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Jürgen Schreiber

Gnadenlos 

Warum Menschen morden

C. Bertelsmann

 

1. Auflage

© 2011 by C. Bertelsmann Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Umschlaggestaltung: R·M·E Roland Eschlbeck und Rosemarie Kreuzer

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-05580-6


www.cbertelsmann.de

Vorwort

1970 war ich dreiundzwanzig und Volontär bei der »Neuen Württembergischen Zeitung«. Am 15. April preschte ich zu einem Wohnblock an der B10 in Geislingen/Steige. Dort hatte ein Mann aus Eifersucht seine Ehefrau mit drei Kopfschüssen getötet. Der Tatort schwamm im Blut. Bis dahin hatte ich noch nie eine Leiche gesehen. Der Anblick trieb mich gleich wieder aus dem Haus. Alles Weitere ist mir entfallen. Das war mein erster Toter.

In einem langen Reporterleben kommt einiges an Mord und Totschlag zusammen. Der Aufmarsch von Gescheiterten, den ich in drei Jahrzehnten erlebt habe, reicht für ein dickes Verbrecheralbum. Da gab es den Killer, der beim 166. Freigang eine blutige Spur durch Deutschland zog. Da war die Geliebte, die ihrem Freund aus Habgier eine Kugel in den Kopf jagte, um zwei Wochen später im weißen Brautkleid einen anderen zu heiraten. Da war die Frau, die mit dem »Würger von Untergriesbach« lebte, ihn aber nicht verriet. Da war der Stenz, der in mondloser Nacht eine Frau im Auto mitnahm und auf freiem Feld erschlug, weil sie ihm Sex verweigerte.

Es gibt Geschehnisse, die kann man einfach nicht mehr in sein Leben integrieren. Die Vorstellung, dass ein Mädchenmörder im Hochzeitsanzug vor seinen Richter tritt. Die Vorstellung, dass einer sich daheim zur Gattin ins Bett legt, nachdem er eben im Vorbeigehen auf dem Heimweg eine Frau umgebracht hat. Die Vorstellung der dünnen Membran, die uns im Alltag von der Schattenlinie trennt.

Der Bogen der hier versammelten Texte reicht von wochenlangen Spurensuchen bis zu Miniaturen, die Tagesaktualitäten geschuldet sind. Gemeinsam ist den Geschichten, dass sie keinen Zweifel daran lassen, mit wem wir fühlen. Über den Tätern dürfen die Opfer nicht vergessen werden. Niemand bleibt unberührt von all dem Elend, das bei Gericht auf der Tagesordnung steht. Das hindert uns nicht an Erklärungsversuchen und dem Bemühen, Verstrickungsmotiven auf den Grund zu kommen. Hinter papierenen Existenzen in Sachakten und Expertisen stehen Menschen, in deren Vita es auch die Zeit der Unschuld gab. Die Diskrepanz zwischen Täter und Tat, die Kluft zwischen äußerer Erscheinung und innerem Zustand sind viel beschriebene Phänomene. Ebenso das ewige Rätsel, warum Leute, die absolut durchschnittlich wirken, sich von Impulsen wegschwemmen lassen, zu Grausamkeiten fähig, die als »unbeschreiblich« gelten. Die unfassbare Verbrechen begehen wie Magnus Gäfgen – die Entführung und Tötung Jakob von Metzlers bleiben im kollektiven Gedächtnis präsent.

Viele der Recherchen habe ich auf das persönliche Umfeld von Tätern und Opfern ausgedehnt. Mörder bringen nicht nur Kinder oder Nebenbuhler um, sondern damit indirekt auch Familien. Übrigens auch die eigene, die sie durch ihr Verbrechen fortdauernder Verzweiflung überantworten. Nichts habe ich mehr gefürchtet als Begegnungen mit Angehörigen, die unverschuldet in Epen des Scheiterns hineingezogen wurden. Journalisten sind nicht frei von Gefühlen, es gibt keine Chance, mit einer solchen Situation professionell umzugehen.

Magnus Gäfgens Mutter interviewte ich zu Hause, Blumensträuße von ihrem Geburtstag standen auf dem Tisch. In der Kunst wird ein Detail, das ein Bild weit über andere Bilder hinaushebt, »punctum« genannt. In diesem Fall ist das »punctum« die Erwähnung, der Sohn habe im Polizeipräsidium zu ihr gesagt: »Ja, Mama, ich war’s.« Ein Satz, der sich ein für allemal in einem festkrallt. Bei der Frau, die ihren Liebhaber aus Habgier erschoss, ist es der Pelzmantel, den sie im überheizten Gerichtssaal anbehielt. Bei dem Vater, der seine Buben wie überzählige Katzen im Main ertränkte, sind es die Schlafbrillen, die er den Opfern aufsetzte, ehe das schwarze Wasser über ihnen zusammenschlug.

Als junger Redakteur interessierte ich mich für Täterbiografien. Idealistisch, naiv, dem Zeitgeist folgend, sah ich Angeklagte als Opfer gesellschaftlicher Verhältnisse. Überwältigt von den ins Feld geführten Ungerechtigkeiten ihrer Sozialisation und der Gottverlassenheit mancher Kindheit, nahm ich Verurteilte bei der »psychologischen Durchdringung«, wie das hieß, oft genug in Schutz. Mit der Zeit ist die Milieutheorie eher skeptischer Betrachtung gewichen, nicht zu verwechseln mit der unproduktiven Empörung, die nach monströsen Verbrechen aus Boulevardblättern schallt. Wie sich herausstellte, waren viele Beschuldigte keinesfalls die Pechvögel, als die sie sich ausgaben, kaum zu stoppen im Mitteilungsdrang über ihre komplizierte Einsamkeit, die Verbrechen entschuldigen sollte. Viele waren Gefangene ihrer Selbsttäuschung, heillos verheddert in eigenen Widersprüchen.

Gute Journalisten sind Menschenforscher. Reportagen können – wie sonst nur Fotografien – Momente einfrieren und festhalten. Entscheidend ist das Authentische. Dabei lasse ich mich gern zu weiten Umwegen verlocken und von Zufällen inspirieren bei dem Versuch, zum Kern einer Wahrheit vorzudringen. Oft genug sind Täter nur deshalb schuldig geworden, um dieser Wahrheit aus dem Weg zu gehen. Strafprozesse lassen sich mit dem Dechiffrieren gesellschaftlicher Zustände vergleichen, insoweit reflektieren die ausgewählten Artikel auch Bewusstseinszustände. Verhandlungen sind Parabeln der Gegenwart und ihrer Paranoia, Gerichte keine Adressen, die an Vernunft und klassische Aufklärung glauben lassen. Präziser als an jedem anderen Ort offenbart sich dort die Ungewissheit der Zeit.

Wir Reporter graben von Berufs wegen in der zerbrechlichen Schicht der »Normalität«, bemühen vernünftige Erklärungen für das Unerklärliche, philosophieren über den »Zerfallsmoment der Rationalität«, flüchten in Formulierungen wie: »Er war von Dämonen getrieben«, die alles und nichts bedeuten, aber der Schwermut wehren wollen. Weil wir irre werden müssten beim Blick in Abgründe, lassen wir nichts unversucht, sperrige Angeklagte zu enträtseln und auszudeuten. Deshalb sind die hier gedruckten Geschichten von zeitloser, man könnte auch sagen, von beschämender Aktualität.

Die Texte sind teilweise ergänzt und aktualisiert. Wo ich mehrmals über große Prozesse berichtete, sind die Artikel analog zu Filmschnitten ineinander montiert.

Meine Arbeitsweise setzt Chefredakteure voraus, die einen Autor nicht im Regen stehen lassen, der ihre Geduld mit dem Motto »Genauigkeit vor Schnelligkeit« strapaziert. Sie teilen mit ihm das Wissen, dass jedes Geheimnis eine Geschichte verbirgt. Um hinter die Geheimnisse zu kommen, schreiben wir so gut, wie wir können.

Jürgen Schreiber, Dezember 2010

Wo ist Tristans Mörder?

Der grausame Tod des Schülers ist ohne Beispiel in der Kriminalgeschichte – eine Spurensuche

Niemand hört Tristan schreien. Tausende sind in seiner Nähe, als der Schüler zur Hauptverkehrszeit beim Bahnhof Frankfurt-Höchst ermordet wird. Es ist am 26. März 1998, er ist genau 13 Jahre, fünf Monate und 23 Tage alt.

Der Zeiger in der Wartehalle springt auf 17.05 Uhr: Mit ungläubiger Bestürzung nähern sich die mit jeder erdenklichen Tötungsart vertrauten Beamten der Mordkommission seiner Leiche. Später bürgerte sich in Artikeln der Satz ein, der alles sagen sollte: Das Opfer habe »wie ein abgeschlachtetes Tier dagelegen«. Für die Hinrichtung wählte Tristans Peiniger eine 112 Meter lange Unterführung, die das Gleisfeld quert. Die Röhre fasst den Liederbach und einen Fußpfad.

Der schwarze Trichter, der das Entsetzliche ansaugte, ist ein besonders trostloser Platz zum Sterben. Sofern man die enge, hallende, modrig riechende Finsternis nicht scheute, war der Stollen eine Abkürzung. Ihn zu nehmen kam einer Mutprobe gleich. Der Junge dürfte von dem Schleichweg angezogen und abgeschreckt worden sein wie Kinder, die beim Verstecken mit Angstlust die dunkelste Ecke wählen.

Jeder Fall ist fürchterlich. Aber keiner gleicht diesem Verbrechen, das Rudolf Thomas mit der »Soko Tristan« aufzuklären versucht. Der Erste Hauptkommissar, der zur rituellen Gesprächseröffnung in Zimmer 364 des Präsidiums die Pfeife stopft und den Besucher wachsam durch die Brille mustert, fahndet seit über vier Jahren mit bis zu 100 Kollegen nach einem Unbekannten. Von dem weiß er im Grunde nur mit Bestimmtheit: »Er ist in größtem Maße geisteskrank.«

Der Leiter der Mordkommission ist seit dem 18. Lebensjahr Polizist. Dreißig Jahre dient er beim K11, einem Team von Fahndern, »die schon ziemlich alles gesehen haben«. Was er bei 40 versuchten und vollendeten Morden jährlich an Elend erlebt, reicht für eine Galerie des Schreckens: »abgetrennte Köpfe, Arme, Hände«, der Zustand manches Getöteten ist der Presse nur geschönt zu schildern. Dann kam dieser März-Donnerstag 1998.

Der Chef hatte Feierabend, saß daheim in Rödelheim, das Abendessen auf dem Tisch. Eben spielte er mit den schwarzen Katzen Max & Moritz und den Artgenossen Cindy & Bert. Für die Namen Letzterer geniert er sich; man habe sie vom Tierheim übernommen. Da kam der Alarmruf. Unheil lauerte, weit über das Übliche hinaus kündigte sich Abartiges an: »Am Tatort sieht es sehr merkwürdig aus. Ein totes Kind, übel zugerichtet!« Auch Rudolf Thomas wählt in den folgenden Stunden drastische Bilder, »damit Sie verstehen, wovon wir reden« – von einem Irren, der die Grenze des Sagbaren überschritt.

Von der Wohnung braucht er zehn Minuten bis Höchst. Im Polizeibericht steht, es sei zehn bis zwölf Grad warm gewesen. Zur »relevanten Zeitspanne« zwischen 15.30 und 16 Uhr herrschte gute Sicht. Jedoch nicht am Schauplatz, dem selbst am helllichten Tag zappendusteren Tunnel. Obwohl die Zugänge längst vergittert sind, bleibt es ein fröstelnmachendes Labyrinth der Angst. Mitten im Getöse nimmt man eine gefährliche Stille wahr. Solange dem Täter sein dunkles Geheimnis nicht entrissen ist, geistert der Schatten des unschuldigen Tristan herum, Opfer eines Verbrechens, welches die Staatsanwaltschaft »das schrecklichste der Frankfurter Kriminalgeschichte« nennt. Vorbei an der Werbung »Leben ist schön« durchstreift man das Gebiet mit einem Gefühl der Bedrohung, ertappt sich beim Umsehen, denn der in unsägliche Grausamkeiten Verstrickte läuft frei herum. In Kneipen liegen Bierdeckel mit dem Aufdruck »Frankfurt sucht einen Mörder«.

Es gibt keine Zeugen. Sein Freund B. sieht Tristan zuletzt gegen 14 Uhr am Bahnhof. Drei Stunden später findet die Polizei einen Verstümmelten. Im Büro knistert die Luft vor Stille, Rudolf Thomas schildert das Grauen: Mitten in Höchst (zur fraglichen Zeit verkehrten 16 S-Bahn-Linien, diverse Züge, Dutzende Busse, herrschte dauerndes Kommen und Gehen) war einer mit teuflischer Fertigkeit am Werk. Er verletzt Tristan schwer im Gesicht, schlägt ihn buchstäblich grün und blau. Dann zwingt er das Kind in einen Unterarmwürgegriff. Noch im Freien zieht er von hinten das Messer mit einem Schnitt von Ohr zu Ohr durch die Bubenkehle, trennt fast den Kopf vom schmächtigen Körper. Beim Gemetzel im Bach lässt er den Schüler in der schwachen Strömung ausbluten. Das knöcheltiefe Rinnsal lief laut Thomas »rot« vom stoßweise aufschießenden Blut.

Kampfspuren fanden sich nicht. Vor dem Tunnelmund lag ein Zwei-Mark-Stück im Gras. Man mag sich Tristans Angst nicht ausmalen, schutzlos Einsamkeit und Martyrium preisgegeben, als der vergehende Nachmittag ihn dem Tod auslieferte. Gleich, ob er den Killer hinter sich schnaufen hörte, gleich, ob der ihn abfing und ins Gebüsch zerrte – es gab kein Entkommen. Rumpelnde Züge hätten jeden Schmerzenslaut übertönt.

Der Kripo bot die von ihr filmreif ausgeleuchtete Gruft gleichzeitig einen Anblick zum Heulen und Speien: Vor dem Hintergrund der mit Graffiti beschmierten Wände lag der Knabe auf dem Rücken. Ein zerbrechlicher, grotesk zugerichteter Leichnam, Beweis für die Perversion seines Peinigers. »Das Entdeckungsrisiko hat den Täter nicht gejuckt. Er ließ sich 20 Minuten Zeit.« In dieser Spanne macht er sich an ihm zu schaffen, säbelt linksseitig Muskelfleisch ab, entnimmt die Hoden, steckt die Körperteile ein.

Fügt man die Details zu einem Bild, sieht man in Tristan das Opfer eines Rituals. Der Fahnder spricht von einer »bestimmten Systematik des Vorgehens«, deutlichen Merkmalen des Schächtens, Schlachtens und, in Konsequenz, des Aufessens. Es geschah zwei Tage vor Neumond, wenige Tage vor dem islamischen Opferfest, Fingerzeige für die erste polizeiliche Annahme: »Der Täter stammt wahrscheinlich aus einem anderen Kulturkreis.« Das Zerteilen, ein Ausweiden fast am öffentlichen Ort, verglich die Soko weltweit mit anderen Gräueltaten. Es gibt dazu keine Parallele. Thomas kennt das Gesicht des Mörders nicht, aber die Handschrift ist die eines Monsters mit dem Repertoire des Unberechenbaren. Der Mann mit dem Messer muss metzgern können, »er hat gemacht, was er konnte«.

Kriminalisten arbeiten mit Wahrscheinlichkeiten. Demnach bewegte sich der Täter von Süd nach Nord durch die Unterführung. Es war Tristans Nachhauseweg. Der Schlächter ging in Richtung von Kindern, die zur fraglichen Zeit zum Tunnel kamen. Im Zwielicht nahmen die beiden eine ihnen unheimliche Gestalt mit auffälligem Zopf wahr, rannten in Panik vor dem Schattenriss zurück, um Hilfe zu holen. Das dauerte. Zwischenzeitlich stob der Täter Richtung Westen in die Liederbacher Straße, makaber genug Tristans Adresse. Sein Vater kam zu ebendieser Zeit von der Arbeit heim. Niemandem fiel der Flüchtende auf, der nasse Hosenbeine und Schuhe gehabt haben muss wie der Tote.

Rudolf Thomas hat nicht gezählt, wie oft er zum Tatort zurückkehrte, das Feld auf der Suche nach der erlösenden Antwort durchmaß. Oder wie oft er sich mit seinen Leuten über die Farbfotos beugte beim Versuch, das Unbegreifliche zu begreifen. Wie sie erörterten, noch und noch: »Haben wir was übersehen?« An die 20 000 Spuren sind abgearbeitet, der Fall überlagert alles, was ihm kraft Amtes begegnete. Jeder gute Detektiv erlebt die Stagnation als persönliche Niederlage. Er auch. Den Chef plagt die Vorstellung: »Der Täter sitzt vor unserer Nase, und wir sehen ihn nicht. Warum fällt er nicht auf?«

Dem Verfolger ließ er nichts außer »Spur Nummer 1«: einen blutigen Fingerabdruck auf Tristans Deutsch-Sprachbuch. Die Schulsachen lagen verstreut im Gras der killing zone, der Täter leerte den Rucksack des Fünftklässlers aus. In einem Heft wischte er die blutige Klinge ab, der Umriss der Waffe mit geriffelter Schneide, Küchenmessern ähnlich, blieb zurück. Erst ein Jahr später taucht der Ranzen 30 Kilometer entfernt in Niedernhausen wieder auf, am Wanderweg zum Eselskopf. Das Fleisch des Opfers soll darin transportiert worden sein. Ferner fanden sich eine tschechische Deutschlandkarte, Preis 6,50 Euro, und ein blauer Müllsack.

Seit dem März-Mord ist für Rudolf Thomas nichts mehr, wie es war. Sicher, es stehen weitere 160 Kapitalverbrechen am Main in der Statistik. Aktuell hat er »ein halbes Dutzend hochkarätiger Mordverfahren gleichzeitig« auf dem Tisch. Aber kein Tag verging, ohne dass er in Gedanken bei Tristan war, die bohrende Erinnerung »wird man nicht mehr los«. Seine Hartnäckigkeit in der Sache lässt eine Verpflichtung gegenüber dem Gemarterten spüren. Sein Bild prägte sich ihm fotografisch ein. Auch die Sorge vor einer »Rückfalltat« verlässt ihn nicht, die latente Anspannung wegen des im Tatmuster angelegten Wiederholungszwangs. Ein Albtraum: Der Mörder greift sich erneut Beute.

Privat versucht Thomas seinen Gewohnheiten treu zu bleiben, zieht Tomaten, Paprika und Gurken im Gewächshaus. Der Kassenprüfer des Schrebervereins »Fuchstanz« rühmt sich eines grünen Daumens, »das Gemüse gedeiht prächtig«. Er wandert gern und angelt Hechte und Zander in der Kiesgrube bei Stockstadt, »das entspannt unheimlich«. Während er im Büro von den Hobbys erzählt, eine historische Weltkarte hinter und den Stadtplan an der Wand vor sich, fällt ihm plötzlich Gemeinsames auf. »Ich kann dabei allein bleiben wie meine Katzen.«

Der Erste Hauptkommissar bemüht sich, ruhige Gewissheit auszustrahlen, die ruhige Gewissheit des geduldigen Jägers. Trotzdem ist es, als würden beim Jaulen von Martinshörnern im K11 alle den Atem anhalten, aber er besonders. Thomas spürt im Ringen mit dem Bösen das Bewusstsein eines Defizits. Der »Horrorfall«, von dem er in starkem frankfurterischen Dialekt berichtet, entwickelte sich »zum Super-Gau«. 1998, im Angesicht des Ausgelöschten, meinten sie, »der Fall ist leicht zu lösen«. Unter Profis, erklärt er und schenkt Tee aus dem Keramikkännchen nach, gelte nicht die Devise: »Ach, du lieber Gott, wie furchtbar, sondern, wie arbeite ich den Tatort sauber ab.«

Sich vollkommen gefangennehmen zu lassen von der Arbeit bedeutet nicht, frei von Gefühlen oder innerer Bewegung zu sein. Es ist ein probates Mittel, um das Elend nicht zu nah an sich heranzulassen. Oder der Bitterkeit nachzugeben, die steter Umgang mit der abgründigen Seite des Homo sapiens fördern könnte. Sonst müsste man sich das Gehirn zermartern über die Frage »Was ist der Mensch?« und resignieren in Leid und Kummer. Er beherrscht für sich selbst die Abspaltung perfekt. »Ich habe noch von keinem einzigen Fall geträumt.«

Rein von der Statur her ist er einer mit breiter Brust, scheinbar unerschütterlich, Schnauzer und Bäuchlein wirken vertrauensbildend. Sein zur Linie zusammengepresster Mund, die hartnäckige Bestimmtheit des Vortrags bezeugen seine Energie. Der gelernte Starkstromelektriker ging in jungen Jahren nicht zur Bundeswehr, sondern machte Polizeidienst – und blieb. Er stieg vom Revierpolizisten zum K-11-Leiter auf. Thomas legt Wert darauf, ein »echter Frankfurter Bub« zu sein, von einem Bürgersinn motiviert, für den die Stadt einst bekannt war. Männer, die ihn kennen, berichten, über die Jahre sei bei ihm die zarte Melancholie eines Menschenforschers hinzugekommen. Wie in alten Krimis erhellt im Gespräch das Pfeifenanzünden ab und an sein Gesicht, der Blick schwer, wissend, skeptisch.

Wie war die Lage? »Durch den Tunnel gingen nicht allzu viele Menschen.« Er dachte, »da finden sich Spuren«. Man legte den Bach trocken, setzte Hunde und Sonden ein. Aus dem Monströsen ergab sich die bei allem Entsetzlichen tröstliche Annahme: »Wir haben es mit einem psychisch Kranken zu tun, der in seiner Auffälligkeit erkennbar ist.« Die Festnahme schien nur eine Frage der Zeit, »das war der große Irrtum!« Mittlerweile läuft die größte Massenuntersuchung von Fingerabdrücken hierzulande. Es ist der letzte Versuch, in den Zeiten von DNS mit der klassischen daktyloskopischen Reihenuntersuchung den Täter aus der Menge zu fischen. In Frankfurts Westen gaben über 10 000 Personen im Alter zwischen 18 und 49 Jahren ihre Prints ab. Gleichzeitig dehnte man die Reichweite aus, wo immer auf der Welt einschlägige Datenbanken existieren, von Vietnam bis Usbekistan, ist »Tristan-Spur 1« hinterlegt, der wichtigste Beweis zur Identifizierung des Täters. Jeder neue Eingang beim BKA wird mit dem Höchster Fall abgeglichen. »Wenn er irgendwo gerollt wird [erkennungsdienstlich behandelt], haben wir ihn.« Einmal spürten sie in Frankreich einen Verdächtigen auf, der »zu 99 Prozent« den Analysen entsprach. Er war am Main gewesen, konnte schlachten. Zur Tatzeit lag er in einer Prager Klinik.

Es gibt viele Hypothesen. Die wichtigste stammt von BKA-Profilern. Ihre Studie siedelt den Psychopathen im Tunnel-Umkreis an, »er lebt in diesem Bereich«. Die Annahme lässt ihn im Radius von einem Kilometer zum Tatort wohnen, entsprechend 15 Gehminuten. Der Einzelgänger ohne festen Partner werde schnell aggressiv und raste aus. Eventuell sei er früher als Tierquäler in Erscheinung getreten.

Diesem vagen Umriss steht das Wissen gegenüber: Sein Opfer liegt auf dem Höchster Friedhof, Feld 11 an der nördlichen Umgrenzung. Tristans letzte Ruhestätte unter Birken, mit drei ewigen Lichtern, von Bodendeckern gesäumt, Plastikmargeriten in der Vase. Anrührend das steinerne Herz mit silbernen Schmetterlingen auf dem Grab, Symbole von Freude und gaukelnder Leichtigkeit, aber auch Zeichen des Vergänglichen. Die Inschrift, herzzerreißend: »Tristan, geboren 1984, ermordet 1998«. Vater, Oma, Pfarrer, ein Schulfreund und drei Journalisten folgten dem weißen Sarg.

Wer war Tristan? Sein Papa sagte in seiner einzigen Stellungnahme, er könne sich nicht vorstellen, dass der Junge »irgendeinem Menschen Anlass gab, ihn so schrecklich umzubringen«. Ihn quält die Frage nach »dem Warum«. Für die Kripo ist der Hübsche mit Engelsgesicht und Pagenschnitt »der klassische Opfertyp«. Klein und schmal, eher für sich. Auf der Gasse kompensierte er Ängstlichkeit durch ein loses Mundwerk. Seine Kluft aus schwarzen Adidas-Hosen, Bomberjacke sowie Turnstiefeln entsprach dem, was man haben musste. Er entbehrte sonst viel im kurzen Leben, war mit Verlust und Schmerz vertraut. 1995 ging die Mutter in den Freitod, der Vater schaffte. Tristan war ein Schlüsselkind.

Als hätte sich alles gegen ihn verschworen, leitet eine Notlüge das Ende ein. Am Tattag meldet sich Tristan mit Rückenschmerzen in der Sindlinger Ganztagsschule ab, er müsse zum Arzt. Mit dem blauen 55er-Bus fährt er gegen 13.45 Uhr die paar Minuten zum Bahnhof Höchst, wo er oft herumstromerte. In der Bruno-Asch-Anlage habe er ihren Hund »Charly« gestreichelt, erinnert sich eine Zeugin. Beim Weggehen beobachtet sie, wie sich zwei Männer neben den Buben auf die Bank setzen. Dann das letzte Telefonat mit dem Vater, und warum auch immer geht er weiter Richtung Tunnel. Dort war er mal »gerippt«, ausgeraubt, worden. Deshalb bunkerte er seine Zigaretten davor im Gebüsch.

In der Unterführung kreuzt sich schicksalhaft sein Weg mit dem des Mörders. Und von Stund an der des unentwegten Rudolf Thomas mit dem eines Phantoms, dem er sich für die Suche anverwandeln muss. Verschwand der Täter samt sozialem Umfeld ins Ausland? Lieferte ihn die Familie in die Psychiatrie ein? Doch die Polizei hat keinen Zugang zu den Patientendaten, für Thomas »die größte Lücke unserer Ermittlung«.

Er hätte den Beruf verfehlt, würde er »die Flinte ins Korn werfen«. Thomas ist keiner, der sich »von ein paar 1000 Spuren erschlagen lässt«. Der Job förderte eine Beharrlichkeit, die man stählern nennen könnte. Auch nimmt er es nicht als böses Omen, dass sein erster Mordfall anno ’70 trotz des auf der Tatwaffe gefundenen Fingerabdrucks ebenfalls ungeklärt blieb. Dem Ansturm von Zweifeln wehrt er mit Leidenschaft, ohne die er sein aufreibendes Amt nicht aushielte. Mehr noch, er hadert mit sich: »Was mich am meisten ärgert, ist, dass ich ihn noch nicht erwischt habe.« Also sucht Sisyphos weiter, setzt Bilder zusammen, verwirft sie, formt neue, taucht wieder und wieder in ferne, entlegene Gedankenwelten ein. Er macht sich Mut: »Wir kriegen ihn.« Das klingt wie ein Schwur.

Mehr als Thomas lieb ist, zwingt ihn sein größter Fall in die Öffentlichkeit. Die merkwürdige Dialektik des Jobs setzt die eigene Bedeutung in ein Verhältnis zur Schwere der Taten. Er, der sich am liebsten ausschweigt, erzählt um der Sache willen Reportern in einer Bescheidenheit von sich, die man Politikern wünschen möchte. Der Kriminalist sitzt in einer anspruchslosen Stube, Schaumstoff quillt aus dem Stuhl. Dirndlmalerei hängt an der Wand, im Schrank steht die grüne Reihe »Leitfaden zur Spurensicherung«. Die Totenmaske einer Ertrunkenen schaut ihm über die Schulter. Das ganze Ambiente drückt aus: Ich stecke meinen Genauigkeitssinn in die Arbeit.

»Toi, toi, toi«, Thomas klopft auf Holz: Der Mörder habe die ganzen Jahre nicht mehr zugeschlagen. Aber wenn er nicht gestorben sei, »ist er ja irgendwo da draußen!« Er deutet aus dem Fenster hinaus auf die Stadt.

(Inzwischen destillierte die Kripo aus drei Zeugenaussagen ein Phantombild des möglichen Täters. Er ist ca. 1,75 Meter groß, 20 bis 30 Jahre alt, ungepflegt, hager, mit blassem Gesicht, langem dunkelblonden Haar, möglicherweise zum Pferdeschwanz gebunden. Eventuell hat er eine Hasenscharte an der Oberlippe. Das Fahndungsfoto ist auf einer BKA-Seite im Internet zu finden.)