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Sebastian Thiel

Wunderwaffe

Kriminalroman

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Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

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Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung / E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © Fox Photos / Getty Images

ISBN 978-3-8392-3830-1

Zitat

»Beim Menschen ist kein Ding unmöglich, im Schlimmen wie im Guten.«

Christian Morgenstern

Kapitel 1

– Pariser Nächte –

7. März 1944, Paris, Frankreich

Was für ein beschissener Tag für eine Verhaftung.

Nikolas Brandenburg zog seinen Hut tiefer ins Gesicht, schlug den Kragen seines Mantels hoch und rückte ein wenig enger an den kleinen Zeitungsstand, der ihm nur unzureichenden Schutz vor dem prasselnden Regen bot. Die Kälte hatte sich tief in ihn hineingefressen und dort eingenistet, trotz seiner dicken Kleidung und der schwarzen Handschuhe. Wenige Laternen warfen ihr spärliches Licht auf das Kopfsteinpflaster und ließen die Pfützen gelblich schimmern. Zum wiederholten Male zog Nikolas ein Streichholz über die Reibfläche, steckte sich eine Salem an und ließ seinen Blick über die Kreuzung vor der Place d’Italie im 13. Arrondissement schweifen.

Paris hatte unendlich schöne Seiten. Diese war keine davon. Die mehrstöckigen Gebäude waren grau und die Fassaden lieblos gestaltet. Während einige Geschäfte im Erdgeschoss für ihre Konsumgüter warben, standen die meisten leer und waren mit Holzbrettern zugenagelt. Hastig hingeschmierte Wörter in roter Farbe verlangten den Tod des derzeitigen Staatschefs des gerade neu gebildeten französischen Staates, Philippe Pétain, und ließen den Widerständler des freien Frankreichs, de Gaulle, hochleben. Nikolas inhalierte einen Zug, ließ den Rauch durch die Nase entweichen und beobachtete, wie er vom Wind fortgetragen wurde, bis er sich komplett auflöste. Dann atmete er tief und fixierte das Backsteingebäude etwas abseits. Sein Französisch war gut genug, um den Betrieb als Holzfertigungsfirma zu identifizieren. Allerdings war diese längst geschlossen, zumindest für den ursprünglichen Zweck, wenn er seinen Informanten Glauben schenken konnte.

Der frische Duft, den die Seine am Tag in die Stadt hineintrug, war hier einem modrigen Geruch gewichen, der ihn an eine Jauchegrube erinnerte. Aber auch das war Paris. Nicht nur die schlichte Schönheit des Eiffelturms, kleine romantische Bistros und fein gekleidete Damen, sondern auch das Hafenviertel, in dem es zum Himmel stank, und das noch trostloser und verlorener wirkte in einer Nacht wie dieser.

Endlich kündeten leise Motorgeräusche das Eintreffen der Einsatzgruppen an. Automatisch sah Nikolas hinüber. Die Lichter der vier Wagen und zwei Mannschaftstransporter erloschen gut 50 Meter vor der Kreuzung. Die Männer der SS waren gut trainiert. Leise aber energisch stiegen sie aus und kamen im Laufschritt auf Nikolas zu. Ihre Maschinenpistolen hielten sie eng am Körper. Gut drei Dutzend schwarze Männer, in einer noch düstereren Nacht. Nur an ihren hellen Gesichtern konnte man erkennen, dass sie keine Schatten waren, die einem Albtraum entsprungen und in die Wirklichkeit gelangt waren. Sein Chef, Hauptsturmführer Luger, eilte mit weit ausholenden Schritten vorneweg. Die mitternächtliche Störung hatte seine chronisch schlechte Laune nicht gerade verbessert.

»Hoffe, dass Sie diesmal richtigliegen, Herr Kriminalkommissar«, zischte Luger leise. Mit einer Geste wies er die Männer an, stillzustehen, und stemmte die Hände in die Hüften. Dann sah er sich um, wie ein Feldherr, der den Boden inspiziert, auf dem die Schlacht stattfinden soll. »Immerhin schon ihr dritter todsicherer Tipp, diese Résistancezelle endlich zu vernichten.«

Luger trat näher an Nikolas heran. Es schien ihm nichts auszumachen, dass der Regen auf der schwarzen Uniform aufschlug, sich auf seiner Mütze sammelte und schließlich an seinem akkurat geschnittenen Spitzbart heruntertropfte.

»Gnade Ihnen Gott, wenn es auch dieses Mal ein Fehlschlag ist. Dann kann Ihnen selbst Ihr Vater nicht mehr helfen.«

Seine dunklen Augen glühten. Nikolas musste sich zwingen, seinem Blick standzuhalten. Wie ein Bulle atmete Luger gepresst aus, bereit, jeden Feind in der Luft zu zerfetzen.

»Marsch!«, brüllte er schließlich den Männern zu und ging voran. Noch im Gehen zog er seine Dienstwaffe aus dem Halfter und stieß Nikolas dabei kräftig gegen die Schulter. Nikolas hatte Mühe, sich auf den Beinen zu halten.

Die Männer hatten das Gebäude schnell umstellt. Kurze Zeit war nur das Prasseln des Regens zu hören. Dann pfiff Luger, und das Donnergrollen begann. Sie drangen in den Komplex ein, feuerten und brüllten Befehle in die Räume. Hell leuchteten die Mündungsfeuer der MP 40, dumpfe Trommelschläge begleiteten die todbringenden Schüsse. Immer noch an den Zeitungsstand gelehnt, rauchte Nikolas weiter. Sein Blick wanderte. Hinter einigen Fenstern der umstehenden Häuser konnte er Silhouetten ausmachen, die schnell verschwanden und sich vor dem schwarzen Schatten versteckten. Niemand traute sich, Licht in seiner Wohnung zu machen. Ein kurzer Blick musste genügen, um sicherzustellen, dass die SS nicht vor der eigenen Tür stand. Ein Kind begann zu schreien, doch nach wenigen Sekunden erstarben die schrillen Töne.

Erst als die Geräusche der Männer leiser wurden und der Regen wieder monoton sein rauschendes Lied erklingen ließ, traute sich Nikolas an das Gebäude heran. Vor der Tür ließ er die Zigarette auf den Boden fallen und trat dann ein, sodass er den letzten Qualm in den Komplex blies. Der beißende Geruch von Schwarzpulver drang ihm in die Nase. Im kleinen Vorraum scherzten zwei SS-Soldaten, ruhig an die Wand gelehnt, als wären solche Aktionen für sie alltäglich.

»Kriminalkommissar Brandenburg!«, hallte es laut. Der tiefe Ton von Lugers Stimme glich dem einer Tuba.

Nikolas räusperte sich und ging langsam durch den Eingang zur großen Halle. Mehrere wuchtige Maschinen säumten den Gang und wurden lediglich von Fließbändern unterbrochen, die ihren Dienst längere Zeit nicht mehr getan zu haben schienen. Eine dünne Staubschicht hatte alles bedeckt. Nur schwerlich konnte er die Treppe erkennen, welche zu dem Fertigungsboden hinunterführte. Zuckende Blitze erhellten den Raum für wenige Herzschläge und gaben ihm etwas Gespenstisches. In der Mitte der Halle thronte Luger breitbeinig und mit verschränkten Armen.

»Was fehlt?«, schrie er.

»Herr Hauptsturmführer?«

»Was fehlt, Brandenburg?«

Aus seinen Augen sprach Hass. Nikolas kam sich auf einmal unheimlich klein vor zwischen all den groß gewachsenen Männern in den bedrohlichen Uniformen. Er war nass bis auf die Haut, und seine Krawatte saß sicherlich schief, doch er widerstand der Versuchung, sie gerade zu rücken.

»Die Leichen!«, zischte Luger schließlich. »Sie sind weg! Alle ausgeflogen wie die Vöglein.«

Mit dem Kopf deutete er dabei auf einen Schreibtisch, der unnatürlich angeordnet in der Mitte eines Ganges stand. Nikolas wusste, was jetzt kam, und schloss die Augen, während er sich umdrehte. Seit Monaten verfolgte er diesen Widerständler. Doch der schien ihm immer einen Schritt voraus, immer schneller als er selbst zu sein, immer ein wenig raffinierter. Es waren dessen Résistancekämpfer gewesen, die zwei brillante deutsche und einen französischen Wissenschaftler umgebracht hatten und hier in Paris untergetaucht waren wie Fische im weiten Meer. Unerkannt, anonym, spurlos. Unzählige Anschläge gingen auf sein Konto. Nach Monaten der Ermittlungsarbeit hatte Nikolas nichts zu vermelden außer Fehlschlägen. Dieses Mal war er sich so sicher gewesen. Sein Informant hatte noch nie falsch gelegen. Und jetzt hatte er eine Eingreiftruppe und seinen Chef aus den Betten klingeln lassen, um eine leere Halle zu stürmen.

Erst als er direkt vor dem Tisch stand, öffnete er seine Augen. In einer viel zu großen Vase steckte ein Strauß getrockneter Gänseblümchen. Daneben ein Bild, das das Konterfei Adolf Hitlers zeigte. Nikolas griff den Rahmen und hielt ihn hoch, sodass die Blitze das Porträt erhellten. Die Augen des Führers waren ausgehöhlt worden und aus seiner Stirn stachen Teufelshörner hervor.

Es war definitiv die richtige Résistancezelle. Leider war sie ihnen auch dieses Mal einen Schritt voraus.

›La Pâquerette‹ – das Gänseblümchen.

Der Boss dieser Zelle war jetzt schon eine Legende unter allen französischen Widerstandskämpfern. Ein Mythos, über den nichts bekannt war, was man auch nur ansatzweise verwenden konnte. Keine Vergangenheit, keine Aufnahmen, rein gar nichts. Er war vor einigen Jahren aus dem Nichts aufgetaucht und hatte sein Netz gespannt, das mittlerweile nicht mehr nur Paris überzog. Nikolas hatte oft überlegt, warum er diesen Namen gewählt hatte. Irgendwann hatte er der Versuchung nicht mehr widerstehen können und im Lexikon die Bedeutung dieser Blume nachgeschlagen.

Unscheinbar, widerstandsfähig, kaum auszumerzen und überall zu finden.

»Wie lange meinen Sie, Herr Kriminalkommissar Brandenburg, dass wir Ihre Inkompetenz noch erdulden müssen?«

Tief in seine Gedanken vergraben, zuckte Nikolas zusammen. Luger stand direkt neben ihm und wisperte die Worte gepresst in sein Ohr. Nikolas hob den Strauß Gänseblümchen in die Höhe.

»Es war wieder Pâquerette.«

Lugers Faust donnerte auf den Tisch. »Jetzt hören Sie auf mit diesem Untergrundboss. Ein Hirngespinst, Brandenburg!« Er tippte sich aggressiv mit dem Zeigefinger gegen die Stirn und schmetterte die Worte so laut, dass man sie noch auf der Straße hören müsste. »Dieser Pâquerette existiert nur in Ihrer Fantasie. Die Résistance operiert in kleinen Zellen, voneinander unabhängig und ganz bestimmt nicht geführt von einer mysteriösen Figur. All die Empfehlungen aus Düsseldorf scheinen nicht Ihren Verdiensten, sondern den Verbindungen Ihres Vaters geschuldet zu sein.«

Er kam noch ein wenig näher heran, sodass Nikolas seinen Atem auf der Haut spürte. »Und ich bin längst nicht mehr der Einzige, der das so sieht. Von Stülpnagel hat sich nach den Fortschritten in diesem Fall erkundigt, und dreimal dürfen Sie raten, was ich ihm melden werde.« Langsam trat Luger zur Seite und brüllte die Soldaten an, das Gebäude zu durchsuchen. Seine Sätze brannten sich in Nikolas’ Gehirn. Carl-Heinrich von Stülpnagel. Der Militärbefehlshaber Frankreichs. Faktisch der Machthaber über Wirtschaft und Verwaltung, nur Berlin verpflichtet. War die Sache bereits so hochgekocht?

Nikolas nahm seinen Hut ab, fuhr sich über das unrasierte Kinn und die mittellangen dunklen Haare, die sich sofort zu einem Scheitel formten. Einige Momente genoss er den Regen, der auf das Dach trommelte. Wie lange hatte er nicht mehr ausschlafen können? Wann hatte er das letzte Mal gegessen? Diese Zelle trieb ihn noch in den Wahnsinn.

Sein Atem ging schwer, als er sich an den Tisch lehnte und die Soldaten beobachtete, wie sie die Halle durchsuchten. Luger stand etwas abseits und scheuchte die SS-Männer von einer Seite des Raums zur anderen.

»Herr Hauptsturmführer!«

Sofort schoss sein Blick zu einem jungen Soldaten, der mit einer Hand eine Karte triumphierend in die Höhe reckte und mit der anderen wieder in die Kiste griff, in der er den Lageplan gefunden hatte. Luger und die anderen Männer stampften auf den Mann zu, die Augen zu Schlitzen verengt.

»So dumm kann Pâquerette nicht sein. HALT!«

Zeitverzögert detonierte der Sprengsatz. Die Druckwelle schleuderte Nikolas mehrere Meter nach hinten. Als hätte eine unsichtbare Faust mit voller Wucht gegen seinen Leib geschlagen. Mit einem Mal loderte ein meterhohes Feuer an der Stelle, wo eben noch der junge Soldat gestanden hatte, und erhellte den Raum. Der beißende Rauch war allgegenwärtig. Sengende Hitze durchfuhr seine Glieder. Der Geruch von verkohltem Holz erfüllte die Luft, drang tief in seine Nase und vermischte sich mit dem unbeschreiblichen Gestank von verbranntem Menschenfleisch. Er öffnete die Augen einen Spaltbreit. Alles verschwamm, nur die tanzenden Flammen drangen in seinen Blick, schwarze Männer im Rot des Feuers.

Augenblicklich war alle Kälte aus seinem Körper verschwunden, und sein Herz pumpte das rauschende Blut durch die Adern. Es verging einige Zeit, bis das Pfeifen in seinen Ohren nachließ und an dessen Stelle die spitzen Schreie der Männer traten.

Kapitel 2

– Eine bröckelnde Illusion –

Nikolas dröhnte der Kopf, während er erschöpft den Schlüssel zu seiner Wohnung umdrehte. Jede Bewegung schmerzte, und jedes Geräusch war zu laut. Nach einer kurzen Untersuchung durch die Amtsärzte hatte er gehen dürfen. Neben dem Soldaten, der die Explosion ausgelöst hatte, waren noch zwei weitere ihren Verletzungen erlegen. Wie durch ein Wunder hatte Luger überlebt. Nikolas ertappte sich dabei, wie er sich einen anderen Ausgang wünschte, verdrängte den Gedanken aber schnell.

Die Wohnung im dritten Stock an der Rue Lambiston war hell erleuchtet. Er ließ Hut und Mantel auf den Boden fallen und ging in die Küche. Lisa stand in Büstenhalter und Slip an die Wand gelehnt und aß einen Apfel. Ihre langen blonden Haare waren zu einem lockeren Pferdeschwanz gebunden, der bei jeder ihrer Bewegungen mitwippte. Das schmale Gesicht hatte einen dunklen Teint, als wäre sie jeden Tag in der Sonne. Doch aus ihren hellblauen Augen sprach Kälte.

»Habe einen Anruf bekommen«, sagte sie ohne vorherige Begrüßung und mit vollem Mund. »Die Ärzte wussten nicht, ob sie dich die Nacht über dabehalten sollen, und haben vorsichtshalber angerufen.«

Nikolas nickte wortlos. Er wusste, dass sie nicht hier sein wollte. Zumindest nicht mehr. Es war nicht wie damals, in Düsseldorf, als er der herausragende Ermittler war. Sein Vater meinte, dass sie eine gute Partie sei und er sie bald heiraten solle. Immerhin sei er schon 28, andere hätten da bereits mehrere Kinder. Lisas Familie war nicht das, was man gut situiert nennen konnte, trotzdem wurde die Verlobungsfeier ein großes Fest. Was wohl mehr an seinem Vater lag, der glücklich war, dass sein einziger Sohn doch noch diesen Weg gegangen war. Aber genau wie sein Stern, der in der Stadt der Lichter gesunken war, so wurde aus der Zuneigung und den Gefühlen schleichend eine Zweckgemeinschaft.

»Du trägst schöne Unterwäsche.«

Lisa sah an sich herunter und biss dann wieder in ihren Apfel.

»Warum kaufst du dir ständig neue? Du hast schon seit drei Monaten nicht mehr mit mir geschlafen.« Nikolas kam auf sie zu und strich mit den Fingerkuppen über ihren Rücken. Er spürte das Spiel ihrer Muskeln unter der seidigen Haut und lechzte nach Berührungen, einer kleinen Geste, einem flüchtigen Kuss. Sie quittierte seine Aussage mit einem abfälligen Lachen, warf den Rest des Apfels in den Mülleimer und ging an ihm vorbei.

Seine Hand schnellte zu ihrem Arm und umschloss ihn fest. »Kriege ich nicht einmal mehr eine Antwort?«

Sie lächelte hämisch. Die schmalen Finger fuhren über ihre Lippen und wischten die letzten Tropfen des Apfelsaftes weg. »Weil ich gerne gut aussehe«, wisperte sie zischend.

Mit den Fingern löste sie seinen Griff. Es gelang Lisa scheinbar mühelos, obwohl Nikolas zwei Köpfe größer war als sie. In Zeitlupe zog sich ihr Mundwinkel verhöhnend nach oben. Dann wandte sie sich so schnell ab, dass ihr Pferdeschwanz Nikolas’ Gesicht streifte.

»Ich gehe weg, muss noch wen besuchen«, rief sie aus dem Schlafzimmer heraus.

Sollte er ihr nachlaufen? Sie zur Rede stellen? Er war die letzten Wochen, ja, Monate, nicht oft zu Hause gewesen. Tief in seinem Inneren hatte er schon damit gerechnet, dass sie sich einen Liebhaber zugelegt hatte. Irgendein armer Franzose, in seiner Vorstellung eine gesichtslose Gestalt, die er nicht kannte und nie kennenlernen würde, wäre ihm lieb gewesen. Doch die schreckliche Vermutung, die sich in den letzten Wochen mehr und mehr bestätigt hatte, ließ ihm einen Schauer über den Rücken laufen. Und er hatte die beiden einander auch noch vorgestellt!

Nur ein Narr hätte die Zeichen nicht erkannt. Telefonate, die beendet wurden, wenn er ins Zimmer kam. Ausreden, warum sie so lange bei einer Freundin war. Und er hatte nicht einmal die Kraft, ihr eine Ohrfeige zu geben. Nikolas drehte sich zum Spiegel, der über der Arbeitsplatte angebracht war, und seufzte auf. Schon früher hatte sich Lisa von rauen Typen angezogen gefühlt. ›Richtige Männer‹, wie sie sagte. Doch in seinem eigenen Antlitz konnte er nichts davon erkennen. Er hatte feine, beinahe feminine Züge. Selbst sein dunkler Stoppelbart vermochte keine Härte in sein Gesicht zu legen. Dazu die verstehenden grünen Augen seiner Mutter und nicht das dunkle Braun seines Vaters; Augen, die einem direkt in die Seele blickten. Als sein Atem langsam ruhiger wurde, kam Lisa aus dem Schlafzimmer. Sie trug einen schwarzen Rock, eine dazu passende Bluse und einen Schal, den sie mehrmals locker um ihren Hals gebunden hatte. Ihre schlanken Beine glänzten in diesem Licht und betonten die sportliche Figur.

»Warte nicht auf mich«, sagte sie, ohne ihn dabei anzusehen. Schnell machte sie kehrt, nahm ihre Handtasche und öffnete die Tür.

Mit beiden Fäusten schlug Nikolas auf die Arbeitsplatte. »Danke, mir geht es übrigens gut!«

Er griff nach einer Flasche Wein, füllte ein Glas fast bis zum Rand und setzte es an den Mund. Keine Reaktion. Sie kehrte ihm den Rücken und zog den Mantel an. Ihre blonde Haarpracht war nun streng hochgesteckt, sodass sich keine Strähne mehr bewegte.

Sie hatte sich verändert. Die Stadt hatte sie verändert. Die Stadt hatte alles verändert.

»Und grüß Luger von mir«, giftete er in das Glas.

Kurz stoppte Lisa und legte den Kopf zur Seite. Wenige Sekunden dauerte ihre Starre, dann fiel die Tür krachend ins Schloss. Als Nikolas aus dem Fenster sah, konnte er den schwarzen Dienstwagen der SS erkennen, der vor der Tür hielt. Er machte sich nicht die Mühe, sie weiter zu beobachten, und ließ sich auf den breiten Sessel im Wohnzimmer sinken. Schnaubend setzte er die Flasche an. Die Anstrengungen des Tages forderten ihren Tribut und er war dankbar, als er die Schwere spürte, die sich mehr und mehr auf seine Lider legte und ihn in einen unruhigen Schlaf gleiten ließ.

Obwohl der Morgen nur langsam über die Pariser Dächer kroch und es nicht richtig hell wurde, war Nikolas bereits wach. Die paar Stunden Ruhe auf dem Sessel hatten mit der süßen Erholung des Schlafes nichts gemein und selbst eine lange Dusche konnte die Müdigkeit nicht aus seinen Gliedern spülen. Sein untermotorisierter Dienstwagen kroch über die Straßen, auf der sich Menschenmassen so dicht wie Ameisen bewegten. Wenige Autos und Pferdekarren quälten sich durch den Verkehr, kein Wunder, wo Treibstoff rationiert war und Pferde für den Kriegseinsatz gebraucht wurden. Wenn man die patrouillierenden Wehrmachtssoldaten ausblendete, könnte man meinen, das zivile Leben im pulsierenden Herzen von Frankreich ginge einfach weiter. Obwohl die Menschen lachten und ihrem Tagwerk nachgingen, so gut es ihnen möglich war, lag doch ein nicht greifbarer Schleier über ihnen. Sicher, sie hatten sich mit der Situation abgefunden, mit der von den Deutschen auferlegten Pètain-Regierung wie auch mit den ständigen Personenkontrollen. Doch wenn die Nacht hereinbrach und die dunklen Schatten in ihren mattschwarzen Uniformen ganze Häuserblöcke kontrollierten und Dutzende von Personen festnahmen, verschloss die Bevölkerung lieber die Tür und hoffte, dass niemand donnernd an ihrem Heim klopfte. Sie wussten, dass diejenigen, die abgeholt wurden, niemals wiederkamen. Sie wussten, dass dieses unbeschwerte Leben lediglich der Hauch einer Illusion war, den sie nur allzu dankbar annahmen.

Die schlaftrunkenen Gedanken wischte Nikolas beiseite, als er seinen Wagen auf die breiteste Straße von Paris steuerte, die legendäre Avenue Foch. Diese Prunkallee wurde von Napoleon III. in Auftrag gegeben und hatte bereits außerordentliche Geister und Künstler beherbergt. Leider litt ihr Ruf in der Gegenwart, war die Avenue Foch 84 doch das Gebäude, in dem die Geheime Staatspolizei und alle angeschlossenen Behörden ihren Dienstsitz in Paris hatten. Sämtliche Verdächtigen wurden zuerst in diesen Komplex gebracht und dort verhört, was für einige gleichbedeutend mit dem Todesurteil war. Nikolas hatte mit alldem nicht viel zu tun, und er war froh darüber. Sein Auftrag war es, zu ermitteln, nicht festzunehmen. Er war schon Jahre nicht mehr gezwungen gewesen, die Walther P38 zu benutzen, sodass er einen Moment lang überlegen musste, wo er sie hingelegt hatte. Bestimmt war sie irgendwo tief im Nachttisch versteckt. Doch das war jetzt unwichtig.

Schon nach kurzer Zeit baute sich das längliche Gebäude vor ihm auf. Das dunkle mehrstöckige Bauwerk konnte allein als Häuserblock durchgehen. Die verzierten Balkone gaben den unzähligen Fensterreihen etwas Vertrautes, während der abblätternde Stuck an der Fassade Nikolas eher an ein Gefängnis erinnerte. Nach den üblichen Personenkontrollen parkte er seinen Wagen und fuhr mit dem Paternoster in den dritten Stock. Zu dieser frühen Stunde war noch niemand aus dem Amt V, der Reichskriminalpolizei, zugegen. Sie alle hatten eine lange Nacht gehabt und, abgesehen von der Bereitschaft, die ständig besetzt war, schien bisher niemand den Weg aus dem Bett gefunden zu haben. Er war nicht unglücklich darüber. Schließlich dürfte nicht nur die SS eine Menge Fragen an ihn haben. Gedanklich bereitete er sich bereits auf ein Verhör durch Luger vor. Nikolas lehnte sich zurück und ließ die französischen Schuhe auf den Tisch knallen. Auch wenn sein Informant mit der Lokalität recht hatte, war doch irgendwo eine Lücke in diesem sonst so perfekten System der Vernichtung. Opportunistische Franzosen bekamen Geld oder was immer sie verlangten für Informationen. Wollten sie nicht kooperieren, änderte man die Methode von einem Belohnungs- in ein Bedrohungssystem. Hatte sich das einmal herumgesprochen, war es ein Leichtes, die gewünschten Informationen zu beschaffen. Nikolas suchte händeringend nach dem Maulwurf in dieser Kette, als das Telefon ihn aus seinen Gedanken riss. Die Uhr zeigte gerade erst sechs an, also musste es wichtig sein.

»Kriminalkommissar Brandenburg«, meldete er sich ordnungsgemäß.

»Hallo, Nikolas.«

Er hatte mit allem gerechnet, doch nicht mit dieser Stimme am anderen Ende. Sofort rutschten seine Beine vom Schreibtisch und er drückte den Hörer des Apparates so fest auf sein Ohr, dass es schmerzte.

»Martin!«, fuhr es aus ihm heraus. Nach den Anstrengungen und Beleidigungen der letzten Wochen tat es gut, eine so vertraute Stimme zu hören. »Wie geht es dir? Alles klar bei euch in Düsseldorf? Was macht das Krankenhaus, Herr Doktor?« Nikolas’ Gedanken sprudelten, und mit einem Mal war er hellwach.

»Danke, bei mir ist alles gut, Nikolas. Haben uns lang nicht mehr gesprochen.«

Er nickte, obwohl keiner im Raum war. »Viel zu lange. Hatte hier eine Menge zu tun und … na ja.«

»Hättest dich trotzdem mal melden können. Warst von einem auf den anderen Tag weg. Hast Lisa mitgenommen und dich nicht einmal verabschiedet.«

Nikolas schloss die Augen. »Du weißt doch, ich hab es einfach nicht mehr ausgehalten. Wie oft haben wir schon darüber …«

Martin fiel ihm mit einer Lautstärke ins Wort, die Nikolas überraschte: »Ich weiß, dass es nicht einfach war. Das ist aber kein Grund, in einer Nacht-und-Nebel-Aktion zu verschwinden. Außerdem hattest du das lange geplant. Eine Versetzung nach Paris wird nicht über Nacht bestätigt. Nein, es war Absicht, dass du uns im Unklaren gelassen hast. Die paar Bier in einer Pariser Kneipe machen das auch nicht mehr wett. Scheiße, wie lange kennen wir uns?«

»Martin, hör doch …« So aufgebracht hatte er seinen Freund selten erlebt. Handelte er doch sonst ruhig und überlegt, was man beinahe mit Schüchternheit verwechseln konnte, wenn man ihn nicht näher kannte.

»Scheiße, nein, seit wann kennen wir uns?«

Nikolas schloss die Augen und rieb sich die Stirn. »Seit verdammt langer Zeit.«

Dann machte Martin eine seltsam lange Pause. Während Nikolas den Hörer von einem Ohr zum anderen wechselte und sich eine Zigarette ansteckte, dachte er für einen Moment an ihre Schulzeit in Düsseldorf zurück. Glückliche Zeiten. Doch der kleine dickliche Junge mit der Hornbrille war inzwischen ein richtiger Arzt im Düsseldorfer Klinikum, und er selbst war Kriminalpolizist in Paris. Am anderen Ende der Leitung hörte Nikolas seinen Freund seufzen.

»Was ist los, Martin? Mit dir stimmt doch etwas nicht. Warum rufst du an?«, wollte Nikolas schließlich wissen.

»Es tut mir leid. Ich … ich habe versucht, dich früher zu erreichen.« Es hatte sich viel verändert. Nur das leichte Stottern, wenn er aufgeregt war, war geblieben. Martin lachte traurig auf. »Ist gar nicht so einfach, sich zu dir durchzufragen. Habe fast zwei Tage gebraucht, um an der Avenue Foch zu landen und denen klarzumachen, dass ich dich sprechen muss.« Martin atmete schwer. Man konnte lediglich vermuten, wie schwer ihm dieser Anruf fiel. »Es geht um Erik.«

»Ja, wie geht es dem alten Schlüpferstürmer?«

Martins Stimme wurde leise und begann zu beben. Sie war wie dünnes Eis, kühl und zerbrechlich. »Nikolas, er ist tot.«

Er hörte die Worte, die sein Freund sagte, doch sie drangen nicht zu ihm durch. Einige Momente vergingen schweigend. Hunderte Gedanken schossen auf einmal durch sein Gehirn. »Was … was sagst du da? Wie konnte das passieren?«

»Es war Selbstmord«, antwortete Martin lang gezogen. »Hier kann sich das auch keiner erklären. Er war mit Medikamenten vollgepumpt, hat seine Tochter ins Auto geladen und ist gegen einen Brückenpfeiler gerast.«

Nikolas fasste sich an den Kopf, als wollte er die Gedanken herausdrücken. »Auch Marie?«

Hatte Martin eben noch leise gesprochen, drang nun durch die Leitung nicht mehr als ein Wispern. »Ja.«

»Oh Gott.« Nikolas verließ die Kraft, und er musste sich zurücklehnen. Den Hörer balancierte er auf seiner Handfläche, er konnte jede Sekunde herunterfallen. Einige Herzschläge vernahm er nur das Atmen seines alten Freundes.

»Nikolas?«

»Wann ist es passiert?«

»Vor drei Tagen. Die Beerdigung ist in wenigen Stunden.« Martin begann erneut zu stottern, obwohl seine Stimme fester wurde und ein Hauch Aggressivität in ihr mitschwang. »Du warst einfach nicht zu erreichen. Niemand kannte deine Telefonnummer. Selbst dein Vater konnte uns nicht weiterhelfen.« Obwohl er es nicht so klingen lassen wollte, hörten sich seine Worte wie ein einziger Vorwurf an.

»Wie geht es Hannah?«

»Was denkst du, wie es ihr geht?«

Selten dämliche Frage, wie sollte es Eriks Frau schon gehen, da sie gerade Ehemann und Kind verloren hatte.

»Was hast du jetzt vor, Nikolas?«

»Ich komme vorbei, heute noch.«

»Gut, Düsseldorf Nordfriedhof. Wenn du reden möchtest, du weißt, wo du mich findest.«

Nikolas nickte erneut, wartete einen Moment und drückte den Hörer nun wieder fest auf sein Ohr. »Danke. War schön, deine Stimme zu hören, Martin.«

Am anderen Ende der Leitung klickte es.

War es wirklich schon so viele Monate her, seitdem er ein Lebenszeichen in seine Heimat gesandt hatte, seitdem sie in der Stadt der Liebe zusammen Bier getrunken hatten? Leider das erste und einzige Mal.

Die Hände tief in den Taschen vergraben, schlich er die Korridore des Gebäudes entlang, während diese Überlegung seinen Geist malträtierte. Martin hatte recht. Er war einfach abgehauen, hatte alles hinter sich lassen wollen. Hatte Lisa gesagt, dass er ein paar Monate in Paris arbeiten wollte, hatte ihr vorgeschwärmt von der Stadt der Lichter, der neuesten Mode und den kleinen verwinkelten Gassen mit den hübschen Cafés. Es war ein Leichtes, sie von diesem kleinen Dorf in die Metropole zu ziehen und mit glitzernden Träumen zu verführen. Hatte nicht einmal eine Telefonnummer hinterlassen, wo man ihn hätte erreichen können. Er wollte einfach weg aus diesem Dorf, aber vor allem weg von seinem Vater, dem allmächtigen Kriminalrat, der dann in die SS eintrat, um Sturmbannführer zu werden, dem ›Helden von Düsseldorf‹. Doch mit seiner Flucht ließ er nicht nur ihn hinter sich, sondern auch gute Freunde, die er seit Kindertagen kannte. So wie Martin. So wie Erik. Bei dem Gedanken bemerkte er, wie Tränen seine Augen füllten. Einige Sekunden ließ er die Gefühle gewähren, doch vor der Tür seines Chefs hielt er inne. Jetzt konnte er sich keine Schwäche erlauben. Er musste mehrmals schlucken und sich die Lider reiben. Dann zog er die Nase hoch und ließ seine Faust gegen die Tür donnern.

»Herein!« Erst nach einigen Sekunden sah Luger von den Dokumenten auf. Die beiden Männer hoben die Hand zum Hitlergruß.

»Da sieh mal einer an, der Held der Stunde.«Aus jedem seiner Worte sprach tiefste Verachtung. »Ich wollte gerade die Todesmeldungen nach Berlin schicken. Insgesamt sind es drei junge SS-Soldaten, die durch diesen Anschlag ums Leben kamen. Oder vielleicht wollen Sie das machen?« Als wäre er tief in Gedanken, ließ er seinen Blick schweifen. »Das werden sehr traurige Tage für die Ehefrauen, oh – Pardon, Witwen der Soldaten.«

Luger grinste breit. Es musste ihm diebische Freude bereiten, ihn zu verhöhnen.

Nikolas spürte, wie seine Zähne aufeinander mahlten. Doch er stand regungslos in dem großen Büro, dessen Wände mit unzähligen Fotos völlig zugepflastert waren. Ohne dass er es wollte, ballten sich seine Hände zu Fäusten.

»Ich habe einen Todesfall zu beklagen, Herr Hauptsturmführer.« Er versuchte, klar und stark zu klingen, aber es misslang ihm kläglich. »Mit Ihrer Erlaubnis würde ich gerne für ein paar Tage in die Heimat reisen, um an der Beerdigung teilnehmen zu können.«

Als hätte er mit seinen Sätzen einen Vulkan zum Ausbruch gebracht, brüllte Luger los: »Wollen Sie mich verarschen, Brandenburg?« Man musste ihn auf dem gesamten Korridor hören. Er war so schnell aufgestanden, dass sein Stuhl nach hinten gekippt war. »Wir alle haben Todesfälle zu beklagen. Falls es bei Ihnen noch nicht angekommen ist, wir haben Krieg!«

Sein Gesicht war puterrot angelaufen, und die Ader auf seiner Stirn pochte bedrohlich. Schwer atmend hielt Nikolas seinem Blick stand.

»Wenn jeder der Soldaten ein paar Tage Heimaturlaub machen würde, um an einer Beerdigung teilzunehmen, hätten wir keine Leute mehr an der Front!« Seine schwarze Uniform wölbte sich mit jedem Atemzug. Langsam kam er hinter seinem Schreibtisch hervor und baute sich vor Nikolas auf.

»Sie glauben doch nicht allen Ernstes, dass ich Sie für Ihre desolaten Leistungen auch noch belohnen werde. Sie und Ihre Verlobte werden nicht fahren«, zischte er. Anschließend wartete er ein paar Sekunden, schüttelte den Kopf, als hätte er ein kleines Kind zurechtgewiesen, und verschränkte die Arme.

Natürlich, was hatte er denn erwartet. Dass er ihn einfach so gehen ließ? Er hasste sich dafür, dass er diese Karte ausspielen musste. »Ich würde alleine fahren, Herr Hauptsturmführer.«

Sofort änderten sich die Gesichtszüge seines Chefs.

Volltreffer. Er hatte angebissen. War es erst nicht mehr als eine schreckliche Vermutung gewesen, wurde sie in genau diesem Augenblick zur Realität. Ein Brechreiz presste sich seinen Hals hoch. Er konnte beinahe spüren, wie Lugers Gehirn arbeitete und die beißende Wut, die sich gegen ihn gerichtet hatte, langsam abebbte.

»So«, sagte sein Chef mehr zu sich selbst als zu Nikolas. Er blickte zu Boden, während er wieder hinter seinem Schreibtisch Platz nahm. Luger griff sich einige Dokumente und tat so, als lese er angestrengt. »Andererseits haben Sie, seitdem Sie hier sind, noch nie Urlaub eingereicht.« Ein Zungenschnalzen durchschnitt die Stille, die sich über den Raum gesenkt hatte. »Ich werde das Schriftliche erledigen. Vielleicht könnten wir wirklich ein paar Tage ohne Sie auskommen.«

Das Spiel war so einfach zu durchschauen. Sollte Luger eben ein paar Tage Spaß haben, es würde nichts ändern. Wenn das der Preis war, so bezahlte Nikolas ihn gern.

»Danke, Herr Hauptsturmführer.« Du verdammtes Arschloch, setzte er in Gedanken hinzu.

Mit einer wegwerfenden Handbewegung wies ihn sein Chef an, das Büro zu verlassen. Gerade als er die Tür schließen wollte, hörte er erneut die tiefe Stimme des Mannes.

»Als ob das einen Unterschied machen würde …«

Lisa hatte die Nachricht genau so aufgenommen, wie er vermutet hatte. Mit einem Schulterzucken. Sie hatte Erik lediglich ein paar Mal gesehen und nicht sonderlich viel mit ihm geredet. Als sie hingegen erfuhr, dass er von Luger die Genehmigung hatte, ein paar Tage nach Hause zu fahren, huschten ihre Mundwinkel für einen Moment nach oben. Natürlich 

In euphorischer Vorfreude, dass sie sich nicht mehr die Mühe machen musste, irgendwelche fadenscheinigen Ausreden zu erfinden, hatte sie ihn sogar umarmt und ihr herzliches Beileid ausgedrückt. Die erste wirkliche Berührung seit langer Zeit. Was für einer schrecklichen Maskerade sie sich doch bediente. Und er saß im Publikum dieses Schauspiels und spendete auch noch Beifall. Liebevoll, beinahe warmherzig half sie ihm, den Koffer zu packen, und drückte ihm als Krönung dieser grotesken Komödie sogar einen Kuss auf die Wange. Mit jeder Sekunde wurde ihm mehr bewusst: Sie würde sofort Lugers Nummer wählen, sobald er die Wohnung verlassen hatte. Doch noch erschreckender als die Gewissheit, dass seine Verlobte in dieser Nacht Sex mit ihrem Liebhaber genießen würde, war die Erkenntnis, dass es ihm nicht egal war.

Die Wolken hingen bleigrau und schwer über Paris, als die Uhren zur 15. Stunde schlugen. Dick eingepackte Menschen flanierten über die Straßen oder versuchten, dem immer dichter werdenden Verkehr auszuweichen. Doch das interessierte den Kriminalkommissar nicht. Seine Hände krallten sich in das Lenkrad, während er noch einmal hochsah. Mit jedem Herzschlag wuchs der Hass, bis seine Lippen zu zittern begannen und seine Fingerknöchel schmerzten. Der Zorn schien ihn fast zu erdrücken und lastete schwer auf ihm. Er richtete sich jedoch nicht gegen Lisa, die er hier in dieser Millionenstadt allein ließ, noch nicht einmal gegen Luger, der sich die Möglichkeit nicht entgehen ließ, mit einer wunderbaren Frau zu schlafen. Sondern gegen sich selbst und seine Unfähigkeit, etwas dagegen zu unternehmen. Raubbau an der eigenen Seele. Durch das Fenster konnte er Lisas Silhouette erkennen – mit dem Telefonhörer am Ohr. Trotzdem drehte er den Schlüssel um und ließ den Motor aufheulen.

Kapitel 3

– Eine zufällige Begegnung –

Die Dunkelheit hatte die Stadt bereits in ihrer kühlen Umarmung eingeschlossen, als er in Düsseldorf eintraf. Die ständigen Kontrollen hatten ihn viel Zeit gekostet, doch die Kriminalmarke und sein Ausweis öffneten so manchen Schlagbaum ein wenig zügiger. Wie Paris war auch dieser Landstrich von den alliierten Bombenangriffen weitestgehend verschont geblieben. Selbst die ›Große Woche‹, diese fünf Tage des Dauerbombardements gegen ausgewählte Rüstungsanlagen im letzten Monat, hatte hier nur wenige Spuren hinterlassen. Straßen waren weiterhin intakt, und die Infrastruktur funktionierte. Doch als er von Westen her den Stadtteil Oberkassel passierte und über die Skagerrak-Brücke in die Innenstadt einbog, fragte er sich, wie lange man wohl noch unbehelligt zwischen den beiden Städten pendeln könnte. Als er das Ortsschild las, fuhr ihm ein Schauer über den Rücken, den er abzuschütteln versuchte. Je näher er dem Zentrum kam, desto mehr veränderte sich das Bild. Die würdige Altstadt mit ihren geweißten Fachwerkhäusern, den urigen Brauereien und der ratternden Straßenbahn, deren helles Klingeln über den Markplatz tönte, war einem Trümmerfeld gewichen. Der glänzende Dienstwagen wirkte wie ein Fremdkörper, auch wenn viel zu junge Arbeiter der HJ und viel zu dürre BDM-Mädchen den Schutt bereits von der Straße geräumt und mit Aufbauarbeiten begonnen hatten. Fuhr man ein paar Straßen weiter, dorthin, wo keine Bomben gefallen waren, bot sich wiederum ein anderes Bild. Dick eingepackt in mehrere Kleiderschichten spielten Kinder in den letzten Lichtstrahlen, und gut angezogene Frauen unterhielten sich vor Schaufenstern. Nur die vielen Flugabwehrkanonen, die sich wie spitze Nadeln in den Himmel emporstreckten, wirkten in dieser Abendidylle grotesk. Der Royal Air Force gehörte die Lufthoheit bei Tag, nur in der Nacht konnte man das Dröhnen der zweimotorigen Messerschmitts noch vernehmen. Doch das sollte man nicht allzu laut sagen, selbst als Kriminalkommissar.

Die mehrstündige Fahrt hatte sich bleiern in seine Glieder gefressen. Als er mit einem lauten Stöhnen aus dem Wagen stieg, nahm sich Nikolas Zeit, seinen Körper zu strecken. Dann zündete er sich eine Zigarette an und band seine Krawatte neu. Er wollte ihn hinauszögern, den Moment, in dem ein Telefonat zur grausamen Wahrheit wurde. Die Kieselsteine knirschten unter seinen Schuhen, als er die ersten Schritte auf dem Nordfriedhof zurücklegte. Es waren viele Gräber hinzugekommen in letzter Zeit. Die Leichen kamen nun von zwei Fronten. War er eben noch nervös gewesen, kroch das Unbehagen mehr und mehr in ihm hoch und nistete sich tief in ihm ein. Hastig zog er am Glimmstängel. Die neuen Gräber waren geschmückt und von Blumen übersät. Flackernde Kerzen wiesen ihm den Weg zu seinem alten Freund. Nikolas musste sich räuspern und spürte mit jedem Schlucken, wie ein Kloß sich in seinem Hals festsetzte. Mehrmals drehte er sich um. Hier war nichts außer den Trauerweiden, die ihre Zweige zärtlich im Wind über die Gräber wehen ließen, als wollten sie diese streicheln und damit die Toten, die kein Leid mehr klagen konnten. Von Weitem sah er mehrere Lichtflecken an einem Punkt konzentriert. Noch einmal atmete er tief durch, dann richtete er Mantel und Hut.

Die Kerzen leuchteten die Hakenkreuzbanner rötlich an, die um die Blumensträuße gewickelt waren.

›In tiefer Trauer. Deine Familie‹

›Niemals vergessen. Deine Freunde‹

›Deine Kollegen der IG Farben. Sieg Heil!‹

Selbst in der zunehmenden Dunkelheit konnte Nikolas erkennen, dass die Erde gerade erst aufgehäuft worden war. Der Wind pfiff ihm um die Ohren, sodass er den Schal etwas enger zog, als er einen Schritt auf die beiden Grabsteine zuging. Dann wurde die Szene, die er seit dem heutigen Morgen im Geist durchgespielt hatte, Realität. Die beiden Grabsteine waren schlicht, nur ein eingraviertes Kreuz zierte die rechte Seite des hellen Steins.

Erik Stuckmann

Geboren: 10. März 1916

Gestorben: 04. März 1944

Marie Stuckmann

Geboren: 25. August 1938

Gestorben: 04. März 1944

In wenigen Tagen wäre Eriks Geburtstag gewesen. Hätte er daran gedacht? Wahrscheinlich nicht. Ein toller Freund war er. Ein stechender Schmerz übermannte Nikolas, und Tränen flossen aus seinen Augen. Er nahm den Hut ab und spürte sofort, wie der Wind sich in seinen Haaren fing. Die Bilder ihrer Kindheit schossen ihm durch den Kopf. Mit jedem weiteren Herzschlag wollten seine Beine das Gewicht des Körpers nicht länger tragen. Die Schrift auf dem Stein begann zu verschwimmen, erst leicht, dann war sie kaum mehr zu erkennen. Doch erst als seine Knie den Boden berührten und er die Hände in das feuchte Gras presste, verließ die erste Träne seine Wange, und ein verzweifeltes Schluchzen erfüllte den menschenleeren Friedhof.

*

16. Juli 1924, Düsseldorf

Ich liebe die Rheinkirmes! Mit einem breiten Grinsen verlasse ich die Festwiese und schlendere über das ausgedörrte Oberkasseler Rheinufer. Die Sonne hat es in dieser dritten Juliwoche ganz besonders gut mit uns gemeint, da sie mir stechend im Nacken sitzt und mein Hemd mir an der Haut klebt. Mit den leichten Wellenbewegungen wiegt sie sich im Rhein und zaubert ein wunderschönes Orange auf den späten Nachmittagshimmel. Genüsslich schiebe ich mir gebrannte Mandeln in den sowieso schon vollen Mund. Vater muss bei der Polizei wieder lange arbeiten, so hat er mir Geld mitgegeben, dass zumindest ich auf die Kirmes gehen kann. Schnell greife ich in meine Hosentasche, um zu schauen, ob noch etwas von den Rentenpfennigen übrig geblieben ist. Tatsächlich! Zwischen einer Trillerpfeife und zerknüllten Papieren entdecke ich drei matte Geldstücke mit den zusammengebundenen Ähren darauf.

»Was hast du da, Kleiner?«

Ich schließe meine Hand zur Faust, als ob ich einen Schatz behüte. Habe gar nicht bemerkt, dass drei ältere Jungen mich verfolgt haben und nun gierig auf meine geschlossene Faust starren. Schnell mustere ich sie und überlege, ob ich es mit ihnen aufnehmen kann. Keine Chance. Sie sind mindestens einen Kopf größer als ich. Ihre schwarzen Haare glänzen in der Abendsonne, und ihre breiten Schultern und die dicken Arme sehen aus, als würden sie bei ihrem Vater auf dem Feld mitarbeiten. Ihre kleinen Augen und die vorstehenden Wangenknochen ähneln einander, es sind wahrscheinlich Brüder. Mit einem Mal schlägt mir das Herz bis zum Hals, und ich verstecke meinen Schatz hinter dem Rücken.

»Sag, was hast du da, Kleiner!«, grollt der größte der drei und kommt mir bedrohlich nah. Dabei formt seine Hand eine Faust, und er hebt sie bereits halb hoch. Schnell überlege ich, ob ich flüchten kann. Ich müsste nur hastig über das ausgetrocknete Rheinufer, durch das kleine Wäldchen nach Oberkassel rein. Auch wenn ich noch nicht so lange hier wohne, könnte ich sie in den kleinen Gassen am Drakeplatz abschütteln. Mit ein bisschen Glück könnte ich es auf die Luegallee und in Vaters Haus schaffen. Doch sie scheinen gut trainiert. Ihre Beine sind von Schrammen übersät, die kleine rote Sicheln bilden, als ob die drei Tag für Tag durch das Unterholz schlichen. Ich entscheide mich für ein Bauernopfer, wie Vater beim Schach immer so schön sagt.

»Nur ein paar Mandeln. Wollt ihr die haben?« Ich versuche, so mutig wie möglich zu klingen, und halte ihnen die Papiertüte vors Gesicht.

Doch das scheint ihn nur wütender zu machen. Mit seiner wuchtigen Faust schlägt er sie mir aus der Hand. »Die Mandeln sind mir egal, gib uns das Geld, sonst setzt es was!«

Mist, sie haben es gesehen. Ich spüre die Münzen schwer in meiner Faust liegen, als würden sie Tonnen wiegen. Mit zitternden Fingern hebe ich die Papiertüte auf und stecke sie in meine Tasche. Dann drehe ich mich mit einem Ruck um und spurte los, so schnell ich kann. Auf den ersten Metern kann ich Boden gutmachen, aber sie holen mich schnell ein. Beinahe habe ich es vom offenen Rheinufer weg geschafft, doch ich höre die japsende Atmung der drei dicht hinter mir. Nur noch wenige Meter, ich kann das satte Grün des Wäldchens schon sehen. Dann spüre ich einen dumpfen Schmerz. Ein kräftiger Tritt gegen mein Bein verhindert, dass ich es in das Dickicht schaffe. Sofort verliere ich das Gleichgewicht und stürze aus vollem Lauf. Einige Meter schleifen meine nackten Beine über den harten Boden und wirbeln dabei eine Staubwolke auf. Ein Schrei entweicht meinem Mund, ohne dass ich es will. Meine offenen Beine brennen wie Feuer. Mit schmerzverzerrtem Gesicht sehe ich, wie sich Blut über meine Haut legt und sich schnell einen Weg nach unten sucht. Hechelnd stehen die drei vor mir.

»Fürs Weglaufen setzt es extra eine!«, grölt ein Junge. Nur Augenblicke später donnert er seine Faust gegen meine Nase. Der Schmerz zieht sich durch meinen ganzen Körper, trotzdem schaffe ich es, aufzustehen und meinen Fuß in seinen Unterleib zu rammen. Er taumelt zurück. In diesem Moment stürmen seine beiden Freunde auf mich zu. Bevor sie ausholen können, trifft ein Körper mit voller Wucht gegen den des größten Angreifers. Mit weit aufgerissenen Augen starren die drei Jungs auf die Gestalt, die sie überrumpelt hat.

»Drei gegen einen ist unfair!«, schreit der Junge mit strohblonden Haaren spitz, während er aufsteht und sich neben mich stellt. Er ist kaum größer als ich, doch aus seinen stechenden blauen Augen spricht so viel Wut, dass die drei erst mal innehalten. Beinahe bemerke ich nicht, wie sich noch ein dritter Junge in unsere Riege einreiht. Für einen Moment riskiere ich einen Blick. Seine dicke Hornbrille ist ihm auf die Nasenspitze gerutscht, und das runde Gesicht scheint vor Angst zu glühen. Das Hemd spannt über seinem dicken Bauch, und trotzdem wirkt er kräftig und nicht unbeholfen.

»Das ist nicht eure Sache. Haut ab, oder ihr kriegt auch ein paar auf die Zwölf!«

»Dann mache ich es zu meiner Sache«, faucht der Blondschopf neben mir und hebt drohend die Faust.

Die drei Jungen sehen sich fragend an und machen ein paar Schritte auf uns zu, jedoch weitaus unsicherer als noch vor wenigen Augenblicken.

»Du kennst ihn doch gar nicht. Willst du einfach so eins auf die Fresse kriegen?«

»Selig sind die Gerechten, und wenn das der Preis dafür ist – gerne«, schießt es aus dem Jungen heraus.

Einige Sekunden verstreichen, und es ist nichts außer dem Lied der Grillen zu hören, die die letzten Stunden des Tages zirpend verabschieden. Dann prusten die Jungen los. Erst nur der größte von ihnen, kurz darauf auch die beiden neben ihm.

»Bist du irre? Was bist denn du für ein Spinner?«, lachen sie und müssen sich die Bäuche halten. »Bist du der neue Pastor von Düsseldorf, oder was?«

Immer noch in Angriffshaltung verzieht der Blondschopf keine Miene.

»Sein Vater ist der Pastor hier in Oberkassel«, quiekt der dicke Junge neben mir. Auf seinen kurzen braunen Haaren spiegeln sich die letzten Sonnenstrahlen des Tages und lassen seine Haut noch röter erscheinen, als sie ohnehin schon ist. Mein Mund ist staubtrocken. Innerlich stelle ich mich auf eine richtige Tracht Prügel ein. Doch mit jedem Atemzug weicht die Anspannung aus dem Körper des größeren Jungen, bis er schließlich seine Fäuste sinken lässt. Er dreht sich um und schüttelt den Kopf. »Was für Idioten.«

Es fliegen noch ein paar Steine in unsere Richtung, denen wir leicht ausweichen können. Wir beobachten die drei einige Zeit, bis sie in der flimmernden Luft verschwunden sind.