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Inhaltsverzeichnis

EINLEITUNG - Vom Ist-Zustand in die Zukunft
KAPITEL 1 - Götterdämmerung: Wie wir künftig mit Idolen, Idealen und Autoritäten umgehen
KAPITEL 2 - Verantwortungsmigration: Wie wir Verantwortung und Ethik neu organisieren
KAPITEL 3 - Erfahrungshunger: Wie wir uns auf ein neues Wir verständigen
KAPITEL 4 - Geschlossene Gesellschaft: Wie wir neue Beziehungs- und Empathiekulturen schaffen
KAPITEL 5 - Das neue Begehren der Bürger: Wie Zivilgesellschaft und soziale Bewegungen Staat und Politik verändern
KAPITEL 6 - Wirklichkeitsverluste: Wie wir unsere Sehnsucht nach Wahrhaftigkeit und Authentizität stillen
KAPITEL 7 - Genuss-Revolution: Wie wir der Suburbanisierung unseres Lebens entkommen
KAPITEL 8 - Zeitkriege: Wie wir morgen leben und arbeiten werden
KAPITEL 9 - Personal Jesus: Wie wir Glück und Seligkeit finden
SCHLUSS - Eine Stichwortagenda für die nächsten Jahre
Copyright

SCHLUSS

Eine Stichwortagenda für die nächsten Jahre

Dieses Buch soll dazu beitragen, Zukunft wieder wahrnehmbar zu machen. Viele Daten und Fakten deuten daraufhin, dass vielen Menschen der Zukunftshorizont entglitten ist. Dass wir uns aus veralteten Konsumgewohnheiten nicht lösen können, spricht genauso dafür wie die Tatsache, dass wir keine Möglichkeiten mehr sehen, Familien zu gründen und damit Zukunft zu setzen. Es sei noch einmal auf Martin Walsers Formulierung hingewiesen, dass wir durch Kinder erst gezwungen werden, uns menschlich zu verhalten. Dass wir es immer noch nicht geschafft haben, flexible Arbeitswelten zu schaffen, die diese Bezeichnung verdienen, deutet ebenfalls auf unsere Zukunftsverzagtheit hin. Wir müssen diese Einbahnstraßen weiter analysieren, um uns aus unserer Zukunftsvergessenheit herauszulösen. Die fundamentale Krise auf den Finanzmärkten mit der Folge einer drohenden Weltkrise der Währungen lässt sich nur verstehen, wenn wir die gesellschaftlichen Wurzeln unserer Welt bloßlegen. Dazu soll dieses Buch einen Anstoß geben.

Eine neue Weltordnung ist nicht nur möglich, sondern auch nötig. Ein »New Green Deal« wird der richtige Weg auf postfossile Wachstumsmärkte sein. Um diesen schwierigen Kurswechsel klug und vorausschauend einleiten zu können, müssen wir uns neu über die gesellschaftlichen Grundlagen unseres Handelns verständigen. Wachstumskonzepte dürfen nie mehr losgelöst von der sozialen Matrix unserer Welt und den Ängsten und Sehnsüchten der Menschen entwickelt werden.

Dieses Buch soll aber auch helfen, die Sehnsüchte der Menschen zu verstehen, die der Ausgangspunkt für gesellschaftliche und ökonomische Veränderungen sein sollten. Aufgabe der Trendforscher ist es, Märkte zu verstehen und Zukunftsmärkte zu identifizieren. Mindestens ebenso wichtig ist es jedoch, anhand von Zahlen und Fakten, harten und weichen Daten Mentalitätsveränderungen nachzuzeichnen, die die Lebensgestaltung der Menschen beeinflussen. Neben einem verzweifelten Ringen um die Zukunft, um neue Spielräume und eine postfossile Wertschöpfung, wurden viele Anhaltspunkte dafür entdeckt, dass sich nach den euphorisierten 1990er und den vergeudeten 2000er Jahren realistische Chancen ergeben, die wahren Sehnsüchte der Menschen Wirklichkeit werden zu lassen. Die tektonischen Verschiebungen in unserer Welt in der letzten Zeit haben trotz aller negativen Begleiterscheinungen zum Vorschein gebracht, dass die Ökonomie der Zauberer entlarvt ist und wir die Gelegenheit haben, eine neue Gesellschaft mit einem neuen ökonomischen System zu entwerfen. Diese neue Welt und diese neue Wertschöpfung könnten brauchbare Vehikel für die Sehnsüchte der Menschen sein – und nicht umgekehrt.

In den letzten Kapiteln war viel von Seligkeit, Selbstverwirklichung und Glück die Rede. Glück sollte eine Grundmaxime für unser Tun sein. Skepsis ist dann angeraten, wenn aus der reinen Optimismus-Behauptung eine Ersatzreligion gemacht wird. Glück wird dann realistisch und erreichbar, wenn wir mit der Arbeit anfangen – und nicht wieder auf die Zaubertricks der Ökonomie zu hoffen beginnen. Glück gibt es nur durch die Umformung der Realität – und nicht, indem man die Realität verleugnet, wie durch die Berufsoptimisten geschehen. Michael Hardt, der großartige Theoretiker der globalen Gesellschaft, hat erläutert, wie das Glück zwischen dem 18. und 19. Jahrhundert von einem politischen Anspruch in ein inwendiges Gefühl verwandelt wurde. Die Sehnsucht nach einem kollektiven öffentlichen Glückszustand (keine Wellness, keine romantische Schwärmerei) hat in unserer Gegenwart lange keine Orte und keine Objekte mehr gefunden. Jetzt beginnen sich diese Orte wieder herauszubilden: von den Fanmeilen, während der Fußballspiele über die offenen Plattformen des Internets bis in den Stuttgarter Schlosspark.

Wir gewinnen dann die Zukunft, wenn wir in dieser Weise glücksfähig werden.

Abschließend sollen 18 Schlüsselthesen die Erkenntnisse aus der vorliegenden Untersuchung herausfiltern, in der Überzeugung, dass sie in den nächsten 20 bis 30 Jahren maßgeblichen Einfluss auf die Entscheidungen der Gesellschaft und Wirtschaft haben werden. Wirtschaft wurde zu lange als eigenständige Sphäre interpretiert, in der angeblich autonome Trendkulturen wachsen. Das ist ein schwerwiegender Irrtum: Substanzielle und einflussreiche Trends sind immer das Ergebnis von gesellschaftlichen Veränderungen. Trends werden grundsätzlich von Menschen gemacht, während sie versuchen, ihre Arbeits- und Lebenswelt zu gestalten.

Hier die wichtigsten Thesen:



1. Wir müssen das Auseinanderfallen in »pampernden« Sozialstaat und entfesselnder Marktgläubigkeit rückgängig machen. Viele Entwicklungen in den westlichen Ländern der vergangenen 30 Jahre haben dazu beigetragen, dass Eigeninitiative und Unternehmergeist in doppelter Weise verhindert wurden: durch den bevormundenden Sozialstaat und durch einen transnationalen Kapitalismus, der mittelständische Innovationen blockierte.

Wir leben in einer Gesellschaft, die seit einiger Zeit durch schroffe Brüche und Risse gekennzeichnet ist. Mithilfe eines fatalen Befreiungsschlags haben wir uns selbst entmündigt, uns in die Abhängigkeit eines fürsorglichen Staates begeben und dem globalisierten Wirtschaftssystem zugleich einen Freifahrtschein ausgestellt. Die parallele Erfindung des Sozialstaats und des deregulierten Kapitalismus haben die Gesellschaft abgeschafft: »There is no such thing as society«, hat Margret Thatcher gesagt. Wir haben Gemeinschaft und Nachbarschaftlichkeit durch den Sozialstaat ersetzt (damit aber noch nicht einmal einen Dienstleistungsboom auszulösen vermocht). Im selben Moment haben wir dem ökonomischen System erlaubt, verantwortungsbefreit zu handeln. Die Herkulesaufgabe der nächsten Jahre wird darin bestehen, eine neue Idee von Gemeinschaft und kollektiver Verantwortung zu entwickeln, die natürlich auch das Wirtschaftssystem hinter die Grenzen des Gemeinwesens zurückholt.



2. Paralleluniversen und Echokammern bedrohen die Gesellschaft an vielen Stellen. Weil diese Echokammern, in denen nur das zu hören ist, was man selbst hineinruft, den »Durchblick« auf die Wirklichkeit verstellen, ist es erforderlich, genauer zu prüfen, wo Realitätswahrnehmung die Basis ist und wo Entscheidungen nicht mehr auf Fakten, Rationalität, »Selbstdenken« beruhen.

Bei der Analyse der gesellschaftlichen Triebkräfte, die uns dorthin gebracht haben, wo wir heute stehen, war der Begriff der Parallelgesellschaft besonders wichtig. Aber auch bei der Beschreibung des medialen Status quo (Kapitel 6) wurden Tendenzen festgestellt, die die Wirklichkeit nicht zur Kenntnis nehmen wollen (Privatfernsehen genauso wie Facebook). Ebenso wurde im Abschnitt über die Religionen (Kapitel 9) dargetan, dass die Optimismusindustrien in den vergangenen Jahren wie Ersatzreligionen funktioniert haben, die Individualisierung und schnelles Glück predigen, doch den Blick auf gesellschaftliche Tatsachenzusammenhänge verstellen. Auch bei der Implosion der Autoritäten und Institutionen (Kapitel 1) stand ein bedenkliches Ausblenden von Realität im Mittelpunkt. Wir müssen wieder in die Realität zurückkehren, uns den Errungenschaften der Aufklärung anschließen und Vernunft und den gesunden Menschenverstand walten lassen. Doch unsere hoch beschleunigte Gesellschaft tendiert immer mehr dazu, Echokammern zu errichten. Echokammern sind nach außen abgeschlossene Räume, die nur das als Ton herausgeben, was wir in sie hineinposaunen. Wir reden in den Facebook-Communities nur noch mit denen, die wir mögen und die uns bestätigen. Wir nehmen tendenziell immer mehr das als Realität wahr, was unsere Gleichgesinnten-Community dafür hält. Wir bestätigen uns gegenseitig und verlieren dabei die Realität aus dem Blick. Harvard-Professor Cass Sunstein hat Echokammern in seinem Buch Republic 2.0 als bedenklichen Effekt in den Social Media beschrieben. Die Menschen halten nur noch das für wirklich, was sie selbst mit ihrer Community in die Medien hineinfüttern. Eine gefährliche Täuschung. In diesem Buch wurde nachgewiesen, dass die Gefahr der Errichtung von Echokammern nicht nur in den Medien besteht.



3. Der Absturz der Mittelschichten ist ein globaler Mythos, der sich in Deutschland mit besonderer Zähigkeit hält. Von den Mittelschichten wird es in den nächsten Jahren entscheidend abhängen, ob wir die Parallelwelten in unserer Gesellschaft aufbrechen können oder nicht.

Zurzeit gibt es keine wirklich verlässlichen Anzeichen dafür, dass die Mittelschichten in nächster Zeit untergehen werden. Das sollte uns klarwerden lassen, dass sich hinter der spanischen Wand des Mittelschichten-Dramas (»The Fear of Falling«) das grundlegendere Problem der gebrochenen, bindungslosen Gesellschaft verbirgt. Hinter der Absturzangst versteckt sich die Angst, dass auf einmal allen zu Bewusstsein kommen könnte, dass wir zu einer bindungslosen und immobilen Gesellschaft geworden sind. Die Sehnsüchte, die junge Menschen artikulieren, teilen davon sehr viel mit. Sie haben sich mehrheitlich von eindimensionaler Individualisierung, Ego-Zockerei und Ellenbogengesellschaft verabschiedet (Kapitel 8). Dass es so etwas wie Gesellschaft und soziale Welt nicht gäbe – das Credo der 1908er und 1990er Jahre – hat dazu geführt, dass wir für die Zukunft verstärkt an der Rekonstruktion von »Infrastrukturen des Miteinanders« (Kapitel 3 und 5) arbeiten müssen.



4. Die Auflösung von Paralleluniversen innerhalb der Gesellschaft ist die Herausforderung Nummer eins der nächsten Jahre. Sozialer Immobilismus und die Sicherung des eigenen (Mittelschicht-) Status sind die zentralen Modernisierungshemmnisse.

Vor allem in Kapitel 4 wurde gezeigt, dass an vielen Stellen in der Gesellschaft Paralleluniversen entstanden sind. Menschen aus vielen Schichten und in vielen Milieus ziehen den Aktionsradius enger, identifizieren sich damit, was das eigene »Juste Milieu« hergibt, entwickeln aber kein Selbstvertrauen mehr, wenn sie über die engen Grenzen hinausgehen sollen. Leider betrifft das auch die neuglobalen Mittelschichten (Kapitel 4). Auch in Deutschland hat sich der Speckgürtel in der Mitte der Gesellschaft aufgebläht. Und er bläht sich weiter auf, definiert, was wichtig ist, sichert die eigenen Pfründe (zu denen auch der elitäre Zugang zu Bildung gehört) und regiert. Es wird in Zukunft in erster Linie von der breiten und mächtigen Mittelschicht abhängen, ob wir die Parallelgesellschaften zerschlagen und Aufwärtsmobilität wieder zu einem Zukunftstreiber machen können. Bildung und Gesundheit werden in unserer Gesellschaft mittlerweile »vererbt«. Wohlstand wird zu einer Frage der Herkunft und des Kontostands. Neue Mittelschichteliten in den ehemaligen Schwellenländern werden den hart erkämpften Wohlstand mit Zähnen und Klauen verteidigen. Diesem »demokratisch sanktionierten Neofeudalismus« muss ein Ende gesetzt werden.



5. Statt weiterhin die Worthülse Flexibilisierung zu bemühen, brauchen wir für das 21. Jahrhundert ein neues Zeitregime. Bislang haben wir das nicht zustande gebracht, weil damit ein Kontrollverlust der Unternehmen einhergehen könnte und männliche Mittelschicht-Karrieremodelle über den Haufen geworfen werden würden.

Die Nebelmaschinen der New Economy und der neuen Arbeitskulturen sind gnadenlos gescheitert. Flexibilisierung ist zu einem Unwort geworden, hinter dem sich halbherzige Konzepte und lauwarme Versprechungen verbergen. Um den Weg in eine neue Arbeits- und Beziehungskultur zu finden, müssen wir möglichst bald die Zeitkriege zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern, zwischen den Lebenspartnern, zwischen Eltern und Kindern, Freizeit und Arbeitszeit beenden. Diese Zeitkriege nehmen wir zwar nicht wirklich wahr, aber sie hinterlassen, wenn wir nicht aufpassen, ein Feld der Verwüstungen. Wenn sich jedoch die Mittelschichtmänner von ihren zeitaufwändigen Mittelschicht-Karrieremodellen verabschieden, können Arbeitszeit und Lebenszeit, Beziehungszeit und Erziehungszeit sowie die Berge unbezahlter Hausarbeitszeit neu organisiert werden.



6. Das Ende der Politik, wie wir sie kannten, ist angebrochen. Wir dürfen nicht erwarten, dass sie von Facebook und den »Clicktivisten« ersetzt wird. Auch hier müssen wir zur Realität zurückkehren und uns eingestehen, dass die Social Media jede Menge Aufmerksamkeit erzeugen können, aber keinen Bewusstseinswandel einzuleiten vermögen.

Wir erleben gerade den Untergang der Volksparteien und des damit korrespondierenden Typus des Basta-Politikers. Zugleich geht ein Geist in den weltweiten Netzwerken um: Facebook und die Hoffnung auf eine globale Bürgerbewegung, die durch einen Mouseclick (»Clicktivism«) die Verhältnisse durcheinanderwirbelt. Doch Facebook könnte sich in dieser Hinsicht als eine der größten Enttäuschungen der nächsten Jahre herausstellen. Blickt man nämlich genauer auf das Webportal, wo sich die ganze Welt trifft, zeigt sich schnell auch das Unvermögen von Facebook. Statt Bewusstseinsveränderungen den Weg zu ebnen, stellt es lediglich automatisierte Aufmerksamkeit her. Statt die Veränderungswünsche von Menschen zu organisieren, erzeugt es ein monströses Rauschen, bestehend aus Banalitäten und Belanglosigkeiten. Statt eine Vision von der Welt von morgen zu entwickeln, orchestriert es die Welt des Bestehenden und suggeriert den Nutzern, sie könnten sich via Facebook frei entfalten. Doch was nutzt ein weltumspannendes Forum wirklich, wenn dort jeder seine Meinung sagen darf, aber niemand so richtig gehört wird? Das post-politische Zeitalter sollte auf jeden Fall anders aussehen. Wir wissen mittlerweile, dass wir weltumspannend kommunizieren können – aber wir müssen beginnen, die Dinge vor Ort zu verändern.

7. Die anbrechende Wertschöpfungsrevolution wird eine Lebensstil- und Genussrevolution, eine Revolution der LOHAS und der neuen Bürger sein. Essen – scheinbar das Banalste von der Welt – wird neue gesellschaftliche Relevanz erhalten und viele Märkte umkrempeln.

Eine Agenda für das 21. Jahrhundert, wie in Kapitel 2 entworfen, geht von einer neuen Verantwortungsethik aus, die indes kein moralinsaures Exercitium sein wird. Eine neue Wertschöpfungslogik zu entwickeln, das heißt, in den nächsten Jahren zentrale Lebensbereiche in neuen Zusammenhängen zu sehen. Wir können die Chance nutzen und eine Lebensstilrevolution starten (Kapitel 7). Das Streben vieler Menschen und vieler Verbraucherorganisationen, NGOs und Privatinitiativen geht dahin, Lebensmittel (wieder) als Mittel zum Leben zu begreifen. Das bedeutet, dass Nahrungsmittel, Nahrungsmittelqualität und der Vertrieb von Nahrungsmitteln eng mit dem Thema Gesundheit, aber auch Klimawandel verknüpft werden müssen. Drei Viertel der Kosten, die von dem amerikanischen Gesundheitssystem jährlich aufgewendet werden, basieren auf falscher Ernährung. Essen wird mehr denn je politische Brisanz bekommen. War der Posten Ernährung bis vor kurzem ein Faktor in unserem Verbraucherbudget, der sich nicht zuletzt durch die Discounter wunderbar reduzieren ließ, wird unsere Gesellschaft in Zukunft neu über Preisdumping und Qualitätssicherung bei Lebensmitteln nachdenken müssen. Die Lebensmittelgiganten haben den Trend bereits erkannt und treten die Flucht aus der Branche an. Nestlé, der weltgrößte Lebensmittelproduzent, wird sein Geschäftsfeld in Richtung Pharmazeutika ausbauen.



8. Die Suburbanisierung des Lebens hat ihre Halbwertzeit überschritten. Wir können den Schritt in eine ganzheitliche Genusskultur der Mitproduzierenden machen. Dazu müssen wir unsere Konsum- und Lebens welten wieder zur Deckung bringen. Visionen eines Neourbanismus und der »Walkable Cities« weisen in diese Richtung.

Wir gewinnen die Zukunft, wenn wir uns endgültig von diesem anachronistischen Konsummodell verabschieden. Mit Suburbanisierung ist, vereinfacht ausgedrückt, das Massenkonsummodell der weißen amerikanischen Mittelschicht aus den 1950er Jahren gemeint (Kapitel 7). Lebenswelt und Konsumwelt waren fein säuberlich voneinander getrennt, das Auto diente dazu, zwischen den Inseln des Konsums und des Lebensvollzugs eine pragmatische Verbindung herzustellen. Dieses Modell hat sich überlebt. Es gibt eine vitale Sehnsucht der Menschen, die Sphären des Zusammenlebens und des Konsums wieder zu vereinigen. Der Trend zur Regionalität und zu einem lebensweltnahen Konsum ist keine vorübergehende Mode, auch wenn viele Unternehmen jetzt opportunistisch auf der Welle des Lokalen und Authentischen zu serven beginnen. Wir müssen die Bereitschaft der Menschen, ein neues Denken über Ernährung und Lebensqualität zuzulassen, nutzen. In den fraktalen Food-Bewegungen (von der Slowfood-Bewegung über die Vegetarier bis zu sektiererischen Qualitätsfanatikern) werden aus sogenannten »Endverbrauchern« schließlich Mitproduzenten, die Bestandteil einer ökoeffizienten Wertschöpfungskette sind.



9. Die fatale Allianz aus Macht-Autorität-Institution-Männlichkeit muss aufgebrochen werden, um zu einer neuen Bewertung von Autorität zu gelangen. Es müssen neue Autoritäten mit einem neuen Selbstbild auftreten: postheroisches Selbstmanagement statt Personenkult, Distanz statt Schwärmerei.

Amt und Würde haben sich in vielen wichtigen Institutionen unseres Landes entkoppelt. Ämter wurden missbraucht (Kirche), Ideale verraten (Odenwaldschule), Institutionen kehrten sich gegen die Menschen und wurden gerichtsnotorisch. Die Menschen sehnen sich nach Leitbildern, die Prinzipien und transparente Haltungen vorleben – darum müssen wir alle dunklen Orte, in denen in unseren Institutionen der Personenkult blüht, ans Licht zerren. Wenn wir neue Ideale kultivieren wollen, dürfen wir sie nicht mehr als gottähnliche Autoritäten stilisieren (und anschließend vom Sockel stoßen). Gerade dass Autorität sich in sich abschließen musste, um zu »wirken«, hat zu Machtballungen und zur Einsamkeit der Macht geführt. Männliche Autorität in gesellschaftlichen Schlüsselpositionen beispielsweise, die sich nach wie vor abschirmen und idealisieren muss (von der Kirche bis zum Fußballstar), ist eine Zeitbombe. Wir sehen das beim Umgang der Kirche mit Homosexualität und Sexualität allgemein sowie im Profisport beim Umgang mit Homosexualität und psychischen Krankheiten (Robert Enke). Wenn wir fordern, dass Autorität »entdramatisiert« werden muss, dann heißt das, dass wir Idole und Autoritäten unter uns dulden lernen müssen, ohne sie zu idealisieren.



10. Wir können erst dann als eine aufgeklärte Gesellschaft gelten, wenn wir in Schlüsselbereichen unseres Lebens wie Bildung und Erziehung transparente Verfahren etablieren und Pragmatismus statt Schwärmerei, bürgerliche Distanz statt romantischer Verschmelzung walten lassen.

Nur weil wir weggeschaut haben, konnte es dazu kommen, dass sich Erziehungskatastrophen wie in deutschen Pfarrhäusern und Kirchen, in Internaten und Klassenräumen derart zuspitzten. Wir wollten nicht wahrhaben, dass sich Teile der geistigen Elite dieses Landes im sicheren Gefühl ihrer Unantastbarkeit in eigenen Projektionen und Obsessionen verirren. Wir werden jedoch erst dann einen anderen Weg in die Zukunft einschlagen können, wenn wir Erziehung als einen hochkomplexen, schwierigen Vorgang anerkennen, der sich nicht auf Personenkulte und romantische Schwärmereien verlassen darf. Bildung und Erziehung müssen den Einzelnen in den Mittelpunkt stellen: nicht den gottähnlichen Pädagogen, sondern den Schüler. Um den Lernenden zu einem autonomen Individuum zu machen, ist Distanz der Königsweg. Auch hier sind mehr gelassene Rationalität und Pragmatismus gefordert.



11. Die Selbsterfindung der Bürger in den neuen Bürgerbewegungen ist zu großen Teilen durch den Protest gegen die alte Fortschrittspolitik der maximalen Machbarkeit motiviert. Das »neue Begehren der Bürger« bei Stuttgart 21 und im Hamburger Schulstreit löst das klassische Bürgerbegehren ab und unterstreicht, dass Durchregieren nicht mehr möglich ist.

Es kann keine zielführende Politik mehr an den Bürgern vorbei gemacht werden. Autorität (Kapitel 1), Verantwortung und Moral sind aus dem politischen Raum emigriert (Kapitel 2). Verantwortlich dafür ist eine fatale Allianz aus Pragmatismus und politischem Populismus. Verantwortung muss sich ihre künftigen Funktionseliten in der Gesellschaft suchen. Die LOHAS liefern ein Rollenmodell, das diese Lücke ausfüllen kann. Aber auch andere Ereignisse machen Hoffnung. Denn was wir parallel zur Verantwortungsemigration der Moral aus dem politischen System erleben, ist die glückliche Selbsterfindung des Bürgertums aus dem Geist der Politikverzweiflung. Heribert Prantl hat in einem wunderbaren Artikel in der Süddeutschen Zeitung beschrieben, wie sich im Zuge der Auseinandersetzungen um Stuttgart 21 aus dem Volk ein selbstbewusster Bürger mehr oder weniger selbst erschuf, denn, so Prantl, unsere Gesetzgebung kennt den Begriff des Bürgers eigentlich nicht.



12. Institutionen, ohne die die bürgerliche Gesellschaft nicht vorstellbar ist, dürfen nicht nur in der Verwaltung des Bestehenden aufgehen. Sie müssen zu Agenturen der Veränderung werden.

Dem Untergang vieler staatstragender Institutionen, den wir gerade erleben, können wir nicht mit der nonchalanten 68er-Geste »Macht kaputt, was euch kaputt macht« begegnen. Wir müssen der Fundamentalkrise unserer Institutionen (Politik, Bildung, Kirche) ins Auge sehen. Ohne funktionierende Institutionen können wir nicht leben. Wir schaffen den Bewusstseinswandel in unseren Institutionen jedoch nur, wenn wir uns auf die Errungenschaften der Aufklärung besinnen. Und dazu gehört auch, dass Institutionen den Einzelnen in der Gesellschaft entlasten. Institutionen »schenken Verhaltenssicherheit, indem sie Möglichkeiten einschränken, und sie entlasten von Entscheidungen«, sagt Norbert Bolz in seinem 2010 erschienenen Buch Die ungeliebte Freiheit. Ein Lagebericht. Institutionen, die gemeinhin nur als Verwaltungsungetüme und blutleerer Ordnungsrahmen gelten, müssen zu Motoren der Veränderung werden. Institutionen wie Kirche, Verwaltungen, Schulen und Politik müssen als Treiber von Veränderung und Selbsttransformation gesehen werden. Bolz hat ähnlich positive Vorstellungen, wenn er schreibt: »Die Institutionen holen mehr aus den Menschen heraus, als in ihnen steckt.«



13. Wir erleben gerade die erste Restaurationsphase des Internets. Megamarken wie Facebook, Google und Apple eröffnen den Kampf um das Internet. Das weltweite Web droht zur Beute für die smarten Oligopolisten zu werden. Das Netz der Vielen wird zum Schauplatz eines Gigantenkriegs um die digitale Vorherrschaft werden.

Wir müssen um die Freiheit des Internets, wie wir es bislang gewohnt waren, fürchten. Facebook, aber auch Google und mit Abstrichen Apple nutzen die Freiheit des weltweiten Datenhighways, um den eigenen Durst nach Nutzerdaten zu stillen. Aus der Nutzerfreiheit wurde die Freiheit der Oligopolisten, auf Daten der Nutzer zuzugreifen. Mittlerweile erfolgt jeder vierte Seitenabruf im Netz über das Portal von Facebook (mobile Internetnutzung nicht eingerechnet). Auch der Hype um die Apps, ausgelöst vor allem durch Apples iPhone, verändert die Netzkultur und macht aus dem offenen Netz eine stromlinienförmige Servicekultur. Für alles gibt es ein App – das Netz als Kiosk und Lebenshelfer. Und während Facebook seine Macht ausbaut (Kinder halten Facebook bereits für das Internet), erzählt es das Märchen, dass Facebook dem Nutzer die Kontrolle über sein eigenes Handeln zurückgeben möchte: »We want you to share (personal information) with as few or as many people as you want. We want to give people control«, so Sheryl Sandberg, COO Facebook.



14. Statt mit der populistischen Behauptung hausieren zu gehen, das Fernsehen zeige nur das, was der Zuschauer will, müssen die Mainstream-Medien künftig das tun, was ihre ureigenste Aufgabe ist: Welt erklären und Realität verstehbar machen. Tun sie das nicht, verlieren sie ihre Daseinsberechtigung.

Man kann es nur als Verhöhnung bezeichnen, wenn Verantwortliche des Privatfernsehens immer wieder mit der Rechtfertigung auftreten, man lasse nur das im Fernsehen stattfinden, was der Zuschauer wirklich wolle. Das deutsche Privatfernsehen hat sich in den vergangenen rund zehn Jahren von fast allem abgekoppelt, was konstruktiv zur Verlebendigung des Gemeinwesens beiträgt: vom guten Geschmack, von Grundsätzen der Menschenwürde und von der Anforderung, Realität verständlich und erfahrbar zu machen. »Scripted Reality«, gefakte Dokumentationen, die Menschen auf unwürdige Weise als Opfer ihrer Instinkte und als verwirrte Lemminge zeigen, sind unwürdig. Wir müssen künftig genauer hinschauen, wenn Medien behaupten, sie würden nur das liefern, was die Zuschauer /Leser/Nutzer mögen. Einschaltquoten und Zuschauerforschung sind zwei unterschiedliche Dinge. Aber was der Zuschauer XY um 18 Uhr »wirklich will«, werden wir ohnehin nicht erfahren. Deswegen ist es unaufrichtig, mit der Behauptung hausieren zu gehen: »Wir sind Anwalt und Diener des Zuschauers. « Wäre das tatsächlich der Fall, würde das Fernsehen seinen Grundauftrag verfehlen, über Realität zu informieren. Deutsches Privatfernsehen liefert gegenwärtig keinen gesellschaftlichen Nährwert. Niemand außer der werbenden Wirtschaft braucht Fernsehen als Werberahmenprogramm. Das Problem, das wir in den nächsten Jahren zu lösen haben, lautet nicht, wie findet das Privatfernsehen ein neues Geschäftsmodell jenseits der 30-sekündlichen Werbespots. Wir müssen uns überlegen, wie lange wir noch diese Missachtungsbeziehung zum Trash-TV aufrechterhalten wollen.



15. Die Sehnsucht nach einem neuen Wir löst gerade den mächtigen Trend der Individualisierung ab. Nach den Jahrzehnten von Wellness, des Personal-Brandings und den Selbstverwirklichungskulturen begreifen wir, dass Glück das Ineinander von Öffentlichkeit und Erfahrung ist.

Die Menschen sind offensichtlich auf der Suche nach neuen Identitäten und einem neuen Wir-Gefühl. Surrogate von Identität, Wohlfühlen und Glück, das haben die 1990er und 2000er Jahre gezeigt, werden uns von den Wellnessgurus und Optimismuspredigern an jeder Straßenecke hinterhergeworfen. Doch viele Menschen möchten ihre Erfahrungen mit anderen in der Öffentlichkeit teilen. In den USA wird ein regelrechter »Compassion-Boom«, ein Boom der nachbarschaftlichen Anteilnahme beobachtet. In Deutschland und anderen europäischen Ländern strömen Menschen zu Festivals, sie treffen sich online zu globalen Kulturveranstaltungen in Realzeit. Natürlich wird auch das Internet diese Sehnsucht nach einem neuen Wir beflügeln. Die Potenziale von Social Media sind noch nicht annähernd entwickelt, und Facebook wird hoffentlich nicht das letzte Wort sein.



16. Rückkehr zur Realität – das ist eine Forderung, die allgemein und sonntagsrednerisch klingt. Aber kritisches Bewusstsein und gesunder Menschenverstand sind bitter nötig, um die Irrtümer von Zauberökonomie und »Think positive« aufzuarbeiten.

Der Siegeszug der Optimismusindustrien (Kapitel 9) in Märkten und Management hat den Blick auf die Realität verstellt und die Weltwirtschaftskrise erst möglich gemacht. Wir brauchen – in Wirtschaft und Gesellschaft – Möglichkeitssinn und Realitätssinn. Der Möglichkeitssinn oder die visionäre Komponente bei unseren Planungen sollte sich ab sofort wieder an dem orientieren, was der Fall ist und nicht an nebulösen Versprechen und faulen Zaubertricks, die doch nur zu faulen Krediten und »Bad Banks« führen. Wir brauchen eine realitätsbezogene Auseinandersetzung. Die Herausforderungen, die im 21. Jahrhundert auf uns zukommen, dulden keine Erlösung versprechenden Gurus und smarte Heilsverkünder mehr. Der Personenkult gehört in die Asservatenkammer des 20. Jahrhunderts. Wir müssen jetzt den nächsten Schritt machen und zu realitätsbezogenen Szenarien von der Zukunft kommen. Menschen können ohne ein Maß an Zukunftsgewissheit nicht leben.

17. Individualisierung hat sich als ein zweischneidiges Schwert erwiesen. Sie hat den Einzelnen aus archaischen Abhängigkeitsverhältnissen befreit – sorgt aber jetzt dafür, dass viele Glück und Seligkeit nur noch bei ihrem »persönlichen Gott« suchen.

Der Megatrend Individualisierung wird von der intuitiven Trendforschung gern als Allzweckwaffe eingesetzt. Schließlich gestattet die Tatsache, dass sich die Menschen seit Jahrzehnten aus traditionellen Bindungen lösen, die Diversifizierung von Märkten und die Personalisierung von Produkten. Angesichts von »singleisierten« Großstädten (Kapitel 8) und einem Glücksterror, der den Einzelnen zum Schöpfer von Glück, im Fall des Scheiterns aber auch zum einzigen Grund für das Ausbleiben von Glück macht (Kapitel 9), wird Individualisierung zum Zukunftsproblem. Forcierte Individualisierung hat darüber hinaus dazu geführt, dass sich immer mehr Menschen in Clans und »Peer Groups« einschließen und nur noch »ihr eigenes Ding machen«. Individualisierung verkehrt sich in ihr Gegenteil: Zunächst diente sie zur Befreiung von Traditionalismen, jetzt schließt sie den Einzelnen in neuen Privatgesellschaften ein. Die Phase, die sich an die Ära der Individualisierung anschließt, wird den Einzelnen wieder stärker in kollektiven Zusammenhängen einbetten, wie es in den Kapiteln 3 und 4 beschrieben wurde.



18. Spiritualität als persönlicher Mix von Glaubensinhalten und Bilderwelten tritt in der westlichen Welt immer mehr an die Stelle der Religion. Damit vollzieht sich eine dramatische Verschiebung: Glauben findet nicht mehr in der Kirche, sondern im eigenen Ich statt.

In Kapitel 9 wurde die Frage erörtert, woran wir in Zukunft glauben werden. Dabei wurde deutlich, dass wir uns in den vergangenen Jahren vor allem von einer Optimismusindustrie eine rosarote Brille haben aufsetzen lassen. Gleichzeitig hat in der westlichen Welt ein dramatischer Bedeutungsverlust des Religiösen und der Kirchen stattgefunden. Religion, Orientierung und Seligkeit, das zeigen die aktuellen Entwicklungen, müssen wir künftig mit uns selbst ausmachen: »personal Jesus«. Diese Entchristlichung hat dazu geführt, dass spirituelles Leben nach innen, in das eigene Ich verlagert wurde. Die Ära des Glaubens und der Pflichtreligionen geht zu Ende, während Spiritualität zu einem der Megatrends der nächsten Jahre avanciert. Es wird wichtig sein, die Konsequenzen der »Verinnerlichung« und Personalisierung von Religion und Spiritualität kritisch zu beleuchten: Heißt das, dass wir immer größere Erwartungen an persönliche Seligkeit und individuelles Glück knüpfen werden, oder nutzen wir diese spirituelle Freiheit, um für uns passgenaue Formen der Lebensführung zu finden?