Uwe Klausner
Engel der Rache
Bruder Hilperts fünfter Fall
TODESENGEL Rothenburg ob der Tauber im Jahre 1418. Geheimnisvolle Vorfälle halten die Freie Reichsstadt in Atem. Am Anfang steht der Selbstmord einer 14-jährigen Färbertochter, deren eilig bestatteter Leichnam auf rätselhafte Weise verschwindet. Kurze Zeit später schlägt der Leichendieb erneut zu, dieses Mal in der Franziskanerkirche. Dort ist Egberta Tuchscherer aufgebahrt, Spross eines alteingesessenen Patriziergeschlechts. Auch dieser Leichnam verschwindet spurlos. Als dann auch noch die lebenslustige, junge Frau des Baders tot aufgefunden wird, macht sich große Angst breit. Ein Glück für Bruder Alban, graue Eminenz des örtlichen Franziskanerkonvents, dass er genau im richtigen Moment Besuch erhält. Handelt es sich dabei doch um keinen Geringeren als Bruder Hilpert, Bibliothekarius des Klosters Maulbronn und über die Mauern der altehrwürdigen Reichsstadt hinaus bekannter Meisterdetektiv. Mit von der Partie ist dessen Freund Berengar von Gamburg. Konfrontiert mit der Bitte seines Gastgebers, den mysteriösen Leichendiebstahl in der Franziskanerkirche aufzuklären, beginnt Hilpert mit den Ermittlungen …
Uwe Klausner wurde in Heidelberg geboren und wuchs dort auf. Sein Studium der Geschichte absolvierte er in Mannheim und Heidelberg, die damit verbundenen Auslandsaufenthalte an der University of Kent in Canterbury und an der University of Minnesota in Minneapolis/USA. Heute lebt er mit seiner Familie in Bad Mergentheim. Neben seiner Tätigkeit als Autor hat er bereits mehrere Theaterstücke verfasst, darunter »Figaro – oder die Revolution frisst ihre Kinder“ (2007). Anlässlich des 500-jährigen Jubiläums der Reformation wurde sein Einakter „Mensch, Martin!“ im Rahmen einer Freilichtaufführung erstmals dem Publikum präsentiert.
Bisherige Veröffentlichungen im Gmeiner-Verlag:
Kriminalromane
Stadtguerilla (2019)
Staatskomplott (2017)
Blumenkinder (2016)
Führerbefehl (2015),
Stasi-Konzern (2014)
Walküre-Alarm (2014)
Eichmann-Syndikat (2012)
Kennedy-Syndrom (2011)
Bernstein-Connection (2011)
Odessa-Komplott (2010)
Walhalla-Code (2009)
Historische Romane
Die Ehre der Prätorianer (2018)
Sisis letzte Reise (2018)
Der Sturz des Ikarus (2017)
Pseudonym – das Shakespeare-Komplott (2016)
Die Fährte der Wölfe (2015)
Die Stunde der Gladiatoren (2013)
Engel der Rache (2012)
Die Bräute des Satans (2010)
Pilger des Zorns (2009)
Die Kiliansverschwörung (2009)
Die Pforten der Hölle (2007)
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Alle Rechte vorbehalten
2. Auflage 2019
Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt
Herstellung: Julia Franze
E-Book: Mirjam Hecht
Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart
unter Verwendung des Bildes »Porträt einer Frau« von
Rogier van der Weyden; http://commons.wikimedia.org/wiki/File:Rogier_van_der_Weyden_029.jpg?uselang=de
Kartendesign: Ingenieurbüro Schwegler, Vogelherd 8, 74937 Spechbach
Druck: CPI books GmbH, Leck
Printed in Germany
ISBN 978-3-8392-3862-2
Hilpert von Maulbronn, Bibliothekarius
Berengar von Gamburg, Vogt des Grafen von Wertheim
Irmingardis, seine Verlobte
(in der Reihenfolge des Erscheinens)
Friedhelm, Henker zu Rothenburg
Jutta Küchenmeister von Nordenberg1, Priorin des Dominikanerinnenklosters
Deodatus, Müllkärrner
Laurenz Tuchscherer, verwitweter Patrizier
Melusine, Bademagd und Stieftochter von Violante
Violante ASCHENBRENNER, Badersgattin
Bruder Alban, Lektor des Franziskanerklosters
Bruder Clemens, Kustos
Vinzenz Leberecht, Bürgermeister der Stadt Rothenburg
Heinricus Nyeß, Notarius
Heinrich Bermetter, Stadtrat und Schwager von Laurenz Tuchscherer
Chlotilde Wernitzer, Schwiegermutter Tuchscherers
Irmtrud, Amme und Heilerin
Bartholomäus Aschenbrenner, Bader
Schwester Scholastika, Infirmaria der Dominikanerinnen
1 kursiv: historisch fassbare Personen
Rothenburg ob der Tauber, Anno Domini 1418
(für die Monate März bis September):
Ende der
1. Stunde: 06.00 h
2. Stunde: 07.00 h
3. Stunde: 08.00 h
4. Stunde: 09.00 h
5. Stunde: 10.00 h
6. Stunde: 11.00 h
7. Stunde: 12.00 h
8. Stunde: 13.00 h
9. Stunde: 14.00 h
10. Stunde: 15.00 h
11. Stunde: 16.00 h
12. Stunde: 17.00 h
am 17. März 1418 (Würzburg): 05:27 h / 17:23 h
am 18. März 1418 (Würzburg): 05:25 h / 17:25 h
Fuß oder Schuh: 0,302 m
Elle: 0,590 m (zwei Fuß)
Klafter: 1,806 Meter (drei Ellen)
Rute: 3,930 m (13 Fuß)
(Quelle: Kriminalmuseum Rothenburg ob der Tauber)
Ein Gulden = drei Pfund = 20 Schillinge = 240 Pfennige (1380)
Waagemeister: 100
Arzt: 76
Henker: 53
Türmer: 50
Wächter: 31 – 40
Stadtschreiber: 10
Stadtpfeifer: 06
Trommler: 05 Pfund Heller
Kaufpreis eines Hauses: 50 Gulden
(Quelle: E. W. Heine, Toppler. Ein Mordfall im Mittelalter, Zürich 1992, S.66-67)
Guardian (Klostervorsteher)
Vizeguardian
Lektor (Lesemeister)
Kustos (Sakristan)
Konfessor (Beichtvater)
Novizenmeister
Prediger (und Stellvertreter)
Terminarier
umherziehende Brüder, zuständig für Gottesdienst, Seelsorge und Abnahme der Beichte
Des Weiteren: Knechte, Köche, Schaffner (Verwalter) etc.
Universität Heidelberg
(Freitag, 25. Februar 1418)
Augustinerkloster2, eine halbe Stunde vor dem Mittagsläuten │[11.30 h]
»Und nun, Vorschneider, waltet Eures Amtes!«
Knapp zwei Dutzend Studenten, Bruder Hilpert mit eingeschlossen, wichen instinktiv zurück, als sich der schafsäugige und mit dunkler Robe sowie roter Samtkappe bekleidete Prosektor3 auf Geheiß des Professors einen Weg durch ihre Reihen bahnte und mit ausdrucksloser Miene an den Seziertisch trat. Vorlesungen waren eine Sache, Sektionen etwas ganz anderes. Das war den zukünftigen Doctores bewusst. Entsprechend gedämpft war die Stimmung, hatten doch allerlei Gerüchte, makabere Details und sogar Spottverse die Runde gemacht.
Doch nun, in der Vorlesung über die Geschichte der Medizin, gab es kein Zurück mehr für sie. Das galt auch für Bruder Hilpert, Bibliothekarius des Klosters Maulbronn, der dem Ereignis mit gemischten Gefühlen entgegensah. Von Natur aus ein wissbegieriger Mensch, hatten ihn bis zuletzt Zweifel geplagt, aber da er sich keine Blöße geben wollte, ließ er sich nichts anmerken und heftete den Blick auf die weiß getünchte Wand hinter dem Seziertisch, an der ein lateinischer Sinnspruch zu lesen war: ›Hic est locus, ubi mors gaudet succurrere vitae‹4 hieß es da, was Bruder Hilpert aufgrund einer Sehschwäche, welche ihm immer häufiger zu schaffen machte, nur mit Mühe entziffern konnte.
Auf ein Zeichen des Professors, der dank eines erhöhten Sitzplatzes am Fußende den besten Überblick besaß, trat sein Famulus5 an das Kopfende des in der Mitte des Kapitelsaales postierten Schragentisches. Dann schlug er das Leinentuch zurück, mit dem der für die Sektion ausgewählte Leichnam verhüllt gewesen war. Bruder Hilperts Schätzung zufolge war der Tote, auf den sich die Blicke richteten, in seinem Alter, also Mitte dreißig. Beim Anblick des bläulich roten Striemens an seinem Hals erübrigte sich jeglicher Kommentar, und der hagere Bibliothekarius fragte sich im Stillen, was der dunkelhaarige, kräftige und mittelgroße Mann, von dem die Leichenstarre komplett Besitz ergriffen hatte, auf dem Kerbholz gehabt haben mochte.
Da diese Frage eine akademische war, schob der Zisterziensermönch sie beiseite und konzentrierte sich auf die Erläuterungen des Professors, der wie Gottvater über den Häuptern seiner Eleven thronte und abwartete, bis der Prosektor seine Instrumente ausgepackt, das Skalpell zur Hand genommen und den Körper des Unbekannten vom Brustbein bis zum Becken aufgetrennt hatte. Manch einer der Umstehenden wich beim Anblick der wie Magma aus dem Abdomen6 hervorquellenden Darmschlingen entsetzt zurück. So auch Bruder Hilpert, der sich der Ablenkung halber auf die Gesichter der Umstehenden und den knapp 50 Jahre alten und mit einer nicht gerade wohlfeilen Robe mit weiten Ärmeln bekleideten Professor konzentrierte. Dieser wiederum, sich seiner Würde durchaus bewusst, machte es spannend, schien das makabere Spektakel förmlich zu genießen. »Wie ihr, Discipuli7, erkennen könnt«, ließ er sich schließlich herab, das Wort an die Mitglieder der Medizinischen Fakultät zu richten, etliche gerade einmal halb so alt wie der Bibliothekarius, »hat mein wackerer Famulus bei seinem Schnitt das Omentum8 durchtrennt und die Gedärme freigelegt, welche ihr vor euch auf dem Seziertisch liegen seht. Würde vielleicht jemand die Güte besitzen und sie in den Eimer dort drüben … sei bedankt, Laurentius Mittermeier, für deine Hilfe.« Der Angesprochene, offenbar einer der unteren Semester, kam der Bitte des Professors eilfertig nach, musste jedoch seine ganze Selbstüberwindung aufbieten, um die übel riechenden, triefenden und glitschigen Schlingen einzusammeln und in das bereitstehende Behältnis zu stopfen.
Bruder Hilpert wandte sich schaudernd ab. Ganz anders der offenbar grenzenlos von sich überzeugte Professor, der nach einem amüsierten Räuspern mit seinen Erläuterungen fortfuhr. »Wie jedermann weiß«, dozierte er mit majestätischem Blick auf sein Publikum, welches ihn wie eine verschüchterte Schafherde umlagerte, »kann man nur dann einen ungehinderten Blick auf die inneren Organe unserer Spezies werfen, wenn zuvor der Dünndarm entfernt worden ist. Eine Aufgabe, der Ihr Euch, Famulus, nunmehr widmen werdet. Nicht gerade einfach, wenn man bedenkt, dass es beileibe nichts Ungewöhnliches ist, wenn der Dünndarm eine Länge von über elf Ellen9 erreicht. Eine Distanz, welche annähernd der Breite dieses Raumes entspricht. Im Anschluss daran gilt es, mithilfe des Requisits, zu dem mein furchtloser Helfer in diesem Moment greift, die Knochen des Brustkorbs zuerst zu brechen und im Anschluss daran zu entfernen. Nur so, erlauchte Magnifizenzen, wird es uns möglich sein, einen Blick auf das Innere des Thorax10 zu werfen und die Organe, welche Gegenstand meiner heutigen Ausführungen sind, genauer in Augenschein zu nehmen. Einstweilen irgendwelche Fragen?« Der Professor machte eine kurze Pause, zupfte die Robe zurecht und blickte seine Schüler, von denen etliche der Ohnmacht nahe waren, der Reihe nach an. Wie nicht anders zu erwarten, wagte niemand, das Wort zu ergreifen, und so setzte er seine Ausführungen fort. »Nein? Wenn dem so ist, möchte ich mit meinem Diskurs fortfahren. Im Folgenden, Discipuli, werden wir uns näher mit den Organen befassen, welche dank der fachkundigen Handgriffe des Prosektors nunmehr besser zu erkennen sind. Ad rem!11 Wie so häufig, geschätzte Studiosi, ist es das bleibende Verdienst des Hippokrates, Licht ins Dunkel heidnischer Vorstellungen und Mutmaßungen gebracht zu haben, war er doch der Erste, dem es gelang, Sinn und Zweck der wichtigsten Organe auf – wie ich meine – bislang unübertroffene Art und Weise zu erläutern. Beginnen wir mit dem Herzen, auf das unser ehrenwerter Prosektor gerade mit seinem Zeigestock deutet. Das Herz, von alters her Sitz menschlicher Leidenschaften, ist durch unauflösbare Bande mit dem Blut verknüpft, desgleichen die gelbe Galle mit der Leber, die schwarze mit der Milz und der Schleim mit dem Gehirn. Dementsprechend weist der menschliche Corpus vier verschiedene Säfte auf, welche ihrerseits mit den vier Elementen – also Luft, Feuer, Erde und Wasser – in Beziehung gesetzt werden können. Das heißt, die Luft entspricht dem Blut, das Feuer der gelben, die Erde der schwarzen Galle und das Wasser zu guter Letzt dem Schleim. Sind die oben erwähnten Körpersäfte gleichmäßig auf den menschlichen Organismus verteilt und befinden sich im Einklang miteinander, wird demjenigen, welcher sie beherbergt, schwerlich Böses widerfahren. Mit einem Wort: Er wird sich, so Gott will, allzeit bester Gesundheit erfreuen und allzeit guten Mutes sein. Gewinnt jedoch einer der Säfte die Oberhand, wird dies dem Betreffenden unter Umständen große Pein zufügen, je nachdem, ob es sich um Sanguiniker, Choleriker, Melancholiker oder Phlegmatiker handelt. Steht doch unwiderruflich fest, dass das Blut heiß und feucht, die gelbe Galle heiß und trocken, die schwarze kalt und trocken, und der Schleim, welcher das Gehirn durchströmt, bei jedem von uns kalt und feucht ist. Ergo: Es gilt, unsere Leidenschaften zu zügeln, ganz gleich, wie sie beschaffen sein mögen. Auf dass der Weltenverderber, auch Satan genannt, zu keiner Zeit die Oberhand über uns gewinnen möge!« Berauscht von den eigenen Worten, zog der Professor sein Schweißtuch unter der Robe hervor, betupfte die hohe, von schwindender Haarpracht bekränzte Stirn und fügte triumphierend hinzu: »Was für Hippokrates gilt, wurde im Übrigen durch allerlei Koryphäen bestätigt, per exemplum durch Galen, Leibarzt des römischen Kaisers Marcus Aurelius12, durch Plinius den Älteren13 sowie auch durch Pedanios Dioskurides14, woraus folgt, dass …«
»Irren menschlich ist und besagte Herren völlig vergreiste Quacksalber waren!«
»… die von mir vorgetragenen Sachverhalte wohl fundiert und unwiderlegbar … was habt Ihr gerade eben gesagt?«
Aller Augen, auch die des Prosektors, dem der Zeigestab vor Schreck beinahe aus der Hand gerutscht wäre, waren zunächst auf Bruder Hilpert gerichtet, wandten sich jedoch unmittelbar darauf der Gestalt zu seiner Linken zu, welche sich von den übrigen Anwesenden allein schon aufgrund ihrer Kleidung unterschied. Bruder Hilpert wunderte sich, warum ihm die Person im schwarzen Umhang nicht schon früher aufgefallen war, unterschied sie sich doch komplett von den übrigen Studenten, von denen einer den anderen in puncto Kleidung zu übertrumpfen versuchte. Viel zu sehen war von ihrem Gesicht indessen nicht, dank einer Kapuze, welche der Gestalt beinahe bis zur Nasenspitze reichte und die Augenpartie komplett verhüllte. Das einzig Auffällige an ihrer Gewandung, unter der ein Paar schwarze Stiefel hervorlugten, war die silberne Spange, welche das pechschwarze Gewand zusammenhielt und dem Geschöpf ein beinahe mystisches Gepräge verlieh.
»Wer gibt Euch das Recht, unaufgefordert das Wort zu ergreifen – sprecht!«
Ohne einen Blick auf die Umstehenden zu verschwenden, verharrte die schwarz gewandete Gestalt auf der Stelle und stierte mit gesenktem Blick vor sich hin. Dann aber, der Gaffer offenbar überdrüssig, stieß sie ein verächtliches Schnaufen aus, machte eine wegwerfende Geste und wandte sich zum Gehen.
Zurück blieben zwei Dutzend Medizinstudenten, die Gesichter immer noch schreckensbleich, ein in seiner Ehre gekränkter Professor und ein fassungsloser Prosektor, der wie sein Herr und Meister vergeblich nach Worten rang. Zurück blieb aber auch ein hagerer Mittdreißiger im Habit der Zisterzienser, der den Vorfall, dessen Zeuge er gewesen war, so schnell nicht vergessen würde.
*
»Nanu, welche Laus ist denn dir über die Leber gelaufen?«, rief Berengar von Gamburg, Vogt des Grafen von Wertheim, schon von Weitem aus, als er Bruder Hilpert einsam und frierend am Rande des Kornmarktes stehen sah. Gegen die klirrende Kälte war kein Kraut gewachsen und ihm war, als seien seine Kukulle15, die dazugehörige Tunika16 und die Beinkleider aus Schafswolle samt den kuhledernen Schuhen aus Papier. Vom Turm der Heiliggeistkirche, nur einen Steinwurf weit entfernt, erklang gerade das Mittagsläuten, was Bruder Hilpert, dessen vergrübelte Miene sich beim Auftauchen seines besten Freundes kaum merklich erhellte, jedoch kaum wahrzunehmen schien. »Nichts für schwache Nerven, so eine Sektion, hab ich Recht?«
»Als ob ich das nicht schon vorher gewusst hätte, Berengar.«
»Wollt ihr wohl aufhören, euch zu zanken!«, kam Irmingardis, Berengars Verlobte, einer launigen Bemerkung ihres künftigen Gatten zuvor, hakte sich bei ihm und Bruder Hilpert unter und zog das ungleiche Paar mit sich fort. Dann richtete sie das Wort an Hilpert und fragte: »War es wirklich so schlimm?«
»Wie man’s nimmt!«, seufzte Bruder Hilpert, in sich gekehrt und noch eine Idee blasser als sonst. »Mein Fall war es jedenfalls nicht.«
»Und das ausgerechnet von dir!«, amüsierte sich Berengar, knapp 31 Jahre alt, beinahe sechs Fuß groß und von kräftiger Statur, die unter seinem Leinenhemd, dem schwarzblau gestreiften Wams mit den geschlitzten Puffärmeln und dem Überwurf aus Schaffell mehr als deutlich zur Geltung kam. »Schon vergessen, was wir in den letzten zwei Jahren erlebt haben?«
»Wie könnte ich!«, erwiderte Bruder Hilpert, während das verschworene Trio die Heiliggeistkirche passierte und auf die Schenke zusteuerte, wo Berengar und seine Verlobte Quartier genommen hatten. Bruder Hilpert fand zwar, dass sich das nicht gehörte, und hätte es lieber gesehen, wenn die beiden bis zu ihrer Hochzeit etwas mehr auf Sitte und Anstand geachtet hätten, unterließ es aber, seinen Freund zur Rede zu stellen. »Ein Grund mehr, nach Maulbronn zurückzukehren.«
»Das ist doch wohl ein Scherz, oder? Kann es sein, dass du deine Pflichten ein wenig zu ernst nimmst?«
»Apropos ›Pflichten‹ – hat sich das Verhältnis zwischen deinem Herrn und dem Kurfürsten wieder eingerenkt?«
»Soweit man das sagen kann – ja. Sieht so aus, als hätten sich die beiden zusammengerauft. Und weißt du, was das Beste daran ist? Er hat mir bis Pfingsten freigegeben. Überaus christlich, findest du nicht auch?«
»Bis Pfingsten? Alle Achtung. Genug Zeit, um allerlei gottgefällige Werke zu tun.«
»Du sagst es!«, pflichtete Irmingardis mit dem für sie typischen Lachen bei und warf ihm ein strahlendes Lächeln zu, wodurch sich die Vorbehalte, welche er in moralischer Hinsicht hegte, einstweilen in Luft auflösten. Irmingardis war nicht nur hübsch anzuschauen, was selbst ihm, der er seine Gelübde abgelegt hatte, nicht verborgen geblieben war, sondern trotz ihres Alters von knapp 24 Lenzen bereits eine lebenskluge und den Fährnissen des Erdendaseins in jeder Hinsicht gewachsene Frau. Ein Blick ihrer Rehaugen, und Berengar schmolz förmlich dahin, was Bruder Hilpert, der von der Tochter aus betuchtem Würzburger Patrizierhause überaus angetan war, ein ums andere Mal das Herz erwärmte. Wäre er Maler oder Bildhauer geworden und auf der Suche nach einem passenden Modell für eine Madonna gewesen, hätte er gewusst, für wen er sich entscheiden würde. »Weshalb wir Tante Jutta, Priorin vom Orden der Dominikanerinnen, anlässlich ihres Geburtstages am Tag der heiligen Gertrudis einen kleinen Besuch abstatten werden.«
»Das kann ja heiter werden!«, seufzte Berengar, dem die Aussicht auf eine Stippvisite bei Verwandten, noch dazu bei einer leibhaftigen Priorin, überhaupt nicht zu behagen schien. Mit Ausnahme seines Freundes Hilpert war er auf Angehörige des geistlichen Standes nicht übermäßig gut zu sprechen und machte aus seiner Meinung auch keinen Hehl. »Eine leibhaftige Priorin – riecht ja förmlich nach Fehdehandschuh!«
»Jutta Küchenmeister von Nordenberg?«, warf Bruder Hilpert geistesgegenwärtig ein, im Gegensatz zu Irmingardis, die verdrossen nach Luft schnappte, längst an Berengars Humor gewohnt. »Eine weithin berühmte und hochgelehrte Frau!«
»Hochgelehrt? Das glaubst aber auch nur du!«, hielt der Vogt des Wertheimer Grafen dagegen und setzte sogar noch eins drauf: »Wie lautet doch gleich die Bauernregel? ›Gibt es an Gertruden Eis, wird’s in der Liebe nimmer …‹«
»Welch Glück, Liebster, dass wenigstens dein Freund die Verdienste von Tante Jutta zu schätzen weiß!«, fuhr seine Verlobte ihm über den Mund, wohl wissend, dass Berengar nicht aus seiner Haut konnte und ihr mit jeder Faser seines Wesens ergeben war. »Wie wäre es, wenn du die Halbschwester meiner Mutter erst einmal kennenlernst, bevor du sie mit dem Bannfluch belegst?«
»Bleibt mir ja wohl nichts anderes übrig«, murrte Berengar, woraufhin sich seine Miene schlagartig erhellte und er seinen Freund, der die Neckereien seiner Begleiter mit amüsiertem Stirnrunzeln verfolgt hatte, aus dem Augenwinkel taxierte. »Wenn wir gerade von Kennenlernen reden – hättest du nicht Lust, uns zu begleiten, Bücherwurm? Und sei es nur, um mir seelischen Beistand zu leisten?«
»Als ob ausgerechnet du so etwas nötig hättest. Tut mir leid, Berengar, aber mein Entschluss steht unwiderruflich fest.«
»Papperlapapp! Schon vergessen, dass dich dein Abt bis zu unserer Hochzeit an Ostern von sämtlichen Pflichten entbunden hat? Aus Dankbarkeit, dass wir unseren vierten Fall gelöst haben? Nein? Dann frage ich mich, was so schlimm daran ist, wenn wir noch ein paar Tage am Hof des Kurfürsten verbringen und du uns anschließend begleitest.«
»Gar nichts, geschätzter Freund, gar nichts. Zumal sich auch mir die Gelegenheit zu einem Wiedersehen mit einem alten Freund bieten würde.«
»Tatsächlich?«
Bruder Hilpert nickte, schlug seine Kapuze zurück und öffnete die Tür der Schenke, aus der ihm der Geruch von Wildbret, gefüllten Pasteten und frisch gebackenem Fladenbrot entgegenschlug. »Bruder Alban vom Orden der Minderen Brüder zu Rothenburg«, entgegnete er, ließ seinen Freunden den Vortritt und fügte erklärend hinzu: »Weggefährte während meiner Pilgerfahrt nach Rom. Kaum zu glauben, wie lange das schon wieder her ist.«
»Na also!«, rief Berengar freudestrahlend aus, half seiner eineinhalb Köpfe kleineren Verlobten aus dem blauen Umhang und überreichte ihn dem Wirt, welcher eilfertig seine Dienste anbot. »Warum nicht gleich so.«
»Was tut man nicht alles für einen guten …«, begann Bruder Hilpert, im Begriff, sich seinen Begleitern anzuschließen. Dabei fiel sein Blick eher zufällig auf zwei Streithähne, welche unweit der Heiliggeistkirche aufeinander einredeten und so sehr in ihr Gezänk vertieft waren, dass sie den Bibliothekarius nicht bemerkten. Einer der beiden, allem Anschein nach Devotionalienhändler, war ihm völlig unbekannt, der andere, eine Gestalt mit dunklem Umhang, hingegen schon.
»Was ist denn los?«, fragte Berengar, nachdem Hilpert neben ihm Platz genommen hatte.
»Nicht der Rede wert!«, wiegelte Bruder Hilpert ab, roch an seinem Glühwein und nahm einen kräftigen Schluck. »Nur ein Bekannter, von dem ich hoffe, dass sich unsere Pfade nie mehr kreuzen werden!«
2 Die Vorlesungen an der 1386 gegründeten Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg, nach Prag und Wien die drittälteste im Deutschen Reich, wurden aufgrund erheblicher Raumprobleme zunächst im Augustiner- bzw. Franziskanerkloster, später dann in der zu einer Kapelle umfunktionierten jüdischen Synagoge abgehalten.
3 Bediensteter, der auf Anweisung eines Professors den Leichnam öffnet und im Verlauf von dessen Erklärungen mit einem Zeigestock auf die entsprechenden Organe deutet
4 dt.: ›Hier ist der Ort, an dem der Tod dem Leben gerne zur Hilfe eilt.‹
5 dt.: Gehilfe, Diener
6 Bereich zwischen Brustkorb und Becken
7 dt.: Schüler
8 lat. für ›Netz‹ oder ›Bauchnetz‹
9 Elle (Kurpfalz) = 0,53 Meter
10 Brustkorb
11 dt.: Zur Sache!
12 121 – 180 n. Chr.
13 23 – 79 n. Chr.
14 1. Jhdt. n. Chr.
15 Übergewand mit Kapuze und weiten Ärmeln
16 Wollenes, knöchellanges Hemd mit langen Ärmeln
Rothenburg ob der Tauber, Tag der heiligen Gertrudis17
(Donnerstag, 17. März 1418)
17 Äbtissin von Nivelles (626 – 653/659 n. Chr.)
18 dt.: Wollust
Rothenburger Richtstätte, knapp eineinhalb Stunden vor Sonnenaufgang │[04.00 h]
»Wenn das rauskommt, wird es uns den Kopf kosten!«
Friedhelm, Henker zu Rothenburg ob der Tauber, stieß seine Schaufel in den Erdhaufen neben der etwa fünf auf neun Fuß19 großen Grube und hielt schwer atmend inne. Im Verlauf der letzten halben Stunde hatte er sich mächtig ins Zeug gelegt, ohne Rücksicht auf die Böen, welche von Osten über den Schindanger20 der Gehenkten fegten, Myriaden von Schneeflocken vor sich her peitschten und voller Ungestüm am Geäst der Ulme rüttelten, unter der er gerade eine Verschnaufpause einlegte. Der Scharfrichter spie verächtlich aus. Die Leute behaupteten, dies sei ein verwunschener Ort, freiwillig traute sich kein Mensch hierher. Vor allem nachts, hieß es, stiegen die Geister der Geräderten, Gehenkten und Gevierteilten aus ihren Gräbern und wanderten in stummer Prozession zum nahen Galgen, an dem sie geheime Zwiesprache hielten und den Ort ihrer Marter mit Flüchen belegten.
Über Altweibergeschichten wie diese konnte der meistgefürchtete Bewohner der Stadt, vor deren Toren die Richtstätte lag, freilich nur lachen. Friedhelm gab nichts darauf, noch weniger als auf das Geschwätz, das über ihn und sein unehrliches Gewerbe die Runde machte. Dennoch war da diese Anspannung in ihm, dieses ungute Gefühl, welches ihn seit geraumer Zeit plagte, und so stieß er einen gequälten Seufzer aus, wischte den Schnee von seinem Bart und ging erneut ans Werk.
»Den Kopf kosten? Das wird es uns nicht, keine Sorge!«, munterte ihn die Stimme hinter seinem Rücken auf, »alles wird glattgehen – wie immer.«
»So, meint Ihr«, entfuhr es dem Scharfrichter, der eigentlich lieber Badstuber und noch viel lieber Medicus geworden wäre. Da das Gesetz ihm jedoch vorschrieb, in die Fußstapfen seines Vaters zu treten und das als unehrlich geltende Gewerbe des Scharfrichters auszuüben, hatte er seine Hoffnungen schon vor langer Zeit begraben müssen. An der Mauer, die ihn von seinen Mitmenschen trennte, führte kein Weg vorbei, und es gab niemanden, der sich erdreistet hätte, sie niederzureißen.
Binnen Kurzem schweißgebadet, machte Friedhelm seinem Groll durch eine Serie halblaut gemurmelter Flüche Luft. Es hatte Zeiten gegeben, in denen es ihn verdross, wenn sich ehrbare Bürger bei seinem Herannahen bekreuzigten, rasch die Straßenseite wechselten und Reißaus nahmen, als sei der Leibhaftige hinter ihnen her. Diese Zeiten waren jedoch längst vorbei. Er hatte sich damit abgefunden, wie im Übrigen auch mit seinem Refugium, dem Henkersturm, welcher in sicherer Entfernung zum Markt und in unmittelbarer Nähe des Judenfriedhofes lag. Friedhelm war es zufrieden. Dorthin, wo sich ehrbare Bürger die Klinke in die Hand gaben, zog es ihn ohnehin nicht mehr. Auch diese Zeiten waren vorbei. Was nützte es ihm schon, wenn er die Johanniskirche durch die Seitenpforte betreten durfte, dabei aber Gefahr lief, mit Schimpf und Schande davongejagt zu werden. Oder wenn er Wirtshäuser und Bäder nur von außen sehen durfte. Doch wohl nicht das Geringste. Überhaupt konnte er von Glück sagen, dass er eine Frau gefunden hatte, sonst wäre das Dasein, welches er fristete, nicht zu ertragen gewesen. Hieß es doch, wer den Henker berühre, werde unrein, was ihm bei der Geburt seines Sohnes beinahe zum Verhängnis geworden wäre. Keine Hebamme, die sein Haus betreten, kein Arzt, der sich auch nur in seine Nähe gewagt hätte.
Doch Friedhelm war das Glück hold geblieben. Denn es gab jemanden, der ihm mit Rat und Tat zur Seite gestanden, jemand, der ihm aus der Patsche geholfen hatte. Jemand, den er jetzt, da er um Hilfe gebeten worden war, nicht im Stich lassen konnte. »Und was, wenn man uns auf die Schliche kommt?«
»Wenn, dann doch wohl mir!«, versetzte die anziehende und samtweiche Stimme, die ihn seit jeher in ihren Bann gezogen hatte, nicht ohne einen Hauch von Spott, welcher sich im Geheul des Windes, des knarrenden Geästs und des wie entfesselt hin und her wogenden Gestrüpps jedoch alsbald wieder verlor. »Darauf gebe ich Euch mein Wort.«
»Amen!«, entgegnete Friedhelm voller Hohn, rieb sich die taub gewordenen Hände und näherte sich der Grube, um einen Blick auf den in grobes Sackleinen gehüllten und mit Hanfstricken verschnürten Leichnam zu werfen, dessentwegen er die Torheit, für die er sich bereits mehrfach verflucht hatte, auf sich genommen hatte. Noch war der schmächtige Körper nicht dabei, sich in seine Bestandteile aufzulösen, noch schien es, als sei die Kreatur, welche am Vorabend verscharrt worden war, gerade eben erst zur letzten Ruhe gebettet worden.
Friedhelm wusste natürlich, dass dies nicht stimmte, ein Blick auf die Würmer, Maden und Käfer, welche in den Lichtkegel seiner Laterne gerieten, genügte vollauf. In zwei, längstens drei Tagen würde der Fäulnisprozess einsetzen, was bedeutete, dass von der Hülle aus Sackleinen und ihrem vergänglichen Inhalt bald nicht mehr viel übrig sein würde. Wie hieß es doch gleich? ›Denn du bist Erde und sollst zu Erde werden.‹21
Friedhelm, nicht gerade ein Freund der Pfaffen, beileibe jedoch kein Leugner der Worte des Herrn, deutete ein Nicken an, als wolle er sich selbst Mut zusprechen, stellte seine Laterne wieder ab und ließ sich vorsichtig in die Grube gleiten. Ihr Rand gab ein wenig nach und er konnte von Glück sagen, dass er mit seinen fünfeinhalb Fuß zwar recht groß, darüber hinaus aber hager und beinahe schon ein Leichtgewicht war.
Am Fußende angekommen, holte der Scharfrichter tief Luft, drehte sich um die eigene Achse und beäugte das fest verschnürte Bündel, über dem sich eine hauchdünne Schneeschicht ausgebreitet hatte. Er kannte die zarte Maid, welche es barg, kannte die Umstände, unter denen sie zu Tode gekommen war, wusste um ihre Qualen. Kein Wunder also, dass ihm sein Vorhaben erhebliches Kopfzerbrechen bereitete. Ausgerechnet ihm, der er bereits mehrere Dutzend Menschen auf jede nur erdenkliche Art und Weise vom Leben zum Tode befördert hatte. Das Schicksal der 14-Jährigen ließ ihn indes nicht kalt, obwohl er der Letzte gewesen wäre, der dies offen zugegeben hätte.
»Was plagt Euch, Meister Flegler – befindet Ihr Euch nicht wohl?«, ließ sich die Gestalt vernehmen, nur eine Armlänge von ihm entfernt. »Oder plagt Euch am Ende gar das Gewissen?«
»Wenn ich ehrlich bin – ja. Ich finde, wir sollten den armen Teufel in Ruhe lassen. Was kann die kleine Egerter denn dafür, dass …«
»Dass sowohl die Kirche als auch der Rat unserer weithin berühmten Freien Reichsstadt sich weigern, Selbstmördern ein christliches Begräbnis zuteilwerden zu lassen, meint Ihr? Nichts kann sie dafür, gar nichts.«
»An Eurer Stelle würde ich den Mund nicht so voll nehmen – es sei denn, Ihr legt es darauf an, im Stadtgefängnis zu landen.«
Die Antwort auf Friedhelms Zurechtweisung ließ nicht lange auf sich warten. »Wenn hier jemand im Stadtgefängnis landet, dann mit Sicherheit nicht ich«, stellte die Stimme hinter seinem Rücken kategorisch fest, in einem Tonfall, wie er dem Scharfrichter nie zu Ohren gekommen war. »Darauf gebe ich Euch Brief und Siegel.«
»Wer denn sonst?«
»Meine Sorge, nicht die Eure.«
»Heißt das, Ihr habt vor, die Angelegenheit nicht auf sich …«
»Genau das heißt es, Meister Flegler!«, vollendete die Stimme brüsk. »Ich werde weder rasten noch ruhen, bis der kleinen Agnes Gerechtigkeit widerfahren ist. Und wenn ich die ganze Stadt auf den Kopf stellen muss, um den Schuldigen seiner gerechten Strafe zuzuführen.«
»Ich wüsste nicht, was es da zu bestrafen gibt!«, trotzte Friedhelm, arbeitete sich bis zur Längsseite der Grube voran und bückte sich, um den Leichnam empor zu hieven. Wie vor ein paar Stunden kam er ihm auch jetzt viel zu leicht und beinahe zerbrechlich vor, weshalb er nach wie vor Skrupel hatte, ihn anzufassen. »Das arme Ding hat so viel Lauge getrunken, dass man halb Rothenburg hätte vergiften können – wozu also Nachforschungen betreiben, wenn längst feststeht, welche Tortur die kleine Egerter durchlitten hat!«
»›Tortur‹ – Kompliment, Meister Flegler, so kommen wir der Sache schon näher.«
Hätte Friedhelm nicht genug damit zu tun gehabt, den Leichnam an die Erdoberfläche zu befördern und ihn am Rande der Grube abzulegen, wäre seine Erwiderung deutlich heftiger ausgefallen. »Wollt Ihr etwa damit sagen, dass …«, begehrte er auf, fand im Angesicht der Gestalt, welche aus dem Schneegestöber hervortrat, den Leichnam emporhob und ihn wie ein Neugeborenes in den Armen barg, jedoch nicht die richtigen Worte. »Dass die Kleine …«
»Dass dieser Kasus sich von all den anderen, bei denen Ihr mir mit Rat und Tat zur Seite gestanden habt, unterscheidet. Dieses Mal, fürchte ich, geht es nicht nur darum, der Wissenschaft zu dienen, indem ein Leichnam in seine Einzelteile zerlegt wird. Wie etwa die sterblichen Überreste eines Gehenkten, für die sich außer dem Scharfrichter kein Mensch interessiert. Oder die Leiche eines Bettlers, Vaganten oder fahrenden Sackpfeifers, welche man lieber heute als morgen loswerden möchte, und sei es nur, um die Pfaffen zu besänftigen, welche behaupten, geweihte Erde sei nur etwas für ehrbare Bürger.« Die Gestalt, bis auf ihre Stiefel in einen dunklen Umhang gehüllt, dessen Kapuze bis über die Stirn reichte und ihre Gesichtszüge nahezu komplett verhüllte, brach in höhnisches Gelächter aus. ›Ehrbar‹ – wenn ich das schon höre!«
»Ihr tut besser daran, Euch nicht so weit aus dem Fenster zu lehnen, sonst …«
»Sonst was? Sind fünf Pfund Heller22 pro Leichnam etwa nicht genug?«
»Doch.«
»Freut mich zu hören. Ein fürstliches Entgelt, bedenkt man, dass ich Euren Sohn vom Fleckfieber kuriert habe.«
»Das habt Ihr«, stimmte Friedhelm zerknirscht zu, kletterte aus der Grube und griff zur Schaufel, um die Spuren seines Tuns zu beseitigen. »Weshalb Ihr auch stets auf mich zählen könnt.«
»Aber?«, lauerte die Gestalt, das verschnürte Bündel fest an sich gepresst, und ließ den Scharfrichter nicht aus den Augen. »Wo drückt der Schuh, Meister Flegler?«
»An allen Ecken und Enden, wenn Ihr es genau wissen wollt. Im Klartext: Ich mache mir allmählich Vorwürfe, und wisst Ihr auch, warum? Weil ich so töricht war, Euch in die Geheimnisse der menschlichen Anatomie einzuweihen! Sonst wäre es bestimmt nicht so weit gekommen.«
»Ich möchte der Wissenschaft dienen, sonst niemandem.«
»Kommt drauf an, was man unter Wissenschaft versteht. Und ob Ihr in Eurem Bestreben, ihr dienlich zu sein, nicht zu weit gegangen seid.« Im Begriff, eine Schaufel Erde in die leere Grube zu befördern, hielt der Scharfrichter unvermittelt inne und lauschte dem lang gezogenen Heulen, welches aus nördlicher Richtung an sein Ohr gedrungen war. Die Windböen waren mittlerweile abgeklungen und je länger er die Ohren spitzte, desto mehr schien sich seine Vermutung zu bestätigen.
»Keine Angst, die sind mindestens noch eine Achtelmeile23 entfernt. Wölfe haben mehr Angst vor uns Menschen als wir vor ihnen.«
»Angst oder nicht, was mich betrifft, möchte ich lieber kein Risiko eingehen!«, entgegnete Friedhelm, nahm seine Schaufel und war einen Wimpernschlag später im Unterholz verschwunden.
»Ganz wie Ihr wollt!«, rief ihm die Gestalt hinterher, barg den Leichnam in den Armen und machte sich ebenfalls auf den kurzen Rückweg in die Stadt, begleitet vom Heulen der Wölfe, welches sich kurz darauf in der Morgendämmerung verlor.
19 Ein Fuß: in Rothenburg 30,2 cm
20 Ort, an dem Hingerichtete oder Personen verscharrt wurden, denen kein christliches Begräbnis zuteilwerden durfte
21 1. Mose 3, 19
22 Heller = zwölfter Teil eines Schillings. 20 Schilling oder 240 Heller = ein Pfund Heller. Wochenverdienst des Henkers in Rothenburg im Spätmittelalter = dreieinhalb Pfund Heller.
23 Mittelalterliche Meile = circa 7,5 Kilometer.
Rothenburg ob der Tauber, einen halben Tag später
24 dt.: Hochmut