleiten und das Pony wieder in den Stall zu stellen, in den es gehörte. Nur widerwillig hatte Yaro die Kette herausgerückt. Aber Linns zierliche, goldhaarige Mutter konnte wirklich einschüchternd sein, wenn sie es darauf anlegte. Sie hatte den Jungen sogar dazu gebracht, weinend zu schwören, nicht einmal seinem Vater zu verraten, dass er das Schmuckstück je gesehen hatte.

Einige Tage lang hatte Merina kaum mit ihrer Tochter geredet und ihre schlechte Laune an jedem ausgelassen, der in ihre Nähe kam.

Danach hatte Linn heimlich versucht, bloß einen kleinen Rubin zu entfernen, wenigstens einen einzigen, in der Hoffnung, den Verlust würde ihre Mutter vielleicht nicht so schnell bemerken. Aber selbst mit Yaros Hilfe und dem Schmiedehammer war es nicht gelungen.

Linn griff mit den Zehen nach einem Kiesel und türmte unter Wasser einen kleinen Hügel auf, da ließ ein Knistern aus dem Wald sie zusammenfahren. In panischer Angst zog sie die Füße aus dem Bach; sie waren völlig taub. Für eine Flucht äußerst unpraktisch, aber dann würde sie eben auf Knien und Händen davonhumpeln. Sie warf sich herum, geriet in die Brennnesseln, stürzte mit einem Schrei nach vorn.

Erneut ein Rascheln im Gebüsch.

Mit einem Schlag veränderte sich die Welt. Die Drachen waren über ihr.

Zu spät zum Fliehen, die Chance verpasst. Linn heulte auf, presste sich an den Boden, bedeckte den Kopf mit beiden Händen, trotzdem konnte sie nicht anders, als hinzusehen.

Mächtige Leiber, die über sie hinwegflogen, so dicht, dass sie nur die Hände hätte ausstrecken müssen, um sie zu berühren. In den glänzenden Schuppen brach sich der Widerschein des Feuers. Das Rauschen gewaltiger Schwingen strich durch die Baumwipfel. Der Himmel war schwarz, die Luft von Rauch erfüllt. Jemand schrie Worte in einer unbekannten Sprache, und ein Teil von ihr wollte darüber lachen, über diese komischen Silben, aber man hatte ihr befohlen zu schweigen. Sie machte sich so klein wie nur möglich und dachte: Ihr seht mich nicht, ich bin unsichtbar. Dann füllte sich das ganze Bild mit Flammen, und Stille senkte sich herab. In diesem eisgrauen Schweigen, in dem die Welt gefror, hörte sie nur noch das Pochen ihres eigenen Herzens. Das Blut brauste in ihren Ohren. »Lass uns kämpfen!«, schrie jemand. Und eine andere Stimme direkt über ihr flüsterte: »Versteck dich. Lauf und versteck dich!«

Linn stieß ein heiseres Wimmern aus und duckte sich flach auf den Boden. Damit die Drachen sie nicht bemerkten, löste sie hastig ihren Zopf und versuchte, sich unter den langen rotbraunen Haaren zu verstecken. Um mit dem Wald zu verschmelzen, reichte es noch nicht – hektisch häufte sie sich Blätter auf die Schultern.

»Was machst du denn da?«

Ein zweites Mal zerbrach die Wirklichkeit; einen fürchterlichen Moment lang stand die ganze Welt auf der Kippe, und sie wusste nicht, auf welcher Seite der irrsinnige Albtraum war und auf welcher die Rettung. Dann rückten sich die Dinge endlich ins Lot.

Sie sprang auf und fühlte sich ertappt. Der Himmel war immer noch blau. Hinter ihr plätscherte der Bach, und ein leichter Wind bewegte die frühlingsgrünen Blätter, zwischen denen es knisterte.

»Habe ich dich erschreckt?« Yaro brach durch die Zweige. »Was ist denn mit dir los, Linn?«

»Du Idiot!«, brüllte sie ihn an, ihr Herz schlug immer noch wie wild. Rasch klopfte sie sich Erde und trockene Blätter aus dem Kleid.

Yaro bemühte sich, nicht zu lachen, aber es prustete nur so aus ihm heraus. Schuldbewusst wandte er das Gesicht ab, konnte jedoch nicht länger an sich halten und krümmte sich schließlich glucksend auf dem Boden.

»Sehr witzig«, zischte sie. »Wie schön, dass du mich auslachst.«

»Ich habe nicht …« Ein erneuter Lachanfall hinderte ihn am Weiterreden.

»Du solltest nicht herkommen«, stieß sie hervor, immer noch schwankend zwischen Zorn und bodenloser, lähmender Furcht.

»Warum nicht? Damit ich nicht sehe, wie du versuchst, dich in die Erde einzugraben wie ein Kaninchen?« Er rappelte sich auf, schüttelte seine grobe Leinentunika aus und lachte wieder los. »Oh Linn, das ist … wenn ich das im Dorf erzähle …«

»Nein!«, begehrte sie auf. »Das verrätst du niemandem!«

»Beruhige dich.« Yaro kämpfte mit dem gewaltigen Grinsen in seinem Gesicht. »Und verzeih mir. Oh bitte, verzeih mir, meine allerliebste Linn, dass ich mich so amüsiere, während du dich fürchtest.«

»Ich hasse dich«, murmelte sie böse.

»Nein, tust du nicht.«

»Tu ich doch.«

Er lachte wieder. Jemandem wie Yaro fiel das nicht schwer. Er hatte freundliche braune Augen und ein breites Grinsen; oft und gerne zeigte er seine schönen weißen Zähne. Ein paar Sommersprossen hatten sich auf seine Nase verirrt, als hätte er sich bei dem rothaarigen Bauern, für den er arbeitete, angesteckt. Weißdornblüten zierten seine kastanienbraunen Locken. Mit Sicherheit war er der hübscheste Junge von Brina, möglicherweise sogar der ganzen Provinz Nelcken.

Er bemerkte ihren Blick. »Man kann ja kaum durch dieses Gestrüpp kriechen, ohne danach auszusehen wie Braut und Bräutigam, findest du nicht?« Er zupfte die kleinen weißen Blüten heraus und streute sie auf Linns aufgelöste Frisur. Selbst mit einem Zopf ließen sich ihre widerspenstigen Haare kaum bändigen. Die bunten Bänder, die sie wie alle unverheirateten Mädchen hineinflocht, rutschten auch sonst gerne halb heraus, jetzt hingen sie ihr auf die Schultern und lagen auf dem Boden herum. Yaro erbeutete eins davon, ein schmales blaues Band, das er sich ums Handgelenk wickelte.

»Die darfst du nicht klauen! Wenn, dann muss ich es dir schenken.«

»Dann gib mir doch endlich eins. Oder zwei. Oder alle. Wem sonst, wenn nicht mir? Ich bin der Einzige im Dorf, der nur Mädchen mag, die ihn zum Lachen bringen.«

Er küsste sie auf die Nasenspitze.

Linn fühlte, wie die Anspannung von ihr abfiel, wie der Albtraum auseinanderbrach und seinen Schrecken verlor. Vielleicht wäre ich längst verrückt geworden, dachte sie, wenn Yaro nicht wäre.

Doch plötzlich kehrte der Zorn zurück. »Wenn du mich nicht ernst nimmst …«

»Oh, ich nehme dich ernst«, versicherte Yaro hastig. Um seine Mundwinkel zuckte es verräterisch. »Du siehst Drachen. Das ist in der Tat alles andere als witzig.« Er sprach betont fürsorglich, wie ein verständnisvoller Erwachsener mit einem verstörten Kind, das darauf besteht, dass ein Ungeheuer unter seinem Bett wohnt.

Linn bekam nicht schlecht Lust, sich auf ihn zu stürzen und ihm die Haare auszureißen. Sie machte sich bereit zum Angriff, senkte den Kopf und ballte die Fäuste, als er sagte: »Wusstest du, dass du besonders hübsch bist, wenn du wütend bist? Bei den Göttern, hast du schöne Augen.«

Dieses Kompliment nahm ihr den Wind aus den Segeln. »Ach?« Doch so schnell ließ sie sich nicht besänftigen. »Was hat das überhaupt damit zu tun?«

»Ich meine nur … Ich würde meinen Vater gerne bitten, deinen Stiefvater zu fragen, aber es wäre hilfreich, wenn du nicht immerzu alle Leute mit deinen Drachengeschichten erschreckst, verstehst du?«

Linn runzelte die Stirn. »Das war jetzt kein Heiratsantrag, oder wie soll ich das verstehen?«

»Ich dachte nicht, dass einer nötig wäre«, meinte Yaro fröhlich. »Du hast ja gesagt, als wir fünf waren.«

»Sieben«, verbesserte sie ihn. »Ich war sieben.«

»Das erste Mal warst du fünf«, beharrte er. »Als wir sieben waren, hast du mich gefragt. Und danach …« Er überlegte. »Waren wir acht oder neun?«

»Aber die letzten drei Jahre hast du mich kein einziges Mal gefragt.«

Sie hatten einander so oft die Ehe versprochen, dass sie es kaum noch zählen konnten. Irgendwann kam Yaro in ein Alter, in dem es ihm peinlich war, darüber zu reden; ein paar Jahre hatten sie ihre gemeinsame Zukunft nicht erwähnt, sondern sich auf gemeinsames Angeln und Hüttenbauen beschränkt.

»Nach so vielen Jas dachte ich wohl nicht, dass es nötig wäre. Nun gut, wie du willst: Heirate mich, geliebte Linn. Morgen. Übermorgen. Im kommenden Frühling, im Blütenmond. Oder magst du den Sommer lieber? Wie wäre es im Beerenmond? Ich würde dich sogar im Schwarzmond heiraten, das ist mir egal. Irgendwann, am besten gleich.«

Diesmal würde der Zorn sich durch nichts aufhalten lassen. Es besänftigte sie nicht einmal, dass er es mit allen üblen Vorzeichen einer Winterhochzeit aufnehmen wollte. Dieser Junge hatte sie nicht alle, das war hiermit bewiesen. »Du willst mich heiraten, wenn ich lüge? Ich soll schweigen und immer nur sagen: Ach, nichts, wenn man mich fragt, was mit mir los ist? Das ist eine Frechheit! Das ist … Yaro, ich dachte, du glaubst mir!«

Bei ihrem Ausbruch gelang es selbst Yaro kaum, seine Heiterkeit zu bewahren.

»Es stört mich nicht so wie die anderen. Das weißt du doch. Aber wenn ich meine Familie überzeugen will, solltest du damit aufhören. Wenigstens für eine Weile. Nicht bloß damit, von Drachen zu reden. Du solltest aufhören, sie zu sehen. Ach, war das übrigens gerade ein Ja oder nicht?«

»Natürlich war es ein Ja!«, fauchte sie. Ihr ganzes Leben hatte sie gewusst, dass sie ihn heiraten würde. Dennoch änderte das selbstverständlich nichts daran, dass sie sich manchmal fürchterlich über ihn ärgerte.

Er betrachtete das blaue Band an seinem Handgelenk und vermied es, ihr ins Gesicht zu schauen. Wahrscheinlich ahnte er, dass sie bereits weinte. Er kannte sie ziemlich gut. »Es hat mich nie gestört, dass du anders bist als andere Mädchen. Aber jetzt geht es um unsere Zukunft.«

»Dabei lachst du doch so gerne über mich«, sagte sie leise.

»Linnia«, sagte er ernst. »Es gibt keine Drachen in Nelcken. Der letzte Drachenüberfall war vor … zweihundert Jahren oder so, hat mein Vater gesagt. Warum sollte ausgerechnet jetzt einer herkommen?«

»Es könnte doch passieren. Vielleicht geschieht es jetzt. Vielleicht kommen sie alle zweihundert Jahre her.«

»Mach dir doch nichts vor. Hier gibt es für sie nichts zu holen. Wir sind arm. Ich wette, im ganzen Dorf gibt es keine einzige Goldmünze. Das einzig Wertvolle ist deine Kette.« Er seufzte. »Ich glaube, deine Mutter hat diesen Fluch erfunden, damit du nicht noch mal deine Aussteuer weggibst, bevor du alt genug bist, das zu schätzen, was du da besitzt. Sie wollte bloß, dass du nicht so dumm bist, sie zu verschleudern.«

»Ich wollte sie nicht verschenken, sondern dein Pony damit kaufen.«

Er schüttelte den Kopf. »Du hast nicht gewusst, dass sie viel mehr wert ist. Beim Himmel, jetzt brauchst du doch wohl nicht länger an den Fluch zu glauben. Diese Kette kann der Grundstock zu unserem eigenen Haus sein. Wir könnten heiraten, wenn du sie verkaufst.«

»Ich darf sie nie aus der Hand geben«, widersprach sie ihm. »Sonst passiert ein Unglück.«

Yaro verlor die Geduld. »Das hat deine Mutter doch bloß erfunden!«, rief er. »Warum begreifst du es nicht endlich? Wir leben nicht in einem Märchen. Dein Vater hat dir diese Kette vermacht, damit du dich nicht um deine Mitgift sorgen musst. Es gibt keine Flüche und keine Drachen! Wenn du das nur endlich einsehen würdest!« Er seufzte schwer. »Kannst du dich nicht ein einziges Mal benehmen wie ein normales Mädchen? Wie ein Mädchen, das mein Vater akzeptieren kann? Und meine Tante, bei allen Göttern, du kennst Tante Taria!«

Sie nickte bedrückt. Schlimm genug, wenn Yaro sie bei einem ihrer Anfälle erwischte, aber wenn dieses Lästermaul von Tante davon Wind bekam, konnte Linn sich eine ganze Weile nicht mehr im Dorf blicken lassen. Taria war der beste Beweis für die Geschichte, dass die Götter in einem finsteren, übelriechenden Pfuhl giftige Würmer und Skorpione züchteten, um daraus besonders böse Menschen zu machen.

»Linn«, sagte Yaro ungewohnt ernst, »findest du nicht, dass es langsam an der Zeit ist, damit aufzuhören? Als wir klein waren, war es noch niedlich und hat dich interessant gemacht, aber mittlerweile bist du eine erwachsene Frau. Manche«, fügte er noch leiser hinzu, als Linn die Augenbrauen zusammenzog, »haben schon mit siebzehn Kinder und kümmern sich um Haus und Hof.«

»Ich mache das nicht absichtlich«, beteuerte sie. »Denkst du, ich fürchte mich, um interessant zu wirken? Ich grabe mich in die Erde ein wie ein Kaninchen, um interessant zu wirken?« Ihre Stimme schraubte sich höher in die Verzweiflung hinauf. »Ich kann nicht aufhören, Drachen zu sehen! Ich denke mir das doch nicht aus!«

»Vielleicht ist es an der Zeit, sich den Tatsachen zu stellen.« Yaro zog die Schultern hoch. Sein Unbehagen griff auf sie über. »Wenn es hier Drachen gäbe, dann würde ich mich wie Brahan in ihre Grube stürzen und dich herausholen. Aber es gibt hier nun mal keine. Und wenn, würden wir alle es wissen, stimmt’s?«

Sie nickte beschämt. Natürlich gab es in Brina keine Drachen.

»Das ist immerhin ein Anfang«, meinte er, schon wieder munterer. »Ich werde meinem Vater berichten, dass du das zugegeben hast. Vielleicht hilft es ja.«

Sie sahen einander an. Linn war sich ziemlich sicher, dass es nicht helfen würde. Sogar Yaro musste das wissen. Sie liebte ihn dafür, dass er es trotzdem versuchen wollte, aber als er Anstalten machte, sie zu küssen, drehte sie schnell das Gesicht weg.

Er seufzte. »Wir kennen uns unser ganzes Leben, und du tust immer noch, als wären wir Fremde«, sagte er enttäuscht.

»Das ist nicht wahr.« Linn beschäftigte sich intensiv damit, ihren Zopf neu zu flechten. »Wir sind Freunde. Wir teilen alle unsere Geheimnisse. Ist das gar nichts?«

»Warum zierst du dich dann immer so? Warum darf ich dich nicht küssen?«

Wenn sie die Antwort darauf gewusst hätte! Aber sie konnte es nicht erklären. Wenn Yaro versuchte, ihr näherzukommen, geriet sie in Panik. Sie wollte ihn umarmen und gleichzeitig fliehen, und in ihr entstand ein solches Durcheinander, dass sie sich meistens für die Flucht entschied.

»Wenn wir verheiratet sind«, Yaro zögerte, »darf ich dich dann endlich anfassen?«

Linn wurde glühend rot. Merkwürdigerweise hatte sie ihre Freundschaft mit Yaro nie unter diesem Aspekt betrachtet. Sie trafen sich heimlich, sie redeten und stritten und lachten, und hin und wieder versuchte er, ihre Hand zu nehmen oder sie zu küssen. Jungen taten das, und Mädchen wichen ihnen aus und kicherten dabei. Das war so, das gehörte dazu. Dass sie irgendwann aufhören musste zurückzuweichen – nein, daran wollte sie nicht einmal denken.

»Ähm … natürlich.«

Er strich ihr eine Haarsträhne aus der Stirn. »Du hast recht. Es ist besser zu warten. Sonst prügelt Lester mich windelweich.«

»Oder er steckt dich zwischen die Mühlsteine und macht Öl aus dir.«

»Und verkauft mich an die Nachbarn.«

Linn konnte es nicht leiden, wenn man auf ihre Armut anspielte, aber Yaro durfte es, weil er selbst nichts besaß. Er würde nie einen Hof sein Eigen nennen, nicht einmal ein Haus – es sei denn, Linn gab ihre Kette her und die drei leuchtenden Edelsteine waren so kostbar, wie sie hoffte. Mit dem Silber allein konnte man weder ein Haus noch die Aussteuer bezahlen. »Ich glaube fast, du willst mich nur wegen der Juwelen, du Schlitzohr.«

Er grinste. »Ich gehe wohl lieber. Am besten, du wartest noch eine Weile.«

Hauptsache, die Müllerin erwischte sie nicht dabei, wie sie kurz nacheinander aus dem Wald kamen. Yaro war geübt darin, unschuldig dreinzublicken, aber in Linns Gesicht konnte Merina alles lesen, was Mütter lieber nicht wissen sollten.