Yannik Mahr

Auf die Knie

Roman

 

 

Aufbau-Verlag

Impressum

ISBN E-Pub 978-3-8412-0199-7

 

Aufbau Digital,

veröffentlicht im Aufbau Verlag, Berlin, 2010

© Aufbau Verlag GmbH & Co. KG, Berlin

Die Erstausgabe erschien 2010 bei Aufbau Taschenbuch, einer Marke der Aufbau Verlag GmbH & Co. KG

 

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jegliche Vervielfältigung und Verwertung ist nur mit Zustimmung des Verlages zulässig. Das gilt insbesondere für Übersetzungen, die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen sowie für das öffentliche Zugänglichmachen z.B. über das Internet.

 

Umschlaggestaltung Geertje Steglich

unter Verwendung eines Motivs von © shutterstock/ dencg

 

Konvertierung Koch, Neff & Volckmar GmbH,

KN digital – die digitale Verlagsauslieferung, Stuttgart

 

www.aufbau-verlag.de

Menü

Inhaltsübersicht

VORWORT ZUR NEUNTEN AUFLAGE

EINS

ZWEI

DREI

VIER

FÜNF

SECHS

SIEBEN

ACHT

NEUN

ZEHN

ELF

ZWÖLF

DREIZEHN

VIERZEHN

FÜNFZEHN

SECHZEHN

SIEBZEHN

ACHTZEHN

NEUNZEHN

ZWANZIG

EINUNDZWANZIG

ZWEIUNDZWANZIG

DREIUNDZWANZIG

VIERUNDZWANZIG

FÜNFUNDZWANZIG

SECHSUNDZWANZIG

SIEBENUNDZWANZIG

ACHTUNDZWANZIG

NEUNUNDZWANZIG

DREISSIG

EINUNDDREISSIG

ZWEIUNDDREISSIG

DREIUNDDREISSIG

VIERUNDDREISSIG

FÜNFUNDDREISSIG

SECHSUNDDREISSIG

SIEBENUNDDREISSIG

ACHTUNDDREISSIG

DAS ENDE

DANKE

 

|5|Für Sophie

|7|VORWORT ZUR NEUNTEN AUFLAGE

Dies ist eine wahre Geschichte. Auch wenn sie unglaublich klingt. Dieses Buch ist so frei von Lügen, wie mein Leben voll davon war.

Ich habe oft erzählt, wie es dazu gekommen ist, und wahrscheinlich haben die meisten von Ihnen die Geschichte schon gehört, es stand ja überall. Für alle anderen: Ich hatte nur einen Grund, dieses Buch zu schreiben, und nur ein Ziel. Und dieses Ziel war nicht, daraus einen Roman zu machen und damit Geld zu verdienen, auch wenn das am Ende ganz gut passte. Ich selbst hätte die folgenden Seiten niemals einem Verlag angeboten, und ich bin mir bis heute nicht sicher, ob es die richtige Entscheidung war. Aber böse sein kann ich deswegen nun auch niemandem, gerade ich nicht.

Ich schreibe diese Zeilen, dieses Vorwort zur neunten Auflage, in der Garderobe eines großen Kulturkaufhauses in Berlin. Ich bin auf Lesereise, angeblich warten da draußen fünfhundert Menschen und zwei TV-Teams auf mich. Mein Agent ist schon ganz aufgeregt. Es klopft an der Tür. Ich muss los. Das Glas Weißburgunder trinke ich wie immer zum Schluss. Es ist das Einzige, was ich mir für meine Auftritte erbitte. Jeder Schluck erinnert mich daran, wie schön es ist, dass ich endlich wieder Alkohol trinken darf.

Das verstehen Sie nicht? Dann fangen Sie an zu lesen.

 

Ihr Daniel Stiller

|9|EINS

Für zweiundvierzig Prozent der Deutschen ist das entscheidende Kriterium für einen Heiratsantrag, dass Mann und Frau sich möglichst lange kennen, mindestens zwei, eher drei bis fünf Jahre, und am besten schon in einer gemeinsamen Wohnung gelebt haben. Noch mehr sind es in der Altersgruppe, zu der Sarah gehört. Von den Vierzehn- bis Neunundzwanzigjährigen haben fast zwei Drittel die obige Meinung, wobei ich klarstellen möchte, dass Sarah selbstverständlich lange volljährig ist und ich insgesamt an der Heiratsfähigkeit von unter Achtzehnjährigen zweifle. Meine Freundin war damals achtundzwanzig und damit – das als letzte, aber eben doch wichtige Zahl aus der Statistik – genau fünf Jahre vom durchschnittlichen Hochzeitsalter einer Deutschen entfernt.

Ich selbst lag unverschuldet darüber. Fast die Hälfte meines Lebens, etwa sechzehn von siebenunddreißig Jahren, hatte ich mich gefragt, woran ein Mann denn nun erkennt, welche Frau die richtige für ihn ist. Ich hatte dafür vor allem die Empirie bemüht, verschieden lange Experimente mit wechselnden Testpersonen durchgeführt, zwischendurch immer wieder die Versuchsanordnung überprüft und gegebenenfalls verändert und war doch immer zu demselben Ergebnis gekommen. Das Bedürfnis, statt eines neuen Autos ein geschmiedetes Stück Weißgold beim teuersten Juwelier der Stadt zu kaufen, blieb aus. Wenn ich mit einer meiner Freundinnen übers Heiraten sprach, dann ging es immer um andere und darum, wie grausam peinlich Hochzeiten sein können. Ich war bis zu diesem Tag im März so weit davon entfernt, um die Hand einer Frau anzuhalten, wie Berti Vogts vom Gewinn der Fußball-Weltmeisterschaft mit der Nationalmannschaft von Aserbaidschan.

|10|Und andersherum war es genau so. Nur eine Freundin, nennen wir sie nach den ganzen Vorfällen um Maxim Billers Esra einmal, na ja, Esra, fragte etwas, was zumindest der Sphäre eines Heiratsantrags zugeordnet werden konnte. Es war in Venedig, wir standen auf der Brücke, die der Seufzerbrücke am nächsten ist, und sie sagte: »Daniel, wenn du mich jetzt fragst, ob ich deine Frau werden will, und dich nicht auf das Jahr festlegst, sage ich vielleicht ja. Und, was sagst du?« Ich habe mir eine Dose Bier geholt und mich nach dem Ende auch dieser Beziehung gefragt, ob die Geschichte von dem Moment, an dem Mann genau weiß, dass er vor SEINER Frau steht, nicht von miesen Scheidungsanwälten erfunden wurde.

Ja, ich gebe zu: Ich zweifelte, und nach der fünften Hochzeit im Freundeskreis verzweifelte ich. Das ist die gefährlichste Phase, das, was der Volksmund Torschlusspanik nennt. Die ist zwar immer noch besser als die Torschusspanik von Mario Gomez bei der Fußball-Europameisterschaft in Österreich und der Schweiz, aber trotzdem tückisch. Wenn man der einzige unverheiratete Mann im Fitnessstudio, Rotary-Club oder gar in der Firma ist, neigt man dazu, die Frau zu heiraten, mit der man gerade zusammen ist. Ich flehe Sie an: Tun Sie das nicht!

Denn auch im fortgeschrittenen Junggesellenalter kann man auf die Natur vertrauen. Die richtet es selbst bei einem wie mir so ein, dass er bei eben jener Richtigen etwas empfindet, was er vorher nie empfunden hat, nicht einmal bei Andy Brehmes Elfmetertor zum 1:0 im WM-Finale gegen Argentinien 1990. (Das war der letzte Fußball-Vergleich, versprochen. Aber dies ist ja schließlich eine Geschichte für echte Männer!)

Dieses Das-ist-sie-Gefühl gibt es wirklich. Es hat den Nachteil, dass es so wenig zu beschreiben ist wie das Gefühl, ein Kind zu bekommen, und den Vorteil, dass man es genau erkennt, wenn es da ist.

Bei mir war das, kurz nachdem ich Sarah zum ersten Mal geküsst hatte. Das wiederum war gut vier Wochen, nachdem ich |11|erfahren hatte, dass sie überhaupt zur gleichen Zeit mit mir auf diesem Planeten lebt.

Wenn ich Ihnen jetzt ehrlich und offen die Geschichte unseres Kennenlernens erzähle, dann nur unter der Bedingung, dass Sie sie wirklich für sich behalten. Nicht weitersagen! Auf keinen Fall! Niemals! Versprochen? Gut.

Denn irgendwie ist mir die ganze Sache peinlich, gerade in meiner Position, und ich möchte nicht, dass meine Klienten von dem kleinen Problem erfahren, das ich damals hatte. Die wenigen, die davon wussten, haben sich schon genug darüber lustig gemacht, verstehen Sie? Sie verstehen gar nichts? Dann muss ich wohl ein bisschen weiter ausholen.

Ich arbeitete seit gut fünf Jahren für eine Agentur, die auf die Vermarktung von Prominenten spezialisiert war. Sie hieß Maxprom, wobei sich der Name aus dem Unternehmensziel ergeben hatte, der »maximalen Wertschöpfung aus dem Potential prominenter Persönlichkeiten«. Wir hatten Manager, Wissenschaftler, Sportler und viele Schriftsteller unter Vertrag, aus deren Popularität wir versuchten, so viel Geld wie möglich zu schlagen. Die Namen der Damen, zehn Prozent, und Herren, neunzig Prozent, kennen Sie alle, aber nennen darf ich sie natürlich nicht. Vielleicht nur so viel: Einer der bekanntesten deutschen Fußballer (er nimmt für jeden Auftritt 50 000 Euro) war genauso dabei wie ein ehemaliger Boxchampion, der schon für etwa die Hälfte des Geldes über »den unbedingten Willen« und »die Pflicht, immer weiter zu kämpfen« sprach. Sein Vortrag »Nie aufgeben!« wurde damals oft von Investmentbankern gebucht. Bei Maxprom konnte man aber auch bekannte Schlagersänger für die Geburtstagsfeier von Opa bestellen, Ex-Politiker als Gastredner und Bestsellerautoren für Lesungen. Mit Letzteren machten wir ziemlich gute Geschäfte, wobei sich vor allem Sachbuchautoren vermarkten ließen, die über den Miss- beziehungsweise falschen Gebrauch der deutschen Sprache herzogen. Wir nannten es den »Bastian-Sick-Effekt«, auch wenn wir |12|ausgerechnet dem seinen Verlag nicht davon hatten überzeugen können, mit uns zusammenzuarbeiten. Aber fast alles, was danach und darum kam, boten wir an. Ab 5000 Euro pro Abend aufwärts. Ich schweife ab.

Aus vielen dieser Beratungs- waren Managementtätigkeiten geworden, die für mich insbesondere eins mitbrachten: Reisen. Und damit wären wir bei dem bereits erwähnten Problem. Ich hatte Flugangst. Leider auch maximal. Während meine Klienten von Hamburg nach Wien und von Wien nach Köln und von Köln nach Zürich jeweils nur gut sechzig Minuten brauchten, saß ich stundenlang für die gleichen Strecken in den Zügen der Deutschen Bahn oder in meinem Golf. Weil das natürlich ziemlich uncool und feige für einen Topmanager in der Promi-Welt war, hatte ich ein ausgeklügeltes System entwickelt, meine Flugangst zu verbergen. Es fußte unter anderem darauf, dass ich mich mit meinen Klienten bewusst und wann immer es ging auf Flughäfen traf. Von einer Freundin ließ ich mir regelmäßig diese Klebebänder besorgen, die beim Check-in um den Koffer gemacht werden (ihr Bruder arbeitete bei der Lufthansa), von den gängigsten Fluggesellschaften in Europa hatte ich (gebrauchte) Tickets, und selbstverständlich ragte aus dem ersten Fach meines Portemonaies eine Miles-and-More-Karte heraus. Erst dahinter versteckte sich die BahnCard 100.

Das System funktionierte so lange, bis ich die Anfrage aus den USA bekam, ob wir uns vorstellen könnten, die Vermarktung eines ehemaligen Präsidenten in Europa zu übernehmen. Honorar pro Auftritt ab dreihunderttausend Euro aufwärts, fünfzehn Prozent Provision für uns. Ich mailte zurück, dass wir uns das sogar sehr gut vorstellen könnten, und erhielt daraufhin diese folgenschwere Antwort: »Dear Daniel, that sounds good. We would like to meet you as soon as possible. See you in New York next month!? Best regards, Bill Pennington.«

Weil die Bahnverbindungen von Hamburg nach New York starke Lücken aufweisen und eine Schifffahrt mich alles in allem |13|fast zwei Wochen und unzählige Liter Körperflüssigkeit gekostet hätte (in unserer Familie ist zu allem Überfluss auch noch Seekrankheit erblich!), blieb mir nichts anderes übrig: Über den Bruder meiner Freundin, einer Freundin!, buchte ich ein Flugangstseminar bei der Lufthansa.

Und dort, dort traf ich Sarah. Womit wahrscheinlich all diejenigen unter Ihnen aufatmen, die schon gedacht haben, im falschen Buch zu sein. Nein, keine Angst, alles gut, das ist diese Hochzeitsgeschichte, von der Ihr bester Freund oder, noch besser, Ihre langjährige Lebensgefährtin Ihnen erzählt, hoffentlich vorgeschwärmt hat. Von jetzt an bewegen wir uns direkt auf das Ziel zu, versprochen. Es sei denn, Sie wollen kurz noch etwas über Sarah erfahren.

Ich konnte nicht anders, als mich im Seminarraum im Flughafen Fuhlsbüttel neben sie zu setzen. Ich kam zu spät, weil mit dem öffentlichen Nahverkehr. Die Begrüßung der Flugängstler hatte schon begonnen, und allein neben einer dunkelhaarigen, extrem schlanken Frau war noch ein Platz frei. Es war ein Original-Stuhl aus einem Original-Flugzeug, was reichte, mir Schweiß auf Stirn und Hände zu treiben.

»Guten Tag«, murmelte ich.

»Willkommen an Bord«, sagte der vermeintliche Flugangstvertreiber, der sich später als ehemaliger Pilot herausstellte, und es durchfuhr mich kalt. Vor Schreck versuchte ich mich anzuschnallen.

»Das müssen Sie noch nicht, Herr …«, sagte der Dozent.

»Stiller«, sagte ich und war damit immerhin der Erste, der sich vorstellte.

Den Rest des Tages erklärte uns der Lufthansa-Beauftragte die unendliche Sicherheit des Fliegens. Er begann mit dem Klassiker, um wie viel größer die Wahrscheinlichkeit ist, mit dem Taxi auf der Fahrt zum Flughafen zu verunglücken als »mit dem Aircraft selbst«, und endete mit einer immerhin einigermaßen beruhigenden Frage: »Was glauben Sie, wie viele Jahre man statistisch |14|gesehen täglich fliegen muss, um einmal abzustürzen? Na?«

Ich tippte auf ein halbes, wenn man mit Aeroflot flog, die anderen Vorschläge lagen zwischen fünf und zehn Jahren. Nur die Frau neben mir, laut Namensschild hieß sie, Überraschung, Sarah, meinte: »Bestimmt hundert Jahre.«

Wir anderen schüttelten den Kopf ob derart ungesunden Zutrauens in eine dem Menschen so ferne und praktisch nicht zu begreifende Tätigkeit, als der Flugangstzerstörer nickte: »Sie sind am dichtesten dran, Sarah. Denn statistisch gesehen kann man fünfundzwanzigtausend Jahre jeden Tag einmal fliegen, bis sich ein Unglück ereignet.«

Das war das Erste, was wenigstens etwas beruhigend klang, weil ich bis dahin selbst unter den Schlagersängern von Maxprom niemanden kennengelernt hatte, der auch nur annähernd so alt war. Jopi Heesters, den wir beinahe einmal gemanagt hatten, kam mit seinen einhundertfünf Jahren noch am nächsten dran. Und war der schon mal abgestürzt? Eben.

Ich schöpfte Mut, trocknete die Hände an einem extra mitgebrachten Stofftaschentuch ab, und beschloss, die restlichen Bedenken vor dem Flug von Hamburg nach Köln, der uns zum Abschluss des Seminars am nächsten Tag bevorstand, mit Hilfe meiner so sichtbar gelassenen Nachbarin zu zertrümmern. Geteilte Flugangst könnte ja vielleicht halbe Flugangst sein, und da die Fünfundzwanzigtausendjahrstatistik meine schon um zwanzig Prozent reduziert hatte, ließ sie sich jetzt auf vierzig Prozent senken (zum Nachrechnen: hundert minus zwanzig geteilt durch zwei).

»Na, das Fliegen scheint ja doch gar nicht so schlimm zu sein«, flüsterte ich in das Ohr neben mir, während der Lufthansa-Freund die wichtigsten Geräusche vorspielte, die man während eines Fluges als Passagier hört.

»Ist es auch nicht«, flüsterte die junge Frau zu meinem Erstaunen zurück.

|15|»Woher wissen Sie das?«, fragte ich, weil ich natürlich davon ausgegangen war, dass niemand in diesem Raum, der Lehrer ausgenommen, jemals in einem Flugzeug gesessen hatte.

»Äh, ich meine natürlich, ich glaube auch nicht mehr, dass es so furchtbar ist«, sagte meine Nachbarin, und dann wurde der Lärm der Triebwerke einer Boeing 747 so laut, dass ich nichts verstehen konnte.

Ich begriff die Antwort erst, als ich nach meinem Jungfernflug mit komplett verschwitztem Hemd, drückenden Thrombose-Strümpfen (man weiß ja nie!) und zitternden Händen den Anschnallgurt löste, ein kurzes Dankesgebet sprach und dann ein letztes Mal zu der ziemlich gelangweilten Sarah hinübersah, die sich auch in der Maschine neben mich gesetzt hatte, auf Platz 21A. Ich hatte vom Beginn des Check-in bis jetzt auf sie eingeredet, um den Flug und meine Aufregung zu vergessen, und sie hatte auf jede meiner Fragen geantwortet. Nun wusste ich alles über sie: achtundzwanzig Jahre, Seglerin, Hockeyspielerin, Geschichtsstudium, Bruder Unternehmensberater, Mutter Sonderschullehrerin, Vater Arzt, Oma sechsundachtzig, liebt italienische Küche, ledig. Nur was sie beruflich machte, hatte sie mir nicht verraten. Vielleicht hatte ich sie nicht danach gefragt. Das kam jetzt, während Kapitän Florian Lugner die Kabinenbesatzung aufforderte, die Türen zu öffnen.

»Was machst du eigentlich beruflich?«

Ich hatte ihr das Du vor dem Start angeboten, weil ich es lächerlich fand, sich mit jemandem in das größte Abenteuer seines Lebens zu begeben, den man siezt. Wenn ich damals gewusst hätte, wie viel Wahrheit und tiefere Bedeutung in diesem Gedanken steckte … Aber ich dachte wirklich nur ans Fliegen.

Sarah grinste, ließ ihrerseits den Gurt aufklicken und antwortete leise: »Ich bin Journalistin. Und ich bin mindestens schon fünfzig Mal geflogen. Aber …«, sie drückte sich den Zeigefinger der rechten Hand vor die schmalen, etwas rissigen Lippen, »pssst.«

|16|Um es kurz zu machen: Sarah war von ihrer Zeitschrift beauftragt worden, Flugangstseminare zu testen. Das von der Lufthansa war das fünfte und letzte, der große Bericht erschien vier Wochen später. Der LH-Kurs bekam die Note Eins minus, und in der Rubrik »Anmerkungen« schrieb Sarah: »Nette Atmosphäre, nette Mitreisende und Mitleidende.«

Da hatten wir uns schon zum dritten Mal außerhalb eines Flugzeugs getroffen. Und das erste Mal geküsst. Ich kannte ihr Auto, ihren Lieblingswein und ihre Vorliebe für teure Schuhe. Doch ich kannte Sarah auf keinen Fall so, wie es sich zweiundvierzig Prozent der Deutschen wünschen, bevor sie einen Heiratsantrag bekommen wollen. Statistisch gesehen hätte ich damit mindestens noch bis zu unserem ersten Jahrestag warten müssen oder bis wir länger als sechs Monate zusammen in einer Wohnung gelebt hatten.

Aber das wollte ich nicht.

|17|ZWEI

Klingt gut, nicht? Dass ich gezweifelt hätte und unverschuldet unverheiratet geblieben sei und dass es die Natur selbst »bei einem wie mir« so einrichtet, dass er die Richtige findet. »Dieses Das-ist-sie-Gefühl gibt es wirklich …« Romantisch, oder? Wie eine schöne Liebesgeschichte nun einmal anfangen sollte. Deshalb habe ich das erste Kapitel ja auch so geschrieben. Nur ist es leider so weit von der Wahrheit entfernt, wie es John McCain bei den Wahlen in den USA vom Amt des Präsidenten war. Ich habe gelogen, bis zum letzten Satz, der eigentlich heißen müsste: Aber ich konnte es nicht.

Es tut mir leid.

Bis einen Tag vor dem Lufthansa-Seminar hatte ich nämlich, und das ist die Wahrheit, vor einer Sache noch mehr Angst als vor dem Fliegen: vor dem Heiraten. Was heißt hier Angst? Ekel. Ich war auf Hochzeiten immer der Erste, der ging, und für meine Bosheiten in Gästebüchern und Hochzeitszeitungen gefürchtet:

»Heut feiert ihr in teurer Kleidung

und seid so unsäglich verknallt.

In zwei Jahrn ist dann die Scheidung,

auf Wiedersehen beim Rechtsanwalt.«

Um nur einen zu nennen. Natürlich schrieb ich nie meinen Namen darunter, sondern immer nur »ein Freund« oder wahlweise: »ein Freund, der es gut mit Euch meint«. Aber alle wussten, von wem die fiesen Worte stammten. Zum Schluss wurde ich von den meisten meiner Bekannten schlicht nicht mehr eingeladen, was mir ganz recht war.

Die Geschichte mit der Freundin, die mich in Venedig gefragt hatte, ob ich sie fragen könnte, hat sich auch nicht wie beschrieben |18|ereignet. Ich habe mir nach ihrer anmaßenden Aufforderung (»Wenn du mich jetzt fragst, ob ich deine Frau werden will …«) kein Bier geholt, sondern nur gesagt, dass ich mir ein Bier holen wolle, bin ins Hotel gerannt, habe meinen Koffer gepackt und den ersten Zug aufs Festland genommen. Schließlich wartete zu Hause noch eine andere Dame, die es nach geglückter Scheidung mit dem Heiraten nicht ganz so eilig hatte. Das meinte ich übrigens oben mit »Experimenten mit wechselnden Testpersonen«.

Let’s face it (das ist der Standardsatz bei Maxprom, wenn es um die meist utopischen Honorarforderungen der Promis geht): Ich war so eine Art George Clooney oder wie Til Schweiger in »Keinohrhasen«, vielleicht nicht ganz so gut aussehend, aber auf jeden Fall genauso unentschlossen, was Frauen angeht. Wenn ich einen Grundsatz hatte, dann den, mich nicht langfristig an eine zu binden. Ich war eine Ich-AG, auch deshalb, weil ich bei Beziehungen, sagen wir besser, Affären, nur von Quartal zu Quartal dachte.

Bis eben, ich wiederhole mich, diese Flugangstsache anstand. Es war ein Freitag und die gesamte Woche schon total verquer gelaufen. Am Montag hatte ich den Anruf aus den USA bekommen, am Dienstag war der berühmte Schriftsteller, den ich zu einer Lesung nach Berlin begleitet hatte, betrunken von der Bühne gekippt. Am Mittwoch hatte mein Bankberater angerufen, um mir mitzuteilen, dass doch mehr Papiere der bankrotten Lehman Brothers in meinem Depot seien, als er angenommen hatte. Am Donnerstag brachen die Märkte so stark ein, dass sich mein Vermögen um weitere fünf Prozent reduzierte. Ich war Anfang des Jahres richtig groß ins Aktiengeschäft eingestiegen, mit fast allem, was ich seit meiner Konfirmation so zur Seite gelegt hatte (immerhin um die 200 000 Euro!), weil alle Experten dem Deutschen Aktienindex eine Entwicklung vorhersagten, wie sie der Körperumfang des ehemaligen Bundesaußenministers genommen hatte, der seit seinem Ausscheiden auch bei uns unter Vertrag stand. Die WZG-Bank hatte das |19|»wichtigste deutsche Börsenbarometer« Ende des Jahres gar bei mehr als 10 000 Punkten gesehen. »Selbst wenn Sie vorsichtigere Schätzungen als Grundlage Ihrer Anlagestrategie nehmen«, hatte mein Bankberater damals gesagt, »ist eine Rendite von zehn Prozent locker drin. Und alles noch vor der Abgeltungssteuer.« Zehn Prozent, vor der Abgeltungssteuer? Die wollte ich auch und löste meine Einlagen bei der Sparkasse, für deren Verzinsung von vier Prozent ich mich laut meines neuen Vermögensverwalters schämen sollte, sofort auf. Hätte ich bloß nicht auf ihn gehört. Am Donnerstag war mein Depot mit sechsundfünfzig Prozent im Minus, und ich bekam Panikattacken, wenn ich den Fernseher anschaltete und bei n-tv die neuen Kurse auf dem Laufband las.

Mit einem Satz: Ich hatte genug von dieser Woche. Aber das interessierte den Freitag leider nicht.

Er begann mit »sehr schwachen Vorgaben aus den USA«, einem weiteren Sturz des Dax bis zum Mittag um sechs Prozent (insgesamt minus vierundsechzig Prozent für mich) und einem Anruf aus dem Vorzimmer der Geschäftsführung. Ob ich gegen 14 Uhr einmal hochkommen könnte, wollte Frau Seiffert wissen.

Frau Seiffert war die Sekretärin von Frau Rosenthaler, und Frau Rosenthaler war der Boss von Maxprom. Ja, ich gehörte zu den wenigen Männern, die eine Frau als Vorgesetzte hatten, ehrlich gesagt, sogar zwei. Denn neben Elfriede Rosenthaler gehörte Sandra Martens zur Geschäftsleitung, genau wie Mathias Friedrich und Heinrich Baron von Tolken. Die achtzig Mitarbeiter von Maxprom nannten die vier das Geschlechter-Quartett, sie selbst sprachen von sich als gleichberechtigten Partnern. Wobei das Unsinn war, weil die Firma nach wie vor zu hundert Prozent Elfriede Rosenthaler gehörte, die Maxprom vor zwanzig Jahren gegründet hatte.

Ich hatte mit ihr bisher nur dreimal zu tun gehabt, zuletzt vor gut einem halben Jahr, als sie den Vermarktungsvertrag für einen |20|der bekanntesten deutschen TV-Moderatoren unterschreiben musste, den ich mit allen erlaubten und nicht erlaubten Tricks einem unserer größten Konkurrenten, der SpotAN GmbH, abspenstig gemacht hatte. »Nicht schlecht, Herr Stiller«, hatte sie hinterher gesagt, und auf der nächsten Lohnabrechnung hatte ich eine »einmalige Sonderzahlung« in Höhe von eintausend Euro gefunden. Davon war ich mit der einen Freundin nach Venedig gefahren. Wie gewonnen, so zerronnen.

Doch so wenig ich seitdem von dieser Esra gehört habe, so wenig hatte ich Kontakt mit der Chefin gehabt. Was konnte sie von mir wollen? War Maxprom jetzt doch, um diese selten einfallslose Formulierung zu nehmen, die man damals in allen deutschen Tageszeitungen lesen konnte, »in den Strudel der Finanzkrise« geraten? Musste die Rosenthaler wie die Chefs bei Daimler auf Kurzarbeit umstellen? Oder war ich etwa einer derjenigen, dem sie ein Angebot machen würde, »das Sie nicht ausschlagen können«? Bei der Süddeutschen Zeitung sollten sie Mitarbeitern, die freiwillig gehen wollten, eine Abfindung von hunderttausend Euro angeboten haben. Das hätte mir gerade noch gefehlt. Scheiß Woche, scheiß schwarzer Freitag. Allein die Aussicht, dass ein Rauswurf wenigstens bedeuten würde, dass ich am Sonnabend nicht zum Lufthansa-Seminar und wahrscheinlich nie mehr fliegen müsste, zumindest nicht mit einem Flugzeug!, hielt mich auf den Beinen.

Um drei Minuten vor zwei sprühte ich zwei Stüber Calvin Klein unter meine Achseln und einen auf meinen Hals, zog mein Sakko über und stieg die zwei Stockwerke bis unter das Dach der Maxprom-Zentrale an der Hamburger Binnenalster. Bei Frau Seiffert im Vorzimmer lief ein Breitwandfernseher, natürlich n-tv mit der Sondersendung »Schwarzer Freitag«. Ich sah an dem Bildschirm vorbei auf das ruhige, dunkle Wasser des Sees, atmete tief durch und sagte: »Da bin ich dann.«

|21|»Herr Stiller, wie schön. Sie werden schon erwartet. Hier entlang, bitte. Die Damen und Herren sind im Konferenzraum.«

Die Damen und Herren? Es musste viel schlimmer sein, als ich erwartet hatte. Als ich die Türklinge herunterdrückte, fiel der Dax zum ersten Mal seit drei Jahren wieder unter 4500 Punkte.

»Guten Tag«, sagte ich, so leise, dass ich es selbst kaum hören konnte. »Sie wollten mich sprechen?«

Die Rosenthaler war die Erste, die aufstand.

»Herr Stiller, schön, Sie zu sehen«, sagte sie und hielt mir ihre Hand entgegen. Dann kamen Martens, Baron von Tolken und Friedrich. Er war nicht nur Partner, sondern auch Justitiar von Maxprom. Die Geschäftsleitung war tatsächlich komplett.

»Setzen Sie sich doch«, sagte die Rosenthaler und zeigte auf den Stuhl, der am Konferenztisch ihrem gegenüber stand. Vor ihr lag ein Haufen DIN-A4-Papiere, unter den Friedrich noch schnell ein letztes Blatt schob, bevor ich Platz genommen hatte. Mein Auflösungsvertrag, dachte ich.

»Sie fragen sich vielleicht, warum Sie heute hier oben sind«, sagte die Rosenthaler, und ich sagte zum Glück so leise »Finanzkrise«, dass es niemand mitbekam.

»Wir haben Ihre Arbeit in den vergangenen Monaten sehr genau verfolgt, und wir müssen leider sagen …«

… dass wir damit alles andere als zufrieden sind.

»… dass es nicht einen einzigen Punkt gibt, den wir daran auszusetzen haben.« Elfriede Rosenthaler lächelte. »Entschuldigen Sie, wenn ich Ihnen einen kleinen Schreck eingejagt habe. Eine Schwäche von mir.«

Ich hoffte, nicht auf dem braunen Lederstuhl eingenässt zu haben.

»Sie haben Ihre Umsätze im vergangenen Jahr mehr als verdoppelt, und das in schwierigen Zeiten. Nachdem Sie den Kollegen von SpotAN dann noch den Herrn Eckmann (Name geändert!! Echt!) weggeschnappt haben«, alle grinsten, »haben wir |22|uns gedacht: Mit dem Herrn Stiller müssen wir dringend mal ein ernstes Wort reden.«

Also doch.

»Sie verstehen sicher, dass es so nicht weitergehen kann«, sagte die Rosenthaler, um mir dann mit dem linken Auge zweimal zuzuzwinkern. »Verzeihen Sie ein letztes Mal. Jetzt will ich Sie wirklich nicht mehr in die Irre führen. Let’s face it.«

O nein.

»Daniel, wir würden Sie gern zum Junior-Partner machen. Mit der Aussicht, innerhalb der nächsten sechs Monate als vollwertiges Mitglied in die Geschäftsführung aufzusteigen.« Die anderen drei nickten.

Ich spürte, dass ich nass war, zum Glück nur unter den Achseln. Ich hatte in den vergangenen Minuten meinen ganzen beruflichen Werdegang an mir vorbeiziehen sehen, das Studium, Betriebswirtschaftslehre, die Praktika bei mehreren Konzertveranstaltern, das Jahr auf Probe bei Maxprom, die ersten eigenen Verträge, die langen Nächte mit potentiellen Klienten nach der Verleihung der »Goldenen Kamera«, des »Bambi« oder einfach nur dem Finale von »Deutschland sucht den Superstar«. So musste es sein, wenn das Arbeitsleben zu Ende geht, hatte ich gedacht. Und nun das.

»Herr Stiller? Hat es Ihnen die Sprache verschlagen?«, fragte die Rosenthaler.

»Ja«, sagte ich, merkte aber immerhin den Widerspruch sofort und fügte hinzu: »Also nein, denn wenn es mir die Sprache verschlagen hätte, hätte ich ja nicht ja gesagt. Wenn Sie verstehen, was ich meine.«

Die Rosenthaler fing an zu lachen, dann fielen die anderen ein. Sie standen wieder einer nach dem anderen auf und kamen auf meine Seite, um mir ein zweites Mal die Hand zu drücken.

»Herzlich willkommen«, sagte Elfriede Rosenthaler.

»Alles Gute«, sagte Sandra Martens, aber es klang nicht sehr freundlich.

|23|»Sie schaffen das schon«, sagte Baron von Tolken.

»Meinen Glückwunsch«, sagte Friedrich. Ich fühlte mich für einen kurzen Moment wie Tom Cruise in der Verfilmung von John Grishams »Die Firma«, und ich hatte keine Ahnung warum. Als würde die Partner mehr verbinden als ein hohes sechsstelliges Jahreseinkommen.

»Danke vielmals«, sagte ich, sah zum ersten Mal auf den Vertrag, der vor mir lag, und griff nach einem der Kugelschreiber, die in dem großen Globus in der Mitte des Konferenztisches steckten. Jeder markierte ein Land, in dem Maxprom einen Prominenten unter Vertrag hatte. »Soll ich gleich unterschreiben?«

»Das hat Zeit, junger Mann«, sagte die Rosenthaler. »Sie können den Vertrag mit nach Hause nehmen und dort übers Wochenende in Ruhe lesen. Nur über ein kleines Detail würde ich gern noch kurz jetzt mit Ihnen reden.« Sie machte eine Bewegung zu den drei anderen, die mir ein letztes Mal zunickten und dann gemeinsam aus dem Konferenzraum verschwanden. Ich war mit der Rosenthaler allein.

»Wollen Sie gar nichts trinken, Daniel? Kaffee, Tee, Wasser, Bionade?«

»Nein, vielen Dank, Frau Rosenthaler.«

»Nennen Sie mich Elfriede.«

Elfriede? Und Du? Oder Elfriede und Sie?

»Gern.«

Sie lächelte. »Ich möchte mit Ihnen über einen Punkt sprechen, der in diesem Vertrag nicht geregelt, der mir und den anderen Mitgliedern der Geschäftsführung aber trotzdem sehr, sehr wichtig ist.«

Also Elfriede und Sie.

»Kein Problem, Frau Rosen…, ich meine, Elfriede.«

»Wissen Sie, Daniel, wir finden, dass man nicht immer alles schriftlich festhalten muss, vor allem nicht zwischen Menschen wie uns. In unseren Positionen muss man sich auf das Wort des |24|anderen verlassen können, da zählt die Absprache unter vier Augen mehr als jeder noch so ausgeklügelte Vertrag.«

»Da haben Sie natürlich vollkommen recht, Elfriede.«

»Und es ist mindestens so wichtig, dass alles, was wir auf dieser Ebene miteinander besprechen, unter uns bleibt. Das geht niemanden etwas an, genauso wenig wie Ihr neuer Vertrag. Verstehen wir uns da?«

»Selbstverständlich.«

»Also, mein lieber Daniel, so sehr wir auch mit Ihrer Arbeit zufrieden sind, so viel Potenzial wir in Ihnen sehen und so gern wir Sie auch in unserer Mitte hätten – ein Kriterium erfüllen Sie leider ganz und gar nicht.«

Ich spürte Panik in mir aufsteigen. Sie hatten es mitbekommen, irgendwer von meinen Kollegen musste gepetzt haben, wahrscheinlich Vanessa, die Empfangsdame. Elfriede Rosenthaler wusste von meiner Flugangst. Ein Glück, dass ich das Seminar schon gebucht hatte.

»Die Aufnahme in die Geschäftsführung von Maxprom ist seit elf Jahren«, die Rosenthaler hielt kurz inne, und für einen Moment sahen die Züge um ihre Augen und ihren Mund aus, als wären sie schockgefroren, »an eine Bedingung geknüpft, die Sie in Ihrem Vertrag nicht finden werden, ohne den dieser aber nicht das Papier wert ist, auf dem er steht.«

Wahrscheinlich durften sie aus rechtlichen Gründen nicht hineinschreiben, dass ein Mitglied der Geschäftsführung sich zu Flügen jeglicher Art – im Notfall auch mit einer Never-comeback-Airline – verpflichten musste, weil Schadenersatzforderungen in Millionenhöhen auf die Firma zukommen könnten, wenn eine der Maschinen eines Tages tatsächlich nicht wieder auftauchte.

»Ich kann verstehen, dass Sie derart hohe Anforderungen an einen Partner stellen«, sagte ich, und das überraschte die Rosenthaler offensichtlich.

»Sie können das verstehen, Daniel?«

|25|»Ja, Elfriede.« Mir machte es inzwischen Spaß, sie beim Vornamen zu nennen, und ich stellte mir die Petze Vanessa vor, wenn sie davon erfahren sollte. »Und ich finde, das von einem Mann«, ups, jetzt nur nichts Falsches sagen, »oder einer Frau in dieser Stellung zu erwarten, ist weder zu viel verlangt noch ehrenrührig, sondern einfach eine Selbstverständlichkeit.« Ich hoffte inständig, dass die Lufthansa mir meine Flugangst für die 800 Euro nehmen würde, die ich für das Seminar schon überwiesen hatte. Sonst hätte ich kein kleines, sondern ein riesiges Problem.

»Daniel, Sie überraschen mich. Sie müssen noch besser sein, als ich gedacht habe. Ich war mir hundertprozentig sicher, dass wirklich niemand unsere kleine Übereinkunft in der Geschäftsführung kennt, und wenn ich ehrlich zu Ihnen sein darf, macht es mir schon etwas Sorgen, dass Sie davon erfahren haben. Aber ich freue mich, dass Sie damit kein Problem haben. Kann ich denn erfahren, wann es bei Ihnen so weit ist? Denn noch haben Sie doch nicht, oder?«

Sie wusste es also wirklich. Ich würde Vanessa am Abend auflauern müssen.

»Nein, ich habe wirklich noch nicht. Aber ich denke, dass sich das ganz schnell ändern wird. Wahrscheinlich schon am Sonntag.«

»An diesem Sonntag? Das wäre ja ideal. Aber ich wusste ja gar nicht, dass Sie … Wir dachten immer, Sie würden nie … Na ja, vergessen wir das, lieber Daniel. Wer ist denn die Glückliche?«

Wer ist denn die Glückliche? Was war das denn für eine Frage? Glaubte die Rosenthaler wirklich, dass es eine Fluggesellschaft wie die Lufthansa glücklich machen würde, wenn ich in einer Ihrer Maschinen die Zahl meiner größten Ängste halbieren würde?

»Äh, Elfriede, jetzt verstehe ich Sie nicht richtig, also mit Glück hat das Ganze nicht unbedingt etwas zu tun …«

»Oh, entschuldigen Sie, Sie machen das also nicht freiwillig? Müssen Sie etwa …?«

|26|Ja, natürlich musste ich, jetzt erst recht, sonst würde ich ja offensichtlich den verdammten Vertrag nicht bekommen.

»Na, das geht mich ja nichts an«, die Rosenthaler zwinkerte schon wieder. »So oder so ist natürlich klar, dass Maxprom sich an den Kosten beteiligt. Allerdings nur bis zu einem Preis von zwanzigtausend Euro.«

Bis zu einem Preis von zwanzigtausend Euro? Was buchten die in der Geschäftsführung denn für Flugangstseminare? Mit einem Testflug in der First Class von Singapore Airlines einmal rund um die Welt? Und hatte es tatsächlich schon andere Partner gegeben, die das gleiche Problem gehabt hatten wie ich?

»Ich, äh, also, mich hat das Ganze nur achthundert Euro gekostet, Urkunde inklusive«, sagte ich.

»Das kann doch nicht sein«, sagte Rosenthaler. »Feiern Sie denn gar nicht, mit Eltern, Freunden, Verwandten?«

Feiern, dass ich zum ersten Mal in meinem Leben geflogen war? Ich sah Elfriede ungläubig an.

»Wobei, die Sandra hat damals auch im kleinen Kreis … aber das hat uns trotzdem fünfzehntausend Euro gekostet. Achthundert Euro, Daniel, das kann doch nicht Ihr Ernst sein. Können wir uns dann wenigstens an den Ringen beteiligen?«

Ich verstand gar nichts mehr. Ich verstand nur Ringe.

»Was denn, was denn für Ringe?«

»Die Eheringe, Daniel, was für Ringe denn sonst?«