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Aus dem Englischen von Gerlinde Schermer-Rauwolf und Sonja Schuhmacher
Kollektiv Druck-Reif
Vollständige E-Book-Ausgabe der im Piper Verlag erschienenen Buchausgabe
5. Auflage 2017
ISBN 978-3-492-95288-0
© Piper Verlag GmbH, München/Berlin 2011
Stadtplan: cartomedia, Karlsruhe
Umschlagkonzept: Büro Hamburg
Umschlaggestaltung: Birgit Kohlhaas, Egling
Umschlagabbildungen: Le Fouquet's / Champs-Élyssées (Serge Attal/ Visum)
Datenkonvertierung E-Book: le-tex publishing services GmbH, Leipzig
Für die Crimée-Crew und vor allem N.,
die mir so viele schöne Seiten von Paris gezeigt haben
In Paris sind, seit ich dieses Buch geschrieben habe, extrem schockierende Dinge passiert.
Ich erinnere mich noch lebhaft daran, wie entsetzt ich nach dem Anschlag auf das Büro von Charlie Hebdo im Januar 2015 war. Cabu, eines der Todesopfer, hatte ich kennengelernt: Er war ein reizender, charmanter, sehr kleiner Mann, der eine Naivität ausstrahlte, die zu seiner kindlichen Erscheinung passte. Als er mir eine seiner Zeichnungen signierte, wollte es ihm einfach nicht eingehen, dass man einen Namen, den man »Stie-wen« aussprach, »Stephen« schrieb. Ich versuchte, es ihm zu buchstabieren, doch am Ende stand »Stevehln« auf der Zeichnung, und er entschuldigte sich überschwänglich für seine Begriffsstutzigkeit. Unglaublich, dass ihn irgendjemand erschießen wollte.
Noch mehr schockierten mich die Anschläge vom 13. November 2015, wenn auch aus persönlicheren Gründen. Diese Menschen wurden in Bars und Restaurants erschossen, in denen ich mehr als einmal friedlich etwas gegessen oder getrunken hatte, und in einer Konzerthalle, in der ich oft Bands spielen gehört hatte, deren Drummer Rhythmen wie Maschinengewehrsalven erzeugten. Einer meiner Nachbarn wurde angeschossen (er überlebte); die Tochter einer Freundin verließ nur Minuten vor dem Anschlag eins der Cafés; etliche Freunde von Freunden waren im Bataclan und mussten sich zwei Stunden in einem Schrank verstecken; Bekannte von mir verloren Freunde und Kollegen.
Es war ein Anschlag auf die ganze Stadt, und er machte uns alle fassungslos. Selbst heute, ein Jahr später, sind wir noch immer etwas schreckhaft. Wird es auf der Straße oder in der Métro plötzlich laut, tauscht man nervöse Blicke. Die bewaffneten Soldaten auf den Straßen, die Taschenkontrollen in öffentlichen Gebäuden und Kaufhäusern und natürlich die neuen Bilder der Anschläge in Nizza und Rouen halten das Gefühl der Gefahr wach.
Das liest sich jetzt vielleicht reichlich merkwürdig als Einleitung zu einem Reiseführer (»He, kommen Sie in unsere wundervolle Stadt, wo jeder vor Angst außer sich ist! Kaufen Sie sich ein T-Shirt, einen Rock oder eine kugelsichere Weste!«). Doch es gibt auch Positives zu vermelden.
Das Beste an Paris und an den Parisern ist, dass sie so pariserisch sind. Was wie eine Binsenweisheit klingt, bedeutet, dass zur Pariser Lebensart die Entschlossenheit gehört, einfach weiterzumachen. Niemand hier ist bereit, seine Lebensqualität herunterzuschrauben. Wenn die terroristischen Anschläge eins bewirkt haben, dann dass sie den Parisern mehr denn je vor Augen führten, wie wichtig es ist, das Leben in vollen Zügen zu genießen – was sie allerdings schon vorher wussten. Die Cafés sind weiterhin voll, die Restaurants brummen, in den Läden wird eingekauft. Höchstens die Preise sind etwas gefallen, um Kunden zu einem Einkaufsbummel zu animieren.
Trotz aller Sicherheitsrisiken ging die Fußball-EM 2016 glatt über die Bühne, die einzige Gefahr für die öffentliche Sicherheit waren die Hooligans (darunter zu meinem Bedauern viele Engländer – manche Traditionen sind langlebig). Und selbst die Hooligans hatten auf das Leben in der Stadt nicht den geringsten Einfluss. In den Kneipen drängten sich singende Fans – nicht nur aus Irland; selbst die Skandinavier tauten auf und machten mit. Und als die Gäste aus Solidarität mit ihren Gastgebern die »Marseillaise« sangen, wurden sogar die Pariser freundlich.
Manche Einheimischen blickten bislang nämlich etwas snobistisch auf Touristen herab, für sie waren es schlecht gekleidete Ausländer, die weder »Eiffel« noch »croissant« richtig aussprechen konnten. Jetzt herrscht eher ein Gefühl der Dankbarkeit vor, dass die Touristen überhaupt noch kommen wollen. Seit den Anschlägen von 2015 sieht man deutlich weniger Besucher in der Stadt, was vor allem den Effekt zu haben scheint, dass die Kellner erfreut über die Gäste wirken. Ich habe in meinem Leben noch nie so viele lächelnde Männer in schwarzen Westen gesehen wie in den letzten paar Monaten. Spontan lächelnde Pariser Kellner – was für ein positives Signal.
Ich wünsche Ihnen einen sicheren und erfreulichen Besuch in meiner Heimatstadt.
Stephen Clarke, im Herbst 2016
Die erste persönliche Begegnung mit Paris kann sehr verwirrend sein. Einerseits kennt man alles, und doch ist alles anders als erwartet, weniger glamourös, aber irgendwie unglaublich kultiviert. Bei einem Wochenendaufenthalt ist das unheimlich aufregend. Wenn man hier leben soll, nur unheimlich.
Zum Glück war ich darauf gefasst, als ich nach Paris zog. Denn ich hatte schon ein paar, wenn auch kurze Erlebnisse mit dieser Stadt gehabt, deren Bedeutung ich jedoch nicht gleich kapierte.
Beim ersten Mal war ich acht. Völlig unerwartet verkündeten meine Eltern, dass sie am Wochenende nach Paris fahren und meine Schwester und ich bei Onkel Roger und Tante Esther bleiben würden. Das war ein doppelter Schock. Zum einen fuhren meine Eltern nie allein irgendwohin. Mein Vater machte Geschäftsreisen, aber das war’s auch schon. Romantische Wochenenden gab es nicht, ja sie heuerten noch nicht einmal einen Babysitter an, um mal einen Abend für sich zu haben. Und jetzt verschwanden sie einfach mit einem Flugzeug nach Paris. Ich verstand die Welt nicht mehr.
Zum anderen wurden meine Schwester und ich nicht bei echten Verwandten untergebracht, sondern bei Freunden, die wir »Onkel« und »Tante« nannten. Roger, ein großer, dünner Mann mit buschigem Schnurrbart, sammelte Eisenbahn-Memorabilia. Unter anderem besaß er eine elektrische Eisenbahn mit verschiedenen Loks, die aus kleinen Bahnhöfen schnauften und vor Unterführungen pfiffen. »Tante« Esther, mit Brillengläsern dick wie Flaschenböden, schwärmte für Blumen mit kugeligen Blüten. Ihr Garten glich einem von Chrysanthemen überwucherten Bahnhof.
Sie erklärten uns sehr nett, Mum und Dad hätten uns bei ihnen gelassen, weil sie ein romantisches Wochenende miteinander verbringen wollten. Ich hatte keine Ahnung, was das war, aber als Tante Esther »Paris« sagte, beschlugen ihre zentimeterdicken Brillengläser. Und Onkel Roger zwinkerte mir zu und ließ dann für mich den Orient-Express durch einen Alpentunnel fahren.
Es waren anstrengende Tage, denn Roger und Esther waren kinderlos, wir mussten uns also tadellos benehmen. Das hieß unter anderem, dass wir alles aufessen mussten, was man uns vorsetzte, auch den blassen faden Pudding, den Esthers französische Bezeichnung »blancmange« auch nicht aufpeppen konnte.
Trost nahte erst, als wir wieder abgeholt wurden. Dad wirkte beinahe übermütig, und es gab Geschenke – für mich ein fast lebensgroßes Huhn mit Federn, das sich auf seine gelben Beine setzte, wenn man auf sein Hinterteil drückte, und ein Zuckerei legte. Ich war hingerissen. Ein Hühnerpopo schiss Süßigkeiten! Von so etwas träumt wohl jeder Junge. Ich konnte es kaum erwarten, dieses Wunder all meinen Freunden in der Schule zu zeigen, sodass die arme Henne bereits am Montagnachmittag zur Teezeit unfruchtbar geworden war. Als ich sie von hinten mit Lutschern auffüllen wollte, führte das zu einer schlimmen Verstopfung, woraufhin die Henne fürs Erste auf dem obersten Regalbrett und später im Müll landete.
Neben der offensichtlichen Moral von der Geschichte – nämlich dass überarbeitete Eltern hin und wieder ihre Kinder irgendwo absetzen und nach Paris reisen müssen – war ich damit schon als Kind in England vorgewarnt, wie nüchtern die Beziehung der Pariser zur Nahrung ist. Ja, Eier kommen hinten aus Hühnern raus, genauso wie Pilze in der dunklen Erde wachsen, und wenn man Lammfleisch essen will, muss zuerst ein Metzger das zuvor auf einer Wiese in der Normandie herumtollende süße Lämmchen schlachten, es abziehen und zerlegen, wonach es nicht mehr ganz so niedlich aussieht. Es war eine Lektion, die mir sehr zupasskommen sollte, als ich Jahrzehnte später in Paris lebte.
Ich reiste erst mit 18 Jahren zum ersten Mal in diese Stadt. Nach meinem Schulabschluss hatte ich einen Platz in einem internationalen Studienprogramm ergattert. Erste Station: ein paar Tage in Paris, um die anderen Studenten kennenzulernen und an einem Galadiner der Stiftung teilzunehmen, die den Spaß finanzierte.
Die Dinge ließen sich nicht gut an. Aus irgendeinem Grund kam meine Fähre zwei Stunden zu früh in Le Havre an, sodass ich nicht mittags am Gare Saint-Lazare eintraf, wo ich abgeholt werden sollte, sondern schon morgens um zehn, und zwei Stunden totschlagen musste.
Denn nicht nur waren Handys damals noch völlig unbekannt, ich hatte nicht einmal Telefonnummer oder Adresse von dem angeblich gleichaltrigen Jungen, der mich abholen sollte. Also suchte ich mir eine ruhige Ecke, setzte mich auf meinen Koffer (ich wusste noch nicht, dass man Gepäck auf dem Rücken tragen kann) und klimperte ganz leise auf meiner Gitarre, ohne die Uhr aus den Augen zu lassen. Kurz nach zwölf ging ich zu dem Bahnsteig hinüber, wo der Zug aus Le Havre einfuhr, und tat so, als sei ich gerade erst angekommen. Abgeholt wurde ich von einem zu klein geratenen Erwachsenen mit beeindruckend stoppeligen Kinn und frisch gebügelten Kleidern, der eine Herrenhandtasche schwenkte und vor Selbstbewusstsein strotzte.
Er sauste mit mir in einem Taxi kreuz und quer durch Paris und redete ununterbrochen in bemerkenswert gutem Englisch auf mich ein. Dann saßen wir in einem eleganten Restaurant, das irgendwas mit Bœuf hieß, und er bot an, die Speisekarte zu übersetzen, die aber gar nicht schwer zu verstehen war. Jede Zeile begann mit bœuf, und irgendwann musste ich zugeben, auch wenn ich vor Verlegenheit gern im Boden versunken wäre, dass ich Vegetarier war. Ein helles Lachen war die Antwort, dann teilte er einem finsteren Kellner in schwarzer Weste mit, dass wir woanders essen würden, denn »Monsieur est végétarien«. Der Kellner wirkte geradezu erleichtert, uns von dannen ziehen zu sehen.
Danach schleppte mich mein Gastgeber die ganze lange Straße entlang und erkundigte sich in jedem Café, ob sie vielleicht auch vegetarische Gerichte servierten. Endlich landeten wir in einem Lokal, wo mich der Kellner nicht anstarrte wie einen Außerirdischen, und ich verspeiste einen exzellenten Salat.
Nach dem Essen fuhren wir zu meiner Gastfamilie, in ein Haus in einem (wie mir heute klar ist) sündteuren Pariser Vorort, wo mich eine einschüchternd glamouröse wasserstoffblonde Mutter begrüßte, die entsetzt aufschrie, als ihr Sohn ihr grinsend meine merkwürdigen Ernährungsgewohnheiten offenbarte. Der Schock lähmte ihr ein paar Sekunden lang die Zunge, dann fragte sie mich in sehr langsamem Französisch, ob ich Brot essen dürfe.
»Oui«, erwiderte ich. Offenbar waren die französischen Vegetarier weit strenger als die englischen.
Erleichtert schlug sie vor, dass ich dann vielleicht zur boulangerie fahren und welches kaufen könne.
»Oui«, willigte ich ein.
Es sei nicht gerade um die Ecke, deshalb wäre es wohl am besten, wenn ich das Moped nähme.
»Oh, ich bin noch nie Moped gefahren«, sagte ich und war nicht sonderlich überrascht, dass ich den mir inzwischen schon vertrauten »Oh, also doch ein Außerirdischer«-Ausdruck über ihr Gesicht huschen sah.
»Noch nie?«, vergewisserte sie sich.
»Nein«, log ich. Ich war einmal betrunken auf die 50-Kubik-Yamaha eines Freundes gestiegen und in eine Mülltonne gekracht, ein Schicksal, das ich der Maschine und der Mülltonne meiner Gastgeberfamilie ersparen wollte.
»Oh«, sagte sie noch einmal und schickte ihren Sohn zum Bäcker, der sich vor Lachen über den Vegetarier kaum einkriegte.
Etwa ein Jahr später erkannte ich meinen Fehler. Wir hatten in der Schule gelernt, dass Fahrrad bicyclette hieß und vélo, das Wort, das sie benutzte, die Kurzform für vélomoteur – also ein Moped – sei. Dabei bezeichnet vélo ein ganz normales Fahrrad. Ich hatte also sämtliche französischen Vorurteile über Vegetarier bestätigt – sie waren sogar zu lebensuntüchtig, um in die Pedale zu treten!
Die Familie beäugte mich also misstrauisch, bis zum Galadiner mit den anderen ausländischen Studenten. Es war ein lustiger Abend, wir alle witzelten in unserem schlechten Französisch, und die Hälfte von uns aß oder trank bestimmte Dinge nicht. Irgendwann habe ich wohl mal meine Gitarre rausgeholt und ein, zwei Lieder geträllert, unter anderem »Michelle« von den Beatles auf Französisch, bei dem alle mitsangen.
Am nächsten Morgen betrachtete mich die Familie mit anderen Augen. Sie fragten nicht nur, ob es mir erlaubt sei, Aprikosenmarmelade zu essen, sondern erkundigten sich auch nach meinen musikalischen Fertigkeiten. Ob ich viele Gitarrenstunden gehabt hätte? Ob ich einen Gesangslehrer hätte? Dass ich beides verneinte, schien sie zu enttäuschen, aber sie baten mich dennoch, an diesem Abend für sie zu spielen.
Und so musste ich nach dem Essen mit Freunden der Familie (bei dem man mir Schinken anbot, denn das war kein viande, sondern charcuterie) mitten im Wohnzimmer auf einem Stuhl sitzen, eine grelle Lampe auf mich gerichtet, während ich »Michelle« und dann noch ein zweites Lied zum Besten gab.
»Was war das?«, fragte man mich.
»Oh, einer meiner Songs.«
»Du hast diesen Song geschrieben!?«
»Ja.«
Auf die Frage, ob es noch mehr Songs von mir gäbe, spielte ich ein anderes, bei den regelmäßigen Auftritten mit meiner Band im Pub wohl erprobtes Stück. (Na ja, ich sage »meine Band«, aber ich war nur der Bassist.) Songs schreiben war für uns so normal wie Fußballspielen.
Danach klatschten alle, nur die Mutter starrte mich ungeheuer erleichtert an. Erst viel, viel später, da lebte ich schon in Paris, verstand ich diesen Blick. Puh, bedeutete er, dieu sei Dank. Deshalb isst er kein Fleisch und kann nicht Fahrrad fahren – er ist un artiste.
Als artiste in Paris (man muss gar nicht künstlerisch tätig sein, es reicht, wenn man sich so nennt) kommt man mit allem durch. Man kann den größten Schwachsinn verzapfen, Leute beleidigen, ungewaschen herumlaufen und erwarten, dass die Freundin Vollzeit arbeitet, die Miete zahlt und sämtliche Hausarbeit erledigt – niemand fände das irgendwie befremdlich. (Obwohl eventuell nicht einmal un artiste bei einem Pariser Kellner auf Verständnis hoffen dürfte, wenn er erwähnt, er sei végétarien.)
Das nächste Mal besuchte ich Paris als vergammelter und bereits reiseerfahrener Student. Das heißt, ich hatte den Rucksack entdeckt und festgestellt, dass es zwischen dem Schulbuchfranzösisch und dem, was die Franzosen sprechen, Unterschiede gibt. Dennoch beging ich mit meiner Aufmachung, wie ich schnell feststellte, einen groben Fauxpas. Vergammelt war okay – viele Pariser versuchten wie Londoner Punks oder südamerikanische Guerilleros auszusehen –, aber mit meinem T-Shirt ging ich zu weit. Ich hatte es von jemandem mit schrägem Humor geschenkt bekommen, es war türkis, und die große pinkfarbene Glitzerschrift darauf behauptete: »I’m sexy«. Darunter hatte ich mit wasserfestem Stift hinzugefügt »pigs fly« – und Schweine können fliegen. Als ich durch die Straßen von Paris ging, starrten die Menschen auf meinen Oberkörper und kicherten. Die Frauen, die Tickets für eine Impressionisten-Ausstellung in der Orangerie verkauften, stupsten sich verständnislos an. Meine weitschweifigen Erklärungen, worin der Witz lag und dass ich damit die erste Aussage ironisch verfremdete, gingen eine ganze Zeit ins Leere und führten zu vernehmlicher Ungeduld bei den Menschen in der Schlange hinter mir und das wiederum zu einer Tirade, warum man als Kunstliebhaber froh und dankbar sein sollte, dass Museumsangestellte überhaupt bereit waren, an einem Sonntag im August zu arbeiten.
Doch hatten die Pariser nun mit mir oder über mich gelacht? Auf der Straße sicherlich über mich. Die Ticketverkäuferinnen allerdings waren im Lauf meiner Erklärung ein bisschen aufgetaut. Sie hielten mich zwar immer noch für einen Idioten, aber für einen ganz netten.
Wie ich heute weiß, veranschaulicht dieses Erlebnis recht gut, was es heißt, ein Ausländer in Paris zu sein. Die Stadt ist eine abgeschottete Welt mit ihren eigenen Regeln und im höchsten Maß davon überzeugt, dass ihre Werturteile stimmen. In ihrem tiefsten Innern lauert jedoch der dunkle Verdacht, dass man sich zu stark absondert und es da draußen vielleicht noch anderes gibt – etwas, das Paris fehlt! Weshalb étrangers akzeptiert werden. Vielleicht haben sie Geheimnisse, die man als Pariser übernehmen, für sich reklamieren und damit noch kultivierter, exotischer und selbstbewusster erscheinen kann.
Doch als ich nach Paris zog, ahnte ich von all dem nichts. Daher mein anfängliches Unverständnis, dass meine französischen Kollegen während der Bürozeit mindestens ebenso gewissenhaft ihr Mittagessen und den nächsten Urlaub planten wie die Organisation unserer gemeinsamen Arbeit. Und mein Erstaunen, dass die Menschen im sogenannten Dienstleistungssektor mich keineswegs bedienen mochten. So hörte ich in einem berühmten Pariser Kaufhaus den Verkäufer laut und deutlich sagen: »Ich hasse den Schlussverkauf. Aber noch mehr hasse ich die Leute, die zum Schlussverkauf kommen.« Spontan wollte ich der Stadt den Rücken kehren, doch ich harrte aus, und dank meiner Notizen, die ich machte, als sei ich bei einem bisher unentdeckten Amazonasstamm gelandet, blieb ich geistig gesund. Aus diesen Aufzeichnungen entstand mein Roman Ein Engländer in Paris – allerdings erst, nachdem ich zehn Jahre hier verbracht und allmählich gelernt hatte, wie Frankreich tickt. Wobei mir noch heute ständig neue Einsichten zum Überleben unter Franzosen (so das begleitende Sachbuch zu meinen Paul-West-Romanen) kommen.
Es ist mir nicht peinlich, dass ich so lange gebraucht habe, um zu verstehen, was in dieser Stadt vorgeht. Paris kann blenden – immerhin ist es die Stadt der Lichter. Doch um für dieses Buch unter die Oberfläche zu schauen, habe ich mich vom zufälligen Beobachter zum methodischen Ermittler gewandelt, mich in Kopf und Herz der Stadt gegraben und nicht wie bisher nur herauszufinden versucht, wie die Dinge funktionieren, sondern warum. Dabei hat die Stadt nichts von ihrem Zauber für mich verloren, im Gegenteil, sie schlug mich mit jeder neuen Entdeckung stärker in ihren Bann.
Und so hoffe ich, chère lectrice, cher lecteur, dass Sie mit Hilfe der folgenden Kapitel Paris weit besser und schneller verstehen lernen, als ich es tat. Und nicht Jahre nach Ihrem Besuch eines Nachts aufwachen und sich entsetzt sagen: »Himmel, die mussten ja denken, dass ich nicht mal Fahrrad fahren kann …«
Dieu a inventé le Parisien pour que les étrangers ne puissent rien comprendre aux Français.
Gott hat die Pariser erschaffen, damit kein Ausländer die Franzosen versteht.
Alexandre Dumas der Jüngere
Als ich gerade erst nach Paris gezogen war, hörte ich einen französischen Popsong (Bonne bonne humeur ce matin) mit folgendem Refrain:
Paris est plein de Parisiens,
Pas assez de Parisiennes,
Et trop de Parisiens.
(»Paris ist voller Pariser, nicht genug Pariserinnen und zu viele Pariser.«) Die typische Klage eines typischen Parisers, der nur an sich denkt. Er möchte eine Stadt voller Frauen, alle für moi.
Es behaupten also nicht nur Gäste oder Immigranten, die sich mit dem Einleben schwertun, dass Paris ohne die Pariser einfach großartig wäre. Die meisten Franzosen und die Hälfte aller Pariser würden zustimmen.
Die Pariser haben einen grässlichen Ruf als egozentrische, rüde und aggressive Zeitgenossen, und zu allem Überfluss sind sie auch noch stolz darauf.
Vor ein paar Jahren ließ die führende Pariser Boulevardzeitung Le Parisien (Der Pariser) eine Werbespotserie in Kinos laufen. Einer zeigt ein japanisches Pärchen, das sich verlaufen hat und einen Pariser mittleren Alters um Hilfe bittet. Er starrt sie verständnislos an, während die Japaner auf ihren Stadtplan zeigen und tapfer »Eiffel« auszusprechen versuchen. Als der Groschen endlich fällt, zeigt er in die Richtung, aus der sie gekommen sind, und sie danken ihm, als hätte er ihnen das Leben gerettet. Er geht in die entgegengesetzte Richtung, biegt um die Ecke, am Ende dieser Straße ragt der Eiffelturm in die Höhe. Le Parisien, il vaut mieux l’avoir en journal, lautete der Werbeslogan. Der Pariser – als Zeitung ist er angenehmer.
Ein anderer Spot zeigte einen scheinbar honorigen Mann, der von außen an ein öffentliches Pissoir pinkelt. Er zieht den Reißverschluss hoch und lächelt beim Gehen unschuldig eine Frau an, deren Einkaufstüte in der sich bildenden Urinpfütze steht.
Und dann war da noch der Typ, der mit großen Schritten auf die Supermarktkasse zueilt und dabei eine kleine alte Dame mit nur wenigen Waren im Korb abdrängt. Kurze Zeit später stellt sich seine Frau mit einem riesigen, voll beladenen Einkaufswagen neben ihn. Angesichts des entsetzten Blicks der alten Dame zuckt er nur mit den Achseln, er war schließlich vor ihr hier. Tja, Le Parisien – als Zeitung angenehmer.
Jedes Mal, wenn einer dieser Spots lief, wurde im Kino schallend gelacht. Die Pariser nahmen diese Beleidigungen einfach hin. Ich war verblüfft. Aber tatsächlich sehen sich die Pariser gern als unsoziale Drängler, die sich diebisch freuen, wenn jemand gutgläubig auf ihre Tricks reinfällt.
Sogar der fieseste Spot fand Beifall: Ein großer, eleganter Pariser Geschäftsmann geht aus einem Café und steckt dabei widerwillig die Visitenkarte eines kleinen kriecherischen Mannes ein (seinen unterwürfigen Gesten nach ein Provincial ). Der Pariser steigt in seinen protzigen Wagen mit Allradantrieb, setzt zurück und rammt dabei ein geparktes Auto. Jeder auf der Caféterrasse hat es gesehen. Er steigt aus und inspiziert den Schaden, sein Wagen hat nichts abgekriegt, aber der andere hat eine Delle. Da kommt ihm ein Geistesblitz. Er nimmt die Visitenkarte des Provincial aus der Brusttasche, hält sie hoch, damit alle sehen, was für ein ehrlicher Kerl er ist, und klemmt sie an die Windschutzscheibe. Der kleine Verlierer hat den Schaden. Eins zu null für Le Parisien.
Wobei der Spot nicht glaubwürdig ist. Ein echter Pariser wäre gerissener. Denn wenn der Autobesitzer den kleinen Mann anruft, wird der den wahren Schuldigen nur zu gern hinhängen. Deshalb würde sich ein echter Pariser nur kurz umschauen, ob ein Polizist oder der Wagenbesitzer in der Nähe ist, und falls nicht, einfach wegfahren – zu Recht davon überzeugt, dass sich keiner auf der Caféterrasse die Mühe gemacht hat, sein Kennzeichen zu notieren.
Pariser halten sich für etwas Besonderes. Nicht nur die Postleitzahlen, die alle mit 75 beginnen, trennen die Stadt von ihren Vororten, sondern auch handfestere Barrieren. Der boulevard périphérique, die Ringstraße um die Stadt, wird über weite Teile von hohen Sozialwohnungsblöcken gesäumt, diese HLMs bilden eine Art moderne Stadtmauer. Und obwohl vom alten Wall längst kein Stein mehr auf dem anderen liegt, nennt sich Paris immer noch intra muros, innerhalb der Mauern. Kein Wunder, dass man die Pariser für Snobs hält. Wie sonst soll man einen nennen, der sich mit einem mittelalterlichen Begriff von all den Unglücklichen abgrenzt, die außerhalb der périph leben?
Viele der anderen Vorurteile gegen die Hauptstädter treffen, wie ich meine, eher auf die Vorortbewohner zu. Nein, ich bin nicht vom Virus des Pariser Snobismus befallen. Aber der Mann, der sich an der Tür der métro vordrängelt oder, freundlich angesprochen, nur widerwillig knurrt, ist sehr wahrscheinlich um sechs Uhr morgens aufgestanden und hat dann 40 Minuten eingezwängt mit der Nase in der Achselhöhle seines Nachbarn in einem ruckelnden Vorortzug gestanden und sich dabei fast einen Bandscheibenvorfall geholt, während der Mann zwei Millimeter vor ihm ohrenbetäubend laut in sein Handy plärrte. Am Gare Saint-Lazare musste er sich die Ansage anhören, dass die Bahn nachmittags streikt, und dann hat ihm sein Boss mitgeteilt, dass sich sein Arbeitspensum verdoppeln wird, weil sein Kollege von einem nachsichtigen Arzt drei Monate krankgeschrieben wurde. Tja, der lächelt Sie nicht nett an, obwohl Sie doch den Weg zur Sacre-Cœur nicht finden. Sondern grollt wie unzählige Leidensgenossen, weil eine Wohnung näher bei seinem Arbeitsplatz unerschwinglich für ihn ist.
Natürlich können auch die Einwohner intra muros unausstehlich sein. Viele von ihnen müssen ebenfalls in einer überfüllten métro oder gar stehend im Bus zur Arbeit fahren und haben einen Chef, dessen Führungsqualitäten sich, à la française, darin erschöpfen, regelmäßig alle herunterzuputzen und damit zu zeigen, wer der Boss ist. Auch können echte Pariser schon deshalb mehr einschüchtern, weil sie wissen, wie der Hase läuft, und denen daher bei Touristen, Provinzlern und anderen Nullcheckern rasch der Geduldsfaden reißt. Ein erfahrener Angler muss einem Neuling doch auch nicht erst erklären, dass man nicht die Rute samt Haken und Schnur ins Wasser wirft, um Fische zu fangen. Doch? So ein Trottel. Und genau das ist man für einen Pariser, wenn man gemächlich und offensichtlich vollkommen ziellos den Gehsteig entlangschlendert oder das Drehkreuz zur métro nicht meistert. Leicht reizbar ist der Pariser auch am Steuer. Er weiß nun mal, dass man sich an dieser Kreuzung vor ein Dutzend Autos drängeln kann, wenn man die Rechtsabbiegerspur benutzt und dann trotzdem geradeaus fährt. Genauso erwartet er und auch sie bei Gelb, dass der Vordermann Vollgas gibt, und haut sofort mit der Faust auf die Hupe, sollte dieser Zauderer kostbare Sekunden verschenken.
Diese chronische Ungeduld legen (wie in Überleben unter Franzosen näher ausgeführt) auch die Kellner an den Tag, die einen meist perfekt bedienen, obwohl sie einen zu ignorieren scheinen. Denn viele Gäste, vor allem Provinzler und andere Touristen, sind nur Amateure auf dem Restaurantparkett, sie hingegen sind die Profis. Und es ist nun mal lästig, sein Territorium mit Anfängern teilen zu müssen.
Kurz gesagt, die Pariser wollen die Auswärtigen mit ihren kleinen Grobheiten nicht gezielt beleidigen. Sie sind einfach ein Symptom ihres Wunsches, beim Leben gefälligst nicht aufgehalten zu werden.
Andererseits wurde ihnen natürlich von Geburt an mit einem goldenen Chanel-Hämmerchen eingebläut, dass sie in der großartigsten Stadt der Welt leben.
Unbestreitbar ist Paris das Zentrum der französischsprachigen Welt. Da ist es nur ein kleiner Schritt zu der Überzeugung, die Stadt sei das Zentrum des gesamten Universums. Und weil praktisch alle angesehenen französischen Institutionen – ob kulturell, ökonomisch oder politisch – ihren Hauptsitz in Paris haben, um nahe am Zentrum des Geschehens zu sein, lebt hier die crème de la crème. Na, und als Pariser glaubt man eben, noch das Sahnehäubchen auf der Creme zu sein.
Wobei die Pariser auch untereinander den Snobismus pflegen. Die Bewohner der vornehmeren arrondissements schauen mit einer Mischung aus Mitleid und Verachtung auf jene herab, die wie ich nicht im ultra-großkotzigen 7. am linken Seineufer wohnen, sondern auf der anderen Uferseite im Norden im 19. Ungefähr so, als hätte ich Kopfläuse. Das gilt übrigens wechselseitig: Ein Kameramann beim Fernsehen, der im Norden im 20., dem Ghetto der Medienboheme, lebt, hält die Blazer tragenden Banker des 16. arrondissement im Südwesten der Stadt für lahme, hirnlose Sklaven eines spießbürgerlichen Kapitalismus. Und jemand, der in einer hübschen aufstrebenden Ecke des 11. ein Loft bewohnt, sieht sich trotz der teilweise noch ärmlichen Nachbarschaft als Pionier, der viel näher am Puls der Zeit lebt als der Inhaber einer Wohnung 500 Meter südlich davon.
Die Regeln des Pariser Snobismus sind so kompliziert wie 3-D-Schach auf 20 Brettern gleichzeitig. Und das in einer Stadt, die im Durchmesser gerade mal zehn Kilometer misst; außerhalb dieses Rings ist man selbstverständlich völlig weg vom Fenster. Unterlegen fühlen sich die Pariser manchmal dennoch – den modebewussten New Yorkern, Londonern, Mailändern oder den Künstlertypen aus Berlin, also jedem, der die Nase noch höher trägt als sie. Und ein bisschen Angst haben sie auch, zumindest schüchtern die banlieusards sie ein, denn jemand, der in einem hässlichen Wohnblock mehr als einen Kilometer von einem Kino oder einem anständigen Restaurant entfernt tatsächlich überleben kann, verdient natürlich le respect. Der Erfolg des französischen Rap und von Filmen wie Neuilly sa mère und Tout ce qui brille (in denen sich junge arabische banlieusards über absurd klischeehafte, versnobte Pariser lustig machen) beweist, dass Paris nicht mehr als ultratrendy gilt. Die Ironie dabei ist: Kaum werden die Rapper und Filmstars aus der banlieue berühmt, ziehen sie intra muros und werden selbst typische Pariser.
Der russischstämmige französische Schauspieler Sacha Guitry sagte einmal: »Être parisien, ce n’est pas être né à Paris, c’est y renaître.« Man muss also nicht in Paris geboren sein, sondern hier neu geboren werden, sich also neu erfinden oder sich selbst finden oder zumindest irgendwie weiterentwickeln, um hierher zu passen. Die gute Nachricht: So schwierig ist das gar nicht. Weder schmerzhafte Tattoos noch Initiationsriten sind erforderlich, um ein Pariser zu werden, es reichen ein anderer Gesichtsausdruck und eine andere Haltung. Die meisten Pariser mussten diesen Akklimatisierungsprozess durchlaufen, denn zum größten Teil sind sie gar nicht hier geboren, sondern kommen aus allen Teilen der Welt beziehungsweise Frankreichs und gehen jetzt, da sie den Hindernisparcours des richtigen Benimm erfolgreich bewältigt haben, als waschechte Pariser durch. Auch ich, der ich die ersten fünf Jahre beim Autofahren Panikattacken erlitt, kann nun beim rücksichtslosen Spurwechsel, Fluchen und Hupen mit den Besten von ihnen mithalten.
Im Grunde muss man nur verinnerlichen, dass man als Pariser das wichtigste Wesen auf der Welt ist. Alles, was man vorhat, ist eilig und lebenswichtig, daher müssen die Wünsche anderer, weniger bedeutender Zeitgenossen nun mal leider zurückstehen, pardon. Und sollten irgendwelche Ignoranten versuchen, sich Ihnen in den Weg zu stellen, dann dürfen Sie mit Recht gereizt reagieren.
Glauben Sie mir, es funktioniert. Sobald Sie sich wie ein Pariser geben, werden Sie als solcher akzeptiert. Doch bevor Sie an diesen Punkt gelangen, müssen Sie sich noch eins erarbeiten, wenn Sie in diesem Dschungel überleben wollen, und zwar …