SATYR
VERLAG
Sebastian Lehmann
Born in the BRD, aber schon länger so etwas wie Student, Autor und/oder Poetry-Slammer etc. in Berlin. Organisiert und moderiert den »Kreuzberg Slam« und ist Mitglied des Autorenkollektivs »Lesedüne«. So in der Art. www.sebastian-lehmann.blogspot.com
1. Auflage März 2011
© Satyr Verlag, Berlin 2011
Satyr Verlag ist ein Geschäftsbereich der BlueCat Publishing GbR
Geschäftsführung: Peter Maassen
www.satyr-verlag.de
Lektorat: Volker Surmann
Cover, Satz und Layout: Endai Hüdl
Backcover-Foto: Hendrik Schneller
Druck und Bindung: AALEXX Buchproduktion GmbH, Großburgwedel
Printed in Germany
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet abrufbar über: http://dnb.d-nb.de
ISBN 978-3-86327-003-2
Für Annika
»Sleep around the clock«
BELLE & SEBASTIAN
»Wer saufen kann, kann auch ausschlafen
Und den Tag in die Matratze drücken
Bis ihm das Kissen an der Backe klebt.«
PETERLICHT
Alles geht zu Ende. Jetzt auch schon die Nacht. Ich öffne widerwillig die Augen und blicke zum Fenster. Draußen ist es dunkel. Einen kurzen Moment muss ich überlegen, ob die Sonne gleich aufgehen wird oder ob sie schon wieder untergegangen ist. Aber nur einen ganz kurzen Moment. Schließlich wache ich nur äußerst selten so früh auf, dass die Sonne noch nicht aufgegangen ist. Eigentlich nie. Aber jetzt ist sie schon wieder untergegangen. Der Tag ist zu Ende, bevor er überhaupt angefangen hat. Es geht wirklich alles zu Ende.
Und in einer Woche werde ich auch noch Ende zwanzig, denke ich, stehe schwerfällig auf und schlurfe ins Bad. Das hört sich eigentlich nicht so alt an. Ende zwanzig. »I’m still young«, sage ich zu meinem Spiegelbild im Badezimmerspiegel. Keine Ahnung, warum ich mit mir selbst englisch rede.
Es geht gerade ziemlich viel zu Ende in meinem Leben, da kann man schon mal nervös werden und den ganzen Tag schlafen, denke ich, während ich in die Küche trotte und Kaffee mache. Zu Ende geht zum Beispiel auch mein Mietvertrag. Hat gestern mein Vermieter Herr Schmidt gesagt. Er will aus meiner Wohnung ein Carloft machen, damit er auf seinen Porsche schauen kann, wenn er abends seinen astronomischen Kontostand auswendig lernt. Bis zum Ende des Jahres muss ich raus aus Kreuzberg.
Apropos raus. Bevor der Tag ganz zu Ende ist, sollte ich schnell mal noch rausgehen und erst mal Bier holen, gegenüber beim Spätkauf. Auf dem Weg dorthin begegne ich einem Reporter von VOX, der gerade eine dieser Berlin-Partyhauptstadt-Reportagen dreht. Er baut sich vor mir auf und hält mir ein mit Fell überzogenes Mikrofon unter die Nase.
Reporter: »Wo wohnen Sie?«
Ich: »Am unteren Ende der Wrangelstraße.«
Reporter: »Aha, und wie lange noch?«
Ich: »Bis Ende des Jahres.«
Reporter: »Und wie alt sind Sie?«
Ich: »Ende zwanzig.«
Reporter: »Was arbeiten Sie?«
Ich: »Gerade am Ende mit meinem Studium.«
Reporter: »Was wollen Sie jetzt tun? Hartz IV?«
Ich: »Das habe ich noch nicht zu Ende gedacht.«
Reporter: »Was sagen Ihre Eltern dazu?«
Ich: »Ende der Geldzufuhr.«
Reporter: »Haben Sie eine Freundin, die vielleicht Ihre Brüste im Fernsehen zeigen möchte?«
Ich: »Hier ist unser Interview zu Ende.«
Im Spätkauf kaufe ich dann ein paar Flaschen Beck’s Green Lemon und gehe zu meinem Freund Sebastian. Das mit dem gleichen Namen ist kein besonderer Zufall. Sebastian ist fast so alt wie ich, und als wir geboren wurden, Anfang der 80er Jahre, war Sebastian eigentlich immer in der Top Drei der beliebtesten Namen. Meine Eltern waren anscheinend ziemlich unkreativ, was die Namenwahl anging. Aber eigentlich ist Sebastian gar nicht so schlecht, wäre ich in den 90ern geboren, würde ich wahrscheinlich Kevin heißen. Und wenn ich in den sogenannten 00ern geboren wäre, hätte ich einen seltsamen altdeutschen Namen wie Tristan oder so. I’ll stay with Sebastian, denke ich seltsamerweise auf englisch.
Sebastian wohnt nicht weit weg von mir in Treptow. Um dahin zu kommen, muss ich durch den Görlitzer Park laufen, der eigentlich kein Park ist, sondern eine Rasenfläche, die jeden Sommer zu einer Wüste mutiert. Sebastian ist in einer ähnlichen Situation wie ich, seine Zwanziger neigen sich ebenfalls gefährlich dem Ende zu, beide sollten wir eigentlich demnächst mal erwachsen werden. Oder zumindest Erwachsenendarsteller. But we’re still young, denke ich auf englisch. »Damn«, rufe ich. Scheiße, schon wieder.
Aber trotzdem muss man das bald mal, erwachsen werden, denke ich, während ich mit den klirrenden Bieren in der Plastiktüte zu Sebastian durch den Park laufe, das kann ja nicht ewig alles so weitergehen. Warum also nicht ein Haus an einem Brandenburger See mit Familie und so? Mit Verantwortung und so. Mit Geld und so. Mit Auto und so. Mit Beruf und so. Mit Erwachsen und so. Wie alle normalen Menschen eben, weit weg in der alten BRD.
Als ich dann bei Sebastian am anderen Ende des Görlitzer Parks angekommen bin, öffnen wir erst mal jeder ein Bier und nehmen einen kräftigen Schluck. Aber es ist ja gar kein richtiges Bier, sondern nur Beck’s Green Lemon.
»Wir sind die Generation Beck’s Green Lemon«, sagt Sebastian. »Eigentlich gibt es nichts mehr, was uns verbindet, aber ständig erfindet jemand einen neuen Namen für unsere Generation. Wie bei diesen Mischbieren. Die heißen zwar auch immer noch Bier, aber da ist ja schon lange keins mehr drin. Oder was meinst du, Herr Lehmann?«
»Nenn mich nicht so«, sage ich, »da gibt’s schon ein anderes Buch, in dem die Hauptfigur so heißt.«
»Aber wenn ich dich Sebastian nenne, verwechsle ich dich immer mit mir«, sagt Sebastian.
»Hab das Buch übrigens auch noch nicht zu Ende gelesen«, sage ich.
»Ich auch nicht«, sagt Sebastian. »Wir machen nie was zu Ende.«
»Das kann doch so nicht weitergehen«, rufe ich zu laut. »Was soll nur jemals aus uns werden?«
»Du wirst wunderlich«, sagt Sebastian.
»Zählst du eigentlich auch die Haare im Waschbecken, die dir beim Fönen ausgefallen sind?«, frage ich Sebastian. »Bei mir sind das immer so sechs bis acht pro Tag.«
Sebastian schaut mich lange an und sagt nichts. Wir sitzen in einem Mutter-Kind-Café am Lausitzer Platz und beobachten die Kinder auf dem gegenüberliegenden Spielplatz, wie sie sich mit Schlamm einreiben und mit Kastanien bewerfen. Bis einer heult.
Das Mutter-Kind-Café müsste politisch korrekt natürlich Eltern-Kind-Café heißen, aber offiziell ist es ohnehin gar kein Mutter-Kind-Café, sondern ein ganz normales Café. Am Sonntagnachmittag sitzen allerdings ausschließlich Mütter an den Tischen vor und im Café und schauen ihren Kindern auf dem Spielplatz beim Schlammeinreiben und Heulen zu.
»Außerdem hänge ich meine Wäsche nach Farben sortiert auf dem Wäscheständer auf. Überhaupt, ich wasche farbensortiert«, sage ich. »Du doch bestimmt auch, oder?«
Sebastian kratzt sich am Kopf. Da kommt ein Hund und schnüffelt an meinem Schuh rum. Hier gibt es fast ebenso viele Hunde wie Kinder. Da scheint es irgendeine Verbindung zu geben, leider weiß ich nicht, welche. Ich sage: »Na, du lieber, kleiner Racker« und versuche, den Hund zu streicheln. Er schnappt aber nach meiner Hand und ist gar nicht klein und lieb.
»Sebastian«, sagt Sebastian, als der Hund wieder weg ist, »ich glaube, du wirst wirklich wunderlich.«
»Jetzt hör mal auf!«, rufe ich. Die Mütter im Café werfen uns böse Blicke zu, obwohl ihre Kinder viel lauter schreien als ich.
»Nur weil ich zum Beispiel Gäste bei mir in der Wohnung dazu zwinge, sofort ihre Schuhe auszuziehen, weil ich Angst habe, sie machen damit die weiße Badematte dreckig, bin ich gleich wunderlich oder was?«
Sebastian wiegt seinen Kopf hin und her und überlegt lange, bis er endlich sagt: »Ja.«
»Aha«, rufe ich noch lauter, die blöden Mütter sind mir jetzt egal. »Wahrscheinlich findest du es auch wunderlich, dass ich nur noch Bioprodukte im Biosupermarkt einkaufe? Und dass ich früher, als ich mir am Anfang der Woche dreißig Cheeseburger bei McDonald’s gekauft und mir jeden Tag fünf davon in der Mikrowelle aufgewärmt habe, noch nicht so wunderlich war wie jetzt?«
Sebastian blickt lange nachdenklich gen Himmel und sagt dann: »Ja.«
»Als wäre ich der Einzige!«, rufe ich, mich in meine Wut immer mehr hineinsteigernd. »Denk doch zum Beispiel mal an unsere alten Schulfreunde in der BRD. Die arbeiten jetzt alle. Das ist wunderlich. Die arbeiten sogar als Festangestellte. Bei der Deutschen Bank. Als Senior Creative Assistant Corporate Identity Director. Mit eigener Limousine und persönlicher Prostituierten. Oder denk an meine Freundin. Immer wenn ich mit ihr an einem Schmuckladen vorbeigehe, schauen wir uns die schönen Ringe an. Dann reden wir von den schönen Ringen. Und neulich standen wir auch noch zufällig vor einem Geschäft mit Brautmoden ...« Ich stocke.
Sebastian blickt mich belustigt an.
»Vielleicht hast du doch recht«, sage ich leise und nehme einen Schluck von meinem Apfel-Mango-Sellerie-Smoothie. »Vielleicht werde ich wunderlich.«
In diesem Moment kommt die hübsche Kellnerin mit meinem Essen. Sebastian zwinkert ihr zu, und sie lächelt zurück. Immer das Gleiche.
Ich habe mir eine Ingwer-Karotten-Limonen-Basilikum-Suppe bestellt. Ich blicke die Suppe lange an.
»What a shame«, sage ich. »Ich esse wirklich kein richtiges Essen mehr.«
»Du wirst wunderlich«, sagt Sebastian.
»Aber noch schlimmer als die Ingwer-Mango-Fenchel-Anis-Limetten-Suppe ist, dass ich über Kinder nachdenke«, sage ich.
»Du wirst wunderlich«, sagt Sebastian.
»Natürlich nur rein hypothetisch«, fahre ich fort und zeige auf den Spielplatz gegenüber. »Ich beobachte diese ganzen Eltern hier auf dem Spielplatz, die mit verzücktem Gesicht ihre lärmenden Kinder anhimmeln und denke: In fünf Jahren stehe ich da auch. Früher hätte ich gedacht, ich werde mein Leben nie so verpfuschen wie diese peinlichen Idioten-Eltern in ihren blauen North-Face-Jacken. Heute denke ich: Vielleicht macht das alles doch Sinn, vielleicht habe ich irgendwann eine Familie mit so Kindern, und dann feiern wir Weihnachten unter einem großen, leuchtenden Weihnachtsbaum. Danach streitet sich mein dreijähriger Sohn mit mir, weil er nicht die neue Playstation bekommen hat, sondern den kompletten Backkatalog von Oasis. Auf Vinyl. Und meine Frau und ich haben nur noch alle drei Monate Sex, weil die Arbeit so anstrengend ist und die Kinder noch nicht durchschlafen. An so was denke ich, wenn ich an einem Spielplatz vorbeilaufe.«
»Du wirst wunderlich«, sagt Sebastian.
Ich beobachte ein Kind, wie es gerade in den Sandkasten kotzt und der Vater die eklige Kotze wegwischt. Mit der bloßen Hand. Ich schaue in das Gesicht des Vaters, er schaut die Kotze fast liebevoll an und er sieht mir sogar ein bisschen ähnlich, nur seine Jacke ist hässlicher. Ich bekomme Angst und will den Hund streicheln, der, seit mein Essen auf dem Tisch steht, vor mir Männchen macht und um etwas Aloe-vera-Ingwer-Tomaten-Basilikum-Suppe bettelt. Aber er schnappt sofort nach meiner Hand.
»Und du findest Kate Nash niedlich«, sagt Sebastian, ohne den Hund weiter zu beachten. »Früher hättest du noch Drogen-Amy-Winehouse niedlich gefunden, aber heute nur diese brave, schnuckelige Kate Nash.«
»Ich werde wunderlich«, rufe ich und springe auf, dabei schwappt meine Ingwer-Mango-Fenchel-Kürbis-Ayuveda-Suppe über. »Überhaupt habe ich früher nur Schranz-Techno und Death Metal gehört, und ich hatte drei Piercings: Eins in der Nase, eins in der Zunge und die Nachwirkungen vom dritten machen mir heute noch zu schaffen, wenn ich aufs Klo gehe.«
»Krass«, sagt Sebastian und steht auch auf, »das wusste ich ja gar nicht.«
»Okay«, sage ich, »das war jetzt etwas übertrieben, aber es geht doch um das Bild.«
Sebastian nickt heftig zustimmend und wir verabschieden uns. Als ich zu Hause bin, lege ich erst mal das Kate-Nash-Album auf und schaue eine halbe Stunde verliebt das Cover an. Später sehe ich mir im Fernsehen Tiere suchen ein neues Zuhause an mit ganz vielen süßen Katzen und Hunden, dabei haben wir Samstagabend und die besten Partys überall. Aber ich fühle mich heute nicht nach Betrinken. Ich habe keine Lust auf Bier. Höchstens auf ein gepflegtes Glas Rotwein. Ein gepflegtes Glas Rotwein, ich kann gar nicht glauben, dass ich so etwas auch nur denke. Außerdem bin ich müde. Es ist ja auch schon halb neun. Früher bin ich abends erst um halb neun aufgestanden, weil ich die ganze Nacht in irgendwelchen Clubs besoffen auf den Boxen getanzt hatte. Und als ich dann aufgestanden bin um halb neun, habe ich erst mal ein Konter-Bier aufgemacht, denn um zwölf ging’s ja schon wieder in den nächsten Techno-Club. Heute sitze ich auf meiner Couch, gähne, schaue mir eine Katzen-Entbindung im Fernsehen an und trinke gepflegt ein Glas Rotwein. I’m getting wondrous. Ich wusste gar nicht, dass ich diese Vokabel überhaupt kenne. Wohin dieses Englisch-Denken noch führt. Ich werde wunderlich.
Ich renne raus auf die Wrangelstraße und wieder zum Lausitzer Platz. Vor dem Spielplatz laufe ich auf und ab und sage vor mich hin: »Ich werde wunderlich. Ich werde wunderlich.« Da kommt ein Vater, der gerade noch mit seinem süßen Kind Sandburgen gebaut hat, auf mich zu und lächelt mich an. Er trägt eine blaue North-Face-Jacke und eine Halbglatze.
»Auch ich dachte einmal, dass ich wunderlich werde«, sagt der Vater zu mir. »Aber das stimmte nicht. Und auch du wirst nicht wunderlich werden.«
»Doch!«, rufe ich. »Ich zähle meine ausgefallenen Haare im Waschbecken und denke über Kinder nach.«
Der Vater streicht mir väterlich über den Kopf, während ich traurig zu Boden sinke.
»Mein Sohn«, sagt er mit fester und vertraueneinflößender Stimme, »das passiert allen Männern in deinem Alter. Du wirst nicht wunderlich«, er hält inne und lächelt mich aufmunternd an, »du wirst erwachsen.«
Ich blicke ihn mit großen Augen an. »Es ist okay, mach dir keine Sorgen, alles wird gut«, sagt der Vater. »Du wirst glücklich werden. Alle Erwachsenen sind glücklich.«
Er nimmt mich bei der Hand und wir gehen auf den Spielplatz, wo viele süße, kleine Kinder rumtollen und silbrige Rutschen runterrutschen. Dahinter versinkt die Sonne blutrot am lila Abendhimmel.
Der Vater breitet seine starken Arme aus, zeigt auf den ganzen Spielplatz und ruft: »Erwachsensein bedeutet Verantwortung. Verantwortung für all das hier. Und Verantwortung ist etwas Schönes.« Er blickt wieder zu mir. In seinen Augen kann ich Tränen erkennen. »Nun gehe nach Hause, lege dich hin und schlafe, das war heute vielleicht etwas zu viel für dich.«
Ich mache mich auf den Weg zurück zu meiner Wohnung, begegne wieder einem Hund, streichle ihn, und er wedelt zufrieden mit dem Schwanz.
Zu Hause lege ich mich in mein Bett und schlafe sofort ein.
Am unteren Ende der Wrangelstraße gibt es keine Bäume. Und wenn, dann haben sie keine Blätter, auch im Sommer nicht. Aber es gibt zum Glück den Görlitzer Park gerade um die Ecke. Im Görlitzer Park gibt es zwar auch keine Bäume, dafür aber eine Wüste, auf der sich alle paar Meter schwarze Aschehäufchen von unzähligen Grillgelagen abzeichnen. Der Park liegt den ganzen Sommer lang unter einer dichten Grillrauchwolke.
Sebastian und ich grillen nicht, wir sind hier, weil wir bei ein paar Beck’s Green Lemon und einem guten Buch die Natur genießen wollen. Leider finden wir aber nicht so richtig Ruhe. Denn immer, wenn wir eine neue Flasche Beck’s Green Lemon aufmachen, kommt sofort ein Flaschensammler auf uns zugestürmt, entreißt uns die Beck’s-Green-Lemon-Flasche, schüttet sie aus und türmt sie auf seinem komplett mit Beck’s-Green-Lemon-Flaschen gefüllten Einkaufswagen drauf. Innerhalb von zehn Minuten haben wir beide auf diese Weise ein Sixpack Beck’s Green Lemon getrunken.
Neben uns versucht seit ungefähr zwei Stunden eine Gruppe hipper Mädchen in abgeschnittenen Jeansshorts, einen Einweg-Grill von der Tankstelle anzuheizen. Die Kohle im Einweg-Grill, der vollkommen aus Plastik besteht, beginnt aber nicht zu glühen, sondern zerfällt einfach so zu Asche. Wahrscheinlich ist die Kohle auch nur aus Plastik. Wir warten schon die ganze Zeit, dass uns die hippen Mädchen um Hilfe bitten, aber anscheinend sehen wir nicht wie patente Grill-Männer aus. Vielleicht lesen wir die falschen Bücher. Oder es ist überhaupt falsch, Bücher zu lesen, wenn man für einen patenten Grill-Mann gehalten werden will.
»Schau mal«, sagt Sebastian und deutet auf unsere anderen Parknachbarn, eine etwa hundertköpfige türkische Großfamilie, die neben uns grillt. Wobei Grillen hier eher eine Untertreibung ist. Inmitten eines quadratkilometergroßen Lagers, das mit einem Zelt überspannt ist und in dem edle Perserteppiche den Wüstenboden bedecken, steht ein riesiger, aus Stein gebauter Ofen-Grill, um den herum etwa vierzig Männer auf gepolsterten Liegestühlen Wasserpfeife rauchen. Hin und wieder stehen sie auf und wenden die drei kompletten Rinder, die sie gerade auf einem langen Spieß über dem Grill aufgehängt haben. Die Frauen dagegen beschmieren unzählige Fladenbrote mit wohlriechenden Pasten und bereiten einen badewannengroßen Topf Couscous vor. Uns läuft das Wasser im Mund zusammen.
Plötzlich wird die Sicht auf die Großfamilie von drei konkurrierenden Gitarrenspielern verstellt. Alle drei singen Bob Marleys »No Woman No Cry«, aber jeder hat an einer anderen Stelle eingesetzt, und da sie offensichtlich um die Aufmerksamkeit aller Parkgriller buhlen, singen sie sehr laut.
»Wenn jetzt auch noch eine dreißigköpfige Trommlergruppe um die Ecke gebogen kommt!«, ruft Sebastian genervt aus.
In diesem Moment kommt eine vierzigköpfige Trommlergruppe um die Ecke gebogen und setzt sich genau neben uns. Der Anführer, der auch noch ständig in eine Trillerpfeife pfeift, zwinkert uns zu, dann beginnt das Inferno. Im gleichen Moment stürzen fünf Flaschensammler gleichzeitig auf uns zu und entreißen uns auch noch die Decken, auf denen wir liegen. Sebastian und ich schauen uns verwundert an, bis Sebastian mir ins Ohr schreit, es reiche ihm jetzt, er gehe nach Hause, neues Beck’s Green Lemon holen, aber fülle vorher noch alles in eine Thermosflasche um. Er springt auf und rennt Richtung Treptow. Apathisch bleibe ich sitzen, irgendwann hört das Trommelinferno auf, und ich blicke mich um.
Vor mir steht ein kleiner Junge und schaut mich stumm an. Das geht so ein paar Minuten. Seltsamerweise haben Kinder noch keine Mimik, denke ich. Sie schauen immer gleich. Außer sie lachen oder weinen. Vielleicht ist das aber auch nur eine bösartige Unterstellung von mir.
»Musst du nicht arbeiten?«, fragt der Junge schließlich.
»Ich arbeite«, rufe ich empört und deute auf das Buch in meiner Hand. »Geistesarbeiter«, sage ich stolz.
Der Junge schaut das Buch an und liest langsam vor: »Bis(s) zum Morgengrauen« von Stephenie Meyer. Kein Wunder, dass dich kein hippes Mädchen anspricht, sondern nur ich«, sagt der Junge.
Scheiße, der Junge kann schon lesen. Immer unterschätze ich meine Mitmenschen.
»Man muss auch mal bei etwas einfacher Unterhaltung abschalten können«, sage ich zu dem Jungen. »Schließlich kann man nicht den ganzen Tag arbeiten.«
»Ich werde später den ganzen Tag arbeiten«, sagt der Junge. »Ich will kein Langzeitstudent werden wie du.«
»Woher weißt du denn, dass ich Langzeitstudent bin?«, frage ich empört.
»Es ist Montagnachmittag, und du arbeitest nicht«, sagt der Junge.
»Ich lerne nicht für die Uni, sondern fürs Leben«, sage ich. Das hätte ich damals in der Schule nicht gedacht, dass ich diesen Lehrer-Evergreen jemals selber benutzen würde.
»Du studierst doch nur so lange, weil du Angst hast, Verantwortung zu übernehmen«, sagt der Junge.
»Klar, natürlich«, rufe ich in genervtem Tonfall, weil mir nichts Schlagfertiges einfällt. Wenn so etwas, wie gerade vor mir steht, dabei herauskommt, dann will ich lieber verantwortungsvoll keine Kinder in die Welt setzen.
»Was willst du denn mal werden, wenn du groß bist?«, frage ich den Jungen, um von meiner Lebensmisere abzulenken, die er nach nur fünf Minuten schon durchschaut hat.
»Chef«, sagt der Junge.
»Aber von was?«, frage ich.
»Egal«, sagt der Junge.
»Also auch Chef der SS?«, bohre ich weiter.
»Totschlagargument«, sagt der Junge.
»Willst du nicht vielleicht Lokomotivführer, Feuerwehrmann oder Polizist werden?«, frage ich.
»Oberhauptkommissar«, sagt der Junge.
»Was?«
»Na, Chef von der Polizei«, sagt der Junge.
»Also ich wollte früher Entwicklungshelfer, Biobauer oder Kämpfer in der Großstadtguerilla werden«, sage ich.
»Du lügst doch«, sagt der Junge.
»Okay, ich wollte Polizist werden, aber höchstens Verkehrspolizist an einer ausgefallenen Ampel«, sage ich und fühle mich jetzt sogar dem Jungen unterlegen. Was soll nur jemals aus mir werden?
»Was soll nur jemals aus dir werden?«, sagt der Junge.
»Moment, Junge«, rufe ich, »das Gleiche könnte ich von dir sagen: Dein einziges Ziel scheint zu sein, dich an die Spitze der Leistungsgesellschaft zu drängen. Kann es ein Ziel sein, andere zu befehligen, auszubeuten? Es gibt so viele andere Berufe, die sich zu erlernen lohnen, zum Beispiel Lakritz-Tester in Finnland. Du könntest neue Lakritz-Sorten testen, ob sie zu hart sind und man sich dabei die Zähne ausbeißt.«
Plötzlich kommt ein Flaschensammler auf uns zugestürzt und reißt den Jungen weg, legt ihn in seinen Einkaufswagen und fährt schnell mit ihm weg. Zehn Minuten später ist Sebastian mit dem Beck’s Green Lemon in der Thermosflasche zurück.
»Sebastian«, rufe ich verzweifelt, »was soll nur jemals aus uns werden?«
»Was ist denn schon wieder los mit dir?«, fragt Sebastian.
»Vielleicht sollten wir arbeiten. Ich meine, so richtig«, sage ich.
»Okay«, sagt Sebastian und nimmt einen kräftigen Schluck aus der Thermosflasche, »aber nicht heute. Morgen.«
»Ja, morgen«, sage ich und trinke auch aus der Thermosflasche. Aber das Beck’s Green Lemon schmeckt nicht gut, es schmeckt wie Tee.
Habe ich schon gesagt, dass früher alles besser war? Eigentlich braucht man das gar nicht mehr zu begründen. Das weiß jeder, da muss nichts bewiesen werden. Früher habe ich zum Beispiel nicht nur wacklige, kleine YouTube-Fenster auf dem weißen Laptop angeschaut, sondern es gab ein richtiges Fernsehprogramm, das ich auch angucken konnte, ohne ständig wegzuklicken. Gab ohnehin nur drei Programme. Und später dann vielleicht neun. Viel zu klicken hatten wir ja früher nicht.
Früher kam zum Beispiel noch Lass dich überraschen mit Rudi Carrell im Fernsehen oder Die Mini Playback Show oder Das A-Team. Heute kommt nur noch Familien im Brennpunkt, Achtung Kontrolle! Einsatz für die Ordnungshüter oder CSI: Las Vegas oder CSI: New York oder CSI: Miami oder CSI: Los Angeles oder CSI: Frankfurt/Oder.
Früher gab es auch noch Musikkassetten. Oder »Tapes«, wie der Liebhaber zu sagen pflegte. Früher konnten sensible, musikbegeisterte Jungs wie ich die Mädchen noch mit ihrer Musik von sich überzeugen, aber seit iTunes und iPod ist das nicht mehr so einfach. Wenn ich mich mit meiner ersten Freundin, damals in den 90ern, gestritten habe, dann nahm ich ihr einfach ein Mix-Tape auf, mit empfindsamen und traurigen Liedern über Liebe und Einsamkeit. Und zu »Picture Postcards from L.A.« sanken wir uns sogleich versöhnt in die Teeniearme. Später konnte man die Indie-Mädchen immerhin noch gut mit selbstgebrannten CDs rumkriegen. Heute ist das auch vorbei, jetzt heißt es nur noch: »Ich synchronisiere mal meinen iPod mit deinem.«
Oder: »Ich schick dir mal einen Rapidshare-Link auf Facebook.«
Oder: »Ich leih dir mal meine Festplatte aus, da sind 48,75 GB Musik drauf, das entspricht 35 Tagen, 11 Stunden, 43 Minuten und 21 Sekunden Nonstop-Music, geil, oder?«
Ich wollte mir ja jetzt eigentlich eine anspruchsvolle amerikanische Serie im Internet anschauen, weil im Fernsehen nichts mehr läuft. Zum Beispiel Raumschiff Enterprise – The Next Generation. Aber da früher alles besser war, schaue ich Raumschiff Enterprise immer genau um 15 Uhr auf illegalen Seiten im Internet an, weil das früher auch immer montags bis freitags um 15 Uhr auf SAT.1 kam. Immer nach zwanzig Minuten mache ich fünf Minuten Pause und schaue mir Werbespots auf YouTube an. Und zwar historische, die auch damals in den 90ern kamen. Mein Lieblingswerbspot ist immer noch »Raider heißt jetzt Twix«.
Raumschiff Enterprise