Copyright: © Junfermann Verlag, Paderborn 2009
3., überarb. Auflage 2018
Coverfoto: © 3005mario – Fotolia
Covergestaltung / Reihenentwurf: Junfermann Druck & Service GmbH & Co. KG, Paderborn
Satz, Layout & Digitalisierung: Junfermann Druck & Service GmbH & Co. KG, Paderborn
Alle Rechte vorbehalten.
Erscheinungsdatum dieser eBook-Ausgabe: 2018
ISBN der Printausgabe: 978-3-95571-682-0
ISBN dieses E-Books: 978-3-87387-856-3 (EPUB), 978-3-95571-129-0 (PDF), 978-3-95571-128-3 (MOBI).
Dieses Buch richtet sich an Menschen, die eine kurze Einführung in die Schematherapie suchen. Psychotherapeuten können sich hier kompakt über die methodischen Grundlagen, das systematische Vorgehen und die Techniken der Schematherapie informieren. Nicht jeder möchte gleich zu Beginn ein umfassendes Lehrbuch kaufen und lesen. Daneben will das Buch auch Sozialarbeitern, Beratern, nonverbal arbeitenden Therapeuten und Pflegemitarbeitern eine gut verständliche Übersicht geben. Dadurch können alle Mitarbeiter eines Teams die gleiche Therapiesprache sprechen und das therapeutische Milieu optimal mitgestalten.
Für Patienten, die sich auf eine Therapie vorbereiten wollen, empfehle ich in erster Linie das Buch „Raus aus den Lebensfallen“ (Roediger 2015, siehe Anhang). Es ergänzt das Selbsthilfebuch von Jeffrey Young und Janet Klosko[1], in dem die einzelnen Schemata ausführlich dargestellt und Hinweise zur Selbstveränderung (auch ohne Therapie) gegeben werden.
Das vorliegende Buch beschreibt das Modell sowie den Therapieablauf genauer und stellt die speziellen Therapietechniken dar. Gerade in der Schematherapie stellt die Vermittlung eines auf jeden Patienten „maßgeschneiderten“ Schematherapiemodells bereits zu Therapiebeginn ein wichtiges Element dar, um eine gute Arbeitsbeziehung aufzubauen.
Damit schließt dieses Buch die Lücke zwischen der Ratgeberliteratur und den Fachbüchern für Therapeuten von Jeffrey Young und anderen Autoren. Um der breiteren Zielgruppe gerecht zu werden, ist es in einer allgemeinen verständlichen Sprache gehalten. Die entsprechenden Fachausdrücke sind jeweils in Klammern ergänzt. Trotz eher allgemeinverständlicher Sprache sind die Inhalte wissenschaftlich fundiert. Weniger wissenschaftlich interessierte Leser mögen einzelne Abschnitte (z. B. im 2. und 8. Kapitel) überspringen. Im Sinne einer leichteren Lesbarkeit weden im Text nur wichtige Literaturhinweise gegeben und es wird auf die ausführlicheren Lehrbücher verwiesen. Im Anhang finden sich Hinweise auf weiterführende und vertiefende Literatur.
Der in diesem Buch beschriebene Schematherapieansatz fußt auf den Grundlagen, die Jeffrey Young in den letzten 25 Jahren in Amerika gelegt hat. In Deutschland ist die Entwicklung des Therapieverständnisses stark von dem integrativen Ansatz von Klaus Grawe geprägt, der versuchte, wissenschaftlich fundiert einen therapieschulenübergreifenden Therapieansatz zu formulieren. In diesem Buch versuche ich, die von Jeffrey Young konzipierte Schematherapie auf den von Grawe entwickelten Rahmen zu beziehen und zu zeigen, dass Menschen aus verschiedenen Richtungen kommend zu ähnlichen Konzepten finden, wenn sie konsequent und ohne Vorbehalte versuchen, eine optimale Therapie zu entwickeln. Vor diesem Hintergrund wurde das Modell an einigen Stellen erweitert und mit nahestehenden, in Deutschland populären Ansätzen in Beziehung gebracht. Auf diese Erweiterungen wird im Text jeweils hingewiesen.
Obwohl sich die Schematherapie in der ganzen Welt erfolgreich verbreitet, verläuft die Entwicklung in Deutschland besonders stürmisch. Neben den Niederlanden ist Deutschland das Land, in dem die Schematherapie am begeistertsten aufgenommen wird. Dies findet unter anderem darin seinen Ausdruck, dass die Internationale Schematherapiegesellschaft (ISST) unter intensiver Mitarbeit von deutschen Kollegen im Herbst 2008 als deutscher Verein gegründet wurde. Mittlerweile hat sie über 1000 Mitglieder in fast 50 Ländern.
Die rasante Entwicklung in Deutschland hat sicherlich damit zu tun, dass durch die theoretischen Vorarbeiten von Klaus Grawe hier eine besonders hohe Akzeptanz für den Schemabegriff und das integrative Anliegen der Schematherapie besteht. Die hier beschriebene Anwendung der Schematherapie stellt aus der Sicht des Autors eine erstaunlich konsequente praktische Umsetzung des Anliegens von Klaus Grawe dar, indem sie klärungsorientierte, erlebnisaktivierende Elemente besonders zu Therapiebeginn mit einer konsequenten Handlungs- und Veränderungsorientierung im zweiten Teil der Therapie verbindet. Diese beiden Therapieperspektiven werden eingebettet in eine sehr wertschätzende, authentische therapeutische Beziehung, die Unterstützung und Ermutigung mit sanft fordernder, empathischer Konfrontation ausbalanciert.
Ich wünsche nun allen Lesern viel Freude bei der Lektüre dieses Buches und hoffe, dass es zum Ausgangspunkt für eine weitergehende Beschäftigung mit der Schematherapie wird. Ich bitte um Verständnis dafür, dass ich als männlicher Autor im Sinne einer leichteren Lesbarkeit in diesem Buch überwiegend die männliche Form oder den Plural verwendet habe, außer wenn sich die Aussage nur auf Frauen bezieht.
Zuletzt darf ich allen Menschen danken, die zur Entstehung und dem Gelingen dieses Buches beigetragen haben. Namentlich danken möchte ich Jeffrey Young selbst für seinen Mut, sein Konzept so konsequent zu entwickeln und über viele Jahre trotz vieler Widerstände sich und seinem Anliegen treu zu bleiben. Auch Heinrich Berbalk gebührt mein Dank für sein großes Engagement, den Anfängen der Schematherapie in Deutschland den Boden bereitet zu haben, und für seine vielfältige Unterstützung und Supervision im Gemeinschaftskrankenhaus Havelhöhe in Berlin, wo 2004 mit seiner Hilfe die erste schematherapeutisch arbeitende Station in Deutschland entstand. Außerdem gebührt mein Dank allen Kollegen in der ISST und der deutschen Fachgruppe, die mit viel Einsatz zur Verbreitung der Schematherapie beitragen. Dem Verleger und der Lektorin verdanke ich, dass aus einem kargen Manuskript ein hübsches Büchlein wurde. Vor allem danke ich aber allen Patienten und Kollegen, denn durch die Arbeit mit ihnen in den Therapien, Supervisionen und den Workshops wurde für mich aus einer guten Theorie erst eine effektive Praxis. Wir alle dürfen durch den liebevollen und wertschätzenden Umgang miteinander gewinnen, den uns die Schematherapie lehren kann.
Die Grundlagen der in diesem Buch dargestellten Schematherapie wurden von Jeffrey Young in den USA gelegt. Er wurde zunächst von Joseph Wolpe, einem Pionier der Verhaltenstherapie, ausgebildet. Danach wechselte er an das Institut von Aaron Beck, dem Begründer der kognitiven Therapie, und gestaltete dort die Trainings- und Forschungsprogramme maßgeblich mit. Dabei bemerkte er, dass eine bestimmte Gruppe von Patienten nicht gut von der grundsätzlich erfolgreichen kognitiven Verhaltenstherapie profitierte. Es stellte sich heraus, dass das gerade die Patienten waren, bei denen neben einer Depression Veränderungen der Persönlichkeitsstruktur bzw. eine Persönlichkeitsstörung vorlagen. Diese Veränderungen bewirkten, dass die Patienten schlechter bei den kognitiven Therapiemaßnahmen mitarbeiten und die für die Therapie notwendigen Hausaufgaben weniger zuverlässig erledigen konnten. Jeffrey Young erkannte, dass dies nicht an einer mangelnden Motivation lag, sondern daran, dass in der therapeutischen Beziehung Emotionen aktiviert wurden, die diese Beziehung störten und die Mitarbeit erschwerten. Er sah, dass die zielorientierte Arbeitsbeziehung der Verhaltenstherapie bei diesen Patienten nicht ausreichte, eine tragfähige Beziehung aufzubauen, da bereits die Beziehungsaufnahme selbst durch Misstrauen oder andere störende Emotionen beeinträchtigt wurde. Eine wesentliche Erweiterung der Schematherapie gegenüber der kognitiven Verhaltenstherapie stellt daher die besondere Art der Beziehungsgestaltung dar, wie sie im Kapitel 5 beschrieben wird.
Die Interaktion zwischen Patient und Therapeut wird dadurch belastet, dass innerhalb der therapeutischen Beziehung frühere Beziehungserfahrungen der Patienten aktualisiert werden. Dies bedeutet, dass die Patienten unbewusst auch in der Therapie Entwertung, Im-Stich-gelassen-Werden, Beschämung oder Überforderung erwarten, „weil es früher immer so war“, und sich in Vorwegnahme dieser Enttäuschung entsprechend skeptisch und misstrauisch verhalten. Eine Therapie kann diese unbewussten Befürchtungen nicht umgehen, sondern muss sie gezielt bearbeiten, damit sie verändert werden können. In ihrer „Control-Mastery-Theorie“ sprechen Sampson und Weiss von „Beziehungstests“, die der Therapeut bestehen müsse[2]. Solche Verhaltensweisen der Patienten sind also nicht als Störungen der Arbeitsbeziehung zu verstehen, die möglichst vermieden werden sollen, sondern sie sollten zum Gegenstand der Therapie gemacht werden. Durch Kontakte mit der Gestalttherapie lernte Jeffrey Young Techniken kennen, die die emotionalen Aspekte dieser negativen Beziehungserfahrungen in der Therapie aktualisieren, klären und verändern können, und integrierte diese in seinen neu entwickelten Ansatz. Erst wenn die Patienten in einer sogenannten „korrigierenden emotionalen Erfahrung“ erleben, dass sich in der therapeutischen Beziehung nicht die negativen früheren Erfahrungen wiederholen, sinkt ihre innere Anspannung und sie sind imstande, die kognitiven und verhaltensbezogenen Therapiemaßnahmen optimal zu verstehen und umzusetzen.
Die neurobiologische Forschung zeigt, dass das Beziehungsverhalten von Menschen wesentlich durch frühe Erfahrungen und weitgehend unbewusst gesteuert wird. Auf diese unbewussten Prozesse wird durch die erlebnisaktivierenden Verfahren (z. B. Imaginationsübungen) Einfluss genommen, indem die unbewusste Verhaltenssteuerung ins Bewusstsein gehoben wird. Dadurch werden sie dem bewussten Denken (den sogenannten Kognitionen) zugänglich gemacht. Im zweiten Schritt wird dann durch bewusste Denkprozesse auf die emotionalen Aktivierungen korrigierend Einfluss genommen. Bildlich gesprochen: Die emotionale Verhaltenssteuerung wird kognitiv „übersteuert“. Da die Prozesse der bewussten Verhaltenssteuerung ihren Sitz in den frontalen kortikalen Regionen des Gehirns haben, spricht man im Englischen von einem „cortical override“. Durch die emotionsaktivierenden Techniken, insbesondere die Imaginationsverfahren (siehe Kap. 6.2.1), können die Patienten intensiv erleben, wie sich in der Vergangenheit angelegte Erlebensmuster regelrecht in die Gegenwart „hineinschieben“. Die Vergangenheit beeinflusst somit fortdauernd das Verhalten in der Gegenwart und verstellt dadurch die Zukunft (siehe Kap. 2.1). Wenn Patienten diese Zusammenhänge durchschauen, sind sie eher bereit, sich von ihren spontanen, automatisierten Verhaltensimpulsen zu lösen und neue Verhaltensmuster unter kognitiver Steuerung aufzubauen. Die Schematherapie bietet dazu ein klar strukturiertes Konzept mit einer Folge von aufeinanderfolgenden Therapieschritten an.
Bisher gab es in der Verhaltenstherapie als spezifische Methoden zur Behandlung von Persönlichkeitsstörungen nur die Dialektisch-Behaviorale Therapie (DBT) von Marsha Linehan[3], die allerdings vor allem auf das selbstschädigende und therapiegefährdende Verhalten von Patienten mit Borderline-Störungen abzielt. Die Schematherapie stellt nun eine zweite Therapiemethode dar, die individuell auf die Persönlichkeitsstruktur der einzelnen Patienten zugeschnitten werden kann und ebenfalls weitgehend manualisiert (d. h. im Ablauf vorstrukturiert) ist. Damit ist die Schematherapie nicht nur für Menschen mit Borderline-, sondern mit allen Persönlichkeitsstörungen bzw. -zügen geeignet und damit breiter anwendbar. Die guten Ergebnisse der ersten kontrollierten Therapiestudien (siehe Kap. 8) geben Anlass zu der Hoffnung, dass die Schematherapie in Zukunft zu einem Standardverfahren in der Verhaltenstherapie zur Behandlung von Persönlichkeitsstörungen oder Persönlichkeitsakzentuierungen werden kann. Dies führt zur folgenden Frage:
Bei der Behandlung psychischer Störungen wird unterschieden zwischen Methoden, die sich primär an die vordergründige Symptomatik richten, und solchen, die versuchen, die dahinter liegende Persönlichkeitsstruktur zu beeinflussen. Erfüllt eine belastete Persönlichkeitsstruktur (noch) nicht die Diagnosekriterien des ICD, kann man von einer Persönlichkeitsakzentuierung sprechen. Die kognitive Verhaltenstherapie hat sich bei der Behandlung von Symptomen als erfolgreich erwiesen. Die Schematherapie versucht nun, kognitiv-verhaltenstherapeutische Techniken mit Techniken aus anderen Therapiemethoden zu kombinieren, um auch Persönlichkeitsstörungen erfolgreich behandeln zu können. Auch wenn keine ausgesprochene Persönlichkeitsstörung vorliegt, werden durch unvorteilhafte (dysfunktionale) Verhaltensweisen viele Störungen aufrechterhalten oder sogar hervorgebracht, die im Rahmen der Persönlichkeitsentwicklung erworben wurden. Im Sinne der Konsistenztheorie vom Klaus Grawe (siehe Kap. 2.2) entwickelt sich die Persönlichkeitsstruktur eines Menschen als Anpassungsleistung an seine Lebensbedingungen in der Kindheit. Wenn diese Anpassungsleistungen die innere Konsistenz (d. h. „Stimmigkeit“) nicht mehr herstellen können, entwickeln die Menschen als weitergehenden Anpassungsversuch klinische Störungen und deren Symptome (siehe Abb. 3). Bei vielen Störungen bestehen daher im Hintergrund auch Persönlichkeitsveränderungen, die dazu führen können, dass nach einer erfolgreichen symptomatischen Behandlung rasch wieder Symptome auftreten, wenn nicht auch die Persönlichkeitsstruktur in die Behandlung mit einbezogen wird. Vor diesem Hintergrund ist es bei vielen Patienten sinnvoll, nach einem ersten Behandlungsabschnitt mit symptombezogenen Maßnahmen in einem zweiten Schritt auch Veränderungen im Bereich der Persönlichkeitsstruktur anzustreben. Im Sinne der Minimalintervention sollte jedoch zunächst geprüft werden, ob durch eine symptombezogene Behandlung eine ausreichende Verbesserung und Stabilität erreicht werden kann. Erst wenn sich im Therapieverlauf zeigt, dass deutliche Veränderungen des zwischenmenschlichen Verhaltens (sogenannte Beziehungs- oder Interaktionsstörungen) bestehen, sollten diese mit den spezifischen schematherapeutischen Techniken angegangen werden. In diesem Sinne erweitert die Schematherapie die Verhaltenstherapie mit zusätzlichen Techniken. Damit ist sie innerhalb eines verhaltenstherapeutischen Gesamtbehandlungsplanes in der sogenannten Richtlinien-Psychotherapie anerkannt und wird von den gesetzlichen oder privaten Krankenversicherungen erstattet.
Man kann die Indikation zu einer Schematherapie auch noch aus einem anderen Blickwinkel betrachten, nämlich dem der Bindungsforschung, die maßgeblich von John Bowlby und seiner Schülerin Mary Ainsworth aufgrund ihrer Beobachtungen an Kleinkindern begründet wurde[4]. Sie untersucht und beschreibt, wie sich bereits in den ersten Lebensmonaten durch die Interaktion zwischen den Bezugspersonen und dem Kind Verhaltensmuster herausbilden, die dann über das weitere Leben stabil bleiben. Dabei werden sichere von unsicheren Bindungsformen unterschieden (siehe Kap. 2.3). In der Allgemeinbevölkerung haben etwa zwei Drittel der Menschen sichere Bindungen, bei Psychotherapiepatienten überwiegen dagegen mit 80 bis 90 Prozent die unsicheren Bindungen. Menschen mit einer unsicheren Bindung reagieren auf Trennungen mit erhöhtem Stress, den sie durch spannungsreduzierende Verhaltensweisen bis hin zu Krankheitssymptomen aufzulösen versuchen. Die verhaltenstherapeutischen Techniken wirken nicht gezielt verändernd auf die Bindungsformen, sodass sich die hintergründigen dysfunktionalen Verhaltensmuster am Ende der Behandlung wieder durchsetzen und erneut Symptome hervorbringen können. Die Schematherapie versucht dagegen durch ihre besondere Form der Beziehungsgestaltung die Bindungsstörung zu beeinflussen und eine sogenannte „erworbene sichere Bindung“ aufzubauen. Menschen mit einer erworbenen sicheren Bindung sind in Testverfahren zur Erfassung des Bindungsstils von Erwachsenen (Adult Attachment Inventory nach Main) nicht von Menschen mit einer primär sicheren Bindung zu unterscheiden. Man könnte daher sagen, dass die Schematherapie Bindungsstörungen „heilen“ kann. Wie dieser hohe Anspruch eingelöst werden soll, wird in Kapitel 5 beschrieben.
Die Psychotherapie hat bisher zwei Hauptverfahren hervorgebracht: die sogenannten psychodynamischen Verfahren, die aus der Psychoanalyse heraus entwickelt wurden, und die Verhaltenstherapie als praktische Anwendung der wissenschaftlichen psychologischen Forschung. Während der Schwerpunkt der psychodynamischen Verfahren darin besteht, Einsicht in die Entstehung der Störungen zu schaffen, war die Verhaltenstherapie zunächst ganz handlungsorientiert und hat das innere Erleben der Patienten nicht berücksichtigt. Von diesen beiden Polen aus haben sich die Verfahren inzwischen allerdings erheblich aufeinander zubewegt. Klaus Grawe wurde Anfang der 1990er-Jahre von der deutschen Bundesregierung beauftragt, die bestehenden Psychotherapieverfahren zu beforschen[5]. Aus den Ergebnissen forderte er für eine aus seiner Sicht optimale Psychotherapie eine Verbindung der durch die beiden Hauptverfahren repräsentierten Grundorientierungen. Außerdem stellte er fest, dass die Qualität der therapeutischen Beziehung entscheidend für eine erfolgreiche Psychotherapie sei. Er formulierte vier Wirkfaktoren, die in einer Psychotherapie verwirklicht werden sollten:
Die Schematherapie erfüllt diese Anforderungen und stellt damit die von Grawe gewünschte Verbindung zwischen den großen Therapieschulen her.
Eine weitere Stärke der Schematherapie ist, dass sie sich in ihrem Konzept und ihren Begrifflichkeiten relativ dicht an neurobiologischen Prozessen orientiert. Damit kann sie Vorgänge, die auch die psychodynamischen Verfahren beschreiben, so formulieren, dass sie sich bruchlos in eine verhaltenstherapeutische Fallkonzeptualisierung integrieren lassen. Alle Techniken der Schematherapie bauen systematisch auf dieses Modell auf, auch wenn sie aus anderen Therapiemethoden entlehnt sind (wie z. B. die Imagination aus der Hypnotherapie oder die „Dialoge auf Stühlen“ aus der Gestalttherapie). Damit ist die Schematherapie kein „Therapie-Potpourri“ (bzw. eklektizistisch), sondern eine wirklich integrative, in sich stimmige (konsistente) Methode mit einem systematischen und strukturierten, schrittweisen Vorgehen im Therapieverlauf, das fast Manualcharakter erreicht (d. h.: der Therapieablauf ist vorstrukturiert, kann und muss aber flexibel an den Patienten und den Therapieverlauf angepasst werden).
Die Schematherapie integriert so in sehr komplexer Weise die Ergebnisse der neurobiologischen Forschung, der Lerntheorie, die Ergebnisse der Bindungsforschung, kognitive Techniken, den Expositionsansatz, imaginative Verfahren, Elemente der Gestalttherapie, die Arbeit mit in der Therapiesituation aktivierten Emotionen, eine achtsame und akzeptierende Grundhaltung, den Aufbau einer selbstreflexiven Haltung entsprechend der sogenannten mentalisierungsbasierten Therapie, aber auch den systematischen Einsatz von Arbeitsblättern und übenden Elementen bis hin zu Hausaufgaben, die aus der Verhaltenstherapie vertraut sind. Durch dieses integrative Konzept erkennen sich viele Therapeuten verschiedener Richtungen in der Schematherapie wieder, fühlen sich angezogen und erleben das systematische Vorgehen als Bereicherung ihrer Arbeit. Im Weiteren wird beschrieben, wie dieser hohe und vielleicht anmaßend wirkende Anspruch eingelöst werden soll.
Zuletzt soll noch auf einen weiteren Aspekt der Schematherapie hingewiesen werden: Eines ihrer wesentlichen Ziele besteht darin, sich von den primär emotional gesteuerten Prozessen innerlich zu distanzieren, indem eine „selbstreflexive Haltung“ eingeübt wird. Das bedeutet, dass man versucht, sich selbst mit einem „inneren Auge“ so zu betrachten, wie einen eine wohlwollende Person von außen betrachten würde. Manchen Menschen fällt es leichter, sich wie aus der Vogelperspektive oder durch eine Kamera von außen anzuschauen. Aus dieser Haltung heraus kann eine innere Distanz zu den aktuell herandrängenden Gefühlen aufgebaut werden und es entsteht eine größere Freiheit. So können langfristig wichtige persönliche Werte und Ziele ins Auge gefasst und für Verhaltensänderungen handlungsleitend werden. Damit ist die Schematherapie offen für philosophisch-spirituelle Ziel- oder Werteorientierungen und eine entsprechende Persönlichkeitsentwicklung (siehe auch Kap. 9). Die Schematherapie versucht in diesem Sinne den sogenannten Leib-Seele-Dualismus (d. h. die Spaltung in seelische und körperliche Prozesse) zu überbrücken. So wie in der Kindheit durch emotional gesteuerte Prozesse alte automatische Reaktionen im Sinne von LeDoux[6] in die neuronale Struktur „eingebrannt“ werden, können in einer Psychotherapie gedanklich gefasste neue Werte und Ziele durch Übung auf dem Wege der sogenannten Langzeitpotenzierung ebenso nachhaltig in entsprechende synaptische Übertragungsstärken zwischen den Nervenzellen umgesetzt werden (siehe Kap. 2.1).
Während die tiefer gelegenen (subkortikalen) Hirnstrukturen bei der Geburt weitgehend ausgereift sind, entwickelt sich der Aufbau der Hirnrinde (des Kortex) abhängig von den Beziehungserfahrungen in den ersten Lebensmonaten (Social-Brain-Hypothese). Das Maximum an neuronaler Verknüpfung besteht im Alter von ca. 18 Monaten. Abhängig von den Erlebnissen und den entsprechenden Aktivierungszuständen bilden sich die Verknüpfungen zwischen den Nervenzellen aus. Das heißt: Das Gehirn prägt seine Erlebnisse in seiner neuronalen Struktur wie Fußabdrücke ein. Diese neueren Erkenntnisse bestätigen die alte Hypothese der Psychoanalyse, dass die ersten zwei Lebensjahre entscheidend für die spätere Entwicklung des Menschen seien.
Das Gehirn des Säuglings bildet zunächst spontan eine Überzahl von Neuronen aus. Bestimmte Sinnesreize führen zu einer zunächst zufälligen Aktivierung einer bestimmten neuronalen Gruppe. Tritt diese Aktivierung wiederholt, lange anhaltend, sehr intensiv und vor allem verbunden mit emotionalem Erleben auf, werden neben den normalen Rezeptoren zusätzlich die sogenannten NMDA-(N-Methyl-D-Aspartat)-Rezeptoren aktiviert. Durch diese Rezeptoren strömt Kalzium in die Nervenzelle ein, das eine komplexe Kaskade von Botenstoffen in Gang setzt. Am Ende dieser Kette werden diejenigen Genabschnitte, die das Ablesen der genetischen Information regulieren (sogenannte Regulatorgene), in ihrem Methylierungszustand verändert und damit an- bzw. abgeschaltet. (Die Regulatorgene machen 42 % des gesamten Genoms aus, die eigentliche genetische Information nur 1,4 %!) Dadurch wird auf die Eiweißsynthese Einfluss genommen. Bei Aktivierung werden vermehrt Eiweiße gebildet und in die Nervenendigungen transportiert, wo sie kleine Aussprossungen (sogennante dentritische Spines) bilden.
Abbildung 1: Das neuronale Netz
Schemas.ModusKap. 34