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Klaus Farin

Karl May

Ein Popstar aus Sachsen

Zu diesem Buch:

Der vorliegende Band erschien erstmals 1992 als Band 1 der Reihe taschenführer populäre kultur im Verlag Thomas Tilsner. [Eine tschechische Übersetzung erschien 1994 bei Arcadia, Prag.] Da dieser Verlag leider nicht mehr existiert und das Buch seit Jahren vergriffen ist, der Autor dieses Buch aber im Geheimen für sein Bestes hält und die Nachfrage auch nicht abriss, wird es hier in einer lediglich formal korrigierten, aber inhaltlich und stilistisch nicht geänderten Neuauflage wieder veröffentlicht.

Stimmen zur Erstauflage

»Für Klaus Farin entpuppt sich die Beschäftigung mit Karl Mays widersprüchlich-bizarrer Persönlichkeit als ein kriminalistisches Abenteuer höchster Güte, dessen Verwicklungen und Nachwirkungen er rund um die Erde und bis in die Gegenwart hinein nachspürt. Mal liebevoll-neugierig, dann wieder kritisch-distanziert, versucht er dem rätselhaften Phänomen Karl May auf die Schliche zu kommen. Dabei teilt Farin manche Seitenhiebe aus, er schont weder Mays Verleger noch die Fans des Popstars aus Sachsen. Er lässt Apologeten und Kritiker zu Wort kommen und bemüht sich – cum grano salis – um ein ausgewogenes Urteil. Fazit: Mit diesem Buch entzündet Klaus Farin keine Kerze zum ehrfurchtsvollen Gedenken an den Dichter Karl May, nein, er brennt ein knallbuntes Feuerwerk für den Popstar aus Sachsen ab.« Erwin Müller in: KMG-Nachrichten

»… ein gut und flott geschriebenes Buch, das wie ein knackiges Radieschen im ständig wieder aufgekochten Gemüsebrei der May-Biografien wirkt. Hier wird Altbekanntes neu, kritisch und spannend präsentiert, ohne falsches Pathos, aber mit großem Hintergrundwissen und Blick für das Wesentliche. Ich habe es ohne Pause gelesen und viel Vergnügen dabei gehabt.« Ingrid Schorn in: Karl-May-Rundbrief

»Herzlichen Dank! Das ist eine wohl gelungene Präsentation. Prima recherchiert und ansprechend formuliert. So lesbar und fundiert müsste alles sein, was über Karl May in die Welt gesetzt wird. Sie haben mir viel Freude bereitet.« Walther Ilmer

»Nicht nur der Normal-Leser, auch der Karl-May-Kenner kommt hier auf seine Kosten: Biographisches, Wirkungsgeschichtliches, vor allem aus dem III. Reich und der DDR, Verlagspraktiken, die Winnetou-Legende, Äußerungen von ‚Fans‘ inklusive Journalisten der Gegenwart werden herzerfrischend unkonventionell und pointiert dargeboten. Bekanntes lässt sich bei der Stoffzusammenstellung nicht vermeiden, aber es kommt originell und eigenwillig daher. Sorgfältig ergänzt wird der Band mit eigenen Recherchen und neuen Fakten bis hin zu einem Karl-May-Kreuzworträtsel. Der Autor Klaus Farin, von Haus aus Journalist, ist Mitglied der Karl-May-Gesellschaft. Seinem Berufsstand und der literarischen Vereinigung hat er mit dem Buch Ehre gemacht.« Reinhard Seidler in: Lausitzer Rundschau

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Der Autor beim Interview mit Pierre Brice in Bad Segeberg; Foto: Marco Saß.

Der Autor:

Klaus Farin, geboren 1958 in Gelsenkirchen, lebt seit 1980 – Punk sei Dank – in Berlin. Nach Tätigkeiten als Schülerzeitungsredakteur und Fanzine-Macher, Konzertveranstalter und -Security, Buchhändler und Journalist für Presse, Hörfunk und Fernsehen nun freier Autor sowie Lehrbeauftragter und Vortragsreisender in Schulen, Jugendklubs, Justizvollzugsanstalten, Akademien und Unternehmen. Diverse Veröffentlichungen über Skinheads, Fußballfans, Neonazis, Gothics und andere (zuletzt: Über die Jugend und andere Krankheiten. Archiv der Jugendkulturen 2008).

Von 1998 bis 2011 war Klaus Farin Leiter des auch von ihm initiierten Archiv der Jugendkulturen, das Materialien jeglicher Art (Fanzines, Flyer, Tonträger, Bücher, wissenschaftliche Studien usw.) über & aus Jugendkulturen sammelt, analysiert, archiviert und der interessierten Öffentlichkeit zur Verfügung stellt (siehe www.jugendkulturen.de). Seit 2011 ist er Vorsitzender der Stiftung Respekt – Die Stiftung zur Förderung von jugendkultureller Vielfalt und Toleranz, Forschung und Bildung (siehe www.respekt-stiftung.de). Der gesamte Erlös des Autors aus dem Verkauf dieses Buches kommt der Stiftung Respekt zugute.

Der Autor ist Mitglied im Schriftstellerverband (VS) (seit 1981) und seit 1991 Mitglied der Karl-May-Gesellschaft (www.karl-may-gesellschaft.de).

Kontakt: Archiv der Jugendkulturen e. V., Fidicinstraße 3, 10965 Berlin; E-Mail: klaus.farin@jugendkulturen.de; Homepage: www.klaus-farin.de.

Die Originalausgabe erschien 1992 im Verlag Thomas Tilsner, Bad Tölz.

Vertrieb für den Buchhandel: Bugrim (www.bugrim.de)
Auslieferung Schweiz: Kaktus (www.kaktus.net)
Privatkunden und Mailorder: www.jugendkulturen.de

Layout:
Umschlagbild & Fotos: Bildarchiv Dr. Hainer Plaul
Foto S. 61: dpa
Druck: werbeproduktion bucher

Karl-May-Originalzitate im Text sind kursiv gesetzt.

ISBN Print: 978-3-940213-72-3
ISBN E-Book: 978-3-943612-31-8

Inhalt

Zum Geleit

I. Vorbeben

Hungerjahre · Ende einer Kindheit
Narziss und Schmollmund · Coming-out

II. Im Zenit

Wahnsinn und Genie · Erwachsene? – Pshaw!
Mit Sherlock Holmes im Llano estakado · Schwester May

III. Der rothe Gentleman

Der wahre Winnetou · Winnetou, Bad Segeberg

IV. Karl May & die Nazis

V. Karl May in der DDR

VI. Der verwirrte Prolet

Ein aufgeklärter Untertan · Die Gesetze der Prärie

VII. May light

Freuden und Leiden einer Fälscherwerkstatt

VIII. Im Orient

Monograph der Menschheitsseele

IX. Unter Geiern

FANS

Gastbeiträge von Rainer Erler, Jürgen Stark,
Klaus Staeck, Heidemarie Schloms, Anja Tuckermann,
Ingrid Ziesmer, Peggy Parnass, Patty Galore,
Anke Kuckuck, Antje Tiemeyer, Martin Auer,
Petra Gall, Ernesto Kroch u. v. a. m.

Literatur & Adressen

Zum Geleit

»Ein Musterschriftsteller, der Mustergeschichten
für Musterleser schreibt, bin ich nicht
und mag es auch niemals sein und niemals
werden.«
Karl May

Ein armer Webersohn, zu allem Unglück während seiner Kindheit auch noch erblindet, nach weiteren Schicksalsschlägen auf die kriminelle Bahn geraten und für mehr als sieben Jahre in verschiedenen Gefängnissen inhaftiert, beginnt eines Tages, sein gekränktes Ich in phantastischen Wunschträumen in einen omnipotenten Superman zu verwandeln, und wird damit zum meistgelesenen Schriftsteller deutscher Zunge – ein beinahe unglaubliches Schicksal, hinter dem die amerikanische Mär vom Tellerwäscher, der zum Millionär aufstieg, fade verblasst. Und doch geschah es so, vor nunmehr einhundertzwanzig Jahren, nicht in Amerika, sondern – in Sachsen.

Und die Geschichte fährt noch wahnwitziger fort. Die Leser rissen dem armen Webersohn, der das seltene Glück hatte, eine Schule besuchen zu dürfen, nicht nur jede neue Fortsetzung seiner »Reiseerzählungen« aus den Händen – sie begannen bald schon, ihn selbst, den kurzsichtigen, kränkelnden, kleinen Mann, für den »Weltläufer« zu halten, der 1.200 Sprachen beherrschen wollte und die Nationalität und den Gesundheitszustand eines Reiters an den Hufspuren seines Pferdes im Wüstensand identifizierte. Ich bin wirklich Old Shatterhand resp. Kara Ben Nemsi und habe erlebt, was ich erzähle, behauptet – und glaubt – der zum ersten deutschen Popstar Avancierte – bis er mit 58 Jahren wirklich außereuropäischen Boden betritt und im Orient mit den Originalschauplätzen seiner Heldentaten konfrontiert wird. Ein Schock, der einen völlig verwandelten Karl May nach Sachsen zurückbringt. Fortan zerstört er die eitle Legende und beginnt mit seinem »eigentlichen Werk«: pazifistisch engagierte symbolische Schlüsselromane. Seine Fans – und die dem restaurativen Zeitgeist der Jahrhundertwende verpflichtete Presse – lassen ihn fallen. Nach einer fast zehnjährigen juristischen und publizistischen Schlammschlacht stirbt Karl May entkräftet am 30. März 1912 in Radebeul.

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Richtig out war er eigentlich nie. Kaum eine deutsche Wohnung, in der er nicht im Bücherregal steht. Insgesamt mehr als einhundert Millionen Exemplare. Und jedes Jahr kommt eine weitere Million hinzu. Im Gegensatz zu Goethe & Co. werden sie auch gelesen, verschlungen. Und diskutiert. In Kneipen, Schulen und Jugendclubs. Sogar in Universitäten, unter Germanisten und ehrwürdigen Professoren, die May, den »Schundschriftsteller«, noch vor zwanzig Jahren nicht mit der Kneifzange angefasst hätten. Die Karl-May-Gesellschaft, Sammelbecken und kreativer Pool von Fans und Forschern, zählt mit knapp 2.000 Mitgliedern heute zu den größten literarischen Gesellschaften Europas. Intellektuelle bekennen offen ihre Sympathie für den Sachsen, Musiker nehmen »Winnetou« als Reisegefährten mit auf Tournee, bei Berliner Hausbesetzern hängt das Konterfei des edlen Roten gleich neben der DDR-Fahne. Und mehr als eine Million Menschen pilgern in jedem Sommer zu einer der vielen Freilichtbühnen, die inzwischen May-Bearbeitungen ins Programm nehmen – von Bad Segeberg bis Elspe, von Rathen bis Ratingen, von Thale bis Greifensteine.

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Linken Kritikern war er schon immer suspekt. 100 Millionen verkaufte Bücher kann in Deutschland nur bedeuten: trivialer Schund. Reaktionär. »Exotenkitsch«, »Pfadfinderromantik«. Karl May lenkt vom Klassenkampf ab, hieß es im Arbeiter- und Bauernparadies. Nachdem die Nazis ihn als Pazifisten abstempelten, der ihren imperialistischen Gelüsten im Wege stand, ihn aber nicht zu verbieten wagten, musste in der DDR das offiziell ausgebliebene Verbot dazu herhalten, ihn nun als »Nazi- Dichter« zu ächten. Verboten wurde er zwar wieder nicht, aber er wurde eben nicht gedruckt. Bis eines Weihnachtsabends Erich Honecker… aber das ist eine andere Geschichte.

Auch im Westen war Karl May jahrzehntelang kaum erhältlich. Denn die berühmten »grünen Bände« aus Bamberg und andere Lizenzausgaben haben mit Karl May wenig mehr gemein als die Idee und die Namen der Helden. Der Rest ist – bleiben wir höflich – »Bearbeitung«. Oder weniger freundlich: der größte Literaturskandal des 20. Jahrhunderts.

Als Kinder lebten »wir« (es ist wirklich nicht leicht, jemanden zu finden, der nicht dazugehörte) Karl May. Und das nicht nur, wenn wir mit halb gesenkten Lidern (damit das Aufblitzen der Pupille nicht zum Verräter wird) Gegner beobachteten. Karl May pflanzte ein erstes Misstrauen gegen die weiße »Herrenrasse« in unsere Herzen. Zwanzig, dreißig Jahre später staunen wir über die Komplexität der May‘schen Werke, die im Gewande des Trivialen erstaunliche Psychothriller verbergen. Die Beschäftigung mit Karl Mays widersprüchlich-bizarrer Persönlichkeit entpuppt sich für den erwachsenen Fan als ein kriminalistisches Abenteuer höchster Güte. Auch dies, so hoffe ich, vermag dieses kleine Büchlein zu vermitteln. Sollte es zum Impuls werden, weiterzulesen, hat es sein Ziel erreicht.

Klaus Farin
Prag im Mai 1992

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Karl May um 1905

I. Vorbeben

»Man soll den Menschen nicht nach dem
beurteilen, was er ist, sondern
darnach, wie er es geworden ist.«
Karl May

Ernstthal im Jahre 1842: ein erzgebirgisches Weberstädtchen mit 2.630 EinwohnerInnen, von denen sich drei Viertel als HeimweberInnen ernähren. Mehr schlecht als recht. Die Einfuhr industriell produzierter Textilien aus England drückt schon seit der Jahrhundertwende kräftig auf die Preise. Und nun eröffnen auch noch Ernstthaler Unternehmer verstärkt Fabriken mit mechanischen Webstühlen. Die zu Hause Arbeitenden finden immer weniger Abnehmer zu immer mieseren Löhnen. Oft gibt es wochenlang keine Arbeit. Eine neue Hungersnot zeichnet sich ab, als am 25. Februar 1842, zwei Stunden vor Mitternacht, im Hause des 32-jährigen Webers Heinrich August May und seiner 25-jährigen Ehefrau Christiane Wilhelmine in der Niedergasse ein schwächlicher Knabe entbunden wird.

Den Mays geht es immer noch besser als den meisten ihrer Nachbarn. Zwar leben auch sie unter Bedingungen, die »bei schlechter Nahrung und schlechter Luft in niederen Stuben den Keim zur Schwindsucht legen«, wie der Kreisabgeordnete August Bebel den Alltag seiner Nachbarn beschrieb, und das verrottete Haus, in dem sie wohnen, ist nur ein schmales Handtuch von 4,25 Meter Breite und einer Raumhöhe, die Old Shatterhand zum ständigen Bückling zwingen würde; doch immerhin gehört es ihnen: Die Mutter hat es überraschend geerbt. Dennoch reicht die Heimweberei nicht, um die sechsköpfige Familie zu ernähren. Die Mutter erledigt zusätzlich Näharbeiten, im Parterre steht eine Wäscherolle, die für zwei Pfennige pro Stunde an andere Leute vermietet wird. Eine der beiden im Haus wohnenden Großmütter kümmert sich um die Kinder, die andere geht putzen. Es kam vor, dass sie sich mehr als 25 Pfennige pro Tag verdiente. Da wurde sie splendid und verteilte zwei Dreierbrötchen, die nur vier Pfennige kosteten, weil sie äußerst hart und altbacken, oft auch schimmlig waren, unter uns Kinder. Sie starb, wie man sagte, aus Altersschwäche. Die eigentliche Ursache ihres Todes war wohl das, was man gegenwärtig diskret als ‚Unterernährung‘ zu bezeichnen pflegt. Versuche des Vaters, dem WebereIend als Taubenzüchter und Händler für alles Mögliche zu entfliehen, schlagen fehl. Kurz nach Karls drittem Geburtstag muss sogar das Haus verkauft werden, und die Familie zieht zur Miete in eine Wohnung am Markt um.

Karl Friedrich ist das fünfte Kind im Hause May, neun weitere Geschwister folgen. Die meisten werden allerdings nicht einmal ihren ersten Geburtstag erleben.

Karl Friedrich überlebt. Doch er erblindet wenige Tage nach der Geburt. Ein Schicksal, das viele Kinder in Ernstthal dank permanenter Unterernährung und miserabler hygienischer Verhältnisse trifft. Eltern aus ärmeren Schichten haben es sich schon zur Gewohnheit gemacht, ihre Frischlinge gleich am Tag nach der Geburt bei Wind und Wetter zur Kirche zu tragen, da ungetaufte Tote nicht auf dem christlichen Friedhof begraben werden; nicht wenige Babys holen sich dabei eine tödliche Lungenentzündung oder Infektion mit unreinem Taufwasser.

Karl Friedrich überlebt. Aber die Welt um sich herum wird er erst fünf Jahre später sehen. Ein Alptraum, der möglicherweise durch eine intensive, liebevolle Beschäftigung mit dem Kind gemildert werden könnte. Doch dieses Glück hat Karl Friedrich nicht. Die sowieso überlastete Mutter muss neben ihrer Arbeit noch die vierjährige Schwester Auguste versorgen, ab Spätsommer 1843 ist sie auch schon wieder schwanger. Im August ‚45 beginnt sie mit dem Erlös aus dem Hausverkauf eine halbjährige Hebammenausbildung in Dresden, sodass über Monate hinweg die Großmutter die Kinder betreut. In der Zeit brechen auch noch die Blattern aus. Wir Kinder lagen alle krank. Bei einer der Schwestern hatte sich der blatternkranke Kopf in einen unförmigen Klumpen verwandelt. Stirn, Ohren, Augen, Nase, Mund und Kinn waren vollständig verschwunden. Der Arzt musste durch Messerschnitte nach den Lippen suchen, um der Kranken wenigstens ein wenig Milch einflößen zu können.

Der kranke und blinde Karl fällt der Familie zur Last, zumal die Wahrscheinlichkeit, dass er nicht überlebt, ohnehin recht groß ist. So verhallen die ersten, lebensentscheidenden (heute weiß man das) Versuche des Kleinkindes, die Liebe seiner Umwelt zu gewinnen, im Nichts. Ich habe in meiner Kindheit stundenlang still und regungslos gesessen und in die Dunkelheit meiner kranken Augen gestarrt, erinnert er sich Jahrzehnte danach in seiner Selbstbiographie.

Karl flüchtet in die Phantasie. Seine Märchen erzählende Großmutter wird zur ersten Fluchthelferin. Die »wahre Welt«, die er nicht sehen kann und die ihn, den hilf- und nutzlos in der Ecke hockenden Mitesser, nicht mag, verschwimmt hinter einer besseren, farbenprächtigeren, exotischen Anders- Welt. Ich sah nichts. Ich konnte die Personen und Gegenstände wohl fühlen, hören, auch riechen; aber das genügte nicht. Wie ein Mensch, ein Hund, ein Tisch aussieht, das wusste ich nicht; ich konnte mir nur innerlich ein Bild davon machen, und dieses Bild war seelisch. Wenn jemand sprach, hörte ich nicht sein Äußeres, sondern sein Inneres trat mir näher. Es gab für mich nur Seele, nichts als Seele. Und so ist es geblieben, auch als ich sehen gelernt hatte, von Jugend an bis auf den heutigen Tag. Das ist der Schlüssel zu meinen Büchern.

Während ihrer Hebammenausbildung berichtet die Mutter von der Erblindung ihres Sohnes. Zwei Professoren kümmern sich um ihn und heilen den Fünfjährigen innerhalb kürzester Zeit von seiner Augenkrankheit. Karl kann sehen. Zu spät. Das Trauma seiner Kindheit wird er nie wieder los. Die »Welt« ist für Karl May gestorben. Jetzt zählt nur noch eins: ICH. Als ich sehen lernte, war mein Seelenleben schon derart entwickelt und in seinen späteren Grundzügen festgelegt, dass selbst die Welt des Lichtes, die sich nun vor meinen Augen öffnete, nicht die Macht besaß, den Schwerpunkt, der in meinem Innern lag, zu sich hinauszuziehen.

Hungerjähre

Als der Fünfjährige zum ersten Mal die Realwelt erblickt, hat sich die Notlage der Weber von Ernstthal weiter verschärft. »Es sind neuerdings Fälle hier vorgekommen, dass Menschen, die sich zu betteln schämten, buchstäblich verhungert sind«, heißt es in einem Bittgesuch der Ernstthaler Gemeindevertreter an die Schönburgischen Lehnsherren, zu deren Territorium die Stadt gehört. Die fürstliche Familie ist ständig pleite, die Belastung durch Fronabgaben noch härter als im übrigen Sachsen. Frauen und Kinder im Hause May müssen durch das Nähen von Leichenhandschuhen zum Einkommen beitragen. Dem gegenwärtigen Wohlstand ist es fast unmöglich, sich vorzustellen, wie armselig man sich am Ausgang der vierziger Jahre durch das Leben hungerte. Es mangelte uns an fast allem. Wir baten uns von unserem Nachbarn, dem Gastwirt ‚Zur Stadt Glauchau‘, des Mittags die Kartoffelschalen aus, um die wenigen Brocken, die vielleicht noch daran hingen, zu einer Hungersuppe zu verwenden. Wir gingen nach der ‚Roten Mühle‘ und ließen uns einige Handvoll Beutelstaub und Spelzenabfall schenken, um irgendetwas Nahrungsmittelähnliches daraus zu machen. Wir pflückten von den Schutthaufen Melde, von den Rainen Otterzungen und von den Zäunen wilden Lattich, um das zu kochen und mit ihm den Magen zu füllen. Die Blätter der Melde fühlen sich fettig an. Das ergab beim Kochen zwei oder drei Fettäuglein, die auf dem Wasser schwammen. Wie nahrhaft und wie delikat uns das erschien!

1844 kommt es in Schlesien, wo vergleichbare Zustände herrschen, zu einem Hungeraufstand der Weber, der blutig niedergeschlagen wird. Das neu entstandene Industrieproletariat beginnt, sich gegen die zunehmende Verelendung zu wehren, das wirtschaftlich mächtige Bürgertum rüttelt von der anderen Seite an den rückschrittlichen feudalen Machtstrukturen. Es ist der unruhige Vorabend der März-Revolution. Selbst im beschaulich-ruhigen Ernstthal führt eine Missernte inmitten der schweren Wirtschaftskrise 1847 zu ersten Revolten, bei denen Bäckerläden und Marktstände geplündert werden. 1848 schwappt der Aufstand der Franzosen in die benachbarten deutschen Staaten über. Demonstranten fordern Bürgerrechte, die nationale Einheit und ein demokratisches Parlament; in Berlin und Wien kommt es zu Straßenkämpfen. In Sachsen endet Anfang April eine der größten oppositionellen Volksversammlungen mit einem Sturm auf die Waldenburger Residenz des Fürsten, die dabei in Schutt und Asche gelegt wird. ErnstthaIs Linke organisiert sich im »Vaterlandsverein«. Mit dabei: Heinrich May.

Die Revolte wird niedergeschlagen. Es kommt zu Verhaftungen und drakonischen Strafen. Der Polizist Eberhardt ging von Haus zu Haus und warnte vor den schrecklichen Folgen der Empörung. Am großen Kirchentor erzählten sich die Jungens in der Abenddämmerung nur noch vom Erschossenwerden, vom Aufgehängtwerden und vom Schafott.

Ende einer Kindheit

Für den kleinen Karl läutet das Ende der Blindheit den vorzeitigen Abbruch der Kindheit ein. Der Vater überträgt seinen Ehrgeiz nun auf den Sohn. Der soll all das schaffen, was ihm, der nie eine Schule besuchen konnte, dem gerade erneut Gescheiterten, vorenthalten blieb. Er erreicht, dass der Fünfjährige eingeschult wird; und als er sich wirklich als ungewöhnlich begabt erweist, zwingt er ihn, noch nach der Schule, oft bis in die Nacht hinein, weiterzulernen. Er holte allen so genannten Lehrstoff zusammen, ohne zu einer Auswahlfähig zu sein oder eine geordnete Reihenfolge bestimmen zu können. Er brachte alles, was er fand, herbei. Ich musste es lesen oder gar abschreiben. Alte Gebetbücher, Rechenbücher, Naturgeschichten, gelehrte Abhandlungen, von denen ich kein Wort verstand. Eine Geographie Deutschlands aus dem Jahre 1802, über 500 Seiten stark, musste ich ganz abschreiben, um mir die Ziffern leichter einzuprägen. Die stimmten natürlich längst nicht mehr!

Der Kantor von Ernstthal gibt dem talentierten Jüngling kostenlos Orgel-, Klavier- und Geigenunterricht; bald kommt eine lateinische Grammatik dazu, die May auswendig lernen muss, dann private Französischstunden beim Schulrektor. Als die Auswanderungswelle Richtung Amerika ErnstthaI erreicht und Englischkurse angeboten werden, muss er auch daran teilnehmen. Die Kursgebühren hat er sich selbst zu verdienen, indem er in einer Hohensteiner Kneipe Kegel aufstellt, an manchen Tagen zwölf Stunden und mehr. Das, was man als ‚Jugend‘ bezeichnet, habe ich nie gehabt. Ich musste stets zu Hause sein, um zu schreiben, zu lesen und zu ‚lernen‘! Wenn ich meine Altersgenossen auf dem Markte springen, tollen, spielen und lachen sah, wagte ich es nur selten, den Wunsch auszusprechen, mittun zu dürfen. Der Vater war gegen alle Beteiligung an den ‚Unarten‘ anderer Knaben. Er erzog mich, wie man Muster herausarbeitet, um sie anderen anzupreisen. Und wenn er Stress oder schlechte Laune hatte, also zehn Stunden täglich, wurde er jähzornig. Prügel gehörten zum Alltagsritual im Hause May. Am Webstuhl hing ein dreifach geflochtener Strick, der blaue Striemen hinterließ, und hinter dem Ofen steckte der wohlbekannte ‚birkene Hans‘, vor dem wir Kinder uns besonders scheuten, weil Vater es liebte, ihn vor der Züchtigung einzuweichen, um ihn elastischer und also eindringlicher zu machen. Selbst in den heitersten und friedvollsten Augenblicken hatten wir das Gefühl, dass wir auf vulkanischem Boden standen und von Moment zu Moment einen Ausbruch erwarten konnten. Dann bekam man den Strick oder den ‚Hans‘ so lange, bis der Vater nicht mehr konnte…

Als Vierzehnjähriger schließt Karl May die Schule mit einem hervorragenden Zeugnis ab. Doch sein Traum, ein Arzt zu werden, lässt sich nicht realisieren. Aber wenn wir eisern am täglichen Brot sparen, errechnet der Vater, könnte es für eine Volksschullehrerausbildung reichen, was immer noch einen gewaltigen gesellschaftlichen Aufstieg bedeuten würde. Durch Fürsprache des Pfarrers erreicht Karl May wirklich noch im selben Jahr die Aufnahme in das Fürstlich Schönburgische Lehrerseminar zu Waldenburg.

Die Freude währt kurz. Der Empfang ist frostig. Lehrer und Schulkameraden lassen das»Arme-Leute-Kind« spüren, dass es nur dank eines Gnadenaktes unter den Bürgersöhnen weilen darf. Ich vereinsamte auch hier. Und zwar mehr, viel mehr als daheim. Ich hätte mich wohl gern einem unserer Lehrer anvertraut, aber die waren ja alle so erhaben, so kalt, so unnahbar, und vor allen Dingen, das fühlte ich heraus, keiner von ihnen hätte mich verstanden; sie waren keine Psychologen. Sie hätten mich befremdet angesehen und einfach stehen gelassen.

Der Unterricht selbst erinnert an die Gehirnwäschemethoden moderner Psychosekten. Kalt, streng, hart. Es fehlte jede Spur von Poesie. Jeder einzelne Gedanke gehörte in sein bestimmtes Dutzend und durfte sich beileibe nicht an einer anderen Stelle sehen lassen. Die selbstgerechte, starre, salbungsvolle und muckerische Schulmeisterreligiosität stößt May ab. Das ließ keine Spur von Wärme aufkommen; das tötete mich innerlich ab. May erhält einen ersten Verweis, als er einmal beim Religionsunterricht fehlt; sein unter der Knute des Vaters angelerntes Wissen wirkt »altklug«, seine kritischen Hinterfragungen des Lehrplans lenken die Aufmerksamkeit zorniger Lehrer auf den Webersohn. Man hat aus den Ereignissen um 1848 gelernt: Demokratische Regungen sollen im Keim erstickt werden.

Im Dezember 1859 kommt es zum Eklat: May, als »Lichtwochner« für die Beleuchtung der Klassenzimmer verantwortlich, steckt als Weihnachtsgeschenk für seine Eltern ein halbes Dutzend Kerzen ein. Zwei Mitschüler denunzieren ihn. Eine Lehrerkonferenz wird anberaumt, die den Zögling mit dem »infernalischen Charakter« wegen »sittlicher Unwürdigkeit« von der Schule verweist.