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Uta-Maria Heim

Wespennest

Der Sieg des Rattenprinzips

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Alle Rechte vorbehalten

3. Auflage 2013

Neue epub-Auflage 2016

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung: Katja Ernst

E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart unter Verwendung eines Fotos von: www.sxc.hu

ISBN 978-3-8392-3428-0

Widmung

Für Eberhard und Pauline

Vorspann

Seid wachsam! Hütet euch vor der Verbrüderung mit der Realität! Sobald ihr, sei es aus Anlehnungsbedürfnis, sei es aus Laufbahngeilheit, den Pakt mit ihr geschlossen habt, seid ihr des Teufels. […]

… und darum gibt es für euch nichts Erstrebenswerteres als den Intimverkehr mit dem Realen, das aber heißt: mit dem Teuflischen. […]

… die Unterwerfung, die Anpassung, die Identifikation mit den Peinigern, das jauchzende Ja zur eigenen Verstümmelung, den Zungenkuss mit dem Status quo, die demonstrative Begattung mit der Wirklichkeit! […]

Das Bestehende sehnt sich danach, von euch gefickt zu werden, und eure Erzieher sehnen sich danach, euch dabei zuzuschauen. Und je routinierter ihr euch anstellt, umso entspannter, umso wohlwollender, umso strahlender wird ihre Miene.

Markus Werner, Zündels Abgang

Prolog

Die Zeit heilt alle Wunden, sagt man. Das ist Quatsch. Die Zeit heilt gar nichts. Ich weiß das, und du weißt es auch. Das Einzige, was hilft, ist Töten. Man muss den, der einem das Leben zerstört hat, auslöschen. Auf Gewalt folgt Gegengewalt, Auge um Auge. Das ist keine Lösung, aber es hilft.

Du müsstest mir nun zuhören, ich könnte dich zwingen dazu. Aber leider habe ich dir nun, wo es fast schon zu spät ist, überhaupt nichts mehr zu sagen. Noch ahnst du nicht, dass ich in meiner Tasche eine Pistole habe, oder ists ein Revolver? Ich kenne mich damit nicht mehr aus, aber ich weiß, wie man die Dinger entsichert.

Es ist nicht einfach, zum letzten Mittel zu greifen. Es kommt einem zu banal vor und zu unrealistisch. Nirgendwo gibt es ein Amt, wo man hingehen kann und einen Mord anmelden, so, wie man die Geburt eines Kindes anzeigt, einen Wohnungswechsel oder den Austritt aus der Kirche. Das ist eigentlich schade, weil es für alles andere im Leben Stempel und Urkunden gibt. Selbst der Tod wird nach Vollzug sofort aktenkundig.

Du meinst, ich sei ganz gelassen, aber das täuscht. Meine Hände zittern, und ich kann kaum stehen, weil mir die Beine wegsacken. Ich stehe an dem Eck vom Dresdener Platz, wo schon mal was passiert ist, in der Dunkelheit und warte. Gelehnt an einen Baum, den sie wahrscheinlich nach dem Unfall damals neu gepflanzt haben. Er weiß nichts von dem, was geschehen ist. Auch nicht von dem zwischen dir und mir. Du wirst in Kürze kommen. Du wirst pünktlich sein. Ich werde dich von vorn erschießen, ins Gehirn. Ich habe gelesen, dass paranoide Beziehungstäter dem Opfer das Gesicht auslöschen. Pah! Paranoid! Beziehung! Aber es ist ein schöner Gedanke: Dein Gesicht. Nicht mehr da. Da ich so was schon lange nicht mehr gemacht habe, weiß ich nicht, was passiert, wenn ich abdrücke.

Du kommst auf mich zu, etwas gebeugt, mit kurzen Schritten, ich nähere mich dir ohne Hast, sehe die Schemen deines Gesichts, du lächelst, ich hebe im Lauf die Hand mit der Waffe, strecke den Arm aus und drücke ab.

Vermutlich sollte ich es gleich tun. Sobald du mich in ein Gespräch verwickelst, bin ich wahrscheinlich gar nicht mehr in der Lage dazu. Mein Plan ist einfach: Du kommst auf mich zu, ich schieße, lasse die Waffe fallen und haue ab, die Stäffele hinauf Richtung Tagblatt-Gebäude. Ich habe den Tatort mit Bedacht wählen lassen. Da auf diesem Platz schon mal einer umkam, wird die Polizei bestimmt ihre Schlüsse daraus ziehen.

Es ist verflucht kalt und ich friere in meinem dünnen Mantel. Meine Hände sind trotz der gefütterten Lederhandschuhe schon ganz klamm. Nach und nach gehen hinter den Fenstern die Lichter aus. Die Laternen erlöschen. Die Jugendstilfassaden erstarren in einem gräulichen Zwielicht. Dräuende Figuren aus Stein werfen sich mir entgegen und verharren glubschäugig, mit wildem Haar und vor Entsetzen gespreizten Fingern. Bestimmt sind die Häuser denkmalgeschützt. Kein Mensch ist unterwegs. Nur eine gepflegte Katze kreuzt geschäftig und zielbewusst die Straße, bevor sie in einem Busch neben den Stäffele verschwindet. Unten in der Lassallestraße rauschen einzelne Autos vorbei. Gleich ist es Mitternacht und ich lausche auf den Glockenschlag, der sich mit dem Nahen deiner Schritte verbindet.

Donnerstag, 17. April

»Ich sterbe«, schrie Turu.

»Atme tief ein«, sagte Tofu, »und entspanne deine Muskeln. Das wird deine Angst beenden. Das Sterben ist eine interessante Erfahrung, aber Ängstlichkeit wird dir diese Erfahrung verderben.«

Janwillem van de Wetering, Der neue Schüler

1. Fatma Özdamar

Es wurde hell und die Vögel schrien. Es waren nur zwei oder drei Vögel, die sich im frischen Laub einer jungen Kastanie versteckten, die noch nicht blühte. Ihre Kerzen waren mickrig wie Säuglingspenisse. Der Frühling kam nicht richtig in Schwung. Ski und Rodel waren noch nach Weißsonntag auf der Schwäbischen Alb gut. Im Welzheimer Wald wurden als Aprilscherz organisierte Schneeschuhwanderungen angeboten. In Stuttgart regte sich nicht ein Blatt. Ostern Mitte März hatte das Bild geboten einer weißen Weihnacht. Nachdem es selbst in Tieflagen geschneit hatte, waren die Temperaturen nachts auf zehn Grad minus abgesunken, während tagsüber so was wie Polarsommer herrschte: Fahlblauer Himmel ohne ersichtliche Fortschritte jedweder Vegetation. Anfang April war es auf einmal fast sommerlich geworden, die Natur hatte sich nach dem langen Winterschlaf gestreckt, vorwitzig lugten die Knospen aus den Zweiglein, aber dann hatte es wieder abgekühlt. Nun regnete es schon seit Tagen, heftige Graupelschauer wechselten ab mit Nieselregen.

Am frühen Donnerstagmorgen war es vergleichsweise trocken, nachdem es die halbe Nacht geschüttet hatte. Der Himmel hing tief. Der Stuttgarter Westen lag da in einem grauen Licht, unnahbar und steinern, ganze Straßenzüge waren baumlos und ohne Blumen, die Jugendstilfassaden rußgeschwärzt. Sie waren mit vielerlei Figuren verziert, Fabelwesen und Göttern, die wild gestikulierend und mit schmerzverzerrten Gesichtern erstarrt waren. Ihre Augen waren tot, ihre Schreie stumm. Dahinter lebten, eng auf dichtem Raum, Menschen.

Besonders trist war an diesem Morgen die Gegend um den Dresdener Platz. Er lag am Hang, aber das Eck war zu verwinkelt, als dass man den Talblick hätte genießen können. Die denkmalgeschützten Mietshäuser, die in einem Abstand von genau drei Metern gebaut worden waren, hatte man in den Siebzigerjahren in Einheiten mit lauter kleinen Eigentumswohnungen verwandelt. Darin lebten vor allem ältere Leute, Rentner, Witwen und alteingesessene Gastarbeiterehepaare, die bescheiden und bedürfnislos ihre Kehrwoche verrichteten und kein Aufhebens machten. Daher lehnten nirgends Fahrräder, klebten nirgendwo Plakate, gab es weder Kneipen, noch Geschäfte, mit Ausnahme einer schäbigen Bäckereifiliale, die allerdings noch nicht geöffnet hatte.

Nur vereinzelt fuhren Autos, aber man hörte den Verkehr unten in der Lassallestraße. Er strömte stadteinwärts. Das Straßennetz im Talboden war fast schachbrettartig angelegt, die wenigen Quertrassen waren früher Feldwege gewesen. Die Hänge hinauf führten Stäffele, schmale, gerade Steinstie-gen mit geschwungenen Geländern. Der Dresdener Platz lag auf halber Höhe zwischen Herbsthalde und Vogelsang. Vor den Stäffele, die hinuntergingen zur Lassallestraße, stand der einzige Kastanienbaum weit und breit. Er markierte das Ende des ovalen Plateaus, das idiotischerweise nordwestlich vom Leipziger Platz lag. Dass Dresden sich im Südosten von Leipzig befand, hatte bei der Konzeption des Viertels keine Sau interessiert. Eine gewisse Hudelei zeigte sich auch in der Anmutung. Links von den Treppen, die noch weiter nach oben führten, war ein Brunnen mit einer Wasser speienden Nixe, der wirkte wie falsch abgestellt. Rechts wuchsen Hecken, die mit einer in Virginia Beach / USA gefertigten schwäbischen Stihl-Motorsäge regelmäßig schief getrimmt wurden. Beim dritten Stäffele war in der Hecke ein Loch und unterhalb des Lochs lag, leicht sichtbar, eine Waffe im Dreck.

Es war eine Smith & Wesson 4 Zoll brüniert 4,5 Millimeter Diabolo. Ein präzise gearbeiteter CO2-Revolver aus der Modellreihe 586/686 mit einer herausragenden Leistung und zehn Schuss. Im Hinblick auf Handhabung und Gewicht entsprach er dem legendären .357 Magnum-Revolver.

Gegen sieben Uhr verstummten die Vögel. Auf dem Dresdener Platz herrschte eine merkwürdige Stille. Als Fatma Özdamar die Stäffele herunterkam, öffnete eben die Bäckereifiliale am Eck. »Mir hend no zu«, sagte die Halbtagskraft, die in der sperrangelweit offenen Tür stand. Von drinnen kam der Duft nach aufgebackenen Brezeln.

»Komm, gang mer weg. Zue! Etzetle, Silvi!« Wie meist, wenn sie sich aufregte, verfiel Fatma in ihr schlimmstes Stuttgarter Schwäbisch. »Ich möchte nur meiner Mutter ein frisches Brot bringen. Weil die kann sich doch so schlecht selber versorgen, woisch, und ich muss um halb acht zum Dienst.«

»In zehn Minuten.« Die Halbtagskraft zeigte an Fatma vorbei auf den Lieferwagen, der am Trottoir parkte. »Ich mach nur schon auf wegen den Zeitungen.«

Fatma wandte ihr schnaubend den Rücken zu. Sie wollte schon die ganzen Stäffele wieder hinauflaufen, weil ein gutes Stück weiter die Bäckerei Häfele war, wo eine Eritreerin arbeitete, die es mit den Zeiten nicht so genau nahm. Da entdeckte sie mitten auf dem Gehweg einen bronzefarbenen Stolperstein: »Hier wohnte Lilly Winterhalter geb. Tänzer, Jahrgang 1889. / Deportiert am 22.8.1942 ins KZ Theresienstadt. / Ermordet 1943 in Auschwitz.« Fatma hob leicht den Blick. In der Hecke lag eine matt glänzende Waffe, die ungefähr die Farbe des Himmels hatte.

2. Der rote Karle

Ich sag nichts, nein.

Da habt ihr es mit dem Rechten zu tun. Da hättet ihr früher kommen sollen. Als es an der Zeit war, hat keiner was gewollt. Alleweil hat man uns verseckelt bis zum seligen Ende. Aber ihr glaubt doch nicht, dass ich wirklich was damit zu tun hab? Dass wir da mit drinstecken in dem Dreck? Dass womöglich einer geschossen hat? Pfeifendeckel. Bei uns schießt lang keiner mehr. Ja, natürlich haben wir Waffen. Immer Revolver gehabt. Pistolen. Gewehre. Willst du sie sehen? Wir können allesamt runter in den Keller. Dort unten sind sie. Markenfabrikate! Mauser! FEG! Heckler & Koch! Alte Wertarbeit. Teils noch von meinem Vater. Kriegst du heut nirgends mehr. Kommt alles aus China. Alles nachgemacht. Außen hui, aber innen null Präzision. Damit kannst du nicht mal einen Hund abknallen. Marthel! Bring mir mal meinen Stecken. Die Herrschaften treibts aus der Küche. Was glotzt ihr so wie angenagelt? Man ist nicht mehr 50. Pfoten weg. Gut, dann bleib ich sitzen. Aber dann sitzt du auch. Das macht mich nervös, dein Gehampel. Du bist doch noch gar kein richtiger Kerle, Mensch. Ein Seichbüble. Nicht mal im Schwabenalter. Und so was schon Kriminalhauptkommissar. Was? Ja. Kriminalhauptkommissar Timo Fehrle. Hab ich mir gemerkt, wie du da reingekommen bist. Und aus dem Nachbarort. Vom Sulgen! Es ist nie nichts Gutes, was vom Sulgen rüberkommt. Aber jetzt hockst du in Stuttgart bei den Großkopfeten und fährst einen Audi. Stimmts? Hab ich recht? Zum Daimler langts nicht oder nur als Dienstwagen. So einer wie du ist verheiratet. Ring am Finger. Zwei Kinderfotos in der Brieftasch. Ein Bub und ein Mädle. Immer in der Ordnung alles. Bloß, wenn du dirs recht überlegst, so wie du rumläufst, bist du einer vom anderen Ufer. Schicke Klamotten und Hennendreck in den Haaren. Die vom Fehrleshof ticken eh nicht richtig mit ihren Viechern. Und du bist doch einer von denen Fehrles dort droben von der Heuwies. Da kannst du mir nichts vormachen, das seh ich gleich. Die sind nicht recht bei Verstand.

Eine Smith & Wesson 4 Millimeter, ja so. So was haben wir hier nicht. Das wüsst ich. Das ist doch ein Murks. Ja, kann man denn damit einem überhaupt einen sauberen Genickschuss verpassen?

»Herr Roth«, sagte Fehrle, ein junger Spund mit weichem Maul und harten Augen, großgewachsen, dunkel und schön wie ein Weib. Ein richtiger Sulgemer halt. Der Urgroßvater war ein Original gewesen, er war ihm wie aus dem Gesicht geschnitten. Die Fehrle-Sippe war von jeher aktiv in der Narrenzunft. Nach dem Franz war lang vor dem Krieg die erste Larve vom Sulgemer Krattemacher geschnitzt worden, die man wieder einstampfen musste, weil der Fehrle Franz so jähzornig war, dass kein Hansel sie aufsetzen wollte.

»Die Tatwaffe ist registriert auf Ihren Namen. Es wär hilfreich, wenn Sie den Mund aufmachen.« Auch der Fehrle Timo klang, als stünde er vor einer Explosion. Obwohl er nur schwarze Jeans, ein ungebügeltes weißes Hemd und eine schwarze Lederjacke anhatte und kein bemaltes Fasnetshäs.

»Er kann nicht«, erwiderte seine Frau, die lautlos in die Küche gehuscht war.

»Grüß Gott, Marthel«, sagte Timo. »So sieht man sich wieder.«

Marthel nickte. Sie hatte das niedliche, weiche Profil einer greisen Filmschönheit. Ihre Stirn war fleckig und welk, aber faltenfrei, und die Stupsnase ohne Makel. Sie schürzte die vollen Lippen, die sie mit einem rosaroten Glanzstift sorgfältig nachgezogen hatte. Zu engen weißen Jeans trug sie ein gebügeltes pinkfarbenes Sweatshirt. »Vorgestern hat er einen Schlaganfall gehabt. Es war schon sein zweiter. Seit dem Schlägle jetzt sagt der rote Karle keinen Mucks mehr. Und vermutlich weiß ers auch nicht mehr so. Es bringt also nix, ihn aufzuregen.« Marthels Augen gingen hin und her zwischen Fehrle, der dumm dastand, und seiner Kollegin.

»Kriminaloberrätin Anita Wolkenstein.« Anita gab der alten Frau die Hand. »Als Leiterin des Dezernats Tötungsdelikte / Todesermittlungen im Polizeipräsidium Stuttgart bin ich federführend bei den Ermittlungen der SoKo.« Sie war mit Mitte 40 deutlich älter als ihr Kollege. Der strenge braune Pferdeschwanz wirkte unvorteilhaft. Ihr spitzes, ungeschminktes Vogelgesicht passte nicht zu dem teuren hellblauen Hosenanzug und dem nicht gerade dezenten Designermantel.

»Marthel«, flötete Marthel. »Sag du nur ›Du‹ zu mir. Bist ja noch jung. Und das Timole, das kennen wir, seit es ein kleines Buele war, nicht wahr, Karle?«

Der rote Karle saß sehr aufrecht an der Schmalseite des Tisches. Er war groß und grobknochig und trug ein geripptes ärmelloses Unterhemd und eine dunkelblaue Jogginghose mit Hosenträgern. Auf dem Hinterkopf saß schief eine speckige karierte Kappe. Das Gesicht war vom Alter gezeichnet. Von den Nasenflügeln zu den Mundwinkeln verliefen tiefe Falten. Der breite Mund verzog sich zu einem bitteren Grinsen. Karle glotzte alle der Reihe nach an. Er hockte steif auf der Eckbank und stierte von einem zum andern. Seine dunkelbraunen Augen glänzten wässrig. Anita versuchte vergeblich, seinen Blick aufzufangen. Plötzlich fing er an zu singen. Er sang volltönend im Bass:

»Krattemacher Lumpenpack,

hot koan Pfennig Geld im Sack.

Hot koan oanzge Gulda,

dr Buckel voller Schulda.

Hot a grätigs Weib

und mit em Nochber Streit,

und mit em Schultis au,

so ists in Sulgenau.

Haut ihn, haut ihn,

haut ihn uff de Deez!

Haut ihn uff de Kratte nuff,

haut ihn uff de Schädel druff!

Haut ihn, haut ihn,

haut ihn uff de Deez!«

Dann lachte er. Er lachte laut und polternd und hieb mit der Faust auf den Tisch.

Der Sulgemer Narrenmarsch. Das Krattemacher Original. Fehrle schwoll der Kamm. Er wurde puterrot im Gesicht und plusterte sich wie ein Auerhahn.

»Singen kann er«, sagte Marthel. »Auch wenn er sonst radikal sprachlos ist. Vor lauter.«

»Vor lauter?«, fragte Fehrle spitz. »Vor lauter was?«

»Was will er uns damit sagen?« Anita schwitzte. Die niedrige, enge Küche war überheizt. Die Luft war nass und stickig. Auf dem Herd kochten Kartoffeln. Anita wischte sich über die Stirn. Sie sah auf die Uhr und knüpfte ihren Cordmantel auf.

»Das weiß ich auch nicht, aber es hat scheints mit dem Krieg zu tun.« Marthel lupfte den Deckel und guckte in den Topf. Vom Dampf beschlug das Fenster. »Das Lied hat der Heimen Bruno geschrieben, als er von der Front kam und aus der Gefangenschaft. Der Karle war mit ihm im Jungkolping, die haben einen Haufen Blödsinn zusammen angestellt, anno 40 wurde der Kolping zum Volksfeind erklärt, und dann war er halt Kanonenfutter, der Bruno. Strafbataillon und ab als Pionier an vorderster Front bis in den Kaukasus. Zweimal wurde der Bruno verschüttet, er lag voller Granatsplitter wie eine gespickte Sau ein paar Meter tief im Dreck, verblutete bald und kriegte keine Luft mehr. Er hat überlebt, weil er ein Ziel hatte: Er wollte dem Karle, dem Kommunist, mal ordentlich die Fresse polieren. Der Bruno war nämlich stockkatholisch.«

»Es ist langsam an der Zeit.« Fehrle sah wütend zur Küchenuhr, die über Karles Kopf tickte. Karle stierte stur vor sich hin.

»Was glotsch?«, fragte Marthel. »Ist dir meine Sprache nicht fein genug, du blödes Mensch? Das war damals auch nicht vornehm, verstehst du? Es macht einen ein Lebtag lang mundtot. Glaub bloß nicht, ich sei pietätlos.«

»Erzählen Sie weiter«, bat Anita und besann sich. »Schwätz du nur, Marthel.«

»Das mit dem Narrenmarsch war nämlich so. Wo der Krieg aus war, hat der Bruno massenhaft Leichen ausgegraben und auf Soldatenfriedhöfen bestattet. Er war selber eine halbe Leich. Und als er heimkam, hat er seinen Augen nicht getraut: das ganze Nazi-Geziefer schon wieder in Amt und Würden, die Büttel und der Lehrer, alle wieder am Platz. Da hat ihn eine saumäßige Wut gepackt, weil er geglaubt hatte, die Bande sieht er nie wieder. Die Seichdackel seien sämtlich im Arrest. Pfeifendeckel! Alles ging mehr oder weniger so weiter wie vorher, und das hat den Bruno schier um den Verstand gebracht.« Marthel schnaufte. »Ja, und bei den Narren war einer, das war ein Zigeuner. Mein Schulkamerad, der Heinz. Die hätten ihn ja am liebsten den Kamin hochgejagt, sterilisiert hat man ihn, und nun war nicht viel mit Wiedergutmachung. Der Heinz ist 1962 gestorben, im gleichen Jahr wie sein Vater, wenn ichs noch recht weiß, mit gerade mal 37. Er hat ein schwaches Herz gehabt, hat man gesagt, wenn das mal wahr ist.«

»Ah ja«, sagte Anita.

»Da gab es immer noch ein paar braune Seckel. Das hat den Karle maßlos aufgeregt und wurmt ihn bis heut. Er war von jeher dagegen, der hat die Nazis gehasst, gegen sie agitiert und ihnen geschadet, wo er nur konnte. ›Haut ihn uff de Deez!‹ Wenn er das jetzt ums Verrecken singen muss, dann dreht sichs wohl irgendwie ums Dritte Reich. Es ist ein antifaschistisches Lied, das hat man vergessen; aber frag nur deinen Vater, Timole, der weiß das noch.«

»Ja so«, sagte Fehrle.

Jetzt, wo der Pflichtteil offenbar erledigt war, kam Marthel erst richtig in Fahrt. Sie redete nur selten viel, aber wenn sie einmal angefangen hatte, konnte man sie kaum noch bremsen. Mit Begeisterung wechselte sie das Thema. »Ich seh es noch deutlich vor mir. Die Mutter vom Timo, die wo Berta hieß, so hieß sie doch, oder, die hat immer die Milch bei unseren Nachbarn abgeliefert, oben bei der Milchsammelstelle. Die Bauern vom Fehrleshof sind nicht auf den Sulgen gegangen, die sind herüber nach Mariabronn. Das hat die Sulgemer geärgert. Weil die Fehrles doch weit und breit den größten Milchhof hatten, das war überall bekannt. Die Fehrle Berta ist mit dem Gaul den Berg herabgesaut, und der Timo ist immer auf dem Buckel droben gehockt. Und jetzt ist der Timo beim Trachtenverein. Warum kommst du nicht in deiner schönen Uniform? Da ist die Berta stolz auf dich.« Marthel grinste.

Berta war Timos Großmutter gewesen. Sie war irgendwann Mitte 60, einige Jahre vor Fehrles Geburt, gestorben. »Ich bin Kriminalhauptkommissar, Marthel. Wir ermitteln in einem Mordfall. Habt ihr eine Smith & Wesson 4 Millimeter im Haus?«

»Ja, wenn ich das wüsste!«, rief Marthel. »Da müsst ihr den Vater fragen.«

Der rote Karle reagierte nicht. Ein schmaler Speichelfaden floss ihm aus dem Mundwinkel. Er holte ein rotes Sacktuch aus der Hosentasche und wischte ihn weg.

»Jetzt sitzt auch hin an den Tisch«, befahl Marthel. »Ich mach erst mal einen Kaffee.«

»Wo ist der Waffenschrank?«, fragte Anita scharf.

»Langsam«, sagte Marthel.

Fehrle hockte sich auf die alte, verkratzte Eckbank. Die Sitzkissen waren zerschlissen. In der Ablage lag ein Stapel Zeitungen. Auf der bräunlich verfärbten Raufasertapete tickte leise eine schneeweiße neue Küchenuhr. Über Eck hing ein uralter, eselsohriger Katzenkalender. Er zeigte die gemeine getigerte Hauskatze, die Urmutter aller europäischen Rassekatzen. Im Mai 1990 war die Zeit stehengeblieben.

Anita nahm einen Stuhl. »Es könnte nämlich sein, dass die Smith & Wesson fehlt.«

»Wir haben niemanden umgebracht«, sagte Marthel. »Aber wir kriegen auch wenig Besuch. Wenn man mal in unserem Alter ist … Der Karle ist 86 und ich bin 83. Da ist man froh, wenn man die Kinder noch hat, wo einen versorgen können, sonst sterben alle rundrum. Aber wer ist es denn, der wo verschossen worden ist?«

»Er heißt Kurt-Wolfgang Oswald, Spitzname Ossi. Sagt dir das was?« Fehrle redete mit Marthel und schaute Karle dabei an.

Der rote Karle griff nach seinem Schnupftabak. Er gab eine Prise auf den Handrücken. Seine Feinmotorik hatte das Schlägle offenbar nicht beeinträchtigt.

Marthel hantierte am Küchenbüfett, das aus den Fünfzigerjahren stammte und zum x-ten Mal frisch gestrichen worden war. Tomatensuppenrot. Sie nestelte im Karton mit den Kaffeefiltern. »Nein, nie gehört. Ich kenne keinen Kurt-Wolfgang und schon gar keinen Oswald oder Ossi.«

»Er ist in Stuttgart erschossen worden, auf einem Friedhof.« Fehrle schluckte. »Gestern gefunden, Genickschuss.«

»Davon stand ja gar nichts in der Zeitung.« Marthel seufzte. »Der Karle ist schon ganz aufgeregt. Nachher kriegt ers wieder mit dem Blutdruck. Aber ich wüsst schon gern, was wir mit der Sauerei zu tun haben. Der Karle hat einen Waffenbesitzschein. Er war sein Lebtag lang im Schützenverein und der Heiner ist Schützenkönig. Das ist kein Verbrechen.«

»Waffenbesitzkarte«, korrigierte Anita. »Aus ermittlungstechnischen Gründen belassen wir es dabei.« Sie stand auf. »Ich möchte die Waffen sehen. Sie haben doch sicher noch mehr davon?«

Der Mann ist tot. Gut. Erschossen. So was passiert. Aber wem nützt das? Und was kommst du jetzt mir damit. Marthel! Nein, keinen Kaffee. Der Fehrle Timo geht gleich wieder, der braucht keinen Kaffee. Der kommt sowieso zu spät. Der hätte früher kommen müssen, der kleine Seichbub. Beizeiten hättest du kommen müssen, Timole. Als es noch was zu diskutieren gab. Das ist schon lang vorbei. Wir diskutieren nicht mehr. Ich rede mit niemand. Du kannst die Waffen mitnehmen, Mensch. Sie liegen unten im Keller. Und das Mensch nimmst du auch mit. Ich kann Polizeiweiber nicht leiden. Sie sind ungemütlich und haben es auf den Nerven.

Aber der Name, der kommt mir bekannt vor. Ossi. Der Ossi, hat man dem gesagt. Wie der richtig hieß, das weiß ich nicht mehr. Oswald. Ja, genau. Kurt-Wolfgang? Von mir aus. Das muss der sein. Das ist der. Ossi, der Glatzkopf, der Spitzel. Hin ist er. Überrascht mich nicht. Im Gegenteil. Kein Wunder, dass es den mal erwischt hat. Der wär schon lang fällig gewesen. Das war ein ganz gerissener Hund, damals schon, vor bald dreißig Jahren. Bald dreißig Jahre ist das jetzt her. Komm, hör mir auf. Der tat, als sei er ein Genosse. Dabei war er ein elender Spitzel! Der kam vom Verfassungsschutz! Verdeckter Ermittler oder V-Mann, was weiß ich. Der hat die Partei auf dem Land mit aufgebaut. Im Schwarzwald hats zig Ortsgruppen gegeben am End. Alles Ossis Arbeit. Und keine Sau hat was gemerkt. Die Partei hat gepennt, nicht wahr. Und dann hat er jeden, der wo da eingetreten ist, gemeldet. Mehrere Genossen haben Berufsverbot gekriegt, der Alfred als Briefträger, die Bärbel. Die war Deutschlehrerin und dann ist sie in die Fabrik. Mit 45 ist sie gestorben, Brustkrebs. Die hätte einen Grund gehabt, aber die ist selber mausetot. Seit einem Vierteljahrhundert. Weiß der Teufel, was der Ossi angestellt hat nach der Mauer. So einen kehrst du nicht um. Der wechselt vom linken ins rechte Lager und bleibt trotzdem ganz der Alte. Wenn den jetzt einer hingerichtet hat mit solchen Nazimethoden, das sind Nazimethoden, Mensch, der Genickschuss, das ist eine Hinrichtung, also, wenn das so kommen musste, wundern tut mich das nicht.

Jetzt wollen die doch tatsächlich runter in den Keller. Ich geh nicht mit. Ich bleib hier hocken. Soll Marthel machen. Kommt eh nichts dabei raus. Eine Smith & Wesson 4 Millimeter, so, so. So ein elender Scheiß. Ja, also Heilandsack noch mal: Kann man denn damit einem überhaupt einen sauberen Genickschuss verpassen?

»Sie sind fort«, sagte Marthel und tat Wasser in die Kanne. Sie schnaufte noch vom Treppensteigen. »Sie sind das Loch hinauf und gleich gegangen. Wie angestochen hats denen pressiert. Aber die kommen wieder. Das hab ich denen an den Augen abgelesen. Das sind Augen, die sind wunderfitzig, die lugen in jeden Winkel, die nehmen Maß an dir, vor denen kannst du dich fürchten. Die sehen alles. Und die wissen auch, dass unser Fritz unten im Büro hinter der Werkstatt im Tresor eine Smith & Wesson liegen gehabt hat. Aber die Knarre ist nicht mehr da. Und der Fritz auch nicht. Der ist in Mexiko. Was er da macht, ist mir schleierhaft. Soll er mir nur heimkommen, das Bürschle. Aber recht hat er. Was bleibt ihm auch übrig. Er wird genauso erben wie Heiner und Claudi geerbt haben am End. Da macht der Vater keinen Unterschied. Stimmts oder hab ich recht, Karle? Wir haben nie darüber geredet. Es gibt da auch nichts zu schwätzen. Der Fritz ist unser Sohn, auch wenn er dem Vater nicht gleichsieht und einen eigenen Kopf hat.«

Marthel lupfte den Deckel der Kaffeedose, ging hinüber zur Kaffeemaschine und tat vier Messlöffel in den Filter. »Jetzt haben wir also einen Mordfall, Karle. Wer hätte das gedacht. Wir kennen diesen Ossi nicht, wenn ich es noch recht weiß, oder? Ich weiß von nichts, wenn du mich fragst, und du redest ja sowieso nichts mit mir, wenn der Tag lang ist und überhaupt mit keinem. Das Genick haben sie dir gebrochen bei der Wende, mein Schatz. Scheiß-Großdeutschland, ich habs alleweil gesagt, das sind allesamt Lumpen. Aber etwas sagt mir der Name Ossi Oswald halt doch. Kannst du dich an unseren Udo entsinnen? Unser Udole. Schleimbeutel. Elender Drecksack. Hat das Claudile nach all den Jahren sitzenlassen. Mit dem Butzele seltmals. Und jetzt ist die Julia so eine stolze Nudel. Jawoll. Sie kommt nach dir, Karle. Dunkel, groß, schlank. Oder nach dem Udo. Da hat es die Claudi dir recht machen wollen mit dem, die hat einen gesucht, der wo dir gleichsieht, einen Mann. Siehst ja, wo sie gelandet ist. Beim Stefan. Klein, dick, kurzsichtig wie ein Otter, aber mit Anstand. Und eine gehobene Stellung, Karle. Du hast mir nie vertraut, aber im Dorf ist das was wert. Wenn du ein uneheliches Balg hast, grenzt so ein Einkommen an ein Wunder. Dabei haben wir nie gebetet. Das zahlt sich nun aus. Bloß: Dieser Ossi ist mit unserer Knarre erschossen worden, da wette ich mit dir um mein eigenes Gebiss.«

Wie ich den Ossi kennengelernt hab. Das weiß ich noch wie heut. Der stand auf einmal in meiner Küche. Da ist noch der Udo dabei gewesen, der taube Sack. Der hat damals mit unserer Claudi poussiert. Der Udo hat den angeschleppt, und zu uns konnte jeder kommen, wir waren ein offenes Haus. Wir waren alle in der DKP, das war selbstverständlich damals, und der Ossi fiel auf durch seine komischen Meinungen. Stalinistisch nicht, nein. Der war unglaublich informiert. Kannte alle Neuerungen, alle Beschlüsse, alle Parteitage. Das war einfach ein Hundertfünfzigprozentiger, den hatten sie auf Linie gebracht. Hab ich gestutzt, damals. Hatte gleich den Verdacht, dass er ein Spitzel ist, aber einer aus dem Osten. Der hatte überhaupt keinen gescheiten Humor und trotzdem hat er dauernd Witze gemacht. Zum Beispiel den: »In der Hölle ist es genau wie in Berlin: Links West, rechts Ost und dazwischen der antiimperialistische Schutzwall. Und alle wollen rüber in den Ostteil und wisst ihr warum? Dort fällt schon nach fünf Minuten der Strom aus.«

Haha. Haha. Das war ein Witz, der konnte nur von einem Schulungskader kommen. Die Typen kenn ich. Hab die selber studiert nach dem Krieg. Gefangenschaft. Dann Berlin Ostzone, Kaderschulung. Das sind Witze, die stinken nach Stasi. Nicht, dass die Stasi mir damals was ausgemacht hätt. Nicht mal in meiner Küche, nicht wahr, Marthel, wir waren tolerant. Komisch fanden wir bloß, dass der Ossi später zur Polizei ging. Der war beim LKA, restlos verbeamtet, und in null Komma nichts befördert. Vielleicht war er das vorher schon, Kommunist im Staatsdienst, was weiß ich denn, aber das kam mir damals nicht koscher vor. Wie ein Genosse mit einem solchen Vorleben ins LKA darf. Vor 20 Jahren war das eigentlich unmöglich. Ich hab mir dann verbeten, dass der noch mal in mein Haus kommt.

Das war noch vor dem Mauerfall, wenn ich mich recht entsinne. Weil ich den Ossi seitdem nicht mehr gesehen hab, könnte ich zur Aufklärung an dem Mord nichts beitragen, selbst dann nicht, wenn ich schwätzen würde wie ein Wasserfall. Wenn ich ehrlich bin, hab ich nichts dagegen, dass er tot ist. Das war ein Verräter, aber mit Genickschuss? Wer im Krieg war, der hört sofort wieder die Suchhunde von den Feldjägern, das Keuchen und den Jeep. Deserteure haben bei uns den Genickschuss gekriegt, sind nachts in den Wald gezerrt worden und – boff! Nach dem Krieg war der Genickschuss beliebt. Die Terroristen haben auch den Genickschuss eingesetzt, der Schleyer, der Baader, war doch alles Genickschuss. Überhaupt die Terroristen. Vielleicht solltet ihr da mal suchen, die sind doch jetzt alle wieder frei, die, wo noch übrig sind. Vielleicht praktizieren die immer noch den Genickschuss, und ich kann mir gut vorstellen, dass der Ossi vorher bei den Terroristen war, bevor er in die DKP ging, und das sind ja Leute, die kennen nichts.

3. Fehrle

»Du kommst in die SoKo«, sagte Anita kurz. Auf dem Weg zum Auto hatte sie umgehend die Kriminaltechnik angerufen. Die KT sollte ein paar Leute schicken, um Karles Keller auseinanderzunehmen, vielleicht gab es Fingerabdrücke oder Spuren am Tresor. »Hätte ich den Keller versiegeln sollen?«

»Nicht nötig. Die alten Leute denken, es ist vorbei.« Fehrle sah auf die Uhr. Es war Donnerstag, der 17. April, kurz nach zwölf Uhr mittags. Sie saßen in Anitas neuem Dienstwagen auf dem mit Schutt überwucherten ehemaligen Firmenparkplatz und vesperten. Zwischen ihnen stand eine Thermoskanne Tee. Durch die Scheibe schien die Sonne. Der Himmel war blau, doch für Mitte April war es selbst auf der Hochebene zu kalt. Die Bäume waren noch kahl und am Wegrand lagen die schmutzigen Reste der Schneeberge, die der Schneepflug dort aufgetürmt hatte. Fern läutete die Mittagsglocke. Fehrle und Anita sahen aus dem Fenster. Auf einem verrosteten Schild genau vor ihnen stand ›ot & Ro h bH Pr isions rehte le‹. Hinter dem zwei Meter hohen Hag lag das verwahrloste Bauernhaus der Rothen. Im ehemaligen Scheunentrakt, der am Hang neben dem Keller lag, hatte der rote Karle seine Werkstatt gehabt. »Du bist dabei. Schließlich bist du im Polizeipräsidium für die Altfälle zuständig und das ist ein Altfall.«

»Der Fall ist keine 24 Stunden alt.« Fehrle biss in sein Gsälzbrot. Er war Vegetarier. Außerdem war er ein waschechter Vorzeige-68er: Er kam am Heiligabend 1968 brüllend und skandierend auf die Welt und äußerte sich fortan radikal unpolitisch. Sich um abgedrehte Altlinke Gedanken zu machen, war nicht unbedingt sein Ding.

Anita aß ein Baguettebrötchen mit Käse und Salami. »Trotzdem könnte das Motiv für die Tat weit in die Vergangenheit hineinreichen. Der symbolträchtige Fundort … Überhaupt, dass Ossis Leiche zurück nach Stuttgart transportiert wurde, in eine Stadt, die er Anfang 90 bereits verlassen hatte … und dort auf diesen Dornhaldenfriedhof …«

»Oswald wurde vorgestern getötet und gestern gefunden. Gut, er wurde nicht am Terroristengrab erschossen. Aber woher weißt du, dass er bereits tot war, als er nach Stuttgart kam?« Fehrle saß auf dem Beifahrersitz und schenkte Anita einen langen Seitenblick.

»Wir haben keine Fahrkarte bei ihm gefunden und keinen Autoschlüssel. Die Kriminaltechnische Untersuchung wird ergeben, dass er in keinem Fahrzeug gesessen hat, sondern in einem Kofferraum transportiert wurde, wetten?«

»Roth & Roth GmbH Präzisionsdrehteile«, las Anita. »Wir sollten uns Roth junior mal vornehmen.«

Fehrle schwieg.

»Oder willst du nicht mehr mit mir arbeiten? Ist es wegen dem Hans?«

»Blödsinn.«

Anitas Affäre mit Fehrles jüngerem Bruder Hans hatte sich in den vergangenen Monaten trotz des Altersunterschieds (Anita war gut sieben Jahre älter) zu einer stabilen Wochenendbeziehung entwickelt, weshalb sie viel Zeit auf der Heuwies verbrachte. Die Eltern waren mit Mitte 60 abgeschafft und zogen sich mehr und mehr zurück. Timo, der Erstgeborene, war verbeamtet und versorgt. Als Zweit­ältester einer stattlichen Geschwisterschar hatte Hans den elterlichen Hof übernommen und modern umgestaltet. Nebenbei hatte er brotlose Kunst fabriziert und eine Familie in den Sand gesetzt. Sein Leben verlief nicht sehr gradlinig, doch immerhin hatte er ein echtes Faible für die Landwirtschaft. Er hielt alle möglichen Haus- und Nutztiere und konnte die vielen Viecher nicht einfach sich selbst überlassen, also packte Anita mit an. Sehr zum Ärger ihrer 13-jährigen Tochter Bonnie, die regelmäßig mitgeschleift wurde. Bonnie hasste Lamas und Alpakaschafe, und von Pferden fühlte sie sich, seit sie in der Pubertät war, regelrecht traumatisiert. Dabei konnte sie ausgezeichnet reiten, was von Nutzen war, weil man die Tiere bewegen musste. Fehrle kannte den Konflikt sehr genau, weil ihm die Mutter am Telefon damit die Ohren vollheulte.

»Wie geht es dir denn mit der Barbara?«

»Es geht schon.« Vor drei Wochen war Fehrle zu Hause ausgezogen. Nun saß Barbara allein mit Nathan und Jorinde im ökologisch konzipierten Reihenhaus in der Bischofsweilemer Neubausiedlung, draußen im Elchenbachtal. Fehrle hatte sich ein Dorf weiter, in Schorndorf-Schornberg im benachbarten Remstal, in einem alten, leerstehenden Bauernhaus einquartiert, das an der verödeten Hauptstraße stand. Nach hinten hinaus besaß es einen riesigen Garten, der an neugebaute Mehrfamilienhäuser grenzte. Rotviolette Pfingstrosen lugten zwischen den Blättern der Schneeglöckchen hervor. Zwischen Obstbäumen blühten bald Löwenzahn, Wiesenschaumkraut, Gänseblümchen und Flieder. Eine Holunderhecke streckte weich ihre Zweige aus. Unter dem mächtigen Ast eines uralten Nussbaums baumelte eine hölzerne Schaukel. Fehrle hatte sie in der Scheuer gefunden. Es gab viel zu entdecken auf dem Hof. Seine Kinder, die zehn und acht waren, wussten noch nicht, dass sie hier demnächst jedes zweite Wochenende verbringen würden.

»Wir sollten noch mal reingehen und fragen, wo wir den Sohn der Rothen finden.«

Anita ließ den Motor an. »Nicht nötig. Das Industriegebiet von Mariabronn ist übersichtlich.«

Als ich gestern Mittag den Mann da liegen sah, hab ich meinen Augen nicht getraut. Auf dem Friedhof, auf dem Schotter, vor dem Grab von Baader, Enss­lin und Raspe. Vor dem Terroristengrab auf dem Stuttgarter Dornhaldenfriedhof liegt ein Toter auf dem Rücken und lugt in den Himmel. Aber den sieht er nicht mehr. Sein Blick ist starr in die Ewigkeit gerichtet. In seinem Hinterkopf ist ein Loch. Neben seinem Gesicht breitet sich eine Lache aus. Er trägt eine abgewetzte Lederjacke, ein kariertes Flanellhemd, schmutzige Jeans und beige Boots aus grobem Leder. Er hat einen ungepflegten Bart und eine Glatze. Das Alter schätzt der Gerichtsmediziner Schnabel auf Mitte, Ende 50. Er ist sonstwo hingerichtet worden. Genickschuss. Der Fundort ist nicht der Tatort. Man hat die Leiche so drapiert, dass sie daliegt wie der tote Andreas Baader. Der Täter hat die Fotos studiert und dann die Szene nachgestellt. Die Überwachungskamera im Ewigen Licht ist, seit hier zum Jubiläum von ›30 Jahre Deutscher Herbst‹ Schmierer am Werk waren, wieder in Betrieb. Er hat sie vorher abgeschaltet, ohne sich filmen zu lassen. Blöd glotzt das Ewige Licht von der Grabplatte in die Landschaft.

Will der Täter mit der Inszenierung andeuten, dass sich der Tote umgebracht hat? Oder will er kundtun, dass Andreas Baader seiner Meinung nach ermordet wurde? Vermutlich sind mehrere Komplizen an der Tat beteiligt. Höchstwahrscheinlich auch Frauen. Auf der Grabplatte stehen drei Einmachgläser. Welcher Mann, der noch halbwegs bei Trost ist, würde sich mit der Garnierung der Leiche so viel Mühe geben?

Groß stand an der Halle: ›Roth & Ullmer Präzision‹. Das war alles. Eine saubere Klitsche aus Wellblech. Mittlerer Betrieb. Sie parkten den schwarzen Daimler direkt vor dem Eingang und gingen hinein. In der Vorhalle roch es nach kaltem Metall. An einer Milchglastür stand auf vergilbtem Computerpapier ›Büro‹. Fehrle klopfte.

»Keiner da«, rief es von drinnen.

Anita riss die Tür auf. »Mach du das. Ich behalte den Eingang im Auge.«

»Fehrle«, sagte Fehrle. »Kriminalpolizei.«

Er ging hinein. Es stank nach Staub, Metall und Zigaretten. Am Schreibtisch saß ein Junge in einem grauen Arbeitsoverall und rauchte.

»Wo ist der Chef?«

»Pech.« Der Junge grinste. Er sprach ein gebrochenes Deutsch mit schwäbischem Einschlag. »Desch nit da. Aber kein Problem. Der Heiner beschäftigt kei Schwarzarbeiter.«

»Meinen Sie Heiner Roth?«

Der Junge nickte.

»Und der andere? Wo ist der andere Chef?«

»Gibts kein andere.«

»Herr Ullmer?«

Der Junge grinste breiter und entblößte einen Goldzahn. »Desch Frau Ullmer. Desch nit hier. Desch Schwester von Chef, wohnt Russenberg oben in som großen Haus.«

»Was wollen Sie hier?« Der Mann, der aus der Halle kam und plötzlich in der Tür stand, war Anfang 50, mit Stirnglatze, grauhaarig, untersetzt. In seinem Firmenoverall wirkte er altbacken.

»Herr Roth?«, fragte hinter ihm Anita.

Er fuhr herum. Anita und Fehrle zeigten ihre Dienstausweise.

»Bitte«, sagte Heiner. Seine Stimme klang heiser. »Schauen Sie sich um. Die Globalisierung macht uns kaputt, aber wir zahlen unsere Steuern. Unsere Leute sind ordentlich angemeldet. Geh zurück an die Maschin, Aleksander.«

Der Junge stand auf und verschwand.

»Es geht uns nicht um Ihre Arbeiter«, erklärte Fehrle und machte die Tür zu. »Ein Mann ist mit einer Waffe aus dem Schrank Ihres Vaters erschossen worden. Wo waren Sie vorgestern?«

»Was? Wie?« Heiner schüttelte den Kopf.

»Sie werden bloß als Zeuge vernommen.« Anita sprach beruhigend. »Die Waffe ist entwendet. Wer hat Zugang zum Tresor im Keller?«

»Eigentlich keiner. Meine Eltern sind ziemlich vereinsamt im Alter. Meine Schwester kauft ihnen ein und putzt die Fenster, aber in den Keller geht die nicht. Mäusephobie.« Heiner lächelte leutselig, ließ sich auf seinen Schreibtischstuhl fallen und zeigte auf zwei Holzstühle. »Bitte. Tut mir leid, ich kann Ihnen nichts anbieten. Die Sprudelkisten sind leer und der Automat mit den Heißgetränken ist defekt.«

»Wir haben eben Tee getrunken, aber wo finde ich hier die Toilette?«

»Gleich rechts.«

Anita ging hinaus und Fehrle setzte sich. »Ich bin von da, ich komm drüben vom Sulgen. Von der Heuwies droben.«

Heiner strahlte. Dabei verwandelte sich sein Gesicht vollkommen. Für eine Sekunde leuchtete es. »Hab ich es doch gleich gehört.«

»Wenn Sie mir was sagen wollen, was meine Kollegin nicht wissen soll: Es bleibt unter uns.«

»Welche Knarre ist es?«

»Eine Smith & Wesson 4 Millimeter.«

»4 Zoll, meinen Sie.« Heiner nickte. »Sie gehört meinem älteren Bruder, dem Fritz. Aber nach dem können Sie lang suchen. Der ist vor drei Jahren ausgewandert, nach Mexiko ist der gegangen. Seitdem haben wir keinen Kontakt.«

»Streit? Na ja, geht mich nichts an.« Fehrle schnaufte. »Könnte es sein, dass die Waffe vorher schon gefehlt hat? Dass Fritz sie noch selber verschenkt oder verkauft hat?«

»Klar, warum nicht? Er hat sie schließlich nie benutzt. Er war zwar im Schützenverein, aber die Knarre hat er nur gekauft, um es dem Vater nachzumachen. Ist schon ewig her. Da war er 21. Das wär nicht besonders aufgefallen, wenn die fehlt. Der Vater hat sich für dem Fritz sein Gerät noch nie interessiert, der hat genug eigene Dinger. Außerdem geht er kaum noch runter in die alte Werkstatt.«

»Dafür sind die Waffen aber arg gut in Schuss.«

Heiner sah Fehrle an, mit einem kalten, grauen Blick, der zu der metallenen, nikotingeschwängerten Luft und zu seinem Overall passte. »Ich interessiere mich nicht fürs Schießen. Ich kann es gar nicht. Ich wollte zum Bund, antimilitaristische Arbeit machen, aber sie mussten mich heimschicken.«

»Antimilitaristische Arbeit?«

Heiner lächelte wieder warm, und ein Stern ging auf. »Das war in den Siebzigerjahren. Ein Teil der DKP hatte auf seine Fahnen geschrieben, dass man nicht verweigern sollte, sondern die Bundeswehr von innen unterwandern. Wir wollten damit sichergehen, dass es im Fall eines Generalstreiks und einer daraus resultierenden revolutionären Situation nicht zu einem Militärputsch kommen konnte. Wir haben den Sieg der kubanischen Revolution sehr genau studiert. Der Aufstand des Proletariats folgt zwar anderen Gesetzen als die Guerillataktik. Aber wie Che Guevara sagte …«

Als Che am 8. Oktober 1967 unter Beihilfe der CIA von der bolivianischen Regierung wie ein Strauchdieb erschossen wurde, war Fehrle noch lang nicht auf der Welt. Im Internet war er im Zuge der Ermittlung auf das weltberühmte Foto des Leichnams gestoßen, das perfiderweise an den ›Toten Christus‹ von Holbein dem Jüngeren erinnerte, später nachgestellt von Andreas Baader. Fehrle zog einen Schnappschuss aus der Jacke, der das jüngste Glied der Kette zeigte: Ein toter Rebell, einem toten Rebellen nachempfunden, der einen toten Rebellen kopiert, der … usw., back to Jesus. »Sie wollen bestimmt wissen, wer das Opfer ist. Es ist ein ehemaliger Kollege von uns. Er war früher mal ein paar Jahre Kriminalhauptkommissar beim LKA in Stuttgart und heißt Kurt-Wolfgang Oswald. Spitzname Ossi.«

»Ossi!«, schrie Heiner und stierte auf das Foto. »Ossi war Bulle? Ich glaub es nicht!«

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»Aber …« Fehrle dachte nach. »Du meinst, er war verdeckter Ermittler des Landeskriminalamts und hat sich als Verfassungsschützer getarnt?«

Anita lachte laut. »Das klingt crazy, ist aber nahezu genial.«

»Und was glauben wir jetzt?«

»Niemand in Mariabronn hat ein Motiv, nach über 25 Jahren einen Spitzel umzubringen. Da kann er damals noch so links gewesen sein. Ich nehme einfach an, Fritz Roth hat die Knarre vor Jahren an irgendwen verschenkt … Vielleicht sogar an Ossi. Und der hat sie dann an jemand ganz anderen weitergegeben …«

»Watn Zufall«, sagte Anita. »Aber könnte ja sein. Vielleicht weiß der rote Karle auch mehr, als er sagt.«

Sie lachte wieder und Fehrle fiel ein. Schweigend fuhren sie bis zur Ausfahrt Horb. Dann sagte Fehrle mit belegter Stimme: »Ich bin gespannt, was Felice über die drei Gehirne rausfindet.«

»Das ist Romantik.« Anita blinkte und scherte aus. Sie überholte mehrere Kleinwägen und beschleunigte auf 160 Sachen. »Erst mal werden wir uns auf Ossi konzentrieren. Die Kollegen werden sämtliche Telefonverbindungen und Kontobewegungen und E-Mails checken. Das hat bei den Sachbearbeitern oberste Priorität. Auf diesem Weg werden wir alles über seine persönlichen Umstände erfahren, über seine Vorlieben, Gewohnheiten, Probleme. Wir werden mit allen Personen Befragungen durchführen, die er in den letzten vier Wochen kontaktiert hat. Und was wir dann noch nicht wissen, verrät uns seine Wohnung in Hamburg. Wir haben Amtshilfe beantragt. Die KT der Hamburger Kripo ist schon vor Ort. Ich erwarte den Bericht spätestens morgen.«