Personen und Handlung sind frei erfunden.
Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen
sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
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© 2009 – Gmeiner-Verlag GmbH
Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch
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1. Auflage 2009
Herstellung / Korrekturen: Katja Ernst / Susanne Tachlinski
Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart
unter Verwendung eines Fotos von: © Karl-Heinz Liebisch / PIXELIO
ISBN 978-3-8392-3392-4
Tengis Karbelaschwili
dem Freiheitsliebenden
mit dem großen Herzen
Tengiz karbelaSvils
Tavisuflebis motrfialesa
da didsulovan adamians
in memoriam
Eran las cinco de la mañana
Un seminarista un obrero
Con mil papeles de solvencia
Que no le dan pa’ ser sinceros
Y uno por uno al matadero
Pues cada cual tiene su precio
Buscando visa para un sueño.
(…) Buscando visa para un sueño (…)
Es war genau fünf Uhr morgens
Ein Student und ein Arbeiter
Mit Tausenden Führungszeugnissen
Die man allein fürs Bravsein nicht bekommt.
Und nacheinander ging’s zur Schlachtbank
Denn jeder hat seinen Preis
Wenn er ein Visum will für einen Traum
(…) Ich brauch ein Visum für einen Traum (…)
u. a. interpretiert von Grupo Sal, Tübingen
Katja ging langsam am Ufer entlang. Das Schilf wiegte sich im Wind. Es raschelte leise und gleichmäßig. Wer sie aus der Ferne sah, würde annehmen, dass sie sich für ein paar Minuten aus dem Lagerbetrieb davonstehlen wollte. Ihre Rattenschwänze baumelten traurig über den Ohren. Sie bewegte sich schwerfällig vorwärts, als schleppte sie dicke Erdklumpen an ihren Schuhen mit sich herum. Dabei hatte es seit Tagen nicht geregnet.
Der Dicke hatte ihr befohlen, das Ruder zu finden. ›Egal wo, egal, wie lange es dauert, aber komm mir ohne das Ruder nicht zurück!‹ Katja seufzte. Ihre Eltern bestanden darauf, dass sie mit den Jungen Pionieren ins Ferienlager fuhr. Sie wusste genau, dass in ihrer Familie andere Maßstäbe galten als zum Beispiel beim Dicken. Seinen Sohn, den mochte Katja, obwohl er älter war. Sie war ja erst neun, und der Junge schon mindestens 14. Er hätte ihr bestimmt beim Suchen geholfen, aber sein Vater hatte jede Hilfsbereitschaft schnell vereitelt. ›Lasst Katja mal alleine gehen. Das Ruder gehört euch allen, und wer dafür verantwortlich ist, dass es verlustig geht, der muss sich eben darum kümmern, es wiederzukriegen.‹
Katja holte lang und tief Atem, um nicht zu weinen. Sie versuchte, an ihre Mutter zu denken. Sie sollte stolz sein, wenn Katja zurückkam und von ihren Ferien erzählte. Sich fröhlich zu geben, während man am liebsten geheult hätte, war nicht einfach. Dabei war es schön hier. Viel schöner als zu Hause. Hier war die Luft jeden Morgen erfüllt vom Salz des Meeres. Mit den Rädern fuhren sie fast täglich die paar Kilometer zur Küste und badeten im Meer. Katja verstand sich gut mit den anderen. Außer mit dem Dicken.
Das blaugraue Wasser kräuselte sich im Wind. Drüben beim Lager ragte ein gebrechlicher Holzsteg in den See hinein. Das Wasser des Stromes sammelte sich hier im Rücken der Insel in einem riesigen Becken und bildete Buchten und Winkel. Katja ging zu ihrem Lieblingsplatz, wo sie unbeobachtet ins Wasser steigen konnte. Sie war eine gute Schwimmerin. Das Ruder würde sie schon auftreiben. Wahrscheinlich war es irgendwo in den Binsen hängen geblieben. Es war aus Holz, es konnte ja nicht untergehen!
Langsam wurde es kühl. Katja schauderte. Am Himmel trieben Quellwolken dicht an dicht. Sie schoben sich übereinander, bauschten sich auf, verschmolzen und trennten sich voneinander. Die Binsen legten sich in den Windböen flach, als wollten sie sich gegenseitig ins Wasser drücken. Von fern hörte Katja eine Frau ihren Namen rufen. Aber sie dachte gar nicht daran, zurückzugehen. Im Lager galten nur die Befehle des Dicken, und der würde nicht gelten lassen, dass Katja wegen ein bisschen Wind die Suche nach dem blöden Ruder abbrach.
Sie hatte die Stelle erreicht, wo das Schilf nur spärlich stand. Rasch ging sie ein paar Schritte in den See. Er fiel flach ab. Der Boden war sandig, das Wasser kalt. Katja fröstelte. Wenn sie auch nur ein paar Sekunden zögerte, würde sie sich nie überwinden. Der nächste Windstoß trieb ihr einen Schauder über die Haut. Sie atmete tief ein und ließ sich ins Wasser gleiten.
Minuten später entdeckte sie das Ruder weit draußen auf dem Balmer See. Mit dem Wind war es leicht, sich hinaustreiben zu lassen. Dann verschluckte die Dunkelheit des hereinbrechenden Unwetters den Schatten des Ruders auf dem Wasser. Katja schwamm dem dunklen Streifen auf den sich kräuselnden Wellen hinterher. Aber da war kein Ruder. Katjas Kopf glitt tiefer ins Wasser. Ihre Arme und Beine wurden schwer vor Anstrengung und lahm vor Kälte.
Als der Regen losbrach, übertönten Wind und Wasser Katjas Hilferufe. Drüben im Lager sah sie Lichter umhergeistern. Vielleicht suchen sie nach mir, vielleicht nicht, dachte Katja. Zuerst war sie fast rasend vor Angst, aber je mehr sie unterkühlte, desto weniger machte ihr das alles etwas aus. Sie dachte an ihre Mutter. Dann dachte sie an nichts mehr.
Ihre Leiche wurde wenige Stunden später im Schilf gefunden.
Im späten August wurden die Farben klarer, die Konturen schärfer, und die Hell-Dunkel-Kontraste traten deutlicher hervor.
Ich saß am Mittwochnachmittag im Schatten des Schlosses Rothenstayn und musterte kritisch die vom Schweiß gewellten Notizzettel auf meinem Schoß. Die Gräfin goss mir Eistee ein. Das leise Sprudeln des Brunnens hinter mir entspannte mich.
»Ja, gern.« Ich sah Larissa Gräfin Rothenstayn zu, wie sie ein paar Wespen verscheuchte: das Mienenspiel ausdrucksstark, fast kauzig, jede ihrer Bewegungen souverän. Die vielen Fältchen in ihrem Gesicht ein Fundament ihrer Schönheit, die auch das sackartige marineblaue Kleid und die ausgetretenen Gartenschuhe aus Gummi nicht verhunzten. Bestimmt hatte sie als Ärztin in ihrer aktiven Zeit Vertrauen und Ruhe ausgestrahlt. Eine Gynäkologin wie sie wünschte sich jede Frau. Wir alle kreisten um den mütterlichen Pol. Ob wir wollten oder nicht.
Die Gräfin hatte mich als ihre Ghostwriterin engagiert. Seit vier Tagen wohnte ich in dem unterfränkischen Schloss, gute 30 Kilometer von Würzburg entfernt, und führte ein Interview nach dem anderen mit Larissa. Daraus sollte ihre Lebensgeschichte in Buchform werden. Fürs gräfliche Archiv, wie sie mir lachend erklärt hatte. Üblicherweise pflegte ich nicht bei meinen Kunden zu wohnen, und ich achtete darauf, einen gewissen zeitlichen Abstand zwischen den Interviewterminen einzuhalten. So konnte ich selbst mich besinnen und Distanz zu den Lebensgeschichten gewinnen, die man vor mir ausbreitete. Auch die Kunden hatten dadurch Gelegenheit zum Nachdenken. Bei Larissa machte ich es anders. Die Gräfin hatte es eilig mit ihrem Buch, wusste der Himmel, weshalb, aber es schien, als bräche ihre Sehnsucht, die Abenteuer und Traumata ihres Lebens einfach abzuschütteln, stündlich stärker hervor.
Inzwischen besaß ich einen ganz guten Überblick über das Leben dieser molligen, durch und durch lebensfrohen und tatkräftigen Adeligen. Ich begann bereits damit, einzelne Zeitabschnitte genauer auszuleuchten. Als Ghostwriterin ging es mir nicht darum, so viele Kleinigkeiten wie möglich aufzulesen. Vielmehr suchte ich nach Motiven, um die ich den Stoff eines individuellen Lebens gruppieren konnte. Ich hatte schon Autobiografien für Leute verfasst, bei denen es mir schwerfiel, auch nur ein einziges Motiv herauszustellen. Unter den Auftraggebern einer Ghostwriterin waren überdurchschnittlich viele ehrgeizige Menschen. Solche Leute langweilten nicht nur mich, sondern auch potenzielle Leser. Was sollte ich Spannendes über jemanden schreiben, dessen höchstes Ziel darin bestand, viel Geld zu verdienen oder Vorstandsvorsitzender bei einer Bank zu werden?
Bei Larissa Gräfin Rothenstayn jedoch stolperte ich in jedem Gespräch über neue, prächtige Motive. Infolgedessen hatte ich auch noch keine Leitlinie festgelegt, die mich von Kapitel zu Kapitel führen konnte. Das Angebot an Aufregendem war einfach zu reichhaltig.
»Lieben Sie Ihren Beruf?«, fragte die Gräfin unvermittelt. »Ich habe den Eindruck, Sie lieben ihn. Sie haben ja alle Voraussetzungen dafür: Sie sind unnachgiebig. Und Sie gehen sicher nicht den Weg des geringsten Widerstandes.«
»Ich war früher Reisejournalistin. Dass ich im Ghostwriting gelandet bin, war eher eine unvorhersehbare Kehrtwendung.« Es stimmte nicht ganz, war aber auch nicht gelogen.
»Es muss unendlich spannend sein, verschiedene Leben auszuleuchten«, sagte Larissa.
Meine nackten Füße kühlten sich an den Terrassenfliesen. Ich legte den Kopf in den Nacken und sog das gleißende Blau des Spätsommerhimmels auf. Hummeln und Wespen summten um uns herum und beanspruchten ihren Anteil am Himbeerkuchen. Die pralle Natur des Parks verlangte die Terrasse zurück: Sonnenblumen, Stockrosen, Astern, Dahlien blühten um uns herum. Sträucher streckten die schweren Zweige nach uns aus. Gerade vier Stühle und ein kleiner Gartentisch fanden noch Platz. Gestern Morgen hatte Larissa der Üppigkeit mit der Heckenschere Einhalt geboten.
»Das ist ein Paradies«, sagte ich, ohne es gewollt zu haben.
»Nicht wahr?«, lächelte die Gräfin. Eine kleine Lücke zwischen dem linken Vorderzahn und dem Zahn daneben machte ihr Lachen interessant. »Sie verstehen, warum ich hierher kommen musste? Ich kannte das Schloss doch nur von Bildern! Mein ganzes Leben lang. Und mit 30 hat man ein Lebensalter erreicht, in dem man noch einmal etwas ändern will. Die Knochen strotzen vor Kraft, der Wille auch …«
Ich trank rasch einen Schluck Eistee, um zu verbergen, dass ich mich unangenehm berührt fühlte. Ich war 39. Also, fast 40. Na gut, in nicht ganz einem halben Jahr. Nach einer XXL-Portion Chaos in den vergangenen gut drei Jahren wähnte ich mich mittlerweile auf dem richtigen Weg für den Ankerplatz des Lebens. Womöglich war ich ein wenig spät dran. In meinem Alter hatte Larissa ihr größtes Abenteuer, die Flucht aus der DDR, längst hinter sich. Sie wünschte sich, ihre Autobiografie unter dem Titel ›Eine Adelige in der DDR‹ zu vermarkten. Auch in Sachen Marketing vertraute sie ganz auf mich und meine Kontakte in der Branche. Ich war mir nicht sicher, ob diese Masche viele Käufer locken würde. Effizienter schien es mir, ein dramatisches Detail ihres Lebens in den Blick zu rücken. Am besten die Umstände ihrer misslungenen Flucht 1973. Sie sollte in einem Versteck an Bord eines umgebauten LKW über die Transitautobahn in den Westen ausgeschleust werden. Doch darüber hatten wir noch gar nicht gesprochen. Meine Kundin verstand das Geheimnis, ihre Zuhörer neugierig zu machen. Sie streifte den Kern der Geschichte, ohne ihn vollständig auszureizen. Wie ein guter Liebhaber, der den Höhepunkt so lange wie möglich hinauszuzögern wusste.
Sie deutete auf mein Aufnahmegerät.»Schalten Sie den Rekorder eine Weile aus. Ich brauche eine Pause.«
Mir ging es nicht anders. Ich klickte auf ›Stop‹.
»Warum nehmen Sie nicht mein Rad und unternehmen eine kleine Tour an den Main? Wer weiß, wie lange das Wetter noch hält.« Sie strich sich das verschwitzte graue Haar zurück, das dringend einen Friseurbesuch brauchte.
Sie wollte mich loswerden. Ich verstand sie. Wer einem Ghostwriter sein Leben schilderte, kriegte schnell ein paar Dosen zu viel vom eigenen Selbst ab. Ein Beleg dafür, dass man sich selbst nur schwer erträgt, dachte ich grinsend, während ich eine halbe Stunde später auf dem gräflichen Mountainbike durch den Park hinunter ins Dorf Rothenstayn rollte.
Ein trauriger Augusttag. Der 28. Herbstlich, zu kühl, ohne Sonne. Laub, das sich zu färben begann. Larissa hatte recht behalten. Der Wetterumschwung bescherte uns einen Vorgeschmack auf die kommenden acht Monate.
Meine Stimme hallte in dem großen, leeren Speiseraum. Normalerweise saß Larissa schon früh am Morgen in ihrem giftgrünen Sessel, guckte Frühstücksfernsehen und genoss ihren Tee.
Larissa bestand nicht auf dieser Anrede, aber ich fand sie praktischer als ›Frau von Rothenstayn‹. Kurz, knapp, ironisch. Passend zu Larissas Persönlichkeit.
Das Schloss zeigte sich im düsteren Morgenlicht wenig anheimelnd. Da nur wenige Räume benutzt wurden, verstärkte sich der Eindruck eines Auslaufmodells. Eines Gebäudes, das Energie und Arbeit erforderte, ohne Leben auszustrahlen. Larissa bewohnte ausschließlich das Parterre. Die Räume in den oberen Stockwerken glichen Ausstellungsflächen, vollgestopft mit Möbeln, die unter staubigen Laken die Tage kommen und gehen ließen. Sogar die Treppen, die hinaufführten, wirkten abweisend, als ertrügen die ausgetretenen Stufen keine auf ihnen herumtrampelnden Füße mehr. Das einst schön gedrechselte Holzgeländer war von Schädlingen zerfressen.
Der lange Gang im Parterre schwamm in Düsternis. Ich machte Licht. Sah in die Küche. Keine Gräfin.
Die Arme um den Oberkörper geschlungen, eilte ich den dunklen Flur zurück zu meinem Zimmer. Es lag ganz am Ende des Erdgeschosses mit Blick auf die Rückseite des Grundstücks. War mit viel Liebe renoviert worden, der Parkettboden mit Öl eingelassen, die Wände strahlten in warmem Sonnengelb. Das dezent in Rosa gehaltene Bad versteckte sich hinter einer Tapetentür. Unschlüssig stand ich vor dem Waschbecken, nestelte an meinem Pferdeschwanz. Gestern Abend war überraschend Besuch aufgetaucht. Wir hatten das letzte Interview des Tages abgebrochen. Vielleicht war Larissas Gast noch im Haus?
Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Die Gräfin in ihrem Schlafzimmer zu stören, kam nicht infrage.
Ich griff nach meinem Fleecepulli und machte mich auf in den Garten.
Normalerweise führten wir das erste Interview des Tages beim Frühstück. Ich bekam meinen schwarzen Kaffee, die Gräfin ihren Earl Grey. Fröhlich fragte sie mich dann: »Wo sind wir gestern stehen geblieben?« Oder: »Was habe ich Ihnen eigentlich als Letztes weisgemacht?« Ich half ihr auf die Sprünge, und sie erzählte weiter von ihrem Leben, als hätte es nie eine Unterbrechung gegeben. Für eine Ghostwriterin war Larissa Gräfin Rothenstayn eine leicht zu handhabende Kundin.
Ich trat durch die Terrassentür, die den Speiseraum mit dem Park verband, ins Freie. Selbst die üppigen Blumenrabatten riefen keine sommerlichen Gefühle mehr hervor. Erst gestern hatten wir hier neben dem Brunnen auf den Gartenstühlen gesessen und geschwatzt. Über Nacht hatte die Jahreszeit gewechselt. Die Wolken ließen kein Loch zum Durchgucken. Alles schien grau, Himmel, Bäume, die schlichte, schmucklose Sandsteinfassade des Schlosses. Ich ging schneller, unter den Fichten hindurch, weg von der gepflasterten Auffahrt, die ins Dorf führte. Dort war ich gestern Abend entlanggegangen, mit Verdi in den Ohren. Abgeschottet von der wirklichen Welt.
Nah am Schloss war der Rasen ordentlich gemäht, die Beete wie mit dem Lineal ausgerichtet. Weiter weg durfte sich der Wildwuchs entfalten. Brombeerranken und hüfthohe Brennnesseln schirmten den Dschungel vom Schloss ab. Die Gräfin liebte es naturnah. Sie war stolz auf die vielen Holunderbüsche, deren Zweige schwer von den prallen Dolden herabhingen, die wilden Himbeeren, das Wespennest im alten Kirschbaum, die Nuss- und Birnbäume, die, vor Jahrzehnten angepflanzt, in diesem Spätsommer ebenfalls reiche Ernte versprachen.
Am liebsten verbrachte ich meine Pausen und freien Minuten am Bach, der das Grundstück gut 500 Meter hinter dem Anwesen auf der Grenzlinie zwischen dem Schloss und dem Wald der Gemeinde Rothenstayn begleitete und schließlich durch eine buckelige Wiese dem Ort zuströmte. Es hatte in der Nacht geregnet, und ich hörte das Rauschen des Wassers, noch bevor ich es sah. Hier standen Rotbuchen dicht an dicht. Haselbüsche, Holunder, Schlehenbüsche und Sträucher voller Mehlbeeren. Vorgestern hatte ich einen Durchschlupf entdeckt, um zum Bach zu gelangen, ohne mir die Kleider zu zerfetzen oder mit Kletten bestückt ins Schloss zurückzukommen. Zwischen zwei Schlehenbüschen lagerte ein Haufen moosiges, nasses Feuerholz, das vielleicht ein paar Kinder, die zum Spielen auf das Grundstück gekommen waren, dort vergessen hatten. Ich hatte es beiseitegeräumt und mir so einen Weg zum Wasser gebahnt.
Heute sah der Durchschlupf anders aus als sonst. Schlehenzweige waren abgerissen, der Boden mit Blättern und halbreifen Früchten übersät. In der feuchten Erde entdeckte ich Abdrücke. Als habe jemand etwas sehr Schweres durch die Hecke gezerrt.
Rasch bog ich die Zweige zurück.
Ich sah einen Gartenschuh und Jeansstoff. Zwängte mich an den Büschen vorbei.
Sie lag am Bachufer, und ich dachte, sie wäre tot. Sie regte sich nicht. Ihr Gesicht war voller Blut, auch die Bluse, das Haar, die Erde, auf der sie lag. Ihre Augen waren geschlossen, die Lider verklebt vom Blut. Ich kniete mich neben sie, mit den Füßen im Bach, und rief ihren Namen. Presste meine Finger an ihren Hals. Hielt eine Hand vor ihren Mund. Spürte einen hauchzarten Luftzug. Die ganze linke Seite ihres Schädels schien aufgerissen, eingedrückt, zerschmettert.
Das Rauschen des Wassers dröhnte in meinen Ohren. Aber ich hörte auch noch etwas anderes. Jenseits des Baches. Später konnte ich niemandem erklären, was, und so glaubte mir keiner oder hielt meine Hinweise für die Halluzinationen einer überspannten Frau, die sich dem entscheidenden 40. Geburtstag näherte. Mein Kopf flog herum. Ich blickte über den Bach. An dieser Stelle maß er gerade mal zwei Meter in der Breite. Das gegenüberliegende Ufer stand, genauso wie das Schlossgrundstück, voller Bäume und Sträucher.
Jemand lief weg. Durch den Gemeindewald nach Westen. Ich spürte es mehr, als dass ich es hörte. Dann lag der Wald still, und auch der Bach schien zu verstummen. In der plötzlichen Stille klang Larissas Stöhnen gespenstisch.
»Gräfin!«, schrie ich sie an. »Ich hole Hilfe. Ich habe mein Handy nicht dabei. Ich laufe. Ich …« Dann sagte mir eine sehr ruhige, sehr vernünftige Stimme, die aus meinem Kopf heraus sprach, ich sollte die wenigen Minuten, die noch blieben, um Larissa zu retten, nicht damit vertun, herumzubrüllen und Belanglosigkeiten zu verbreiten. Bei Bewusstlosigkeit: Seitenlage, fuhr die Stimme fort. Ich hievte Larissas schweren Körper herum und achtete darauf, dass ihr Kopf auf der unverletzten Seite lag.
Dann sprang ich auf und rannte.
Die Herrschaften von der Polizei, eine Frau in meinem Alter und ein etwas jüngerer Mann, saßen mir gegenüber im Speiseraum. Zwischen uns stand der breite Ahornholztisch mit den Kerzenständern von Ikea.
»Ich bin im Schlosspark gewesen. Mit dem MP3-Spieler in den Ohren. Habe Verdi gehört.« Das klang so dämlich, das würden sie mir nicht glauben, obwohl es der Wahrheit entsprach. Aber keiner von beiden fragte nach.
»Ich habe keine Ahnung.« Müde schloss ich die Augen, um mir die Situation ins Gedächtnis zu rufen. »Wir saßen hier, im Speiseraum. Die Gräfin hatte ein Feuer angezündet. Wir sprachen über 1973. Das Jahr ihres ersten Fluchtversuchs aus der DDR.« Die Kommissare starrten mich an, keiner machte sich Notizen. Das irritierte mich. Ich kannte die Unzuverlässigkeit meines Gedächtnisses. Berichteten meine Kunden über ihr Leben, brauchte ich neben der Audioaufnahme auch meine Mitschrift, um mich an das zwischen den Zeilen Mitschwingende zu erinnern.
»Es klingelte«, fuhr ich fort. »Irgendwann zwischen acht und halb neun. Es wurde gerade dunkel. Die Gräfin wunderte sich über den späten Besuch. Sie ging öffnen. Ich hörte Stimmen von draußen, konnte aber nicht verstehen, was gesagt wurde.«
Plötzlich stand vor meinen Augen der gestrige Abend so deutlich, als säße ich im Kinosessel und blickte auf eine Leinwand.
»Die Gräfin kam zurück. Allein. Ein wenig nervös. Sie sagte, jemand sei zu Besuch gekommen, es wäre wichtig, und sie würden sich vorne im Grünen Salon unterhalten.«
»Woran erkannten Sie, dass die Gräfin nervös war?«, wollte die Kommissarin wissen, die sich mit Martha Gelbach vorgestellt hatte. Sie trug das dunkle Haar sehr kurz, in ihren Ohrläppchen steckten winzige Perlen. Ein paar feine weiße Strähnen im Pony gaben ihrer Frisur die besondere Note. Auch ich hatte schwarzes Haar, doch die Alterstönung aus dem Farbtopf von Mutter Natur war mir bisher erspart geblieben.
»Was haben Sie dann gemacht? Nachdem Ihr Interview mit Frau Rothenstayn so plötzlich unterbrochen war?«
»Das ist nicht so unüblich. Bei den meisten meiner Interviews gibt es Störungen. Kinder tun sich weh, weinen, das Telefon klingelt oder Bofrost liefert Hähnchenschenkel. Manchmal vergisst man auch die Zeit, der Kunde muss plötzlich weg, hat einen Zahnarzttermin. Dann heißt es, schnell das Gespräch zu beenden. Ich notiere mir, wo genau wir stehen geblieben sind. Welche Fragen im Raum standen. Solche Dinge sind wichtig, um den Faden beim nächsten Mal wieder aufzunehmen.«
»Haben Sie das gestern auch getan?«
»Sicher.«
»Und danach sind Sie in den Park gegangen?«
»Ja. Ich mag eine Stelle am Bach, wo der Besitz der Gräfin an Gemeindegebiet stößt. Ungefähr dort, wo ich sie gefunden habe.« Ich schluckte. »Da saß ich eine Weile, bis es stockdunkel war, und drehte dann eine große Runde zur Straße runter.«
»Wie kamen Sie zurück ins Schloss?«
»Zu Fuß!«, sagte ich erstaunt.
»Das meine ich nicht.« Die Kommissarin sah auf ihre Hände. »Durch welche Tür?«
»Durch die Terrassentür. Ich hatte sie offen gelassen.«
»Wann genau?«
Oje, das wurde schwierig.
»Ich denke mal, ich war eine gute Stunde weg. Ich hörte eine Aufnahme von La Traviata.« Überflüssigerweise fügte ich hinzu: »Die Nacht war so schön. Ich wollte nicht reingehen.«
»Hätten Sie ein Auto bemerkt, das die Auffahrt hinaufgekommen wäre? Oder eine Person?«
»Nein. Der Schlosspark ist riesig. Der gräfliche Besitz hat locker zwei, drei Hektar Fläche.«
»Wo liegt Ihr Zimmer?«
»Im Erdgeschoss, ganz am Ende des Korridors.«
»Es könnte sein, dass wir Ihre Aufzeichnungen einsehen möchten. Ich würde Ihnen dann Bescheid geben.«
Ich hob die Schultern. Sie durften nicht einfach meine Unterlagen konfiszieren. Selbst wenn sie mit einem richterlichen Beschluss anrückten, würden sie nichts finden, was mit einem Überfall oder Mordanschlag zusammenhing. Nichts hatte gestern Abend darauf hingewiesen.
»Was dagegen, wenn ich den Kamin anschüre?«, fragte ich. Mir war kalt. An Tagen ohne Sonne schienen sich die Schlossmauern von der Körperwärme ihrer Bewohner zu nähren. Martha Gelbach half mir, die kalte Asche von der Feuerstelle zu kehren. Meine Hände hatten alle Feinmotorik verloren. Ich bewegte meine Finger wie zehn kleine Zombies, die an einen stotternden Großcomputer angeschlossen waren. Ich hatte die halbe Nacht Musik gehört, war mit Stöpseln in den Ohren eingeschlafen. Ich Idiotin. Ich hatte nichts hören können.
»Ich weiß nicht, ich bin durch die Terrassentür in den Garten.« Ich wies hinter mich.
»Sie haben die Blutspur also nicht gesehen?«
»Welche Blutspur?«
»Jemand muss die Gräfin im Haus zusammengeschlagen und dann hinausgeschleift haben. Im Vestibül ist Blut auf dem Steinboden.«
»Wie gesagt, ich bin durch die Terrassentür raus«, wiederholte ich. Mein Körper fühlte sich an, als bestünde er aus Mürbeteig.
Kommissarin Gelbach machte einen warmherzigen, freundlichen Eindruck, als sie mich nun eingehend betrachtete. Ihre Gesichtszüge waren weich, mit feinen Fältchen, aber ohne die in viele reifere Gesichter eingegrabene Lustlosigkeit. Ihren wasserblauen Augen entging nichts. Hellwach beobachtete sie jeden meiner Schritte, als ich zur Anrichte ging, die Obstschale nahm und zum Tisch hinübertrug. Das Feuer loderte auf und warf orangefarbene Muster an die Wand.
»Bedienen Sie sich«, sagte ich matt. Ich ging zu dem altmodischen Spülbecken hinüber und wusch mir die Hände.
»Sie haben den Besuch gestern Abend nicht gesehen?« Die Kommissarin nahm sich einen Apfel.
Ich schüttelte den Kopf. Begegnete ihrem Blick in dem trüben Spiegelglas. Die Dame ließ wirklich nicht locker.
»Ich habe die beiden draußen im Gang sprechen hören. Wie gesagt: Ich konnte nicht verstehen, was sie sagten, aber ich habe eine weibliche und eine männliche Stimme gehört. Und da die weibliche der Gräfin gehörte …«
»Könnten zwei Personen gekommen sein?«
Darüber hatte ich noch nicht nachgedacht.
»Eventuell schon. Die Gräfin sagte: ›Ich habe Besuch bekommen, brechen wir für heute ab.‹«
»Sie hatte es eilig, Ihnen Bescheid zu geben und sofort wieder zu ihrem Besuch zurückzugehen?«
Ich nickte. »Theoretisch könnten auch zwei Personen gekommen sein. Ich weiß es nicht.«
»Wie viele Stimmen haben Sie gehört?«
»Zwei. Die der Gräfin. Und die andere.«
»Sind Sie sicher, dass die weibliche Stimme die der Gräfin war?«
Ich zögerte, was die beiden Kriminalisten sofort registrierten.
Die beiden wechselten einen Blick. Ich wusste selbst, was sie dachten: Manchmal traf unser Gehirn für uns irgendwelche Annahmen, die wir dann gelten ließen, auch wenn sie gar nicht zutrafen. Aber sie erschienen uns so selbstverständlich, dass wir sie nicht infrage stellten.
»Sie haben keinen Wagen gehört?«, fragte Martha Gelbach nach.
Ich schüttelte den Kopf. Das alles klang unglaubwürdig. Ich würde mir selbst diese Geschichte nicht abkaufen, wenn ich nicht genau wüsste, dass sie der Wahrheit entsprach.
»In den Grünen Salon. Vorne, gleich die erste Tür rechts von der Eingangshalle kommend.« Das Zimmer, das von meinem am weitesten entfernt ist, fügte ich im Stillen hinzu. Ich brauchte eine Rechtfertigung für meine Taubheit.
»Welche Verwandten sollen wir verständigen?« Gert Rotloh, der Assistent von Martha Gelbach, machte zum ersten Mal den Mund auf. Vielleicht war er auch nicht ihr Assistent, aber einer, der auf der Treppe lauerte, um seine Vorgesetzte im entscheidenden Moment beiseite zu schieben. Entschlossen genug war er. Sein dunkelblondes Haar wich über der Stirn bereits zurück. Die markante Nase warf im Schein des Feuers Schatten auf seine Wangen.
Nun war ich auf sicherem Terrain.
»Es gibt eine Cousine. Milena Rothenstayn. Sie lebt in Hamburg und ist die nächste Verwandte der Gräfin.«
Rotlohs Stift kratzte über das Papier. Er benutzte einen abgekauten grünen Bleistift von Faber-Castell. Ich liebte diese Bleistifte und besaß zu Hause ein ganzes Arsenal davon.
»HB?«, fragte ich ihn.
Er starrte mich an, als sei ich vor seinen Augen ausgetickt.
»Ich benutze auch diese Bleistifte. Stärke HB.«
»Ach so.« Sein verbissenes, schmales Gesicht verzog sich zu einem Grinsen. »Ich bevorzuge B 2. Die weicheren.«
»Was wissen Sie über Larissa Rothenstayns Bekanntschaften? Steht sie jemandem im Dorf nahe? Wer sind ihre Freunde?«, ging Martha Gelbach dazwischen.
»Ich habe keinen Schimmer«, gab ich zu. »Wir haben darüber nicht gesprochen. Sie denken vielleicht, einem Ghostwriter erzählen die Leute alles, als würden sie einen Rundumschlag machen. Aber wir erfahren meist nur sehr spezifische Dinge. Je nachdem, warum jemand sich überhaupt einen Ghost sucht. Es geht nie um das ganze Leben. Es geht um bestimmte Aspekte der eigenen Biografie.«
Erst jetzt fiel mir auf, dass Larissa in keinem Interview über Freunde gesprochen hatte. Nur ihren Onkel Wolfgang und seine Frau, die Eltern ihrer Cousine Milena, hatte sie kurz erwähnt. Unsere Gespräche waren seltsam namenlos gewesen.
»Haben Sie auch noch eine plausiblere Version?«, fragte Rotloh kalt.
»Sie sind die einzige Zeugin, die den angeblichen Besuch gehört haben will. Sie waren am Tatort. Sie haben die Verletzte gefunden, mit der Sie ein Geschäftsverhältnis haben. Und dann gehen Sie genüsslich mit der Traviata im Ohr durch den Park, während Ihre Auftraggeberin hier niedergeschlagen wird?«
Ich traute meinen Ohren nicht.
»Interessant. Einen Knüppel also?«
»Verdammt«, mir platzte der Kragen, »Knüppel, Baseballschläger, was weiß ich!«
»Wo haben Sie den Knüppel versteckt?«
»Ich habe keinen Knüppel versteckt.«
»Einen Baseballschläger?«, fragte Rotloh und sah mich unverwandt an. Der Mann hätte zum Geheimdienst gehen sollen.
»Ich habe Larissa nichts getan. Sie ist meine Brötchengeberin. Warum sollte ich sie ausschalten wollen, mitten in einem Projekt?«
Rotloh kratzte Dreck unter seinen Fingernägeln hervor.
»Es ist ein kriminalistischer Erfahrungswert, dass im Business immer ein Grund zu finden ist, warum der A den B ausschaltet.«
Der Mann hatte sie nicht mehr alle. Hilfesuchend sah ich zu Martha Gelbach. Sie betrachtete mich interessiert. Nicht unfreundlich.
»Passen Sie mal auf«, sagte ich, mühsam meinen Zorn unterdrückend. »Ich habe dieses blöde grüne Zimmer nicht mal betreten. Habe nur reingeschaut, als Larissa mich im Schloss herumgeführt hat. Und ich habe noch nie auf einen Menschen eingeschlagen!«
Ich wollte noch eine Menge mehr sagen, spürte aber, dass ich damit kein Land gewinnen würde.
»Schon gut. Sie stehen nicht unter Verdacht«, sagte Martha Gelbach und bat mich um meine Handynummer und die Heimatadresse. Dann drückte sie mir ihre Visitenkarte in die Hand.
»Gehört Ihnen der rote Alfa Spider vor der Tür?«
Ich nickte.
»Toller Wagen. Privat fahre ich auch einen. Einen neuen.« Sie lächelte mich an. »Entspannen Sie sich ein wenig. Aber bleiben Sie bitte noch vor Ort. Wir melden uns bei Ihnen.«
Meine Angst spiegelte sich in den wasserblauen Augen der Kommissarin.
»Wir haben noch keine Nachricht. Die Gräfin wurde in die Neurochirurgische Poliklinik nach Würzburg gebracht. Sie wird rund um die Uhr von uns bewacht.«
Wir sprachen alle von ›der Gräfin‹, als wären wir ihr Hofstaat.
»Konnten Sie mit ihr reden?«, fragte ich.
»Sie ist nicht vernehmungsfähig. Sobald ich etwas Definitives höre, gebe ich Ihnen Bescheid.«
Was sollte ›etwas Definitives‹ schon sein, wenn nicht der Tod? Ich fröstelte.
»Noch etwas: Die Presse wird sich mit Schmackes auf diese Geschichte stürzen«, fügte Kommissarin Gelbach hinzu. »Im Moment halten meine Kollegen die Zufahrt zum Schloss für Schaulustige gesperrt. Aber früher oder später werden die Presseleute aufkreuzen. Seien Sie vorbereitet.«
In dieser Angelegenheit brauchte ich keine Instruktionen. Ich würde keine Silbe von mir geben. Informationen jeder Art waren kostbar, und Menschen, die über Informationen verfügten, taten gut daran, sie gezielt und nach eigener Maßgabe einzusetzen.
»Das schaffe ich«, sagte ich nur.
Martha Gelbach drückte mir voller Mitgefühl die Hand, aber sie war in Gedanken schon bei der nächsten Aufgabe, die sie zu bewältigen hatte. Ich sah sie gemeinsam mit Gert Rotloh im Grünen Salon verschwinden, wo die Spurensicherung seit Stunden nach Kopfschuppen von Larissas nächtlichem Besuch fahndete.
Polizeihauptkommissar Nero Keller klappte sein Notebook auf und aktivierte das E-Mail-Programm. Für seine Dozententätigkeit war er mit der modernsten und feinsten Technik ausgestattet worden, die das bayerische Landeskriminalamt sich leisten konnte. Wieder einmal klickte er die E-Mail an, die Kea Laverde ihm vor einer guten Woche geschrieben hatte. Sie wollte eine Weile in Unterfranken auf einem Schloss verbringen, wo sie die Autobiografie einer Gräfin zu Papier zu bringen plante.
Obwohl er Kea schon seit einem Dreivierteljahr kannte, hatte er immer noch kaum einen Einblick in ihre Arbeit als Ghostwriterin. Er verstand einfach nicht, was Menschen dazu verleiten konnte, einer fremden Person ihre intimsten Geheimnisse zu erzählen. Noch mehr als seine Distanz zu Keas beruflicher Tätigkeit beunruhigte den Kommissar, dass in ihrer Beziehung nichts voranging. Nero Keller hatte sich schon kurz nach ihrem Kennenlernen in der Vorweihnachtszeit des vergangenen Jahres eingestanden, dass er sich zu der Frau mit dem ungewöhnlichen Namen hingezogen fühlte. Mehr, als ihm anfangs recht gewesen war. Er hatte ihr beim Renovieren eines Teiles ihres desolaten Hauses südwestlich von München geholfen. Nicht, weil er auf eine erotische Entlohnung aus gewesen wäre. Das passte nicht zu ihm. Er hatte Kea unterstützt, weil er sie mochte und gern mit ihr zusammen war.
Nun blieb es logischerweise nicht aus, dass er sich fragte, ob mehr daraus werden könnte. Aber Kea hielt ihn auf Abstand. Sie hatte ihm das Du noch nicht angeboten, und er war zu altmodisch, um als Erster damit zu kommen. Sie trafen sich ab und zu bei ihm in seiner Schwabinger Wohnung, gingen von dort ins Kino oder in die Oper. Anschließend trennten sich ihre Wege. Kea machten kulturelle Abende großen Spaß, aber sie meldete sich selten von selbst bei ihm. Wenn er sie einlud oder einen Theaterbesuch vorschlug, war sie jedoch schnell dafür zu haben. Ihn zermürbte die Frage, ob sie mit anderen Männern ins Bett schlüpfte. Natürlich ging ihn das nichts an. Kea nahm ab und zu mal einen Mann aus einer Kneipe mit nach Hause. Nur für eine Nacht. Zumindest hatte sie das so gehalten, als Nero sie kennenlernte. Er grübelte, ob sie das immer noch tat. Gerne hätte er Keas üppige, runde Formen für sich gehabt. Er mochte Frauen mit weiblichen Konturen.
Er schlug auf die Schreibtischplatte. Seit Wochen war er seinem Vorgesetzten damit in den Ohren gelegen, durch Bayern reisen zu dürfen, um seine Kollegen in den Präsidien und Polizeidirektionen weiterzubilden. Internetkriminalität war sein Spezialgebiet. Er befasste sich schwerpunktmäßig mit dem Aufdecken von verwischten Spuren im World Wide Web. Aus seinen Erfahrungen bei der Mordkommission in Oberbayern wusste er, dass genau hier die Defizite bei den Kollegen lagen, die an der kriminalistischen Front arbeiteten. Man kannte sich mit Schusswaffen aus und beherrschte nötigenfalls den Jargon der Rechtsmediziner. Aber sobald das Blut im Internet sprudelte, schreckten die Leute von den Bildschirmen zurück. Die meisten fühlten sich von der Technologie überfordert. Endlich hatte das auch sein Chef, Polizeioberrat Woncka, eingesehen. Daraufhin war es eine Sache von Tagen gewesen, bis man Nero zitiert und auf Reisen geschickt hatte. Nun tingelte er durch die bayerischen Regierungsbezirke, um seinen Kollegen vor Ort von seinem Wissen abzugeben. Im Augenblick befand er sich in Würzburg. Im Polizeipräsidium in der Frankfurter Straße hatte man ihm ein winziges, staubiges Büro zugewiesen, in dem er sich auf die Fortbildung vorbereitete, die er am Nachmittag leiten sollte.
Nero las Keas Mail ausführlich, bevor er sie schloss und sich seinen Seminarunterlagen widmete. Er hatte nicht zu hoffen gewagt, dass ihm das Unterrichten so viel Spaß machen würde. Vielleicht lag es an seinem enormen Wissen. Es war am Übersprudeln. Er gab gerne davon ab. Die Kontakte zu den Kollegen vermittelten ihm Kraft. Nach vielen Stunden Unterricht war er zwar ausgelaugt. Aber er fühlte sich auch erfrischt, als hätten die neugierigen, erwartungsfrohen Gesichter der Kursteilnehmer ihm Energie gegeben, das nächste Seminar in Angriff zu nehmen. Dieses Gefühl stimmte ihn zufrieden und zuversichtlich und war nicht zu vergleichen mit der bleiernen Erschöpfung, die sich im Zuge von Ermittlungen auf ihn legte.
Vor seinem seit Jahren ungeputzten Fenster zogen graue Wolken vorbei. Nero war nicht besonders am Wetter interessiert. Gespräche über Regen oder Sonne langweilten ihn. Deshalb beachtete er auch das Gewitter nicht, das gegen 12 Uhr über die Stadt hereinbrach. Bis sein Handy schellte.
»Keller?«
»Hier spricht Kea.«
»Hallo.« Sofort wurde Nero nervös. Es kam selten vor, dass Kea von sich aus anrief. Er freute sich, ihre Stimme zu hören, und sah das schwarze, lange Haar vor sich, die strahlenden dunklen Augen, die ein bisschen zu weit auseinander standen, darüber die schön geschwungenen Brauen. »Wie geht’s?«
Neros Stoffwechsel schaltete einen Gang höher. Kea Laverde war keine, die um Hilfe rief. Schweiß perlte auf seiner Stirn. Er stand auf, um das Fenster zu öffnen, und erschrak über den Donnerschlag, der über Stadt und Fluss hinwegrollte.
»Nicht am Telefon«, tönte Keas Stimme aus dem Handy. »Haben Sie am Wochenende Zeit?«
»Ich bin gerade in Würzburg. Um 15 Uhr halte ich ein Seminar. Wollten Sie nicht auf einem Schloss in Unterfranken sein? Sind Sie in der Nähe? Könnten wir zusammen zu Mittag essen?«
»Haben Sie Ihr Auto parat?«
»Schon.« Nero war alarmiert.
»Treffen wir uns in Dettelbach. Ich kenne dort eine kleine Heckenwirtschaft.« Sie beschrieb ihm den Weg. »Finden Sie das?«
»Natürlich.« Nero sah auf die Uhr. Es war fast 20 nach zwölf.