WILLIAM MAKEPEACE THACKERAY
Das Buch der Snobs
Aus dem Englischen übersetzt
von Gisbert Haefs
Nachwort von Asfa-Wossen Asserate
MANESSE VERLAG
ZÜRICH
VORBEMERKUNGEN
Die Notwendigkeit eines Werks über Snobs, demonstriert anhand der Geschichte und belegt durch treffliche Beispiele: Zur Abfassung dieses Werks bin ich vorherbestimmt. Meine Berufung, verkündet in höchst beredten Worten. Ich zeige, dass die Welt sich mählich auf das Werk und den Mann vorbereitet hat. Snobs sind zu erforschen wie andere Gegenstände der Naturwissenschaften, und sie sind ein Teil des schönen (mit großem sch). Sie finden sich in allen Schichten – vorzügliches Beispiel: Oberst Snobley.
Wir alle haben eine Behauptung gelesen (deren Wahrhaftigkeit gänzlich zu bezweifeln ich mir gestatte, denn ich wüsste gern, auf welchen Berechnungen sie gründet) – wir alle genossen, sage ich, den Vorzug, eine Bemerkung lesen zu dürfen, der zufolge, wenn die Zeitläufte und die Bedürfnisse der Welt nach einem Mann verlangen, sich dieses Individuum findet. So geschah es während der Französischen Revolution (es wird dem Leser gefallen, sie so früh eingeführt zu sehen), als es angebracht war, der Nation ein Korrektiv zu verabreichen, dass sich Robespierre1 als wahrlich widerwärtige und ekelerregende Dosis erwies und vom Patienten letztlich sehr zu seinem Vorteil beflissen geschluckt wurde; so auch, als es notwendig wurde, John Bull2 mit einem Fußtritt aus Amerika hinauszubefördern, dass Mr Washington3 vortrat und diese Arbeit zu allgemeiner Befriedigung erledigte; so auch, als der Earl of Aldborough unpässlich war, dass Professor Holloway mit seinen Pillen erschien und Seine Lordschaft heilte,4 wie per Annonce angezeigt etc. etc. Es ließen sich zahllose Beispiele anführen, um zu zeigen, dass Hilfe sich sogleich einstellt, wenn eine Nation in großer Bedrängnis ist, ganz wie in der pantomime5 (diesem Mikrokosmos), wenn der Clown etwas braucht – einen Bettwärmer, einen Pumpenschwengel, eine Gans oder eine Damenpelerine –, jemand seitlich aus der Kulisse herbeigeschlendert kommt, der ebenjenes Objekt bei sich trägt. Und hier kann ich nicht umhin zu bemerken, um unser geliebtes England und Irland muss es doch recht seltsam und eigenartig bestellt sein. Man kann sich durchaus denken, dass ein großes Volk von Moses geführt oder von Washington befreit oder von Leonidas oder Alfred dem Großen6 gerettet wird; wogegen es sich bei den Heroen, die gegenwärtig uns zu retten bestimmt sind, um ein paar notorische Quacksalber handelt, worin Sir Robert7 und Mr O’Connell8 mir gern beistimmen werden. Dies werfe ich als lediglich beiläufige Bemerkung ein und komme nun zum ursprünglichen Streitpunkt zurück, den man hinnehmen oder anfechten mag.
In jedem Falle gilt: Wer sich anschickt, ein Unterfangen zu beginnen, der zweifelt nicht an diesem. Sagen wir, es handle sich um eine Eisenbahn; die Direktoren stellen zu Anfang fest: «Für den Fortschritt der Zivilisation ist eine engere Verbindung zwischen Bathershins und Derrynane Beg9 unabdingbar und wird durch vielfältig lautstarke Bekundungen des großen irischen Volkes auch gefordert.» Oder nehmen wir an, es handle sich um eine Zeitung. In der Werbeschrift heißt es: «Zu einer Zeit, da die Kirche in Gefahr ist, von außen bedroht durch wüsten Fanatismus und schurkischen Unglauben und von innen untergraben durch gefährlichen Jesuitismus und selbstmörderisches Schisma, gibt es ein allgemeines Bedürfnis – ein leidendes Volk hat allenthalben Ausschau gehalten – nach einem kirchlichen Vorkämpfer und Hüter. In dieser unserer Stunde der Gefahr hat sich daher eine Vereinigung von Geistlichen und Edelleuten erhoben und beschlossen, die Zeitung ‹Der Kirchendiener›10 zu gründen» etc. etc. Die eine oder die andere der folgenden Feststellungen ist jedenfalls nicht zu widerlegen: Die Öffentlichkeit will etwas, deshalb liefert man es ihr; oder man liefert der Öffentlichkeit etwas, deshalb will sie es.
Schon lange bewegt mich im Geiste die Überzeugung, dass ich ein Werk zu schaffen habe – ein WERK, wenn Sie so wollen, in Großbuchstaben; dass ich einer Bestimmung folgen, in einen Abgrund springen (wie Curtius, mit Ross & Mannen11), ein großes gesellschaftliches Übel entdecken und heilen sollte. Diese Überzeugung Hat Mich Seit Jahren Verfolgt. Sie ist mir auf der belebten Straße nachgeschnürt, hat sich im einsamen Studierzimmer neben mich gesetzt, meinen Ellenbogen gestoßen, als dieser an der Festtafel den Weinpokal hob, hat mich durch das Labyrinth von Rotten Row12 verfolgt, mich begleitet in ferne Lande, auf Brightons Kieselstrand oder Margates Sand. Die Stimme übertönte das Dröhnen des Meeres; sie nistet in meiner Nachtmütze und wispert: «Wach auf, Schläfer, dein Werk ist noch nicht getan.» Voriges Jahr umfing mich im Kolosseum bei Mondschein die leise beflissene Stimme und sprach: «Smith oder Jones» (des Autors Name tut nichts zur Sache), «Smith oder Jones, mein guter Mann, das ist ja alles ganz nett, aber du solltest eigentlich zu Hause sein und dein großes Werk über SNOBS schreiben.»
Verspürt ein Mann diese Art Berufung, ist es gänzlich sinnlos, sich ihr entziehen zu wollen. Er muss zu den Nationen sprechen; er muss sich entbusen, wie Jeames13 sagen würde, oder ersticken und sterben. «Führe dir», so habe ich Ihrem ergebenen Diener oft im Geiste zugerufen, «vor Augen, wie du ganz allmählich auf deine große Arbeit vorbereitet wurdest und nun durch unwiderstehlichen Drang dazu getrieben wirst, sie in Angriff zu nehmen. Zuerst wurde die Welt erschaffen; dann ganz selbstverständlich die Snobs. Sie existierten seit vielen Jahren, waren jedoch ebenso unbekannt wie Amerika. Aber plötzlich – ingens patebat tellus14 – gewahrten die Menschen dunkel, dass es solch eine Rasse gab. Erst vor fünfundzwanzig Jahren fand sich ein Name, ein ausdrucksvoller Einsilbler15, um diese Spezies zu bezeichnen. Anschließend hat sich dieser Name über England verbreitet wie die Eisenbahn; heute kennt und erkennt man Snobs überall in einem Reich, über welchem, wie ich sagen hörte, die Sonne niemals untergeht. ‹Punch›16 erscheint, da die Zeit reif ist, um ihre Geschichte zu verzeichnen, und DAS INDIVIDUUM tritt auf, um in ‹Punch› diese Geschichte zu schreiben.»
Ich habe (und zu dieser Gabe beglückwünsche ich mich in tiefer und dauerhafter Dankbarkeit) ein Auge für den Snob. Wenn das Wahre das Schöne ist, dann ist es schön, selbst das Versnobte zu studieren: Snobs in der Geschichte aufzuspüren, wie gewisse kleine Hunde in Hampshire Trüffel aufspüren; Schächte in die Gesellschaft zu treiben und auf reiche Adern von Snob-Erz zu stoßen. Versnobtheit ist wie der Tod in einem Zitat von Horaz, welches Sie hoffentlich noch nie gehört haben: «Er klopft mit gleichem Fuß gegen armer Menschen Türen, wie er gegen Portale von Kaisern tritt.»17
Als ich mich in Bagnigge Wells zur Wasserkur aufhielt und dort im «Imperial Hotel» weilte, saß mir für eine kurze Zeit beim Frühstück immer ein solch unerträglicher Snob gegenüber, dass ich wähnte, die Wässer würden keinerlei heilsame Wirkung auf mich ausüben, solange er dort bliebe. Sein Name war Oberstleutnant Snobley, von einem gewissen Dragonerregiment. Er trug Lackstiefel und Schnurrbart; er lispelte, dehnte die Wörter und verschluckte die Rs; er gestikulierte immer herum und strich seinen gewichsten Backenbart mit einem riesigen feuerroten Halstuch glatt, was den Raum mit einem so erstickenden Moschusgeruch erfüllte, dass ich beschloss, mich mit diesem Snob anzulegen, bis einer von uns das Gasthaus verließe. Zunächst begann ich harmlose Gespräche mit ihm, was ihn über die Maßen erschreckte, da er nicht wusste, wie er sich eines solchen Angriffs erwehren sollte und nie die leiseste Ahnung gehabt hatte, dass jemand es sich ihm gegenüber herausnehmen könnte, als Erster zu sprechen; dann reichte ich ihm die Zeitung; da er von diesen Avancen keine Notiz nehmen mochte, schaute ich ihm danach ruhig ins Gesicht und – nutzte meine Gabel wie einen Zahnstocher. Nachdem ich dies zweimal morgens praktiziert hatte, konnte er es nicht länger ertragen und reiste lieber ab.
Sollte der Oberst dies lesen, wird er sich dann wohl des Gentleman entsinnen, der ihn fragte, ob er Publicoaler18 für einen guten Schriftsteller halte, und der ihn mit einer vierzinkigen Gabel aus dem Hotel vertrieb?