Cover Image

Bernd Franzinger

Jammerhalde

Tannenbergs siebter Fall

 

 

 

 

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

 

 

 

 

Besuchen Sie uns im Internet:

www.gmeiner-verlag.de

 

 

© 2007 – Gmeiner-Verlag GmbH

Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch

Telefon 07575/2095-0

info@gmeiner-verlag.de

Alle Rechte vorbehalten

 

Lektorat: Isabell Michelberger, Meßkirch

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von Bernd Franzinger

ISBN 978-3-8392-3362-7

 

 

 

 

›Das Beste, was wir von der Geschichte haben,

ist der Enthusiasmus, den sie erregt.‹

 

Johann Wolfgang von Goethe

Prolog

 

Im Ameisenbau herrscht große Aufregung. Ein Spähtrupp ist gerade zurückgekehrt. Er hat eine ergiebige Futterquelle entdeckt und eine Duftspur dorthin gelegt.

Sie gehört zur Jagdabteilung. Ihre zentrale Aufgabe ist die Nahrungssuche. Im Tross der Arbeiterinnen folgt sie der duftmarkierten Straße. Die magische Spur führt an haushohen Holzstämmen und Felsen vorbei hangabwärts. Sie wuselt über Riesenblätter hinweg, überwindet frisch aufgeworfene Erdwälle.

Kein noch so schwieriges Hindernis kann sie von ihrem Auftrag abbringen. Mit all ihren Sinnen ist sie ausschließlich auf das konzentriert, was Mutter Natur ihrer Spezies einprogrammiert hat: Futter für die wertvolle Nestbrut zu beschaffen. Zu nichts anderem ist sie geboren worden.

In ihrem Jagdrevier ist sie täglich unterwegs. Hier kennt sie jedes Gewächs, jeden Stein, jedes Blatt. Die dicke Laubschicht speichert die Feuchtigkeit. Selbst jetzt im Hochsommer finden sich an diesem schattigen Nordhang noch reichlich Insektenlarven – die Leibspeise der Königinnen.

Hektisch erklimmt sie das tote Tier. An einer unbehaarten Stelle trifft sie auf ihre Artgenossinnen. Zuerst spritzt sie Ameisensäure auf das Opfer. Dann schlägt sie ihre kräftige Kaulade in den sich windenden Leib. Mit vereinten Kräften ziehen die Arbeiterinnen die dralle Made aus dem grauen, käsigen Fleisch.

Während sie hilft die Beute fortzuschleppen, wird sie plötzlich auf etwas Ungewöhnliches aufmerksam. Etwas, das völlig anders ist als sonst. Es ist der eigentümliche Geruch dieses Tierkadavers. Er ist nicht so streng, sondern milder und vor allem süßlicher. Auch die Haut ist anders– viel weicher.

1

 

Dr. Schönthaler drückte seinen Oberkörper zwischen die Vordersitze und warf den Arm vor die Nase seines Freundes. »Schau mal, da vorne an der dicken Buche. Ist das nicht lustig?«

»Was soll denn an einem Baum lustig sein?«, grummelte Tannenberg.

»Zum Beispiel diese schöne Wandermarkierung, mein liebes, morgenmuffeliges Wölfchen.« Ein schadenfrohes Lachen löste sich aus der Tiefe seines Brustkorbs. »Na, wenn das kein schlechtes Omen für deinen neuen Fall ist. Passt ja auch wirklich ganz genau.«

»Rainer, du nervst.«

»Ach, Gott, bist du wieder schlecht gelaunt. Und dann auch noch so schwer von Begriff«, höhnte der Rechtsmediziner. »Siehst du’s etwa immer noch nicht?«

Tannenberg rollte die Augen, stöhnte dabei auf.

»Sag mal, hast du jetzt etwa auch noch Probleme mit der visuellen Wahrnehmung? Also dann wird es wirklich Zeit, dass wir dich zum Abdecker bringen.« Kopfschüttelnd wandte er sich an die bedeutend jüngere Fahrerin. »Weißt du wenigstens, was ich meine?«

Sabrina brachte den silbernen Mercedes zum Stillstand. Über ihre Schulter hinweg antwortete sie lächelnd: »Nein, Doc, tut mir leid.«

»Ach, Leute, warum seht ihr das denn nicht? Ihr enttäuscht mich gewaltig. Habt ihr etwa Tomaten auf den Augen?«

»Verdammt nochmal, was willst du denn überhaupt?«, blaffte der Leiter des K 1.

Sichtlich amüsiert verkündete der Pathologe: »Die obere Markierung sieht doch genau aus wie ein Trauerkoi. Findet ihr nicht auch?«

Tannenbergs leidende Mimik sprach Bände. »Ein was?«

»Ein Trauerkoi. Erinnerst du dich denn nicht mehr an deinen letzten Fall – der mit dem Koidiebstahl im Japanischen Garten?« Er lachte auf. »Ist der Hollerbach damals Amok gelaufen. Nur wegen dieser blöden Fische.«

»Do-och«, gab Tannenberg genervt zurück. Als er aber an den hysterischen Aktionismus des Oberstaatsanwaltes dachte, huschte ihm trotz der frühen Morgenstunde ein dezentes Schmunzeln übers Gesicht.

»Na, also. Dann weißt du ja auch noch, dass der wertvollste Koi, der mit der japanischen Flagge auf dem Rücken war: großer roter Punkt auf schneeweißem …«

»Ja, und?«

Dr. Schönthaler packte seinen Freund am Schultergelenk, rüttelte fest daran. »Kapierst du denn immer noch nicht, worauf ich hinaus will?«

»Nein«, knurrte der Kriminalbeamte. »Lass mich doch endlich in Ruhe.«

»Mann, Mann, bist du wieder mal begriffsstutzig! Das weiße Rechteck mit dem großen schwarzen Punkt in der Mitte da vorne an der Buche …«

Nun verstand Tannenberg endlich. »Du kannst ja Trauerkois züchten«, prustete er los, »und sie den japanischen Bestattungsunternehmen anbieten. Das ist garantiert die Marktlücke.«

»Entschuldigung, die Herren, wenn ich störe: Aber wie komme ich denn nun von hier aus am schnellsten zu dieser ominösen Jammerhalde?«, mischte sich Sabrina ein.

»Nimm ruhig den Weg mit den Trauerkois. Da kommst du direkt hin. Das ist zwar viel weiter als untenrum über die L 502.« Dr. Schönthaler schlug sich mit der flachen Hand an die Stirn. »Von der Rothen Hohl zur Jammerhalde – so ein Quatsch. Da hätten wir ja auch gleich über Paris fahren können. Nur weil dein starrköpfiger Beifahrer mal wieder unbedingt seinen Willen durchsetzen musste.«

»Mensch, Rainer, halt jetzt endlich mal die Klappe. Du entwickelst dich immer mehr zu einem alten, keifenden Marktweib.«

»Da müsste ich allerdings zuerst noch eine Geschlechtsumwandlung durchführen lassen.« Der Rechtsmediziner fand offensichtlich zunehmend Gefallen an der frühmorgendlichen Kabbelei. »Sabrina, weißt du eigentlich, warum dein Chef sich vorhin wieder einmal als der ortskundigste Polizist der Pfalz aufgespielt hat?«

»Nee.«

»Ganz einfach: Weil er in seiner Sturm- und Drangzeit mal eine Freundin in Dansenberg hatte. Die war zwar alles andere als appetitlich«, demonstrativ schüttelte sich der Pathologe wie ein nasser Eisbär, »aber dein Chef war damals so was von extrem triebgesteuert, kann ich dir sagen, der ist …«

»Rainer, hör auf!«

»Nein, bitte nicht. Ich finde das ausgesprochen interessant«, bemerkte die attraktive Kriminalbeamtin mit einem süffisanten Lächeln auf den Lippen.

»Na ja, man kann es sich zwar wirklich nur noch sehr schwer vorstellen.« Der Pathologe brach ab, räusperte sich. »Aber in seiner Brunstzeit war dieser ältere Herr neben dir bei der Damenwelt überaus gefürchtet.«

»Wieso denn das?«, fragte Sabrina neugierig nach.

»Na ja, wegen seines permanenten Triebstaus eben.«

»So, so. Erzähl mal.«

Um die Spannung noch ein wenig zu steigern, zögerte Dr. Schönthaler seine Antwort eine Weile hinaus. Er legte den Kopf schief und schien darüber nachzudenken, welche seiner Informationen er nun preisgeben sollte.

Grinsend fuhr er fort: »Besonders heftig traten diese animalischen Schübe dann zu Tage, wenn dein Beifahrer Alkohol in höheren Dosen zu sich genommen hatte. Und das kam durchaus häufiger vor.« Er veränderte die Tonlage. »Nicht wahr, mein armes, einsames Wölfchen?«

»Kaum zu glauben«, versetzte Sabrina Schauß, während sie ihren arg malträtierten Vorgesetzten von der Seite her betrachtete.

Tannenberg versank immer tiefer in seinem Sitz.

Ohne jegliche Rücksicht auf die Höllenqualen seines besten Freundes legte der Rechtsmediziner nach: »Ich kann dir flüstern, Sabrina. Das war vielleicht einer. Ich weiß noch sehr gut, wie oft er mit seiner blauen Zündapp«, er deutete mit dem Zeigefinger schräg hinter sich in Richtung des Heckfensters, »da oben über das Asphaltsträßchen nach Dansenberg geknattert ist. Nur damit er diesen potthässlichen Bauerntrampel ins Unterholz zerren konnte.«

»Fahr mal ein bisschen flotter«, forderte der Leiter des K 1, dem diese delikate Zeitreise zusehends unangenehmer wurde. Aus leidiger Erfahrung wusste er nämlich nur zu gut, dass der Rechtsmediziner, wenn er sich verbal erst einmal warmgelaufen hatte, kaum mehr zu bremsen war.

Bekanntermaßen gebärdete sich Wolfram Tannenberg im emotionalen Bereich eher als Grobmotoriker denn als Filigrantechniker. Im Gegensatz zu seinen Mitmenschen belastete ihn diese Facette seiner rustikalen, kantigen Persönlichkeit normalerweise nicht sonderlich.

In Sabrinas Gegenwart war das allerdings anders, denn mit seiner jungen Kollegin, deren väterlicher Freund und Trauzeuge er war, führte er eine für seine Verhältnisse ausgesprochen offenherzige, rücksichtsvolle Beziehung. Sie wusste weit mehr über ihn und seine Probleme mit dem weiblichen Geschlecht, als ihm manchmal lieb war. Nur alles musste sie nun wirklich nicht über seine ereignisreiche Vergangenheit wissen – fand er jedenfalls.

In seiner Not entschloss er sich zu einem Ablenkungsmanöver: »Sag mal, Rainer, hast du zufällig die Geschichte parat, woher die Jammerhalde ihren Namen hat?«

»Ach, der Herr Hauptkommissar versucht mal wieder die Strategie ›Themenwechsel‹.« Dr. Schönthaler tätschelte seine Schulter. »Aber es sei dir gestattet, mein liebes Wölfchen. Du hast ja heute Morgen schon genug Fett abbekommen.«

Tannenberg ignorierte die Bemerkung. »Wisst ihr, als Kinder sind Heiner und ich zwar manchmal mit meinem Vater beim Pilzsuchen …« Den Rest ließ er unausgesprochen. Er krauste die Stirn. »Stand da nicht auch irgendwo ein Gedenkstein herum?«

»Ja, diesen Sandsteinfindling gibt’s immer noch. Und darauf ist eine Gedenktafel angebracht, mein alter Junge. Das ist so ein Metallschild mit mysteriösen Zeichen und Symbolen drauf – ich glaube, man nennt diese kleinen Dinger Buchstaben, oder so ähnlich.«

»Ach ja, davon hab ich auch schon mal was gehört. Diese Geheimschrift kann nur von superschlauen Leichenschnibblern entziffert werden, stimmt’s?«

»Exakt. Und deshalb kann ich dir jetzt auch erzählen, wie die Jammerhalde zu ihrem schaurigen Namen kam. Also spitz die Ohren: Irgendwann im 30-jährigen Krieg nahmen feindliche Truppen die Barbarossastadt ein. Bei diesem sogenannten ›Kroatensturm‹ wurden in kürzester Zeit 1500 Bürger niedergemetzelt. Wer entkommen konnte, floh in den südlichen Reichswald. Unterhalb von Dansenberg wurden diese armen Menschen, zumeist Frauen und Kinder, von ihren erbarmungslosen Verfolgern eingeholt und regelrecht abgeschlachtet. Seitdem heißt dieses Waldstück Jammerhalde. Einer Legende nach kann man selbst heute noch an windstillen Tagen die Wehklagen dieser armen Menschen hören.«

»Das ist aber eine gruselige Geschichte«, versetzte Sabrina, die ihre liebe Mühe damit hatte, das noble Dienstfahrzeug über den staubigen, mit Schlaglöchern übersäten Waldweg zu manövrieren.

Der erste Teil der Strecke war nahezu eben und führte durch einen lichten Hochwald. Dann ging es eine kleine Steigung hinauf. Nach einer Spitzkehre wechselten urplötzlich sowohl die Lichtverhältnisse als auch die Vegetation. Es wurde merklich dunkler und der breite, mit grauem Splitt bestreute Forstweg wurde nun von dichtem Brombeergestrüpp und Brennnesseln besäumt. Die direkt daran anschließenden, undurchdringlichen Kiefern- und Buchenbestände verschluckten das sanfte Morgenlicht eines wolkenlosen Sommertages.

Die sogenannte Jammerhalde empfing die Besucher in Gestalt eines düsteren, dicht bewaldeten Nordhanges. Ein Mantel der Trauer schien über diesem sagenumwobenen Ort zu liegen, der jedes Lachen, jeden Anflug von Fröhlichkeit bereits im Keim zu ersticken drohte. Es herrschte eine Atmosphäre wie auf einem Waldfriedhof. Man hörte lediglich ab und an gedämpfte menschliche Stimmen. In der Ferne heulten leise einige Motorsägen auf. Aus Richtung der Stadt konnte man die markanten Triebwerksgeräusche einer Transportmaschine vernehmen, die sich gerade im Landeanflug auf die Ramsteiner Air Base befand.

Auf der rechten Seite des Forstweges reihten sich in einer Ausbuchtung mehrere Fahrzeuge dicht aneinander. Sabrina parkte unmittelbar dahinter. Tannenberg stieg aus dem Auto und blickte sich kurz um. Ein Gefühl der Beklommenheit übermannte ihn. Andächtig schlenderte er an den Autos vorbei. Nur flüchtig begrüßte er seine uniformierten Kollegen und die beiden Mitarbeiter eines Bestattungsunternehmens.

Linker Hand tauchte der Gedenkstein auf. Es handelte sich dabei um einen wettergegerbten, mit einem sattgrünen Moosteppich überzogenen Sandsteinfindling. Der verwitterte Stein erinnerte Tannenberg spontan an das Grab seiner Ehefrau Lea, das sich auf dem Kaiserslauterer Waldfriedhof befand und das er oft besuchte.

Irgendjemand hatte unmittelbar über der Gedenktafel eine weiße Plastiklilie abgelegt.

Zufall? Oder vielleicht eine Hommage an die unzähligen Toten, die damals diesen Waldboden mit ihrem Blut getränkt haben? Grübelnd ließ er seinen Blick an einer morschen Holzbank vorbeischweben.

Wie aus dem Nichts tauchte eine Szene aus seiner Kindheit vor seinem geistigen Auge auf. Er sah sich und seinen Bruder beim Pilzsammeln, wie sie an dieser Bank vorbeikamen und Rast machten. Fast immer, wenn sie hier saßen und gierig ihre Brote verschlangen, bettelten sie so lange, bis ihnen der Vater die schaurige Geschichte der Jammerhalde in aller Ausführlichkeit schilderte.

Die hatte ich doch tatsächlich ganz vergessen, dachte Tannenberg. Aber jetzt ist sie wieder da.

Jacob hatte diese historische Exkursion nicht selten zum Anlass genommen, um seinen beiden Stammhaltern den aktuellen Stand seiner Ahnenforschungsbemühungen zu präsentieren. Denn die schrecklichen Ereignisse, die vor mehr als 370 Jahren der Jammerhalde ihren Namen verliehen hatten, waren eng mit der Familiengeschichte der Tannenbergs verknüpft.

Dieses schreckliche Fanal und die damals grassierende Pest hatten die Stadt völlig entvölkert. Daraufhin wurden in halb Europa Neubürger zur Wiederbesiedelung der Barbarossastadt angeworben. Unter anderem auch in Österreich, von wo aus sich ein gewisser Augustinus Tannenberg in die Pfalz aufmachte und 1673 das Bürgerrecht der Stadt Kaiserslautern erhielt.

Der Leichenfundort war weiträumig abtrassiert. Die in Plastikoveralls gehüllten Mitarbeiter der Spurensicherung gingen geschäftig ihrer Arbeit nach. Karl Mertel, der Leiter der kriminaltechnischen Abteilung, machte sich gerade hinter einem kleinen Felsen zu schaffen.

Als Tannenberg und seine Begleiter bei ihm eintrafen, erhob er sich und trat einen Schritt zurück. Dadurch gab er den Blick auf den Leichnam frei. Einige Sekunden lang starrten alle schweigend auf den toten Menschen, der da vor ihnen zwischen Farnwedeln und morschem Astwerk lag. Fassungslos lehnte sich Sabrina an den kühlen, verwitterten Felsen. Sie schloss dabei die Augen, während sie heftig nach Atem rang.

»Wohl deine erste Waldleiche, was?«, fragte der Rechtsmediziner.

Die junge Kommissarin nickte. Sie war kreidebleich und zitterte.

Der Kopf des Mannes befand sich etwa fünfunddreißig Zentimeter oberhalb des abgetrennten Korpus. Aufgrund von Tierfraß war vom Gesicht kaum mehr etwas zu erkennen, das linke Ohr fehlte ganz. Der Leichnam war vollständig bekleidet: graumelierter Anzug mit Weste, weißes Hemd, hellblaue Seidenkrawatte, schwarze Socken und Schuhe. Die Hände des Toten waren wie betend ineinanderverschränkt. Allerdings lagen sie nicht in Höhe des Unterbauchs, sondern die überkreuzten Daumen berührten den blutverkrusteten Adamsapfel.

»Wahnsinn«, murmelte Tannenberg kopfschüttelnd vor sich hin. »Was für ein Wahnsinn.«

»Wer tut denn so etwas Barbarisches?«, keuchte Sabrina.

Dr. Schönthaler hatte inzwischen Latexhandschuhe übergestreift und sich links neben dem Leichnam niedergekniet. »Na, wer wohl, mein liebes Sabrinalein?«, fragte er mit ironischem Unterton. »Das war wohl wieder mal das Werk eines deiner Artgenossen.«

Vorsichtig wischte er einige Waldameisen vom Halsstumpf des Toten. »Das war kein Tier. Im Gegensatz zu uns haben die Tiere nämlich nichts anderes im Sinn, als ihre eigene Art zu erhalten. Wir dagegen tun bekanntermaßen alles, um uns selbst zu vernichten.« Ohne zu ihr aufzublicken, ergänzte er: »Wie sagt Goethe so schön im ›Faust‹: ›Er nennt’s Vernunft und braucht’s allein, um tierischer als jedes Tier zu sein.‹ – Trefflich analysiert, Herr Geheimrat!« Geräuschvoll stieß er einen Schwall Luft durch die Nase.

»Das ist ja hochinteressant«, fuhr er nach einer kleinen Pause fort. »Seht ihr diese bräunlichen Verfärbungen hier am Hals?« Er zeigte auf die entsprechende Stelle. »Die werden oft vorschnell als Hautabschürfungen gedeutet.«

In Lehrer-Lämpel-Manier reckte er den Zeigefinger. »Dem ist aber definitiv nicht so. Denn diese Verfärbungen stammen von nichts anderem als von der Ameisensäure, die diese ebenso winzigen wie nützlichen Waldbewohner verspritzen.« Er legte den Finger auf den Hals des Toten, wartete, bis eine Ameise darauf gekrabbelt war und streckte die Hand in Richtung seiner Kollegen. »Und warum machen diese Tierchen das wohl, meine Dame, meine Herren?«

Allseitiges Schweigen.

Der Rechtmediziner zauberte eine Pinzette aus seinem Jackett hervor. Er beugte sich noch ein bisschen tiefer über den auf dem Rücken liegenden leblosen Körper und hantierte an ihm herum. Dann nahm er die Schulter wieder zurück und reckte den Arm in die Höhe. »Um diese possierlichen Gesellen hier zu töten.«

Als Tannenberg die sich windende weiße Made zwischen den Pinzettenschenkeln entdeckte, schürzte er angewidert die Lippen. »Mensch, tu sofort das eklige Ding weg«, pflaumte er seinen Freund an.

Zunächst machte Dr. Schönthaler allerdings keinerlei Anstalten, der Forderung nachzukommen. »Sehr wahrscheinlich eine Calliphora«, murmelte er, während er die Larve genauer inspizierte.

»Eine was?«, ächzte Sabrina.

»Eine blaue Schmeißfliege«, übersetzte der Rechtsmediziner. Danach pflückte er ein kleines Glasdöschen aus Mertels Arbeitstasche und ließ die Made darin verschwinden.

Er verschloss den Deckel, legte den Kopf ins Genick und schaute nachdenklich in das dichte Blätterdach über ihm. »Sie ist bereits über einen Zentimeter lang.« Nun fixierte er Sabrina mit einem fordernden Blick. »Und was können wir daraus schließen, Frau Kommissarin?«

Tannenberg schnaubte verärgert. »Jetzt hör aber mal auf mit diesem blöden Fragespiel. Und lass endlich Sabrina in Ruhe. Du siehst doch, dass es ihr nicht gut geht.«

»Dann beantworte doch du mir diese wichtige Frage.«

»Keine Lust.«

»Alter, sturer Bock!« Erläuternd wandte sich der Pathologe nun an Sabrina. »Also: Wir können daraus schließen, dass die Calliphora schon bald schlüpfen wird. Zur Verpuppung verlässt sie nämlich den Kadaver. Und das wiederum bedeutet, dass seit der Eiablage etwa drei Tage vergangen sein müssen. Ergo: Wenn meine Vermutung zutrifft, dann liegt der gute Mann hier mindestens schon drei Tage im Wald.«

»Aber wie immer: Genaueres erst nach der Obduktion«, meinte Mertel, der die ganze Zeit über interessiert dem kleinen Vortrag gelauscht hatte.

»Richtig. Das ist doch schon mal was, nicht wahr? Soll ich euch noch ein bisschen was über die neuesten kriminalbiologischen Forschungsergebnisse erzählen? Ihr glaubt ja gar nicht, wie ausgesprochen hilfreich die lieben kleinen Insekten zur Todeszeit- und Todesortbestimmung sein können.«

»Danke, kein Bedarf«, versetzte Tannenberg.

Anschließend nahm er seine Mitarbeiterin an der Hand und verließ gemeinsam mit ihr den Leichenfundort. Sie gingen hinunter zu den beiden Streifenpolizisten. »Kollegen, wer hat denn eigentlich den Toten entdeckt?«, fragte er die uniformierten Beamten.

»Eine Spaziergängerin. Besser gesagt ihr Hund«, gab sein untersetzter, etwa 50 Jahre alter Kollege zurück.

»Wann war das?«

»Um 9 Uhr 45 ist der Anruf ihrer Tochter in der Zentrale eingegangen. Die Mutter war dazu nicht in der Lage. Sie stand unter Schock, war völlig fertig. Als wir zu ihr kamen, ging’s ihr aber schon wieder ein bisschen besser. Ihr Schwiegersohn war bei ihr. Der ist Arzt und hat seine Praxis im selben Haus.«

Tannenberg schaute auf seine Armbanduhr. »Also vor gut einer Stunde«, nuschelte er vor sich hin. »Habt ihr die Frau gefragt, ob sie hier im Wald in letzter Zeit irgendwelche interessanten Beobachtungen gemacht hat, vor allem vor etwa drei oder vier Tagen?«

»Ja, das haben wir«, antwortete erneut der ältere der beiden Männer. »Aber das hat nichts gebracht. Sie geht nämlich sonst nie hier lang.«

»Weil es ihr an der Jammerhalde zu gruselig ist, hat sie gesagt«, amüsierte sich sein hochaufgeschossener, etwa halb so alter Kollege.

Der andere warf ihm sogleich einen tadelnden Blick zu und erklärte: »Das heute war eine Ausnahme. Denn dort, wo sie normalerweise ihren Hund ausführt, ist der Waldweg seit gestern gesperrt – wegen Holzfällung.«

»Gut. Habt ihr Ausweispapiere bei dem Toten gefunden?«

»Nein.«

»Und sonstige Hinweise auf seine Identität?«

»Nein, absolut nichts.«

»Auch kein Handy oder sonstwas?«

»Nein. Seine Taschen waren völlig leer. Noch nicht mal ein Taschentuch war drin.« Der junge Streifenpolizist schürzte angewidert die Lippen. »Nur überall diese ekligen Ameisen.«

Tannenberg überging die Bemerkung. An den ranghöheren Beamten gerichtet, fuhr er mit seiner Befragung fort: »Und wie sieht’s mit Schmuck aus: Ring, Kettchen, Uhr?«

Der Hauptwachtmeister schüttelte den Kopf.

»Was ist mit der Vermisstendatei?«

»Ich hab vorhin bei der Zentrale nachgefragt. Aber es gab in den letzten Wochen hier in der Gegend nur eine einzige Vermisstenmeldung: ein 15-jähriges Mädchen.«

»Gut, Kollegen, Danke.«

Der Leiter der Mordkommission schlenderte ein paar Schritte in Richtung des verwitterten Gedenksteins. In tiefen Zügen sog er die feuchte, angenehm kühle Luft ein. Wenige Meter vor ihm erschien hinter einem Sterholzstapel ein Eichhörnchen. Es lugte kurz zu ihm herüber, dann sprang es mit einem Riesensatz an eine Rotbuche und hastete den Stamm hinauf.

Wie aus dem Nichts tauchte plötzlich hinter seinem Rücken ein schnell anschwellendes Motorengeräusch auf. Entsetzt riss er seinen hünenhaften Körper herum. Er wusste sofort, was da im doppelten Wortsinne gerade auf ihn zukam. Die ganze Zeit über hatte er befürchtet, dass Förster Kreilinger an der Jammerhalde auftauchen könnte.

An der Außenseite seines linken Beins verspürte er urplötzlich stechende Schmerzen. Und zwar exakt an der Stelle, auf die er vor fast genau einem Jahr schwer gestürzt war.

Er war damals unter dringenden Mordverdacht geraten. In seiner Verzweiflung hatte er sich eine Weile im Wald versteckt gehalten. Durch Zufall war er dabei auf Kreilinger getroffen, der ihn mit seinem Geländewagen durch den halben Stadtwald gejagt hatte. Dabei stürzte er schwer und konnte nur in letzter Sekunde seinem Häscher entkommen.

Die stechenden Schmerzen in seinem Bein hatten keine körperliche Ursache. Denn schließlich waren die Hautabschürfungen und Prellungen schon lange verheilt. Es waren vielmehr die tiefen Wunden in seiner Seele, die gerade diese heftigen Schmerzattacken hervorriefen. Das markante Fahrgeräusch des Jeeps, das immer näher kam, hatte völlig ausgereicht, um die traumatischen Erinnerungen erneut zu aktualisieren. Die existenzbedrohenden Ereignisse hatten ihn damals so sehr an die Grenzen seiner psychischen Belastbarkeit geführt, dass ihn auch heute noch ab und an fürchterliche Albträume plagten, aus denen er dann schweißgebadet und am ganzen Körper zitternd erwachte.

Der Geländewagen preschte um die Kurve und schoss direkt auf die Polizeiabsperrung zu. Gerade noch rechtzeitig legte der Fahrer eine Vollbremsung hin. Das mächtige, verchromte Rohrgestänge der Frontpartie des Jeeps kam nur wenige Zentimeter vor dem Absperrband zum Stillstand. Breit grinsend stieg Kreilinger aus. Von einer kleinen Staubwolke verfolgt, schritt er betont lässig auf die Jammerhalde zu.

Wolfram Tannenberg war noch immer wie gelähmt. In Zeitlupe wanderten seine Augen von dem protzigen Rammschutz des Geländewagens hinüber zu dem ganz in Grün gewandeten Revierförster. Kreilinger war mit einem olivfarbenen, kurzärmeligen Hemd und einer gleichfarbigen Hose bekleidet, die von zwei großen aufgesetzten Beintaschen optisch dominiert wurde. Dazu trug er einen Dreispitz-Jagdhut, sein Markenzeichen.

Als der Kriminalbeamte den Hut aus grün meliertem Loden erblickte, den eine umlaufenden Zierkordel schmückte, tauchten in seinem Bewusstsein urplötzlich weitere Erinnerungsbilder auf.

In seinem ersten Fall als Leiter der Mordkommission hatte ein psychopathischer Frauenmörder Angst und Schrecken in der Gegend verbreitet. In der aufgeheizten Stimmung gründete sich damals eine Bürgerwehr. Kreilinger hatte sich selbst zum Hilfssheriff ernannt und im Wald Jagd auf den Serientäter gemacht.

Mit Schrecken erinnerte sich Tannenberg daran, wie der Revierförster damals einen ›harmlosen‹ Exhibitionisten mit einem Kälberstrick gefesselt ins K 1 geschleppt hatte. Der Unschuldige konnte dem enormen psychischen Druck des Tatverdachtes nicht standhalten und hatte sich wenig später das Leben genommen. Der zweite Gedankensplitter bezog sich auf den dramatischen Showdown dieser spektakulären Mordserie an einem großen Felsen am Naturfreundehaus im Finsterbrunnertal, bei dem der Förster ebenfalls eine äußerst unrühmliche Rolle gespielt hatte.

Den Leiter des K 1 durchzuckte ein stromschlagartiger Energieblitz, der ihn erschaudern ließ. Er hatte das Gefühl, dass sich seine Nackenhaare steil aufrichteten und sich seine Fußnägel nach oben bogen.

»Bleiben Sie sofort stehen!«, brüllte er.

Kreilinger reagierte nicht. Seine Körpersprache strotzte geradezu vor Arroganz. Er ging mit kraftvollen Schritten weiter, während sein herausforderndes Grinsen noch ein wenig breiter wurde.

»Sind Sie taub? Sie sollen stehenbleiben. Treten Sie sofort hinter die Absperrung zurück!«, blökte Tannenberg.

Der Förster hatte inzwischen den erzürnten Kriminalbeamten erreicht. Er stand etwa einen Meter von ihm entfernt. Die Arme in die Hüfte gestützt verkündete er mit demonstrativer Gelassenheit: »Herr Hauptkommissar, Sie glauben doch nicht im Ernst, dass ich mir in meinem Wald von Ihnen Vorschriften machen lasse.«

In Tannenbergs Innerem brodelte es wie in einem Vulkan unmittelbar vor dessen Ausbruch. Trotz der tiefsitzenden Abscheu gegenüber diesem Menschen versuchte er, seine aufschäumende Aggressivität einigermaßen im Zaum zu halten.

»Was ist denn überhaupt passiert?«, fragte Kreilinger neugierig. Als sein Gegenüber nicht umgehend antwortete, ließ er ihn einfach stehen und setzte sich in Richtung des Leichenfundortes in Bewegung.

»Los, Kollegen, bringt diesen sympathischen Zeitgenossen zurück hinter die Absperrung. Legt ihm zur Not Handfesseln an.«

Die beiden Streifenbeamten stellten sich daraufhin dem verdutzten Förster in den Weg.

»Wissen Sie was?«, meinte Tannenberg hinter seinem Rücken. »Wir lösen das Problem mit Ihnen ganz anders: Ich erteile Ihnen hiermit Platzverbot. Dies ist eine polizeiliche Anordnung. Sie tritt sofort in Kraft und gilt für einen Umkreis von 200 Metern. Falls Sie dieser Anordnung nicht umgehend Folge leisten, werden meine Kollegen Sie unter Anwendung von Zwangsmitteln von hier wegbringen.«

Kreilinger stutzte. Während seine Mundwinkel wieder nach unten wanderten, zog er die Stirnpartie in Falten. Mit solch einer gravierenden Maßnahme hatte er offensichtlich nicht gerechnet.

»Warum?«, fragte der Revierförster mit weit aufgerissenen Augen.

»Weil Sie die Ermittlungsarbeit stören«, gab der Leiter des K 1 lapidar zurück.

»Aber ich mache doch gar nichts«, protestierte Kreilinger.

»Natürlich tun Sie das. Sie behindern die Ermittlungsarbeit.«

»Wieso denn? Ich will nur wissen, was in meinem Revier passiert ist. Als zuständiger Forstbeamter ist das sogar meine Pflicht. Außerdem störe ich überhaupt niemanden bei seiner Arbeit.«

»Doch, mich stören Sie. Und zwar massiv. Allein schon die Anwesenheit Ihrer Person behindert mich bei meiner Ermittlungsarbeit.« Geschwind öffnete Tannenberg einen Knopf an seinem Hemdärmel, schob diesen nach oben und streckte den Arm nach vorne. »Sehen Sie selbst: Auf Menschen wie Sie reagiert meine Haut allergisch. Ich bekomme einen Ausschlag.« Bevor sich jedoch der Revierförster selbst von dieser merkwürdigen Behauptung überzeugen konnte, hatte sein Kontrahent bereits wieder den Unterarm mit Stoff bedeckt.

»Schon gut, Herr Hauptkommissar. Ich geh ja schon. Wie heißt es so schön im Volksmund: ›Der Klügere gibt nach.‹ Ist mir doch egal, was Sie hier veranstalten.«

Während Kreilinger kopfschüttelnd an ihm vorbeischlenderte, drehte sich Tannenberg angewidert weg. Er ging zu den beiden Polizeibeamten, die neben ihrem Streifenwagen standen und eine Zigarette rauchten. Flüsternd bat er sie, den Förster zu befragen, ob er innerhalb der letzten Tage irgendwelche auffälligen Beobachtungen in seinem Revier gemacht habe. Anschließend trottete er zu dem stark bemoosten Sandsteinfindling und las kurz über den Text der Gedenktafel.

Plötzlich vibrierte sein Handy.

»Nein, ich kann nicht … Nein, es geht nicht … Nein, wirklich, ich hab keine Zeit.« Die Penetranz der Anruferin war ihm offensichtlich ausgesprochen unangenehm. Er senkte die Stimme, drehte Mertels Kollegen den Rücken zu und stieg ein paar Schritte den Hang hinauf. »Mutter, bitte… Nein, ich kann nicht zum Essen kommen.«

Er befand sich nur noch höchstens zwei Meter von Mertel und Dr. Schönthaler entfernt. Inzwischen waren nicht nur die Kriminaltechniker, sondern auch der Rechtsmediziner auf das Gespräch aufmerksam geworden. Neugierig erhob er sich und schaute hinunter zu seinem Freund.

Wolfram Tannenberg fing seinen Blick auf. Während Margot weiter auf ihn einredete, rollte er die Augen. »Mutter«, knurrte er genervt, »die Kartäuserklöße kann ich doch auch noch später essen.«

»›Rostige Ritter‹?« Dr. Schönthaler schmatzte genüsslich. »Die hab ich schon ewig nicht mehr gegessen.« Er machte zwei Schritte auf Tannenberg zu, reckte ihm fordernd einen Arm entgegen. »Wolf, gib mir mal dein Handy.«

Der Angesprochene war dermaßen verblüfft, dass er ohne Widerspruch gehorchte.

»Einen wunderschönen guten Tag, liebe Frau Tannenberg«, flötete der Gerichtsmediziner. »Hab ich mich eben verhört oder gibt es bei Ihnen tatsächlich Kartäuserklöße?… So richtig mit Karamellkruste und Vanillesoße?« Ihm lief das Wasser im Munde zusammen. »Ja, natürlich, ich komme sehr gerne mit. Es dauert auch nicht mehr lange. Wir sind hier gleich fertig.«

Er reichte seinem peinlich berührten Freund zwinkernd das Mobiltelefon zurück. Verstohlen blickte sich Tannenberg um. Er war geradezu eingekreist von schadenfroh grinsenden Gesichtern.

»Mein lieber Wolf, auch wenn es dir noch so schwerfällt, dies zu akzeptieren, aber wir brauchen dich hier jetzt wirklich nicht mehr«, bemerkte Sabrina schmunzelnd. »Fahrt ihr ruhig zu deiner Mutter. Die Kollegen nehmen mich nachher mit in die Stadt.« Sie wies mit dem Arm in Richtung der heulenden Motorsägen. »Aber zuerst statten wir den Waldarbeitern noch einen Besuch ab. Vielleicht hat ja einer von denen irgendetwas beobachtet.«

Tannenbergs Zögern rief Mertel auf den Plan: »Um es auf den Punkt zu bringen, Wolf: Es wäre sogar eine enorme Erleichterung für unsere Arbeit, wenn du dich jetzt sofort aus dem Staub machen würdest. Du behinderst nämlich massiv unsere Ermittlungsarbeit. Oder muss ich dir erst Platzverbot erteilen?«, wiederholte der Kriminaltechniker diejenigen Worte und Drohungen, mit denen der Leiter des K 1 vor ein paar Minuten Kreilinger bedacht hatte. »Mit deinen riesigen Plattfüßen zertrampelst du uns bloß alle Spuren.«

»Wolf, ich denke, Karl hat recht. Und ich muss sowieso warten, bis der Leichnam bei mir in der Pathologie auf dem Tisch liegt. Apropos Tisch, besser gesagt Mittagstisch: Ich soll dir einen lieben Gruß von deiner Mutter ausrichten. Sie hat sich bei mir bedankt, dass ich dich überredet habe.« Er schlug seinem alten Freund lachend auf die Schulter. »Die gute Frau hat nämlich Angst, dass ihr liebes Wölfchen im Wald verhungern könnte. Übrigens freut sie sich sehr auf uns. – Und ich mich auf die ›rostigen Ritter‹«, frohlockte Dr. Schönthaler und rieb sich die Hände.

Sie waren blutverschmiert und steckten noch immer in Latexhandschuhen.

2

 

Die Sonne stand fast im Zenit. Ihre energiereiche Wärmestrahlung hatte das Musikerviertel in einen regelrechten Glutofen verwandelt. In Tannenbergs Elternhaus in der Beethovenstraße waren alle Fenster verschlossen, auf der Südseite die Rollläden heruntergelassen. Wegen der hochsommerlichen Hitze herrschte in der Wohnküche bereits vor dem Mittagessen eine südländische Siesta-Atmosphäre– sieht man einmal von Margot Tannenberg ab, die wie stets um diese Tageszeit im wahrsten Sinne des Wortes alle Hände voll zu tun hatte. Während sie das Essen zubereitete, saßen Ehemann Jacob und ihr ältester Sohn Heiner Zeitung lesend am Küchentisch. Kurt, der vergötterte Familienhund hatte es sich auf dem Fußboden gemütlich gemacht. Lang ausgestreckt lag er auf der Seite und schmiegte den massigen Körper an die kühlenden Fliesen. Seine Augen waren geschlossen, die riesige Zunge hing schlaff über die ausgefransten Lefzen hinweg.

Nur etwa eine Handbreit von seinem Kopf entfernt schlummerte die kleine Emma in einer Wippe. Außer ihrer Windel trug sie lediglich ein fliederfarbenes Mini-T-Shirt. Sie sah aus wie ein schlafender Engel.

Kurt räkelte sich. Zuerst gab er grunzende Laute von sich, dann sperrte er das Maul auf, gähnte und entblößte dabei ein furchterregendes Raubtiergebiss. Die Tonlage wurde urplötzlich höher, erinnerte an einen hellen Schrei. Emma zuckte zusammen, riss die Augen auf und blickte sich erschrocken um. Doch als sie die gewohnte Umgebung, die bekannten Menschen und den bärigen Leonberger-Mischling zu ihren kleinen Füßchen entdeckte, entspannte sich ihre Mimik sogleich wieder. Sie begann zu brabbeln und strampelte mit den feisten Beinchen.

Die Miniaturzehen berührten dabei die feuchte Nase des Hundes. Brummend öffnete Kurt die Augen und hob ein wenig den Kopf. Mit einer schnellen Wischbewegung zog er seine raue Zunge über die winzige Fußsohle. Emma quietschte und gluckste vor Vergnügen.

Betty Tannenberg kam gemeinsam mit ihrer Tochter Marieke, Emmas junger Mutter, durch die Küchentür herein. Über ihrem linken Arm hingen mehrere ungebügelte T-Shirts, die sie auf dem gedeckten Tisch ablegte. Heiner zog verwundert die Stirn in Falten, Jacob dagegen ignorierte den Auftritt seiner Schwiegertochter gänzlich.

In diesem Augenblick erschienen Dr. Schönthaler und Tannenberg in der elterlichen Parterrewohnung. Sofort erhob sich Kurt, trottete schwanzwedelnd zu seinem Herrchen und rammte ihm zur Begrüßung die Nase in den Oberschenkel.

Nachdem er sich seine Streicheleinheiten abgeholt hatte, verzog er sich wieder auf sein kühles Plätzchen. Als Emma ihn zurückkehren sah, quiekte sie in Erwartung eines neuen Spieldurchgangs. Die beiden winzigen Händchen schlugen wild umher. Kaum hatte sich der riesige Hund vor ihr abgelegt, schon näherten sich die knubbeligen Speckfüßchen seiner Schnauze – und das Spiel der beiden begann von neuem.

Derweil überreichte Betty jedem der beiden Männer ein T-Shirt. »Sofort anziehen!«, befahl sie in Kasernenhofton.

»Warum denn? Ich hab doch schon ein T-Shirt an«, versuchte Heiner Protest einzulegen.

»Geliebter Ehegatte, frag nicht lange, mach einfach das, was ich dir eben gesagt habe.«

»Elsbeth hat recht, Bruderherz«, meinte Tannenberg grinsend, während er sein Hemd auszog: »Du sollst deinem Weibe aufs Wort gehorchen – steht, glaub ich jedenfalls, schon in der Bibel.«

Normalerweise reagierte Betty auf die provokative Nennung ihres eigentlichen Vornamens recht aggressiv, aber diesmal blieb sie ruhig. »Bitte, meine Herren, seid so nett und erfüllt mir diesen Wunsch«, säuselte sie. »Es ist nur ein kleiner Test, sonst nichts.« Anschließend begab sie sich zu ihrer Schwiegermutter, die gerade Karthäuserklöße in der Pfanne wendete und reichte ihr ein besonders großes Exemplar. »Margot, sei du auch so lieb und zieh das T-Shirt kurz drüber.« Sie drehte sich zu Marieke um. »Du bitte auch.«

Die gutmütige alte Dame tupfte sich mit einem Zipfel ihrer Kittelschürze Schweißperlen von der faltigen Stirn. Lächelnd zwängte sie sich in das T-Shirt. Marieke unterbrach die Liebkosung ihrer Tochter und tat es ihr gleich. Bis auf den Senior der Familie, der weiterhin unbeeindruckt in seiner Bildzeitung schmökerte, befolgten die anderen Männer grummelnd die Anweisung.

»Jacob, bitte tu mir den Gefallen und zieh das T-Shirt über«, bettelte seine Schwiegertochter. »Du kannst es auch gleich wieder ausziehen. Aber du bist nun mal besonders wichtig für diesen Test.«

Ohne die Zeitung aus den Händen zu legen, drehte der Senior den Kopf zu Betty hin. Er zog die Augenbrauen hoch und ließ sie dort oben eine Weile verharren. »Mein liebes Mädchen, merk dir mal folgendes: Wir pfälzischen Ureinwohner ziehen aus Prinzip dieses Amizeug nicht an.« Er warf einen demonstrativen Blick auf sein ärmelloses weißes Feinripp-Unterhemd, das den hageren Brustkorb bedeckte. »Außerdem hab ich schon ein Unterhemd an und das reicht wohl! Warum sollte ich denn noch eins anziehen? Bei dieser Hitze. Ja, bin ich denn bekloppt?«

Während sich Betty kopfschüttelnd von ihm abwandte, erinnerte sich Tannenberg an die Marotte seines Vater, selbst bei solchen Extremtemperaturen, wie sie gerade herrschten, lange Unterhosen zu tragen. Nicht nur beim Heidelbeerpflücken hatte er seine Jungs des Öfteren mit folgender Lebensweisheit beglückt: ›Denkt immer daran: Was gut ist für die Kälte, ist auch gut für die Hitze.‹ Er musste unweigerlich schmunzeln. Auch deshalb, weil er selbst heute Morgen ein langärmeliges Hemd angezogen hatte, obwohl der Wetterbericht den bisher heißesten Tag des Jahres angekündigt hatte.

»Und jetzt?«, fragte Heiner ungeduldig.

»Jetzt zieht ihr bitte alle wieder eure T-Shirts aus.«

Nachdem Dr. Schönthaler die Aufforderung befolgt hatte, kämmte er seine Haare mit den Fingern nach hinten. Danach zupfte er auf beiden Seiten an seiner Fliege, um sie auszurichten. Mit weiteren routinierten Handgriffen versetzte er sein verrutschtes Sommerhemd wieder in einen ordnungsgemäßen Zustand. »Und was war nun der Sinn dieser ganzen Aktion?«, wollte er wissen.

Betty reagierte nicht auf seine Frage. Wie Rumpelstilzchen stapfte sie wild gestikulierend durch die Wohnküche. »Das gibt es einfach nicht!«

»Was denn?«, seufzte Tannenberg verständnislos.

Seine Schwägerin blieb stehen. »Gestern Abend gab’s diese blöde ›Typisch Mann/typisch Frau-Show‹ im Fernsehen.«

Der Kriminalbeamte stemmte die Arme in seine Hüften. »Ich fass es einfach nicht! Lief diese Sendung denn nicht bei einem Privatsender? Bislang dachte ich immer, du guckst nur Arte und Phoenix.«

»War ja auch die absolute Ausnahme«, blaffte sie zurück. »Aber es ist wirklich so, wie die behauptet haben. Das gibt’s doch nicht!«

»Ja, was denn, verdammt nochmal?«, fluchte Tannenberg und handelte sich damit umgehend einen rügenden Blick seiner Mutter ein.

Bettys Teint hatte sich inzwischen der Farbe ihrer kupferroten Haare angenähert. »Frauen und Männer ziehen ihre T-Shirts und Pullover auf ganz unterschiedliche Art und Weise aus. Ihr zieht die Sachen einfach über den Kopf und wir fummeln irgendwie kompliziert mit den Armen drin rum. Das dauert viel länger und ist auch noch total unpraktisch«, verkündete sie mit sich überschlagender Stimme.

»Na, und wenn schon! Wen interessiert denn so was?«

»Mich zum Beispiel, Wölfchen«, zischte sie.

»Aber warum denn?«, fragte der Rechtsmediziner, der inzwischen neben Margot am Herd stand und genüsslich den verführerischen Karamellduft einsog.

»Weil ihr Männer uns dazu gezwungen habt.«

»Was haben wir?«, lachte ihr Schwager schallend los. »Wozu haben wir euch gezwungen?«

»Dazu, unsere Sachen so bescheuert an- und auszuziehen. Von alleine sind wir bestimmt nicht auf diesen Blödsinn gekommen.«

Einen Moment lang hatte es Tannenberg doch tatsächlich die Sprache verschlagen. Er hob die Schultern, drehte die Handflächen nach außen. In diese fragende Geste hinein fuhr er stammelnd fort: »Aber, aber was können wir denn dafür, dass ihr eure T-Shirts …?«

Betty fiel ihm ungehalten ins Wort. »Das ist wieder einmal ein Beweis für die patriarchalischen Herrschaftsstrukturen, mit denen ihr uns jahrtausendelang unterdrückt habt.« Sie baute sich drohend vor ihrem Schwager auf und wiederholte ihren Pauschalvorwurf: »Ihr habt uns dazu gezwungen!«

Daraufhin ging Tannenberg mit einer wegwerfenden Handbewegung einen Schritt zurück und sagte dabei: »Quatsch, Betty, es gibt garantiert ein geschlechtsspezifisches T-Shirt-Gen.« Während sich das Gesicht seiner Kontrahentin noch stärker rötete, setzte er grinsend den Fangschuss: »Aber vielleicht liegt’s ja auch einfach nur an einer gewissen amotorischen Grunddisposition von euch Frauen.«

»Das haben diese Männerschweine gestern Abend auch behauptet«, schrie sie. Und zwar so laut, dass Emma zu weinen anfing. Betty schossen Tränen der Wut in die Augen. »Als angeblichen Beweis haben diese Machos einigen Frauen aus dem Publikum Bälle zugeworfen. Und die sollten sie dann auffangen. Das war so gemein!« Sie schnappte nach Luft, warf ihre Lockenpracht in den Nacken und stürmte aus der Küche.

»Wolfi, du sollst sie nicht immer so ärgern«, tadelte Margot. »Du weißt doch ganz genau, wie empfindlich sie reagiert.«

»Ach, Mutter, Elsbeth ist schließlich selbst dran schuld. Sie fängt doch immer damit an, uns Männer zu beschimpfen.« Er ging zu ihr hin und drückte ihr einen herzhaften Schmatz auf die Wange. »Alles können wir uns schließlich von solchen Kampfemanzen auch nicht gefallen lassen.«

Margot konnte ihren Söhnen einfach nicht böse sein. »Du bist mir schon einer, Wolfi«, seufzte sie und wies dabei auf eine dampfende Suppenschüssel. »Stell sie bitte rüber auf den Tisch. Die ›rostigen Ritter‹ sind gleich fertig.« Mit einem versonnenen Blick begleitete sie ihren Sohn auf seinem Weg zum Küchentisch. »Schön, dass du doch noch zum Essen kommen konntest.«

»Aber eigentlich hab ich gar keinen Hunger«, gab Tannenberg über seine Schulter hinweg zurück.

Die Miene der alten Dame nahm einen besorgten Ausdruck an. »Wieso denn? Bist du etwa krank?«

»Nein, nein, liebe Frau Tannenberg. Kein Grund zur Beunruhigung«, versetzte Dr. Schönthaler grinsend. »Das liegt nur daran, weil ihr Sohn so eine alte Memme ist. Es ist immer dasselbe mit ihm. Jedes Mal, wenn wir eine zerstückelte Leiche finden, schlägt’s ihm auf den Magen.«

Margot warf entsetzt die Hand vor den Mund. »Eine zerstückelte Leiche?«

Jacob, der nicht umsonst den Spitznamen ›Sherlock Holmes aus der Beethovenstraße‹ trug, wurde bei diesem Thema sofort hellhörig. Er legte die Zeitung beiseite. Sein Gesicht blitzte geradezu vor Neugierde. »Komm, Rainer, setze dich zu uns und erzähle mal ein bisschen was über euren neuen Fall.«

Mit einem abschätzigen Blick auf seinen jüngsten Sohn schob er nach: »Der Herr Hauptkommissar sagt ja seinem alten Vater nie etwas über seine Arbeit. Weil er Angst hat, dass ich es im ›Tchibo‹ ausplaudern könnte.« Seine Stimme gewann bedeutend an Schärfe. »Dabei ist es genau umgekehrt: Ich besorge ihm im ›Tchibo‹ wichtige Informationen, die in keinem seiner komischen Polizei-Computer zu finden sind.«

»Ruhe! Jetzt wird nicht gestritten, sondern gegessen«, sprach die Seniorin ein energisches Machtwort.

Nachdem sich alle am Tisch eingefunden hatten, schenkte Margot die Nudelsuppe aus und lud jedem einen reichlich mit Zucker und Zimt bestreuten Kartäuserkloß auf einen Kuchenteller.

Emma saß bei ihrer Mutter auf dem Schoß. Als sie das in gesüßter Milch eingeweichte Brötchen entdeckte, fing sie sogleich an zu schmatzen. Sie gab erst Ruhe, als ihr Marieke ein kleines Stückchen der Leckerei in den Mund schob. Tannenberg dagegen stocherte lustlos in seinem ›rostigen Ritter‹ herum.

Der Rechtsmediziner konnte offensichtlich nicht mehr mitansehen, wie sein Freund diese Köstlichkeit verschmähte. »So schlimm war’s doch nun auch wieder nicht, alter Junge«, redete er ihm gut zu, während er sich den letzten Rest seines Kartäuserkloßes auf die Gabel schob. »Und das mit dem fehlenden Gesicht kriegen wir bestimmt hin. Du weißt doch, dass es wahre Rekonstruktionsexperten gibt. Außerdem haben wir ja noch sein Gebiss zur Erhebung des Zahnstatus.«

Entsetzt ließ Margot ihren Löffel in die Nudelsuppe sinken. Mit offenem Mund starrte sie Dr. Schönthaler an. Sie kannte ihn schon als kleinen Jungen und mochte ihn sehr. Er war derselbe Jahrgang wie ihr Sohn Wolfram und hatte mit ihm dieselbe Schulklasse besucht. Die beiden Freunde waren schon damals unzertrennlich gewesen. Selbst in der Zeit, als Rainer Schönthaler nach seinem Medizinstudium einige Jahre in Norddeutschland gearbeitet hatte, war ihr Kontakt nie abgerissen. Vor über zwanzig Jahren hatten ihn eine gescheiterte Ehe und die Sehnsucht nach seiner geliebten pfälzischen Heimat in die Barbarossastadt zurückgetrieben.

»Kann ich deinen ›rostigen Ritter‹ auch noch haben?«, fragte Dr. Schönthaler und zeigte mit seiner Gabel auf Tannenbergs Teller. »Wäre doch eigentlich schade drum.«