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Titel

Hans-Jürgen Rusch

Gegenwende

Kriminalroman

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

 

 

 

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1. Auflage 2010

 

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung / Korrekturen: Daniela Hönig / Doreen Fröhlich, Sven Lang

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von Hans-Jürgen Rusch

ISBN 978-3-8392-3460-0

 

Vorbermerkung

Am Anfang war es nur eine Zeitungsmeldung:

www.gegenwende.de

 


1

»Pass auf!« Ludger Rotgerber erstarrte vor Schreck. Die Segeljacht schoss auf eine knallgelbe Tonne zu, die plötzlich wie eine Felsnadel aus dem Dunst auftauchte. Mit Gewalt riss er sich von dem Anblick los und schrie in Richtung achteren Steuerstand: »Hau das Ruder rum – eine Untiefentonne voraus!«

Göran Grewe reagierte sofort, wirbelte das Steuerrad nach rechts und drückte es gegen den Anschlag. »Liegt hart Steuerbord!«

Ludgers Blick flog wieder vor ins graugrüne Wasser. Der spitze Bug der Jacht durchschnitt die Wellen in direkter Linie zum Hindernis. Ein Zusammenstoß mit dem gelben Stahlkoloss wäre eine Katastrophe – der Holzrumpf ihrer Jacht würde zerschellen und binnen Minuten sinken. Ludger starrte zur Mastspitze hinauf. Zum Einholen der Segel war es längst zu spät. Ängstlich schaute er neuerlich nach vorn und taxierte den schwindenden Abstand. Wie von einem Gummiseil gezogen, rasten sie genau auf das Hindernis zu. Die Sekunden verstrichen. Dann endlich spürte Ludger den ersehnten Ruck unter seinen Füßen. Und tatsächlich, der Bug wanderte nach rechts, anfangs nur zögerlich, schließlich unaufhaltsam, immer weiter von der Tonne weg, die sie wenig später an der Backbordseite passierten.

»Das war knapp«, seufzte Ludger, löste sich von der Reling am Bug und hangelte nach hinten.

»Spinnst du?«, schrie ihm Göran entgegen. »Bleib auf deinem Posten!«

Du kannst mich, dachte Ludger und sprang in den Steuerstand. »Wir müssen langsamer segeln. Der Regen. Der Dunst. Willst du uns umbringen?«

Göran ließ das Ruder los und deutete auf die Armaturen vor ihm. Das Steuerrad pendelte leicht hin und her, als würde ein Autopilot den richtigen Kurs halten. »Es ist genau 14.52 Uhr. Bis Helgoland brauchen wir noch drei Stunden. Wir schaffen’s gerade so.«

Ludger versuchte erneut einen Einwand, aber Göran fuhr ihm über den Mund: »Erinnerst du dich? Die Anweisung war eindeutig: ›Treffpunkt 10. Juli – 18.00 Uhr und keine Minute später. Kommen Sie 18.01 Uhr, platzt das Geschäft.‹« Sein Blick huschte die Instrumente entlang. »Sind wir nur kurze Zeit überfällig, können wir die halbe Million vergessen.« Mit ausgestrecktem Arm wies er zum Bug. »Los. Ab nach vorn!«

Beeindruckt von Görans Worten, drehte sich Ludger schweigend um und stakste auf seinen Ausguckposten.

Eine viertel Stunde darauf zogen Ludger Kopfschmerzen von den Schläfen in die Stirn. Der scharfe Wind und die Gischt quälten ihn. Immer wieder wischte er sich mit den nassen Händen das Gesicht ab und verteilte so das salzige Meerwasser über Augen, Mund und Nase. Schließlich glaubte er, ihm schwinden die Sinne. Der Horizont wich zurück, immer weiter, als würden sie rückwärtsfahren. Ludger kniff die Augen zusammen – aber die Illusion blieb: Die Linie zwischen Himmel und Meer entfernte sich stetig. Er blickte zur Seite. Die Schaumkämme der Wellen hoben sich augenfällig vom Grau des Wassers ab, viel deutlicher als zuvor. Na klar – die Sicht hatte sich verbessert. Deshalb auch der zurückweichende Horizont. Sehnsüchtig wandte sich Ludger nach hinten und sah zum Steuerstand, brachte jedoch kein Wort über die Lippen.

Göran musste seinen Blick bemerkt haben, schaute in die Runde und zuckte mit den Schultern. »Also gut; verschwinde da vorn.«

Na endlich. Ludger hangelte zum Heck, schob sich wortlos an Göran vorbei und kroch in die Kajüte hinunter. Ein heißer Tee würde ihm jetzt guttun. Er schüttelte die Thermoskanne, in der nur ein mickriger Rest plätscherte. Zum Wasseraufsetzen fehlte ihm die Energie. Er stellte die Kanne beiseite, streifte die Wetterjacke ab und legte sich auf den Schlafsack, der die Mitte des winzigen Raums ausfüllte. Im engen Ausschnitt des Niedergangs sah er Göran am Ruder stehen, souverän wie der Fliegende Holländer. Wo nahm der Kerl die Kaltschnäuzigkeit her? Mit Sicherheit brauchten er und seine Firma das Geld, sonst hätte er diese Aktion kaum gestartet. Und Ludger könnte all seine Probleme abschütteln – wenn das Geschäft gelang, wenn die Geldübergabe auf Helgoland klappte? Aber würden die ihnen das Geld übergeben? Ließen die sie anschließend einfach ziehen? Helgoland lag im Meer – ohne Fluchtauto, ohne Autobahn. Stattdessen mit unzähligen Urlaubern zu dieser Jahreszeit. Auch bei diesem Sauwetter? Hätte er sich bloß nicht auf die Erpressung eingelassen.

Ludger beugte sich zur Seite, fingerte ein hellbraunes Bündel aus seiner Reisetasche an der Bordwand und wickelte das Leinentuch auseinander. Die schwarze Oberfläche der Pistole schimmerte matt im Dämmerlicht der Kajüte; am Lauf blitzte silbern ein langer Kratzer. Langsam führte Ludger die Mündung an seine Nase, als könnte er den Schmauchgeruch von vor 17 Jahren noch riechen. Aber nur ein Hauch von Öl und Stahl haftete dem Metall an. Er legte die Pistole ab und griff nach der Waffenkarte; giftgrün, groß wie eine Spielkarte, in Plastik eingeschweißt, mit zwei braunen Fettflecken am oberen Rand. Obwohl er die Nummer so oft kontrolliert hatte und sie mittlerweile auswendig kannte, verglich er abermals: ›B8058‹ stand auf dem Verschluss der Waffe und ›Makarow – B8058‹ auf der Karte; ergänzt durch den Namen des ehemaligen Besitzers: ›Korvettenkapitän Christian Koschak – 3. Flottille – 3. Hilfsschiffs- und Bergungsdienstabteilung – Stralsund‹. Ludger fasste erneut in seine Reisetasche. Den lichtblauen Umschlag des Notizbuchs hatten die Jahre ausgeblichen, die Ecken waren abgestoßen und das Papier vergilbt. Dieses Büchlein und die Pistole würden ihnen heute aus der größten Not helfen.

»Was soll das denn?«, rief Göran plötzlich an Oberdeck. »Eh, komm schnell hoch.«

Mit fahrigen Händen packte Ludger das Bündel zusammen, verstaute es in der Tasche und hastete den Niedergang hinauf.

»Schau mal dort.« Göran wies Steuerbord voraus, wo sich die graue Silhouette eines Schiffes vom Horizont abhob.

Ludger griff nach dem Fernglas, das Göran ihm reichte, und sah hinüber. »Ein Küstenmotorschiff. Na und?«

»Es hält seit zehn Minuten auf uns zu.«

»Weichst einfach aus«, sagte Ludger, ohne das Fernglas abzusetzen.

»Bin ich schon. Zweimal.«

»Und?«

»Als würden wir deren Pott wie einen Magneten anziehen, richten die ihren Kurs immer wieder auf unseren Kahn aus.«

Ludger stutzte. »Die führen keine Flagge.«

»Eben. Genau das hat mich auch gewundert.«

Der weiße Kamm der Bugwelle des fremden Schiffes pendelte im Takt der Wellen auf und ab. Unaufhaltsam glitt der graue Rumpf auf sie zu. An Oberdeck entdeckte Ludger ein orangefarbenes Schlauchboot. Daneben standen fünf Männer in Schutzanzügen. Ein Prisenkommando? Wollen die uns aufbringen? Im Näherkommen erkannte er jetzt durch das Fernglas die Gesichter der Männer, die ungerührt herübersahen. Der Bursche links außen, mit Vollbart und wirren Locken, einen Kopf größer als seine Kameraden, erinnerte Ludger an den Seewolf aus einer der Jack-London-Verfilmungen. Er setzte das Fernglas ab, drückte es Göran in die Hand und stieg nach unten. Die Pistole musste verschwinden. Wenig später kehrte Ludger an Deck zurück. Das fremde Schiff stoppte in der Nähe der Jacht und ließ das Schlauchboot zu Wasser. Das Prisenkommando kletterte hinein und steuerte auf sie zu. Ludger suchte den Horizont ab. Die See um sie herum schimmerte völlig verlassen im trüben Licht des Nachmittags; sie würden den Kerlen schutzlos ausgeliefert sein. Er zog sein Handy heraus. Das nahmen die ihm nur ab. Er warf es über Bord, seine Kontaktdaten bekamen die nicht. Und falls das Überfallkommando es auf die Pistole und das andere Beweismaterial abgesehen hatte, Ludgers Bündel lag im Wellentunnel des Hilfsantriebs gut versteckt.

Dann klatschte das Schlauchboot an die Bordwand ihrer Jacht, Leinen flogen herüber und vier der Männer sprangen zu ihnen hoch. Göran schnappte sich einen der Bootshaken und stürmte auf den Seewolf zu. Der wich geschickt aus, packte den Bootshaken, zerrte daran und streckte Göran zu Boden. Dieser versuchte, sich aufzurappeln. Aber der Seewolf setzte nach. Göran wehrte sich. Irgendetwas schwirrte durch die Luft. Der Seewolf holte aus und schlug Göran mit wenigen Fausthieben nieder. Währenddessen hatte ein weiterer Angreifer Ludger gepackt, ihm die Hände mit Handschellen auf den Rücken gebunden und in Richtung Schlauchboot geschoben. Der Seewolf schleifte den reglosen Göran zur Reling und warf ihn wie einen Kartoffelsack in das Schlauchboot. Ludger musste hinterherspringen. Schließlich nahmen die Kerle ihre Jacht ins Schlepptau und fuhren zum Schiff hinüber.

Dort angekommen landeten die beiden Gefangenen in einer kleinen Kammer; zwei Mal drei Meter groß, mit einem Bullauge und einer schweren Stahltür. Ein Regal, mit Tauen, Bojen und Putzlappen vollgestopft, das einzige Mobiliar in dem Raum, füllte eine der Wände. Die anderen schimmerten im dreckigen Weiß einer Gefängniszelle. Ludger ging zum Bullauge, während Göran sich vor dem Regal ausstreckte und die Augen schloss. Lass mich in Ruhe – so deutete Ludger die Geste. Er sah hinaus. Die Wellen türmten sich auf und peitschten von hinten auf das Schiff ein. Die tief hängenden Wolken fegten über den Himmel. Ihr stählernes Gefängnis gierte und stampfte. Ludgers Magen begann gegen die Schaukelei aufzubegehren. Wie gern hätte er frische Luft geschnappt – aber das Bullauge war fest verschlossen.

»Das sieht ja richtig gut aus«, sagte Göran, der auf einmal neben Ludger hinaussah.

»Gut?«

»Ja, gut, zumindest für meinen Plan.«

Im Rücken der beiden Eingesperrten flog das Stahlschott auf. Sie fuhren herum. Der Seewolf stand im Türrahmen und wies auf Göran. »Los, mitkommen!«

Göran ging drei Schritte vor. Der Seewolf packte ihn am Kragen und zerrte den sich wehrenden Gefangenen auf den Gang. Krachend fiel die Tür ins Schloss.

Ludger blieb allein zurück. Erstarrt lehnte er an der Wand und stierte auf die Tür. Er wusste nicht, wie lange er so dastand. Irgendwann löste er sich aus seiner Lethargie und sah hinaus. Der Himmel verdunkelte sich. Orangefarbene Wolkenfetzen kündeten vom Sonnenuntergang. Immer wieder wanderten seine Augen zur Stahltür hinüber, die verschlossen blieb. Folterten die Kerle Göran? Holte ihn der Seewolf nachher auch? Seine Angst ließ Ludger frieren. Er schlang die Arme um den Oberkörper, rutschte an der Bordwand herunter und sackte in sich zusammen. Plötzlich kroch ein schrecklicher Gedanke aus der dunkelsten Ecke seiner Fantasie: Steckte Göran mit den Kerlen unter einer Decke? Hatte er ihm etwas vorgemacht? In eine Falle gelockt? Ludger krümmte sich auf dem Boden.

Nach unendlich langer Zeit klapperte draußen ein Schlüssel und Göran kehrte zurück. Er warf Ludger einen flüchtigen Blick zu und hockte sich auf seinen Platz vor dem Regal.

»Diese Schweine!«, schimpfte er.

»Was ist los?«, fragte Ludger und setzte sich zu ihm.

»Unsere Geschäftsfreunde haben uns entführt. Die, mit denen wir auf Helgoland verabredet waren. Sie hätten es sich anders überlegt. Wir beide seien jetzt in einer schwachen Position. Man könne das Geld sparen.«

»Weshalb das denn?«

»Sie haben alles gefunden.«

Ludger erschrak. Tausend Gedanken drängten in seinen Kopf, verstopften das Gehirn. »Und nun?«

Göran setzte sich hin und packte Ludger bei den Schultern. »Weißt du was von einem Geheimdokument, das dein Freund 1990 geklaut hat?«

»Warum?«

»Sie wollen es haben. Wo verkriecht sich dein Kumpel?«

»Keine Ahnung.«

»Wirklich nicht?« Göran schüttelte Ludger. »Wir sagen denen einfach, wo er steckt. Dann lassen die uns gehen.«

»Nein, verflucht noch mal! Ich hatte seit Herbst ’90 keinen Kontakt mehr zu ihm.« Ludger senkte den Blick. »Wäre auch unnötig.«

»Bleibt uns also nur Plan B – wir hauen ab.«

Erschrocken sah Ludger hoch. »Du spinnst! Wie sollen wir abhauen? Vom Schiff?«

»Das erkläre ich dir noch. Oder hast du das Papierchen?«

Ludger grübelte: Was könnte passieren, wenn er das Versteck dieses blöden Geheimdokuments verriet? Die Entführer würden sie niemals ziehen lassen, bei den Ereignissen der letzten Stunden. Er schüttelte den Kopf. »Nein.«

»Na siehst du.« Göran stand auf, ging zum Bullauge und deutete nach draußen. »See und Wind laufen von achtern auf. Und da der Sturm aus Nordwest weht, hält der Dampfer Kurs Südost, in Richtung Elbmündung. Wir kommen in der Nacht an Neuwerk vorbei. Da hauen wir ab.«

»Mitten auf dem Meer?« Ludger sah Göran ungläubig an und trat ebenfalls ans Bullauge.

»Leg dich noch ein bisschen hin und ruh dich aus. Ich erkläre dir alles später.«

 

*

 

»Du brauchst …« Das Heulen des Sturms und das Dröhnen der Schiffsmaschinen verschluckten Görans Worte. In den letzten Stunden hatte sich das Wetter weiter verschlechtert. Unaufhaltsam schlingerte das Schiff durch den Seegang. Göran flüsterte in Ludgers Ohr: »Wenn du im Wasser bist, schwimmst du genau gegen die Wellen an. Merk dir das. Klar?«

»Ja.«

»Schwimm, was Arme und Beine hergeben. Nach spätestens 500 Metern kommt flaches Wasser. Das erkennst du an den kleineren Wellen. Dort hast du Grund.«

»Sicher?«

»Ja. Halb fünf wird hier draußen das ganze Watt trocken liegen. Jetzt«, er hob sein linkes Handgelenk. »Scheiße, meine Armbanduhr ist ja weg. Wie spät hast du es?«

»Kurz vor drei.«

»Da steht das Wasser höchstens noch hüfthoch und du kannst laufen«, versicherte Göran. »Du behältst die Richtung bei. Irgendwann taucht der Leuchtturm von Neuwerk auf. Wir treffen uns dort im Laufe des Tages.«

»Was? Wir treffen uns da? Und du? Ich denke, wir hauen zusammen ab?«

»Wir trennen uns. Ist sicherer.«

Ludger schwirrten hunderte Einwände, Bedenken und Zweifel durch den Kopf, aber er wagte nur eine zögerliche Frage: »Wollen wir nicht lieber hierbleiben?«

»Jetzt reicht’s mir«, empörte sich Göran. »Heute Nacht scheint kein Mond, wir haben saumäßiges Wetter mit beschissener Sicht und die Sonne geht erst in zwei Stunden auf. Was willst du denn noch?«

Um Göran zu besänftigen, schwieg Ludger und ergab sich in sein Schicksal.

»Und denk dran …« Göran riss Ludger zu sich herum und herrschte ihn an. »Wenn du im Wasser bist, die Wellen genau von vorn!«

Ludger nickte.

Göran warf einen letzten Blick aus dem Bullauge und hockte sich anschließend in eine der Ecken. »Ich fang jetzt an.« Er steckte sich einen Finger in den Hals, begann sofort zu würgen und erbrach sich. Ludgers Magen rebellierte, wollte dem Beispiel folgen. Mit Mühe beherrschte er sich, ging ans Stahlschott und hämmerte dagegen. Göran übergab sich ein zweites Mal. Der saure Geruch verbreitete sich schnell und nahm Ludger den Atem. Er trommelte kräftiger gegen die Tür. Draußen klapperte endlich ein Schlüssel. Göran fiel zu Boden und umklammerte mit den Armen seinen Bauch.

Ein Posten, zum Glück kleiner und schmächtiger als der Seewolf, schaute herein, verzog das Gesicht und hielt sich die Nase zu. »Was ist denn hier los?«

»Mein Kumpel stirbt fast vor Platzangst in dieser engen Kammer«, erklärte Ludger, »und die Seekrankheit macht ihm zu schaffen. Er braucht dringend frische Luft.«

Der Posten sah zu Göran hinüber und nickte. »Aber nur einer.«

Das hatten sie erwartet. Ludger half seinem Leidensgenossen auf und stützte ihn. Der Posten zog Göran hinaus und verschloss das Verließ hinter sich.

Hoffentlich klappt unser Plan, dachte Ludger. Hoffentlich unterschätzt der Posten die Situation und lässt sich leicht überwältigen. Keine Minute später hörte er polternde Schritte auf dem Gang, dann schlug die Tür auf.

»Schnell!«, rief Göran und zerrte Ludger aus der Kammer. Sie hasteten den engen Verkehrsgang entlang, zwängten sich durch ein Stahlschott und standen auf dem Achterdeck.

»Los, weiter.« Göran stieß Ludger voran zur Reling. Dort schob er ihn auf das Schanzkleid. »Spring!«, schrie er und stürmte in Richtung Vorschiff davon.

Ludger starrte in die brodelnde See, raffte all seinen Mut zusammen und sprang ab. Das kalte Wasser ließ sein Herz stocken, nahm ihm den Atem. Er strampelte mit den Füßen, strebte mit kräftigen Armzügen zurück an die Wasseroberfläche und tauchte prustend auf. Hinter ihm verschwand gerade das Schiff in der Dunkelheit. Wildes Klingeln und grelle Pfiffe klangen von Bord herüber. Ihre Flucht war bemerkt worden.

Erst in diesem Moment spürte Ludger den anrennenden Seegang und hörte das Grollen des Sturms. Die Wogen hoben seinen Körper empor, um ihn Sekunden später in ein Tal hinabzuziehen. Schwimm, was das Zeug hält, hatte Göran ihn beschworen. Ludger orientierte sich, ließ die Wellen von vorn anrollen und begann, mit vollem Einsatz zu schwimmen. 500 Meter in der aufgewühlten See würden ihm alles abverlangen. Gleichmäßig zog er die Arme durch und stieß sich mit den Beinen vorwärts.

Nach einigen Armzügen stoppte er und horchte. Ein undefinierbares Summen, zerfetzt vom Knattern des Windes, kam von hinten auf. Das Geräusch gewann an Kraft, wurde lauter und drohender, wandelte sich zum Schnarren eines Außenbordmotors. Die suchen uns. Ludgers Angst drohte ihn zu lähmen. Aber er musste weiter. Er warf sich erneut dem Seegang entgegen, hielt den Körper im Wasser und tauchte bei jedem Schwimmzug mit dem Kopf unter. Zwischen den weißen Schaumkronen dürften sie ihn so schwerlich entdecken, hoffte er. Seine Furcht trieb ihn an; er schwamm und schwamm und schwamm. Die Arme wurden schwerer, seine Kleidung zog ihn hinab und die Kälte kroch unter die Haut. 500 Meter, hatte Göran gesagt. Ihm steckten bestimmt schon 1.000 in den Knochen.

Wenigstens hatte er die Verfolger abgehängt, das Lärmen des Schlauchbootmotors war verschwunden. Um Ludger herum tobte nur noch der Sturm. Er schwamm weiter. Doch den Armzügen fehlte die Energie. Sie glitten mechanisch durch die See, langsam und träge, wie das Schaufelrad eines Dampfers, dem der Brennstoff ausgegangen war. Ludger hielt erneut inne, verschnaufte und warf sich dem nächsten Wellenberg entgegen. Sekunden später schmerzten die Glieder abermals.

Plötzlich zuckte ein Lichtblitz über den Himmel und gleich darauf ein zweiter. Vor Ludger schoben sich die Wolken auseinander und gaben die Spitze eines Turms frei, der einen dritten und vierten Blitz in die Nacht hinausschleuderte. Der Leuchtturm! Und da, als hätten die Lichtblitze das Meer gezähmt, kräuselte sich die Wasseroberfläche unter winzigen Wellen, wenige Meter von Ludger entfernt. Er bot seine letzten Kräfte auf, schwamm einige Armzüge und richtete sich auf. Die Füße ertasteten festen Untergrund und das Wasser reichte ihm nur noch bis zur Hüfte.

 


2

Svenja Windisch hastete den Abhang von der Straße zur Baustelle hinauf. Oben angekommen atmete sie tief durch. Diese kleine Anhöhe bereitete ihr sonst keine Schwierigkeiten. Aber heute an diesem 16. Juli, bei 34 Grad, da lief der Schweiß in Strömen über Nacken und Gesicht. Obwohl dieser Sommer eher mit Regen, Sturm und herbstlichen Temperaturen aufwartete, brannte die Sonne seit gestern von einem wolkenlosen Nachmittagshimmel. Zwei Tage Sonnenschein hatten den nassen Sand der Baustelle ausgetrocknet und in feinkörnigen Staub verwandelt.

»Wirst wohl doch langsam alt«, schnaufte Svenja. »Aus dem Bambi wird eine betagte Ricke mit 42 Lenzen auf dem Buckel.«

Schon während der Schulzeit hatten sie die Freundinnen Bambi gerufen. Und Svenja hatte diesen Spitznamen geliebt wie ihre kastanienbraunen Haare, die dunklen Augen und das schmale Gesicht. Auf der Uni rief sie kaum jemand bei ihrem Kosenamen. Heute nannte sie nur noch Pit, Peter Itzig, von der Weserzeitung, so.

Vor Svenja breitete sich eine graue Einöde aus, die sie an Aufnahmen der Mondoberfläche erinnerte. In der Zeit der Mittagspause lag das Gelände verlassen da. Seit einem Jahr stapfte sie oft hier herum. Imke Dorfner vom Bremer Senat hatte damals gefragt, ob sie den Fortgang der Bauarbeiten an der neuen Autobahn A 281 in Wort und Bild dokumentieren könne. Svenja hatte sich zwar gewundert, warum man gerade zu ihr kam, aber nicht lange überlegt und zugegriffen. Bei den mageren Honoraren der Weserzeitung, für die Svenja als Gelegenheitsjournalistin arbeitete, freute sie sich über jeden Zusatzverdienst. Mittlerweile machte ihr die Arbeit auf der Baustelle sogar Spaß. Frau Dorfner stellte hohe Anforderungen an Fotos und Begleittexte und forderte damit Svenjas Ehrgeiz heraus.

»Andere liegen bei der Hitze an der Nordsee im Strandkorb und ich springe in dieser Pampa herum!«, schimpfte sie laut und kämpfte sich durch den Sand. Am Rand einer Baugrube blieb sie stehen. Auf der gegenüberliegenden Seite stand ein Kettenradbagger und auf der Sohle des Kraters eine Raupe. »Komm, mach ein paar Bilder und hau wieder ab«, sagte sie sich und sah durch den Sucher ihrer Kamera. Svenja sehnte sich nach einer Dusche. Der Staub der Baustelle mit ihrem Schweiß getränkt, zwickte am ganzen Körper, wie ein Trupp wild gewordener Ameisen. Sie nahm die Raupe ins Visier und drückte drei, vier Mal auf den Auslöser. Aber die Perspektive missfiel ihr. Solche Knipsbilder würde Imke Dorfner mit ungerührter Miene vom Tisch fegen. Svenja überlegte. Sie starrte auf die beiden Baumaschinen: die Planierraupe im Vordergrund und den Kettenradbagger darüber – ›Zwei Kolosse im Kampf gegen die Wüste‹. Ja, das wär’s. Sie lief in die Baugrube hinunter, prüfte den Blickwinkel und schoss ihre Fotos. Wenig später rieb sie sich zufrieden die Hände an der Hose ab; ihre Kolosse mussten der Auftraggeberin gefallen. Sie wandte sich zum Gehen und schaute noch einmal in die Runde. Da blieben ihre Augen an dem stählernen Schild der Planierraupe hängen. Der Fahrer hatte sie in halber Höhe stehen lassen. Wenn ich unter die Raupe krieche … schräg nach oben … Svenja sah an sich herunter – dreckig war sie eh.

Kurz entschlossen robbte sie unter das Ungetüm. Der Gestank von Diesel, Öl und Abgasen empfing sie. Svenja nahm die Kamera hoch und kontrollierte den Bildausschnitt. Verdammt – die Schaufel der Raupe verdeckte den oberen Rand des Baggers. Sie legte den Fotoapparat auf den Boden, konnte jetzt aber nicht mehr durch den Sucher sehen. Sie brauchte dieses Foto, wollte es unbedingt machen und begann mit den Händen zu buddeln. Plötzlich hielt sie inne. Eine helle Platte schimmerte aus dem sandigen Untergrund hervor. Svenja strich behutsam darüber. Das Ding fühlte sich glatt und kalt an, wie mit einer Wachsschicht überzogen und schien konvex gewölbt. Vorsichtig polkte Svenja die Erde beiseite, bis ihre Fingerkuppen zwei Wülste spürten. Sie bückte sich, schloss die Augen und pustete den Rest des Sandes weg. Neugierig öffnete Svenja die Lider, sah auf ihren Fund und schreckte zurück. Mit voller Wucht stieß sie an die Unterseite der Kettenraupe. Ein stechender Schmerz durchzuckte ihren Kopf. Sie massierte die lädierte Stelle und schaute auf die Platte – die Platte, die sich als Schädeldach entpuppte, als Teil eines menschlichen Schädels, aus dem sie zwei dunkle Augenhöhlen anstarrten. Hastig tastete Svenja nach ihrer Kamera, schoss mehrere Fotos und kroch unter der Raupe hervor. Das Fundstück, das hell schimmernd im Boden steckte, hielt sie aber in seinem Bann gefangen. In Svenja erwachte die Geschäftsfrau. Schlummerte dort eine Story, eine Seite-1-Story während des Sommerlochs? Sie musste die Polizei rufen! Umständlich holte sie ihr Handy aus der Jeans, warf noch einen Blick auf den Schädel und wählte mit zitternden Fingern 110.

 


3

Die Villa lag am Ende der Straße – eine Sackgasse, wie sie für gut betuchte Hauseigentümer oft angelegt wurde, um lärmenden Durchgangsverkehr fernzuhalten. Der gelbe Putz glänzte wie Blattgold in der Sonne des späten Nachmittags. Ein zwei Meter hoher gusseiserner Staketenzaun mit schwungvollen Zierspitzen, der an einen englischen Park erinnerte, schützte das Anwesen vor unwillkommenen Besuchern. Ludger überquerte die Fahrbahn und näherte sich dem Grundstück. Ein glänzendes Messingschild am Zaun verriet den Namen des Hausherrn: ›Göran Grewe‹. Ludger klingelte. Kurz darauf schnarrte das Schloss am Gartentor, während gleichzeitig die Tür des Hauses aufsprang.

»Mensch, wo bleibst du denn?« Göran hopste die drei Stufen herunter und rannte auf Ludger zu. »Los, komm rein.«

Göran schien die Strapazen ihrer Flucht völlig unbeschadet überstanden zu haben. Seine schwarzen, nach hinten gekämmten Haare lagen exakt ausgerichtet, als hätte er jede Strähne einzeln frisiert. Das markante Kinn glänzte frisch rasiert und die grünbraunen Augen funkelten. Seine gut 50 Jahre sah man ihm auch heute nicht an. Neben seinem smarten Chef fühlte sich Ludger wie ein Landstreicher.

»Wo hast du die letzten sechs Tage gesteckt?«, fragte Göran, schloss das Gartentor hinter Ludger und drängte ihn in Richtung Haus.

»Ich hing ewig auf Neuwerk fest.«

»Nee ne? Da pilgern täglich tausende von Wattwanderern zum Festland rüber. Wärst du einfach mitgegangen, das hätte niemand gemerkt.«

»Aber meine Sachen! Die waren nass. Die musste ich erst trocknen.«

»Du Idiot!« Göran tippte sich mit dem Zeigefinger an die Stirn. »Eine bessere Tarnung gibt’s überhaupt nicht. Ständig tauchen irgendwelche Wattlatscher in einem Priel ab und rennen danach genauso durchnässt herum.«

»Was weiß denn ich? Ich war noch nie an der Nordsee.« Ludger steckte die Hände in die Taschen und stapfte ins Haus. Die Fragerei nervte ihn; hatte er sich doch gewünscht, Göran im Anschluss an ihr Abenteuer meiden zu können. Ludger hatte keinesfalls auf Neuwerk festgesessen. Bereits am Tag nach der Flucht war er aufs Festland nach Cuxhaven gegangen, um seinen Kumpel Ivo Janning zu suchen. Von dort war vor Jahren dessen letzte Nachricht gekommen, unheimlich, wie sein anschließendes Schweigen. Ludger war in der Nordseestadt umhergestreift, ohne auch nur die kleinste Spur seines Freundes zu finden. Ebenso war sein Versuch gescheitert, Edgar Nadler vom Institut für Entwicklungshilfe und Kooperation in Bremen zu sprechen. Der weilte bis zum kommenden Donnerstag auf einer Auslandsreise. Und so musste Ludger eben auf fremden Rat verzichten und zu seinem Chef Göran zurückkehren, um die offenen Fragen zu besprechen.

»Ich war gleich vergangenen Mittwoch wieder hier und habe mir Sorgen gemacht.«

»Ach ja?« Ludger blieb stehen. »Wir treffen uns am Leuchtturm, im Laufe des Tages. Wer hatte das vorgeschlagen?«

Göran zupfte sich an der Nase und strich mit der Hand übers Kinn. »Ich wollte zügig weg von Neuwerk. War mir zu heiß und die Flut wartet nicht. Da bin ich halt los.«

»Klasse! Mich durften die Schweine ruhig erwischen, wenn sie gesucht hätten. War schließlich klar, dass wir uns auf die Insel abgesetzt hatten.«

»Ist ja gut; jetzt bist du doch da.« Göran schob Ludger den Korridor entlang.

»Du machst’s dir einfach. Aber lass mal, ich haue gleich wieder ab.«

»Was?« Göran riss die Augen auf. »Wo willst du hin?«

»Nach Hause.«

»Wieso das denn?« Göran drängte Ludger ins Wohnzimmer. »Komm rein.«

Rustikale Eichenmöbel und eine schwere Couchgarnitur aus braunem Leder ließen den Raum ebenso gediegen aussehen, wie sich das gesamte Anwesen dem Betrachter von außen präsentierte.

»Du kannst hier nicht aufkreuzen und sofort weiterziehen.«

»Ach nein?« Ludger stemmte die Hände in die Hüften. »Deine tollen Ideen haben uns richtig in die Scheiße geritten. Wir sind die Beweise los, ohne das Geld zu bekommen.«

»Genau!« Görans Körper straffte sich und in sein Gesicht kehrte so etwas wie Zuversicht zurück. »Und mit der fehlenden Penunze bleiben unsere Probleme, deine Probleme.«

»Was soll das?«

»Darüber reden wir nachher in Ruhe. Ich habe drüben einen riesigen Partykeller, da ziehst du ein. Vorher essen wir aber erst einmal.«

Binnen Minuten zauberte Göran Speisen und Getränke auf den Tisch und bewirtete Ludger wie einen reichen Erbonkel.

 

*

 

Jetzt lungerte er hier unten rum und seine Andrea wartete zu Hause auf ein Lebenszeichen von ihm, und das seit einer Woche. Ludger saß auf einem der Barhocker, kippte den Whisky in einem Zug herunter und drehte sich einmal langsam um die eigene Achse. Eigentlich gefiel ihm der Partykeller, den er bezogen hatte. Der Raum besaß zwar keine Fenster, aber die Stirnseite glänzte in hellem Licht, das tagsüber durch einen Spalt in der Decke hereinkam und sich über einen Spiegel auf die gesamte Wand verteilte. Bei Dunkelheit beleuchteten Neonstrahler das lebensgroße Bild mit Palmenstrand und untergehender Sonne. Diesen Keller musste Göran früher wirklich als Partyraum benutzt haben; fünf Tische mit bequemen Sesseln, eine teure Musikanlage und ein Flachbildfernseher sorgten neben dem großen Tresen für eine gediegene Atmosphäre. Das riesige Regal hinter der Bar bog sich förmlich unter all den Spirituosen. Gleich daneben verbarg eine quadratische Luke den Lastenaufzug, mit dem sie vorhin einige Lebensmittel aus dem Wirtschaftsraum von Görans Haus herabgelassen hatten.

Kurz vor sechs. Ludger stand auf und ging nach nebenan, wo der Schlafraum lag. Ein Bad mit Dusche komplettierte sein Reich. Er schaltete den zweiten Fernsehapparat über dem Bett ein und legte sich hin. Der ruhige Tonfall des Nachrichtensprechers ließ ihn in einen Dämmerzustand hinübergleiten.

»Aufstehen!«

Ludger schreckte hoch. Görans Gesicht schwebte über ihm.

»Los, aufstehen, wir haben zu reden«, mahnte er und zog Ludger am Arm. Der quälte sich aus den Kissen, schüttelte den Kopf und folgte seinem Gastgeber an den Tresen.

»Wo hast du dieses blöde Geheimdokument 0088/89? Ich weiß, dass du es hast!«

Göran bluffte. Oder? Ludger überlegte. Hatte er sich verraten? Letzte Woche auf dem Schiff? Möglichst gleichgültig fragte er: »Und wenn?«

»Wir brauchen das Papier.«

»Bekommen wir dafür das Geld?«

»Ja.«

»Und falls nicht? Ich meine, welche Garantien haben wir?«

»Keine. Wir sitzen richtig in der Scheiße.« Göran nickte auffordernd. »Also. Wo ist es?«

Zu Hause, wollte Ludger sagen, hielt aber inne. »In Stralsund. Ich habe es damals gut versteckt. Immerhin handelte es sich um ein Geheimpapier.«

»Das Ding muss her, koste es, was es wolle. Dann kriegen wir die Knete und die Kerle lassen uns in Ruhe.«

»Das haben die Gangster dir versprochen?«

»Ja!«

»Ebenso, wie das Geld für die Pistole und meine Aufzeichnungen?«

»Hast du eine andere Idee?«

Natürlich hatte Ludger keine.

Göran fasste ihn bei den Schultern. »Wir brauchen das Dokument! Die haben mir eine Woche gegeben.«

»Eine Woche?«

»Eine Woche seit letztem Mittwoch. Ich war kaum hier, da standen die vor der Tür.« Göran schüttelte ihn. »Wenn die das Papier bis morgen bekommen, wird alles gut – glaub mir. Ansonsten machen die uns platt.«

Ludger sprang von seinem Barhocker. »Wir hauen ab.«

Göran erhob sich langsam. »Wohin? Willst du dein restliches Leben im Untergrund verbringen? Ich kann sowieso nicht weg. Was wird aus meiner Firma? Oder meinst du, ich komme nach Hause zurück und verschwinde gleich wieder? Nein, wir gehen anders vor.«

»Ach ja?«

»Pass auf: Du rufst deine Frau an, sagst ihr, wo das Ding steckt, und ich beordere sie hierher nach Verden. Schließlich ist sie ja Leiterin der Disposition in meinem Stralsunder Werk. Sie wird eben in der Firmenzentrale gebraucht.«

Bei Ludger krampfte sich der Magen zusammen. Er sollte Andrea mit reinziehen? Auf keinen Fall! Mit einem naiven Unterton fragte er: »Ich greife jetzt zu deinem Telefon und erzähle das alles meiner Ehefrau? Oder du gibst mir dein Handy?«

»Nein, bloß nicht. Wenn die mich abhören? Wir fahren zu irgendeiner Telefonzelle und rufen sie von dort aus an.«

Ludger kam eine Idee. »In Ordnung! Aber ich geh’ allein. Ein kleiner Lauf wird mir guttun.«

Göran lächelte. »Na also. Ich beordere morgen früh Andrea her.«

Versuchs nur, dachte Ludger. Sie wird zu Hause bleiben.

 


4

Hauptkommissar Otto Löffler stand am Rande der Baugrube und sah auf deren Sohle hinab. Die Kriminaltechniker hatten den Platz um die Planierraupe in eine archäologische Grabungsstätte verwandelt. Flatternde Absperrbänder und weiße Nummerntäfelchen markierten die Fundstelle des Skeletts.

Kriminaldirektor Herzog hatte den Fall an Löffler übertragen und erwartete vor allem eine schnelle Aufklärung, schließlich durfte der Baufortschritt der Autobahn nicht gefährdet werden. Oberkommissar Marc Müller, im Präsidium Müller III gerufen, sollte die Ermittlungen unterstützen. Löffler arbeitete gern mit dem jungen Kollegen zusammen, denn Müller III besaß Biss und Engagement. Er glich eher einem Halbwüchsigen als einem Kommissar; maß kaum 1,65 Meter, hatte kleine Ohren, große Augen und blonde Haare, die nach Löfflers Ansicht viel zu lang waren, stets zu einem Zopf gebunden. Wenn Müller III irgendwo an einem Tatort auftauchte, hielt man ihn für einen Jugendlichen, der sich unter die Schaulustigen mischte. Müller III nutzte die natürliche Tarnung für seine Arbeit; er gab sich neugierig und erfuhr so Einzelheiten, die einem Beamten niemals erzählt wurden.

Ausgerechnet heute müssen wir hier draußen rumturnen, nörgelte Löffler innerlich, bei dieser Hitze. Er holte sein Tuch aus der Tasche, wischte sich über seine Halbglatze und sah in die Runde. Müller III stand einige Meter von ihm entfernt und verabschiedete eben einen der Techniker.

»Hast du die Aussage der Windisch?«, rief Löffler dem Oberkommissar zu.

»Ja.« Müller III kam heran und reichte Löffler zwei Blätter. »Steht allerdings wenig drin.«

»Das wollen wir mal sehen.« Löffler nahm das Protokoll und vertiefte sich in den Text. Schon beim Umblättern ärgerte er sich. Der Bericht bot wirklich wenig Erbauliches. Schließlich gab er die Papiere zurück. »Was sagt der Doktor?«

»Der Schädel weist drei Löcher auf, die er nicht haben dürfte. Doktor Wallner hält sie für Schusswunden, jedenfalls nach seiner ersten Begutachtung.«

»Hinweise zur Identität?«

»Keine. Im Umkreis des Skeletts liegen zahlreiche Gegenstände. Aber ob die zu dem Toten gehören? Bis vor einigen Wochen quakten hier Frösche in einem Tümpel. Da wird viel Müll dabei sein.«

»Die Leiche lag im Wasser?«

»Ja.«

»Na bravo.« Löffler wischte sich erneut über den Kopf. »Das nutzen die Gerichtsmediziner gleich wieder als Ausrede, wenn sie im Dunkeln tappen.« Er wandte sich halb ab. »Die Fundstücke lässt du alle fotografieren!«

»Na klar.«

»Ich fahr zurück ins Präsidium und erwarte dich heute Nachmittag zu einem ersten Bericht. Der Chef will Ergebnisse sehen.«

 

*

 

Die Sonne stand über dem Haupttor des Polizeipräsidiums. Obwohl die Uhr bereits kurz nach acht zeigte, lastete immer noch eine brütende Hitze auf Bremens Straßen und Dächern. Löffler lehnte am Rahmen des offenen Fensters, blickte hinaus und atmete tief die Abendluft ein. Langsam wich der staubige Geruch des Tages dem Duft der Linden unten im Hof. Wo blieb bloß Müller III mit dem Bericht?

Wenig später saß der Kollege zusammen mit dem Gerichtsmediziner Doktor Wallner vor Löffler. »Die Skelettteile entstammen einer männlichen Leiche, circa 30 Jahre alt und 1,80 bis 1,85 Meter groß«, erklärte Wallner. »Als Todesursache kommen zwei Schussverletzungen infrage. Das erste Projektil drang durch die Stirn ein und am Hinterkopf aus. Ein zweiter Schuss verletzte das Schädeldach senkrecht von oben. Eine dazugehörige Austrittswunde fehlt allerdings in der Knochenstruktur.«

»Die Mordwaffe?«, wandte sich Löffler an Müller III.

»Wird schwierig.«

»Die Löcher im Schädel lassen gerade mal auf die Schussrichtung schließen«, ergänzte der Doktor. »Aber ob wir das Kaliber bestimmen können?« Doktor Wallner hob die Schultern. »Auf jeden Fall handelt es sich um eine Kurzwaffe.«

»Selbsttötung?«

»Kaum. Zwei Kopfschüsse aus so unterschiedlichen Richtungen deuten eher auf Fremdeinwirkung hin.«

Löffler schlug die Mappe auf, die Müller III mitgebracht hatte, blätterte und blieb an einer Stelle hängen. »Liegezeit unbekannt? Was heißt das?«

»Dass wir die Liegezeit des Skeletts schwerlich herausfinden werden«, entschuldigte sich der Doktor, »die Leiche lag jahrelang im Wasser.«

Löffler sah kurz zu Müller III, der mit den Achseln zuckte, um sofort wieder Doktor Wallner anzublicken. »Was haben wir noch?«

»Wenig. Die anderen Skelettteile …«

»Müssen Sie erst untersuchen«, unterbrach ihn Löffler und lehnte sich in seinem Bürosessel zurück.

»Ja«, erwiderte Doktor Wallner unterwürfig, als hätte er während der Ermittlungen um Urlaub gebeten.

»Na ja, wir arbeiten ja gerade mal zwei Stunden an dem Fall.« Löffler stand auf. »Für den Herrn Kriminaldirektor muss das spärliche Material halt reichen. Sie bleiben dran, Doktor! Und du auch, Müller III!«

 

*

 

Die ganze Nacht hatte Svenja wach gelegen und über den Skelettfund nachgedacht. Wenn sie die Geschichte richtig anginge, ließe sich tatsächlich eine Seite-1-Story daraus machen. Aber dazu brauchte sie Informationen, Informationen von der Polizei. Und so fuhr sie gleich am Morgen ins Polizeipräsidium.

»Bitte, Frau Windisch.« Dieser junge Oberkommissar, der Svenja bereits am Fundort des Skeletts vernommen hatte, stand in der Bürotür und lächelte. »Jetzt bin ich für Sie da.«

»Sie haben mich getäuscht«, schimpfte Svenja sofort los. »Als Gegenleistung für meine Kooperation mit der Polizei hatten Sie mir Informationen versprochen. Und?« Sie holte tief Luft. »Nichts!«

»Kommen Sie erst einmal herein«, sagte der Oberkommissar mit einem Lächeln. Müller hieß er, fiel Svenja ein, Marc Müller.

Die beiden setzten sich an einen kleinen Besprechungstisch. Müller strich sich übers Kinn, wischte sein Lächeln fort und begann, mit seinem Zopf zu spielen. »Bitte entschuldigen Sie, Frau Windisch, aber von Zusammenarbeit kann keine Rede sein.«

Svenja wollte aufbegehren, Müller dämpfte jedoch ihren Ausbruch mit einem kurzen Kopfschütteln. »Sie haben der Polizei den Fund eines Skeletts gemeldet, eine Aussage gemacht und wir ermitteln. Ein ganz normaler Vorgang.«

Svenja seufzte.

»Dass Sie als Journalistin Informationen benötigen, verstehe ich.« Er lehnte sich zurück. »Doch wofür?«

»Nur durch meine Fotopirsch auf der Baustelle wurde der Tote gefunden.«

»Ja, und?«

»Na«, Svenja stockte. Keine ihrer Erklärungen konnte den Argumenten des Kommissars standhalten – also schaltete sie auf stur. »Ich verlange eine Gegenleistung für meinen Fund.«

Müller setzte zu einer Antwort an, da öffnete sich die Tür des Büros.

»Kommst du bitte mal?« Ein älterer Herr, die Klinke in der Hand, lächelte herüber und winkte Müller zu. Er erinnerte Svenja an ihren Opa, der auch eine Halbglatze und stattliche Ohren hatte. Der Mann hier war aber größer als ihr Großvater, sogar etwas größer als sie selbst. Seine grauen Haare standen nur noch in einem schmalen Kranz um den Kopf herum. Er zwinkerte ihr mit seinen dunklen Augen zu. »Entschuldigen Sie meinen Kollegen einen kurzen Augenblick.«

»Wir sind sowieso fertig«, sagte Müller und sprang auf. »Ich habe Frau Windisch alles erklärt.«

»Sie sind Frau Windisch?« Der Alte kam näher und reichte ihr die Hand. »Hauptkommissar Löffler, ich leite die Ermittlungen. Dann haben wir Ihnen diesen ominösen Fall zu verdanken.«

»Ja, ähm …« Svenja sah Hilfe suchend zu Müller.

Der Hauptkommissar tätschelte ihr die Schulter, beugte sich zu ihr vor und flüsterte: »Lassen Sie mal. Ein Skelett ist allemal interessanter, als hinter Taschendieben herzujagen.« Etwas lauter ergänzte er: »Herr Müller ist in wenigen Minuten wieder da.« Löffler lief zur Tür und deutete seinem Kollegen mitzukommen.

»Ich weiß zwar nicht, was wir noch besprechen können«, wandte sich Müller an Svenja, »aber wenn Sie warten wollen, dann bitte draußen auf dem Flur.«

Svenja nickte und ging mit hinaus. Wie in einem Krankenhaus reihten sich in regelmäßigen Abständen einige Stühle an der Wand entlang. Sie setzte sich neben die Bürotür und sah den beiden Männern hinterher, die an der nächsten Ecke verschwanden. Scheiße, dachte sie, jetzt sitze ich hier rum und erfahre doch kein Sterbenswörtchen. Dieser Hauptkommissar Löffler hätte ihr bestimmt etwas erzählt. Ob sie ihn einfach fragen sollte? Nein! Müller würde ihr das verübeln. Svenja lehnte sich zurück und schloss die Augen. So ließ sich am besten nachdenken. Sie brauchte einen Trick, um den Oberkommissar aus der Reserve zu locken?

»Wo ist Müller III?« Eine junge Frau stand in der offenen Tür zum Büro und deutete hinein.

»Kommt gleich wieder«, antwortete Svenja. »Wir sind verabredet. Ich recherchiere für ihn.«

Die junge Frau nickte und setzte sich auf den Stuhl neben Svenja. »Das ist ja interessant. So ein Skelett haben wir auch selten. Sie arbeiten an dem Fall?«

»Ja.« Svenja berichtete von der Baustelle und vom Fund des Schädels.

»Toll«, sagte die Frau und erhob sich. »Ich könnte noch stundenlang zuhören. Aber ich muss weiter.« Sie hielt einen Stapel Papiere hoch. »Die Tatortfotos. Kommissar Müller wollte die schnellstmöglich haben. Ich lege sie ihm auf den Schreibtisch.«

»Ja, danke, ich sag’s ihm.«

Wenig später saß Svenja erneut mutterseelenallein im Flur. Vielleicht ließe sich ein Blick auf die Fotos werfen? Sie sah nach links und rechts. Der Korridor blieb verwaist. Kein Laut war zu hören. Sie stand auf und ging ins Büro. Auf einem der Schreibtische lagen die Bilder. Sie nahm die Aufnahmen in die Hand: die Planierraupe, Details mit Nummerntafeln, der Schädel und andere Knochen. Immer wieder wanderten ihre Augen ängstlich zur Tür. Wenn der Kommissar jetzt hereinkäme, würde es einen riesigen Krach geben. Schnell blätterte sie vorwärts.

Die letzten Blätter zeigten nur noch Müll. Das ganze Zeugs hatte die Polizei wohl im Umfeld des Skeletts ausgegraben. Sie schüttelte den Kopf. Welchen Krempel die Leute bloß in den ehemaligen Teich geworfen hatten? Na gut, die Bilder halfen ihr auch nicht weiter auf dem steinigen Weg zur Seite-1-Story. Svenja wollte den Stapel gerade weglegen, da weckte ein roter Fleck auf einem der Müllfotos ihr Interesse; dunkelrot glänzend wie ein herbstliches Ahornblatt. Sie betrachtete das Bild genauer. Plötzlich trat ihr Schweiß auf die Stirn und das Herz raste. Sie ließ sich auf den Bürostuhl fallen und starrte das Foto an.

»Was machen Sie denn da?« Müller stand vor dem Schreibtisch.

Sie schaute auf, hielt ihm das Bild entgegen und fragte wie in Trance: »Haben Sie das … bei dem Toten gefunden?«

Müller nahm das Blatt in die Hand. »Ja, warum?«

»Ich kenne das, … von früher.«

 

 

 

 


Winter/Frühjahr 1990


5

»Los komm, wir müssen weiter vor.« Andrea zog unentwegt an Svenjas Arm. »Die werden kaum auf uns warten.«

»Ja, ja.« Die Begeisterung hatte Svenja längst verlassen. Hätte sie auch nur die kleinste Ahnung von dem Gedränge gehabt, sie wäre zu Hause in Stralsund geblieben. Aber ihre Freundin Andrea hatte die letzten Tage immer wieder auf sie eingeredet, am 15. Januar mit nach Berlin zu fahren, da würde das Volk der Stasi den Garaus machen.

Svenja hielt inne und stellte sich auf die Zehenspitzen. Bis zum Haupteingang hier in der Ruschestraße mochten es vielleicht 70 Meter sein; 70 unüberwindliche Meter, voller Menschen, die sich wie eine Kolonie Pinguine bei Schneesturm zusammendrängten. Alle wollten das Schauspiel miterleben, wenn nachher Bauarbeiter die Stasizentrale symbolisch zumauerten.

»Jetzt komm endlich«, mahnte Andrea.

Damit die Freundin mit ihrer Nörgelei aufhörte, spannte Svenja ihre Muskeln und warf sich gegen die menschliche Mauer. »Na los, vorwärts!«, rief sie Andrea zu. Die grinste, packte Svenjas Arm und drängte in eine Lücke, die sich links von ihnen auftat. Aber nur für Sekunden, dann schob sich ein massiger Körper zwischen die Frauen. Ein großer schwarzer Hut versperrte Svenja die Sicht. Gleichzeitig zog Andrea nach vorn. Svenjas Finger öffneten sich und sie verlor den Kontakt zur Freundin. Im selben Augenblick wich der Kerl auch noch einen Schritt zurück.

»Aua! Passen Sie doch auf!«, schrie Svenja und drückte mit aller Kraft gegen den breiten Rücken.

Der Hutträger drehte sich um. Zwei riesige Brillengläser auf einer fleischigen Nase sahen sie an. Dahinter rankten dichte Augenbrauen. »Nicht so stürmisch, junge Frau«, sagte er mit einem Grinsen und zwinkerte ihr zu. Sein linker Unterarm steckte in einer Schlaufe und aus dem Ärmel blinkte ein Gipsarm hervor.

»Beinahe hätten Sie mich niedergewalzt!«

Der Kerl nahm seinen breitkrempigen Hut vom Kopf und deutete eine Verbeugung an. Die langen Haare fielen ihm ins Gesicht. »Entschuldigen Sie vielmals.« Seine blauen Augen lächelten hinter den Brillengläsern, schienen mit ihr zu flirten. »Darf ich den Namen der Gnädigsten erfahren?«

»Warum?«

»Für meine Trophäensammlung. Schließlich muss ich wissen, wen ich zur Strecke gebracht habe«, grinste er und verschaffte sich mit einem Stoß nach hinten etwas Platz. Dann setzte er seinen Hut wieder auf und zog ihn fest.

Soweit es die Enge zuließ, musterte Svenja ihn. Seine massige Figur steckte gänzlich in schwarzer Kleidung, gekrönt von diesem breitkrempigen Hut, ebenfalls tiefschwarz. »Sie sehen wie ein Prediger aus, der seiner Gemeinde hinterherläuft.«

»Sie gestatten: Robert Bigalke aus Stralsund. Seit drei Jahren in der Bürgerbewegung, jedoch kein Prediger oder Pastor.«

»Müssten Sie mir bekannt sein? Ich komme auch aus Stralsund.«

Erneut zwinkerte er ihr zu. »Ich gehöre zu den ›Stralsunder 20‹. Wir klopfen der Stadtverwaltung auf die Finger.«

»Von der Gruppe habe ich bereits gehört. Aber die Mitglieder? Nein, kenne ich nicht. Ich bin erst vor einem Vierteljahr vom Studium in Leipzig zurückgekommen.«

»Na, das entschuldigt Sie. Verraten Sie mir noch Ihren Namen?«

»Svenja Windisch.«

Bigalke lupfte seinen Hut. »Sehr erfreut.« Er blickte in die Runde und fasste ihre Hand. »Kommen Sie, Svenja! Jetzt stürzen wir die Stasi. Meine Geheimwaffe wird uns nach vorn bringen.« Er hob seinen linken Arm.

»Was haben Sie da gemacht?«

»Nichts weiter – Unterarm gebrochen – Speiche durch. Ich trat nichts ahnend morgens aus der Haustür und bums, schon lag ich auf dem Gehweg; Mitte Dezember, als es so arschglatt war. Ist aber verheilt. Der Gips kommt Freitag ab. Und heute hilft er uns, hier durchzukommen.«