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Jiří Kratochvil

Femme fatale

Roman

Jiří Kratochvil

Femme fatale

Roman

Aus dem Tschechischen
von Julia Hansen-Löve
und Christa Rothmeier

braumüller

Die Originalausgabe erschien 2010 unter dem Titel Femme fatale bei Druhé město, Brünn. Übersetzung aus dem Tschechischen von Julia Hansen-Löve und Christa Rothmeier.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.

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1. Auflage 2011
© 2011 by Braumüller GmbH
Servitengasse 5, A-1090 Wien

E-Book-Ausgabe © 2012
ISBN 978-3-99200-068-5

Die in diesem Roman geschilderten Ereignisse und Personen sind frei erfunden, und sollte sich jemand an etwas ihm Bekanntes erinnert fühlen, handelt es sich um eine rein zufällige Ähnlichkeit. Und was die Ansichten der einzelnen Figuren betrifft, den auktorialen Erzähler mit eingeschlossen, halte ich es für unerlässlich darauf hinzuweisen, dass sie nicht mit den Ansichten des Autors identisch sind.

Zwischen uns und dem Himmel, der Hölle oder dem Nichts liegt nur das Leben mit seiner außerordentlichen Gebrechlichkeit.

Blaise Pascal

1. TEIL
DIE NÄCHTLICHE SONNE

KAPITEL EINS

Wir sitzen auf allem, was hier aufzutreiben war, auf Bänken, Stühlen, Kisten, zusammengepfercht in dem Raum, in dem im Haus der Kunst immer das Theater an der Schnur spielt. Soeben spricht über die Situation in Prag so eine kleine Person mit einem Pflaster auf der Wange und mit zerzausten schwarzen Haaren und jemand richtet einen Bühnenscheinwerfer auf sie. Dann streiten wir, schreien wild durcheinander, stellen Vermutungen an, ob die nicht alles wieder rückgängig machen wollen und ob sie dazu überhaupt imstande wären. „Das würden sie gerne, mit der Armee, den Arbeitermilizen, aber sie haben nicht mehr den Mut dazu, das ist nicht mehr aufzuhalten!“ „Aber Vorsicht, aufgepasst, Ratten haben einen Wahnsinnsmut, wenn man sie in die Ecke treibt …“ Das kleine schwarzhaarige Mädchen fuchtelt mit den Händen, will noch was sagen, was in dem Geschrei jedoch untergeht, und so setzt sie sich.

Wir gehen sehr spät auseinander, kurz vor Mitternacht. Irgendwer vom Personal, der sich auch an der Versammlung beteiligt und auch seine Stimme erhoben und auch gestikuliert hat, lässt uns jetzt in die kalte Nacht hinaus. Auf dem Platz vor dem Haus der Kunst fahren die Autos los, aber eines, bemerke ich, wartet auf mich. Jetzt sehe ich bereits, dass es ein ehemaliger Klassenkamerad ist, ein Zahnarzt aus Tišnov. Dass er ebenfalls dort war, war mir in dem Gedränge gar nicht aufgefallen.

„Aber du fährst doch in die andere Richtung, oder nicht?“

„Quatsch, ich bring dich zum Mendel, das ist ein Katzensprung für mich.“

Aber da holt uns schon das kleine Mädchen ein. „Jungs, nehmt mich mit.“

„Und wo willst du hin?“, fragt Mirek. „Wir fahren jetzt zum Mendel.“

Das Mädchen nickt, dort wolle sie auch hin. Das wundert uns gar nicht in diesem Moment. Es ist das Mädchen, das uns die neuesten Nachrichten aus Prag mitgebracht hatte und das bei der Demonstration dort verprügelt worden war, und wir empfinden beide unermessliche Sympathie für sie und mehr interessiert uns jetzt nicht. Mirek stellt die Heizung an, und kaum rollt das Auto los und verlässt den Malinowskiplatz, setzen wir unsere wilden Vermutungen, was als nächstes und übernächstes kommen würde, schon wieder fort. Keiner von uns hatte so etwas bisher erlebt und wird es auch nie mehr erleben, dieses unbezwingbare Bedürfnis, die geradezu leidenschaftliche Gier, alles sofort und auf einmal auszusprechen und aus sich hervorsprudeln zu lassen, und in einem gewissen Augenblick wird uns bewusst, dass wir sogar in diesem Auto genauso schreien wie dort in dem großen Ausstellungssaal und dass wir hier genauso plötzlich verstummen, damit einer von uns mit langsamer und ruhiger Stimme zu einer Art Zusammenfassung ansetzen kann, ohne damit allerdings weit zu kommen, kurz darauf schreien wir alle drei schon wieder. Und einmal bleiben wir sogar stehen und Mirek stützt sich mit dem Ellbogen aufs Volant und dreht den Kopf zu uns, zu meinem Kopf und dem Kopf dieses kleinen Mädchens, das sich mit dem Kinn abstützt auf dem Sitz hinter mir. Und wir sprechen jetzt dermaßen grundlegende Dinge aus, dass man auf ihrem Fundament ein neues Gebäude der Organisation der Vereinten Nationen oder wenigstens ein Terrarium zur Alligatorenzucht errichten könnte. Dann setzen wir die Fahrt durch die finstere, nasskalte Spätnovembernacht wieder fort, ohne dass dies der Leidenschaftlichkeit unserer Reden Abbruch getan hätte. Als aber Mirek für mich am unteren Ende der Úvoz-Straße anhielt, in der Nähe des riesigen, nun bereits nächtlichen Schattens der gotischen Kathedrale, sagte das kleine Mädchen, auch sie würde hier aussteigen.

Mirek jedoch bot ihr sofort an, er könne sie bis zum Bahnhof mitnehmen, das läge ohnehin auf seiner Strecke. Das kleine Mädchen aber sagte, sie würde nicht nach Prag zurückkehren. Und beide legten wir das so aus, dass sie, wenn sie hier, am Mendel aussteigen möchte, selbstverständlich ihre Gründe dafür hat, die uns nicht zu interessieren haben. Und daher ließ Mirek die Rücklichter aufblinken und empfahl sich in den Smog und ich drückte diesem Mädchen die Hand und lächelte sie an und ging auf das hässliche Mietshaus in der Mitte des wenig geglückt planierten Mendelplatzes zu. Aber das kleine Mädchen wich nicht von meiner Seite.

Noch im Auto hatten wir uns alle geduzt, nun jedoch kam mir das unpassend vor. Ich fragte: „Also Sie haben hier wen? Am Mendel?“

„Ich hab hier niemanden“, sagte sie und verkroch sich noch mehr in ihren roten Manchestermantel mit Kapuze und begann vor Kälte zu zittern. „Ich war hier noch nie.“

„Mirek hätte Sie zu einem Hotel fahren können. Aber wissen Sie was“, schlug ich vor, „ich bring Sie gern zu einem.“

„Ich hab kein Geld für ein Hotel. Und ich will in kein Hotel.“

„Aha“, sagte ich, weil ich nicht wusste, was ich sagen sollte. Ich blieb stehen und schaute sie an. Wie sie da stand, eine große schwarze Tasche über die Schulter gehängt. Ihr einziges Gepäck.

KAPITEL ZWEI

Katkas Fallstricke waren, obwohl es sich bloß um ein Erstlingswerk handelte, schon längst ausverkauft. Im Jahr 1990 kam eine zweite, diesmal bereits sechzigtausend Stück hohe Auflage dieser Erzählungen heraus und bereits im März unterschrieb der Verlag Pfeffer und Salz für die Autorin – die sich gerade in New York aufhielt – einen Vertrag über neun weitere ausländische Ausgaben. Jene, die was davon wussten oder was zu wissen glaubten, stimmten darin überein, dass die Fallstricke eines der typischen Länder des einstigen sozialistischen Blocks beim Eintritt in die kapitalistische Welt darstellten und dass dies in einer Mischung aus brutal realistischen und magisch traumhaften Bildern geschähe. In meinen Augen ist das allerdings eine ziemlich simple Charakterisierung. Meiner persönlichen Meinung nach handeln die Fallstricke von Jungs und Mädchen, die sich von der Kette losgerissen hatten und sich jetzt so wild wie eine Herde asiatischer Wildziegen gebärdeten. Katka hatte das Glück, ihr Werk vorausblickend noch vor dem Fall der Berliner Mauer abgeschlossen zu haben, und dass der jetzt noch hungrige Buchmarkt es sofort nach der Wende verschlang. Und nach der Erzählung Du begehrst deines Nächsten Haus hatte man in einer französisch-tschechischen Koproduktion schon im Juli einen Film zu drehen begonnen.

Im September kam Katka von einem sechsmonatigen New Yorker Literaturstipendium zurück. Dozent Kvaš war extra nach Prag gefahren, um sie vom Flughafen abzuholen. Aber kaum hatte sie bei ihm zu Hause vorbeigeschaut, rannte sie gleich am nächsten Tag schon in die Pension Jenewein. Dort bestaunte ich dann ihre glatt rasierte Möse.

„Das ist dort jetzt ein Modetrend. Keine Angst, bald wirst du das daheim auch haben.“

„Hast du den Roman geschrieben?“

„Verdammt, was geht dich das an? Zum Kümmern hab ich einen Ehemann. Und wo hast du gehört, dass man bei einem Stipendium in New York einen Roman schreiben kann?“

„Und was ist mit Aids?“

„Ich bin doch nicht verrückt. Sämtliche New Yorker Lover hab ich mir vorher gründlich durchgekadert.“

Und dann ging ich mit diesem ungeheuerlich talentierten Biest Abend essen. Ich bin bloß ein Sportlehrer, der von Literatur nur „… das Täubchen rief zur Lieb herbei“ im Gedächtnis hat, aber durch eine mysteriöse Schicksalsfügung war es dazu gekommen, dass ausgerechnet ich vom ersten Augenblick an Katka ans Herz gewachsen war, womit ich nicht mehr sagen will, als dass sie in jener aufgewühlten nachrevolutionären Zeit mit mir am liebsten vögelte. Aber ihre Fallstricke hatte ich, gleich als sie zum ersten Mal herauskamen, am Abend im Bett zu lesen begonnen, dann die ganze Nacht darin gelesen und beim ersten Hahnenschrei ausgelesen gehabt.

„War ja sowieso umsonst. Was sollte gerade dir davon im Kopf hängen geblieben sein?“

Wieder kotzte sie mich an, wie nur sie es konnte. Ich hatte schon längst bemerkt, dass sie nach dem System Zuckerbrot und Peitsche arbeitete. Mit Riesenlust trat sie dir in die Eier, um sich dann hinzuknien und dir einen zu blasen. Aber genau so waren auch ihre Erzählungen. Erst nach ihrer genüsslichen Lektüre dämmerte einem, dass man es lieber hätte bleiben lassen sollen und dass man die Fallstricke besser gar nicht erst in die Hand genommen hätte. Das ganze Buch, die maschinenschriftliche Fassung dieses Buches, hatte sie bereits in jener großen schwarzen Tasche in jener Novembernacht mitgebracht, als ich sie zum ersten Mal sah. Damals wurde so ein Manuskript noch nicht zu einer winzigen Diskette komprimiert, sondern es hatte die Hauptlast der Tasche ausgemacht, in der sie darüber hinaus nur ein bisschen Unterwäsche, Papiertaschentücher, Kamm, Taschenspiegel und Föhn hatte. Sie war buchstäblich mit nacktem Hintern zu uns gekommen aus der hunderttürmigen Metropole, aber ehe sich noch zwei Vollmonde gerundet hatten, hielt dieser weibliche Homeless Hochzeit in der Sankt-Peter-und-Pauls-Kathedrale und ihr literarisches Schaffen gab an der Uni bereits den Stoff für mehrere Arbeiten ab.

Ein kleines Mädchen mit einem ausdruckslosen, wächsernen Gesicht und keinerlei Möpsen, schlicht ein Mädchen, nach dem sich nie auch nur ein einziger Mann auf der Straße umdrehte, das aber jetzt, gleich zu Beginn einer neuen Epoche, oder, wie damals fälschlicherweise gesagt wurde, genau am Ende der Geschichte, die Hälfte der europäischen Leserschaft zu begeistern verstand. Geschrieben hatte es das Buch noch während des Totalitarismus und damals ohne die geringste Chance, dass es jemand herausbringen könnte, und dabei handelte es sich absolut nicht um einen Schreckensbericht über die damalige, heute bereits längst vergangene Zeit, so was hätte nicht viele Leser gefunden. Dieses auf den ersten Blick nichtssagende Mädchen trug eine unglaubliche Gabe in sich: die prophetische Gabe der unheilverkündenden Sibylle und den legendären Schatz der Königin von Saba.

Gleich an diesem ersten Abend hatte sie mich in Verlegenheit gebracht, wie übrigens viel später noch unzählige Male. Aber an diesem ersten Abend hegte ich noch Sympathie für sie als zu dem Mädchen, das uns die neuesten Nachrichten aus Prag gebracht und das die Bullen bei der Novemberdemonstration verprügelt hatten. Und deswegen beschloss ich, mich in jener ersten Brünner Nacht um sie zu kümmern, und weiter werde man sehen.

In dem hässlichen Mietshaus am Mendelplatz bewohne ich mit meiner Familie eine Dreizimmerwohnung. Eine meiner Töchter (Kamila) lebt schon verheiratet am anderen Ende von Brünn und die zweite (Danka) hat hier noch ihr Zimmer. Obwohl wir mitten in der Nacht kamen, waren Jana und Danka noch nicht im Bett: Sie verfolgten gleichzeitig Free Europe und das Wiener Fernsehen. Ich stellte die Bettgeherin vor und sie nahmen sich ihrer gleich an. Und während Katka Rührei mit Zwiebeln speiste, trugen wir die Couch aus dem Wohnzimmer ins frühere Kinderzimmer und den Kram, den wir dort lagerten, schleppten wir raus.

Das Zimmerchen besaß einen eigenen Eingang vom Vorzimmer, sodass es abseits des Familienbetriebs lag, was für ein Kinderzimmer immer ziemlich ungünstig, für die Bettgeherin nun aber ideal war. Ich suchte sie noch auf mit der Armbanduhr, die sie im Badezimmer vergessen hatte, wo sie in den Dampfschwaden die Nacht schlecht überstanden hätte. Ich klopfte und sie forderte mich auf einzutreten. Ich öffnete die Tür, wollte sie allerdings mit einer Entschuldigung gleich wieder zuschlagen, aber sie zwang mich mit der Frage, ob ich noch nie eine nackte Frau gesehen hätte, einzutreten: Durch eine geschlossene Tür zu antworten, sei nämlich schwierig.

„Keine Angst, am Klopfen hab ich eindeutig erkannt, dass du das bist.“

In Verlegenheit brachte sie mich auch damit, dass sie weiterhin auf dem Duzen bestand, das ich ursprünglich nur als gelegentlichen Ausdruck unserer der Samtenen Revolution zu verdankenden Solidarität aufgefasst hatte, was in der wenig revolutionären Situation hier aber nichts mehr zu suchen hatte. Hatte mich allerdings, wenn auch nur kurz, das Gefühl beschlichen, auf ihr Duzen jetzt lieber doch mit ostentativem Siezen zu reagieren, wich es alsgleich der Scham, nachdem ich – ich stand an die geschlossene Tür gelehnt und Katka schlüpfte vor meinen Augen in ein großes, wahrscheinlich von ihrem Großvater stammendes Hemd – gesehen hatte, dass ihr ganzer Körper von blauen Flecken übersät war, wie man sie dort auf dem Wenzelsplatz mit Gummiknüppeln verprügelt hatte.

Sie zeigte mir, wo ich die Uhr hinlegen sollte, und als ich mich an ihr vorbei zur Tür zurückquetschen wollte, griff sie nach mir und machte mich darauf aufmerksam, dass sie sich, wenn sie als Kind im Pionierlager war, immer ein Gute-Nacht-Bussi vom Lagerleiter holte. In dem Moment gelangte ich schnell zu der Überzeugung, sie morgen, so große Achtung ich ihr gegenüber auch hegte angesichts ihrer hohen Samtenen-Revolutions-Moral, so schnell wie möglich loswerden zu müssen.

Und am Morgen frühstückte sie selbstverständlich noch mit uns. Es gab Brot mit Aufstrich, kernweich gekochte Eier und Kaffee. Katka benahm sich während des Frühstücks wie eine echte Dame. Sie plauderte ein wenig mit meiner Frau und dann wieder ein wenig mit meiner Tochter, mir schenkte sie nur ein Lächeln und das kernweich gekochte Ei öffnete sie mit einem Messerchen mit einer Eleganz, die sie sich nur an einem Königshof hatte abschauen können. Nach dem Frühstück blätterte sie in einem winzigen Kalender und äußerte mit einer Entschuldigung die Bitte, ob sie telefonieren dürfe. Ich ließ sie im Vorzimmer allein. Ich tippte auf ein Gespräch mit irgendeinem Brünner Bekannten, der sich ihrer jetzt, hoffentlich, annehmen würde. Und tatsächlich, sie zog ab und volle zwei Monate, bis zum Februar des darauffolgenden Jahres, wusste ich nichts von ihr und hatte auf ihre Existenz fast vergessen.

Ein Klassenkamerad aus dem Gymnasium, Adam Dvojbradý (ja, Doppelkinn, er heißt echt so, ihr findet ihn im Telefonbuch), hatte in Královo Pole, also in Königsfeld, die Pension Jenewein eröffnet, benannt nach einem Maler des 19. Jahrhunderts, der eine Zeitlang in Brünn gewirkt hatte. Nach Jeneweins Namen gegriffen hatte er, weil er von seinen Eltern ein imposantes Bild (er beschrieb es so: Blick aus der Vogelperspektive auf eine Stadt, in deren Straßen lauter weiße Fahnen wehen) geerbt hatte, welches ihm sehr gefiel und das er im Empfangsraum seiner Pension anzubringen gedachte. Ja, er hatte es sogar schon dort aufgehängt. Und gerade in jenen Tagen begegneten wir einander in der großen Fleischerei in der Kobližná, wohin uns beide die große Auswahl an Meeresungeheuern gelockt hatte. Etwas bisher bei uns Unerhörtes und etwas, was sich früher politisch Zuverlässige von Zeit zu Zeit von so weit weg wie vom Wiener Naschmarkt holen durften. Ich blickte bezaubert auf das riesige Aquarium, in dem sich große Hummer faul bewegten, einander mit den Barthaaren abtasteten und die Scheren von sich streckten, und ich nahm diese eingesperrten Wesen (paradoxer- und lustigerweise!) als endlich zu uns herpilgernde Freiheitsboten wahr und konnte mich nicht satt sehen an ihnen. Aber zurück zu Adam. Und so erfuhr ich von ihm nicht nur von der Pension, die er in Královo Pole eröffnet hatte, und nicht nur von dem Jenewein-Bild, sondern auch dass dieses Bild Teil eines Pest-Zyklus sei.

„Obwohl ich überhaupt nicht abergläubisch bin, ein Bild der Pest würde ich mir nie in einen Empfangsraum hängen.“

„Da müsstest du’s zuerst mal sehen. Es ist ein richtiggehend zauberhaftes Bild. Du würdest nie sagen, dass es zu einem Pest-Zyklus gehört.“

„Aber das muss dem Bild ja nicht anzusehen sein. Es reicht, dass es so heißt. Worte können furchtbaren Unfug anrichten. Davon kann ich als Sportlehrer ein Lied singen.“

„Komm und schau’s dir an und du wirst dir ein Urteil bilden.“

„Solange du dort die Pest hängen hast, bekommst du mich, lieber Adam, nicht zu Gesicht.“

„Stünde aber dafür zu kommen, zum Beispiel schon aus dem Grund, dass es eine ebenso einzigartige Pension ist, wie es diese Meeresungeheuer hier sind. Es ist nämlich nach langer Zeit wieder das erste Stundenhotel in Brünn.“

Drei Tage später rief er mich an: „Die Pest hab ich abgenommen. Fünfzehn dezent ausgestattete Zimmerchen. Im Erdgeschoss möchte ich ein Fitnesscenter einrichten. Ich würde mich gern mit dir beraten, was seine Ausstattung betrifft.“

Es war so ein unausgegorener Februartag, von dem man zu Recht nichts erwartet. Ich unterrichtete jetzt Leibesübungen, und um mich überhaupt durchzubringen, gleich an zwei Schulen. Eine von ihnen befand sich in Královo Pole, im Prinzip nicht weit weg von der Pension Jenewein. Also entschloss ich mich, heute dort vorbeizuschauen. Adam Dvojbradý war im Gymnasium mein bester Freund gewesen. Im Rückblick kommt es mir unbegreiflich vor, dass die Lehrer uns, die wir einander physisch so unähnlich waren, andauernd verwechselten. Schon allein deswegen, nämlich in Wertschätzung unserer falschen Doppelgängervergangenheit, sollte ich ihm einen Besuch abstatten.

Nach drei Stunden Turnunterricht duschte ich mich und verkrümelte mich schnell aus der Schule. Aber kaum war ich aus der Vackova in die Charvátská rübergegangen, passierte etwas höchst Seltsames. In der Charvátská, jedoch auf dem gegenüberliegenden Gehweg, stand ein kleines Grüppchen, das ich überhaupt nicht zur Kenntnis genommen hätte, hätte sich nicht plötzlich eine Frau davon abgesondert, die ich zuerst nur am äußersten Rand des Blickfelds flüchtig erfasste. Da allerdings registrierte ich bereits, dass sie auf dem gegenüberliegenden Gehweg zu laufen begann, mich überholte, um dann ein Stück vor mir auf meine Seite herüberzuwechseln, und hier machte sie dann kehrt und ging mir entgegen. Und schon versperrte sie mir den Weg, stand dicht vor mir, stellte sich auf die Zehenspitzen und küsste mich auf den Mund. Und ich wusste natürlich schon, woher ich dieses kleine Mädchen kannte. Diesmal schwarze Lederjacke, schwarze Jeans, ein grimmig funkelndes Armband und als ich die Augen niederschlug, bunte Schnürsenkel.

Sie zeigte auf das Grüppchen dort hinten, auf dem anderen Gehweg. „Das ist mein Dozent Kvaš und irgendein Kollege von ihm. Mit der Zeit stell ich euch vor. Aber jetzt hab ich einen besseren Einfall. Wolltest du nicht wohin?“

„Ja und nein“, sagte ich wahrheitsgemäß, weil es mich nicht gerade in die Pension zog.

„Warte, ich bin sofort wieder da.“ Sie drehte sich um und lief wieder zu dem Grüppchen. Und ich sah, wie sie schnell was erklärte, und dann kam sie, diesmal schon gemächlichen Schritts, wieder zu mir zurück.

„Gleich um die Ecke gibt es ein neues, sehr nettes Lokal. Es heißt Wohlleben. Ich bin dir ein Abendessen und ein Frühstück schuldig für damals bei dir daheim dort am Mendel. So eine Einladung kannst du nicht ablehnen.“

Jedes Treffen mit Katka – von denen mich später noch eine lange Reihe erwarten sollte – war immer mehr als ungewöhnlich, aber dieser Abend ist ja dennoch, um es so zu sagen, die Initiation für alle weiteren gewesen und hatte mich über die schnellste Abkürzung, im nachgerade rasenden Galopp durchgegangener Pferde, direkt ins Zentrum von Kateřinas Welt geführt.

Wir suchten uns einen Tisch vor einem Gobelin, auf dem ein Satyr zu Füßen einer schönen Nymphe saß, und aus der Krone der Eiche über ihren Köpfen starrten uns sieben Schleiereulen an. Und wir ließen uns beraten. Der Ober kannte Katka, sie war hier offensichtlich Stammgast, und vertraute ihr an, das beste seien heute die Ungarischen Rouladen und man müsse nicht auf sie warten (sonst nämlich würde ihre Zubereitung – vom Klopfen der Kalbsschnitzelchen bis zur geradezu ästhetisch ausgefeilten Endgestaltung mit Speck, Erbsen, Tomaten und Eidottern – eine hübsche Portion Zeit verschlingen), schon vor zwanzig Minuten nämlich hätten neun andere Gäste gleichzeitig Rouladen bestellt, sodass die zehnte – und der Ober verbeugte sich in Richtung Katka – und die elfte – und der Ober verbeugte sich auch vor mir – bereits problemlos in ihrem Geleit kommen könnten.

In der Zwischenzeit ließen wir uns das Bier in den großen Bayerischen Humpen schmecken.

Nie erfuhr ich, warum und wie es sie nach Prag verschlagen und was sie dort erlebt hatte. Vor Prag wurde einfach der Vorhang zugezogen und Katka, die sonst durch fast schon gespenstische Offenheit brillierte, fasste, als ich nicht locker ließ, Prag zusammen in den einzigen Satz, sie sei dort vom Jahre 1987 bis zu besagtem Novemberende gewesen, als wir uns im Brünner Haus der Kunst begegnet waren. Dafür jedoch offerierte sie mir bei den Ungarischen Rouladen (und anschließend bei einem gefrorenen Soufflé, von dem noch die Rede sein wird) in mustergültiger Zusammenfassung alles, was seit jenem Morgen geschehen war, als sie mit uns frühstückte und noch von mir aus telefonierte und dann für zwei Monate verschwand. Sie hatte damals den Bruder irgendeines Assistenten von der Philosophischen Fakultät angerufen und ihm die Maschinenschrift der Fallstricke gebracht und sich für eine Zeitlang zu ihrer Mama nach Vyškov abgesetzt und dort in der Gewissheit, lange warten würde sie nicht, geduldig gewartet. Nicht mal eine Kopie ihres Buches besaß sie damals, und in jenen stürmischen Zeiten hatte diese selbstbewusste Fatalistin sich darauf verlassen, der Assistent würde ihre Maschinenschrift vielleicht rein zufällig auf irgendeiner Seite öffnen und sie dann nicht mehr aus der Hand legen. Und genau so war es dann auch. Und jener schicksalhafte Ort war, wie der Assistent Katka später belustigt erzählte, sogar ein Fakultäts-WC. Immer wenn er ahnte, er würde ein Weilchen drin hocken, zog er sich nämlich aus dem Haufen, der dort bei ihm auf dem Schreibtisch lag, irgendeinen Band zum Durchblättern heraus.

Fakultätsintern tobte gerade ein Kampf und es stand gerade die Entscheidung an, ob die Fakultät es schaffen würde, sich rechtzeitig aus kommunistischer Vereinnahmung zu befreien, sich jener Kollaborantenmeute zu entledigen, und gerade jetzt hatten sich gerade alle in der Aula versammelt und jede erhobene Hand war bei der Abstimmung wichtig. Und Oberassistent Klofáč war nicht auffindbar.

„Also das ist ja zum Kotzen, du liest hier auf dem Klo irgendeinen Schrott, und in der Fakultät geht’s im Moment um alles!“

Klofáč verlor kein Wort und rannte, ohne die Maschinenschrift wegzulegen, in die Aula. Und nachdem er dann, wo er sie heben sollte, die Hand gehoben und in dem Moment, als er sie sagen sollte, ein paar entscheidende Worte gesagt hatte, verdrückte er sich sofort wieder unauffällig in eine Ecke der Aula und schlug die Maschinenschrift an der Stelle auf, wo er seit dem Augenblick, als er aus der Klokabine getreten war, die ganze Zeit den Daumen gehalten hatte.

Nach ein paar Tagen zirkulierten die Fallstricke dann schon in frischen Kopien in der Fakultät und allen war klar, dass dieses Manuskript ein mit all dem, was jetzt in Bewegung war, vergleichbares Ereignis war.

„Anfang Jänner schloss der Verlag, der mir das attraktivste Honorar und auch einen fetten Vorschuss anbot, also Pfeffer und Salz, mit mir einen Vertrag ab, ich zog von Vyškov in eine Garçonnière, die ich in Alt-Brünn gemietet hatte. Dort allerdings hielt ich mich nicht lange auf, weil sich bereits Mitte Jänner Dozent Kvaš hoffnungslos in mich verknallte, und ich heiratete unverzüglich und Ende Jänner kam nach Brünn auch der Agent einer New Yorker Stiftung angereist, die sich in den einstigen sozialistischen Ländern rührig die überzeugendsten jungen literarischen Talente heraussuchte, und schloss mit mir einen Exklusivvertrag für die amerikanische Ausgabe der Fallstricke ab und bot mir ein Halbjahresstipendium in New York an. Und so werd ich schon nächsten Monat der Freiheitsstatue die Zunge zeigen.“

„Fein und wie wär’s vielleicht mit Fremdsprachen?“

„Ich büffle schon Englisch seit einem Monat, von früh bis spät, heute sieben Stunden, gestern und vorgestern je zwölf. Und Kvaš hat für mich einen Muttersprachler für die Konversation aufgetrieben. Zdeněk, du kennst mich überhaupt nicht. Wenn ich will, dann durchstoß’ ich mit diesem Köpfchen jede Wand.“

Als dann der Ober als Aufmerksamkeit des Lokals ein gefrorenes Soufflé mit Ahornsirup und Nüssen brachte (man sah, sie suchten hier mit allen Mitteln Katkas Gunst zu gewinnen, genau wissend, wer sie war, und sie wissen lassend, dass sie es wussten), blickte ich dieses kleine Mädchen an, das ganz verwandelt war, und lauschte ihrem selbstbewussten Geplapper und konnte nicht glauben, dass es sich um dieselbe Person handelte, die ich damals in jener Novembernacht zu uns mitgenommen hatte wie ein aus dem Nest gefallenes Vögelchen.

Die Straßen waren menschenleer, entleert wie ausgeschüttete Kartoffelsäcke, um es ziemlich respektlos zu sagen. Dafür jedoch konnte man hier noch die Sterne sehen, etwas in einer richtigen Großstadt schon längst Undenkbares.

„Ich wohne am Slawischen Platz. Aber die Begehung meines Haushalts heben wir uns für ein anderes Mal auf, was meinst du. Du hast es ja ursprünglich irgendwohin eilig gehabt.“

„Ist aber nichts Wichtiges. Ich hab einem Klassenkameraden versprochen, einmal hier bei ihm vorbeizukommen und mir seine Pension anzusehen. Na keine ganz normale Pension. Er versucht nämlich, die Institution des Stundenhotels zu erneuern.“

„Die grundlegende Sache ist die“, empfing uns der Klassenkamerad, „dass ich hier eher tagsüber als in der Nacht tätig bin. Die Leute kommen zum Beispiel während der Arbeitszeit oder in der Mittagspause auf einen Sprung zum Bumsen her. Das heißt, Entschuldigung“ (entschuldigte er sich augenblicklich bei Katka), „das ist nicht gerade ein Job, mit dem ich vor einer Dame prahlen sollte, mit dem ich mich vor Ihnen in die Brust werfen sollte.“

„Werfen Sie sich ruhig in die Brust vor der Dame“, ermunterte ihn Katka, „und suchen Sie uns das beste Zimmer aus.“

Der Klassenkamerad schaute mich ein wenig überrascht an, zwinkerte mir dann aber gleich zu, als würde er sich entschuldigen, nicht sofort kapiert zu haben.

„Hier hing ursprünglich ein Bild des Malers Jenewein“, er zeigte auf die leere Wand der Rezeption, „aber Ihr Freund“ – erklärte er Katka – „hatte Einwände dagegen, obwohl es“ – das konnte er sich nicht verkneifen – „ein sehr schönes Bild gewesen ist.“

Ich jedoch hatte es in der Zwischenzeit schon geschafft, mich in meine unerwartete Rolle hineinzufinden, und ließ meinen Klassenkameraden merken, dass er uns nur mehr aufhielt. Im ersten Stock zögerte er, in welches Zimmer er uns führen sollte. Am Ende aber entschied er sich für die Vier. Die Dame schlüpfte ohne zu zögern hinein und ich folgte ihr.

„Die Ausstattung ist, wie der Architekt es nennen würde, minimalistisch. Aber in einigen Zimmern, die für exquisitere Besuche bestimmt sind, habe ich immer ein antikes Möbelstück hinzugefügt. Hier zum Beispiel diesen kleinen Empiretisch.“

Katka ging direkt zum Radiator: „Pusten Sie uns ein wenig heißen Dampf her, Hausherr.“

„Selbstverständlich, wird gleich gemacht. Ich wünsche einen angenehmen Abend. Aber wollt ihr euch nicht“ – er zögerte noch – „was raufbringen lassen … ich hab einen hervorragenden Chardonnay bei mir unten.“

Katka schüttelte den Kopf und der Klassenkamerad machte mir hinter ihrem Rücken eine aufmunternde Geste und verschwand. Ich mag es nicht, wenn Damen so schnell die Initiative übernehmen. Man kann sagen, dass ich es richtiggehend hasse. Aber da hatte ich bereits auch verstanden, dass das anders gar nicht geht mit diesem kleinen Mädchen.

Als dann jedoch alles, was geschehen sollte, geschehen war, lagen wir einfach nur mehr eine Weile da und lauschten, wie der Februarwind die kahlen Äste an die Fenster des Stundenhotels schlug.

„Willst du mein Zuhälter sein, Zdeněček?“

„Entschuldige, jetzt hab ich dich wohl nicht verstanden.“

Sie lachte. „Oh doch. Du wirst mich mit Männern bekannt machen, bevor ich mich hier allein zurechtfinde. An der Philosophischen Fakultät hab ich schon alles sondiert. Also dort ist das nicht so der Hammer. Aber keine Angst. In drei Wochen flieg ich in dieses New York. Womit du ein halbes Jahr Aufschub hast.“

Ich wohne, wie wir bereits wissen, am Mendel, was von Královo Pole mehr als eine Stunde Fußmarsch entfernt ist. Trotzdem beschloss ich, den Weg auf mich zu nehmen. Und zeitweise mit dem Februarwind im Rücken. Und der jagte mich dann durch die leere Straße wie das Segel einer alten Zeitung, um sich gleich wieder aus der Gegenrichtung gegen mich zu stemmen, und ich musste um jeden Meter mit ihm raufen. Ich ging zu Fuß, um meine Gedanken zu ordnen. Aber während der Scharmützel mit dem Wind war das einfach unmöglich. Nur wollte ich so sehr gleich jetzt verstehen, wer um Himmelswillen dieses kleine Mädchen war. Diese zweite Begegnung mit ihr war genauso wie die erste voller unverständlicher Momente und man kann wohl sagen auch Rätsel gewesen. Aber erst jetzt, beim zweiten Mal, war mir das richtig aufgefallen. Zum Beispiel verblüffte es mich, dass ich mir vom Liebesspiel mit ihr etwas, was ihrer herrlichen Vitalität, Spontaneität, diesen lebhaften Gesten und ihrer leidenschaftlichen Wildheit entsprach, erwartet hatte, sie vorläufig jedoch bloß sachlich auf ihren Orgasmus hinarbeitete. Und so war es, als würden zwei Katkas existieren: die beim Vögeln und dann jenes wundervolle weibliche Wesen vor dem Liebesspiel und nach dem Liebesspiel. Da allerdings spreche ich jetzt nicht mehr nur von jenem ersten Gejeneweine.

Ich bin ein altes promiskuitives Schwein, auch wenn nicht mein ganzes Leben darauf aufgebaut ist. Kein Frauensammler, aber trotzdem spielt Sex in meinem Leben eine sehr wichtige Rolle. Meine Frau weiß das vermutlich, obwohl ich meine Abenteuer sorgfältig vor ihr verberge. Die übrigen Frauen nämlich brauche ich nur zur Appetitauffrischung. Vielleicht rede ich mir das aber nur ein. Doch wie dem auch sei, beim Ficken mit Katka konnte ich mich des Eindrucks einer Art böser Leere ihres Gefühlslebens nicht erwehren.

„Heute warst du supergut, Zdeněček“, lobte mich meine Frau. „Ob ich aber nicht bloß das Dessert zu deinem heutigen Hauptgang bin?“

„Ach wo, Jani“, wehrte ich mich, „ein Dessert hatte ich schon. Ein gefrorenes Soufflé mit Ahornsirup in so einem neuen Lokal, dem Wohlleben. Eingeladen hat mich ein ehemaliger Klassenkamerad, der sich grad eine Pension eröffnet hat und einen Rat brauchte, wie er sein Fitnesscenter im Erdgeschoss ausstatten soll.“

Es war Vollmond. Er beleuchtete deutlich das ganze Zimmer, als ich aus dem Bett stieg und mir ein Glas Wasser holte. Aber ich sah überhaupt nichts, ich bewegte mich in schwärzester Dunkelheit. Ich stolperte über einen Hocker oder was Ähnliches und Jana rief mir zu: „So mach doch das Licht an, du wirst ja noch zum Krüppel.“

KAPITEL DREI

Ich leide an einem besonderen Typ von Nachtblindheit, der die Fachleute in Verlegenheit bringt, statt ihre Neugier zu wecken. Es bereitet mir keine Probleme, eine von Laternen miserabel beleuchtete Straße zu durchschreiten, aber in einer klaren Mondnacht, in der alle nahezu wie bei Tage sehen, bin ich verloren, wenn es gar kein künstliches Licht gibt. Ich sehe zwar hoch über meinem Kopf die Scheibe des Mondes, sein Licht aber nehme ich nicht mehr wahr: überall um mich herum nur undurchdringliche, breiige Dunkelheit.

Mit Katka traf ich mich regelmäßig unregelmäßig in der Pension Jenewein. Ich wusste auch von ihren weiteren Liebhabern, weil sie keineswegs ein Geheimnis daraus machte, und es störte mich überhaupt nicht, wenn sie von ihnen erzählte, ich war bloß froh, dass am Ende nicht ich sie ihr besorgen musste, dass sie damit alleine zurecht kam.

Sie durchlebte jetzt ihre gesellschaftlich extensivste und intensivste Phase (es existierten keine Zeitungen und Zeitschriften, in denen nicht wenigstens ein kurzes Interview mit ihr aufgetaucht wäre, bevor die große Sonne der Literatur bei uns definitiv unterging, schaffte sie es noch ihr Gesicht zu belichten), und auch fürstliche Honorare streifte sie ein. Ihre Medialisierung verbreitete berauschende Pheromone, ihr bis zu der Zeit nichtiger Sexappeal gewann schnell an Graden, sodass ein Schwarm Drohnen und Fickchampions sie zu bestürmen begann. Sie erklärte mir ganz sachlich, um gut schreiben zu können, benötige sie die permanente sinnliche Erregung, was im Sex für sie ein spezifisches und breites Repertoire bedeutete, vom „Goldregen“ bis zu all den noch sophistischeren Ferkeleien, für die ich nicht mehr den Magen habe, in dem Punkt bin ich ein sehr konservativer Herr. Wie allerdings schon angedeutet, dem ganzen obszönen Humbug um sie herum zum Trotz war sie durchaus keine phänomenale Geliebte, wenigstens wie ich es durch meine konservative Brille sehe. Vielleicht ging es ihr wirklich nur um diese „sinnliche Erregung“: Möglicherweise war der Sex lediglich ein Werkzeug im Dienst ihres literarischen Talents. Das heißt, ich weiß es nicht, ich verstehe nichts davon, wage es nicht zu beurteilen. Was mich an ihr wirklich interessierte, war eher ihre etwas freche spontane Persönlichkeit, das Plaudern mit ihr, ihre fantastische Fähigkeit, sogar von banalsten Dingen wie von galaktischen Expeditionen oder von den Punischen Kriegen zu erzählen. Übrigens war der Sex ja auch gar nicht so sehr der Grund, warum sie sich mich als Liebhaber hielt: Ich hatte schnell begriffen, das ich etwas wie ihr Beichtvater war, jemand, mit dem sie in aller Offenheit und ohne Skrupel über alles reden konnte. Vielleicht nur über Literatur nicht besonders, aber dafür hatte sie wieder andere Leute. Und vor allem, ich war in keiner Weise abhängig von ihr. Wäre sie total verschwunden aus meinem Leben, hätte ich das nicht als besonderen Verlust empfunden. Andererseits jedoch, bot sich die Gelegenheit, mit ihr auch längere Zeit zu verbringen, und vielleicht sogar irgendwo anders als im Jenewein, wehrte ich mich nicht dagegen.

Meine Frau (ausgestattet mit einem außergewöhnlichen Sprachtalent: perfekt Englisch, Deutsch, Spanisch, Russisch) sollte einen Job als Pressesprecherin antreten in einer Kette von Supermärkten, die gerade in Brünn eingeführt wurden mit jener Gründlichkeit, die für diese uns bislang unbekannte Welt der Großunternehmen charakteristisch war. Und so fuhr sie zu einem fünftägigen Kurs nach München, wo prompt ein Schulungszentrum für PR-Frauen aus dem ehemaligen Ostblock eingerichtet worden war. Und unsere jüngere Tochter Danka nahm sie mit. Ich begleitete sie zum Zug (sie fuhren über Wien), und als ich dann vom Bahnhof heimkam, fiel mir ein, dass ich schon seit zwanzig Minuten in der Pension sein sollte: Katka erwartete mich dort. Irgendwie hatte ich alles schlecht koordiniert im Durcheinander um Janas und Dankas Abreise. Ich traf daher mit beträchtlicher Verspätung ein, aber Katka saß trotzdem noch da. Mit meinem Klassenkameraden in seinem Büro, und als ich bei ihnen auftauchte, zwinkerte sie mir zu und beendete akkurat den Satz in dem netten Gespräch, das sie dort führten, und nahm den Schlüssel von unserer Vier und ich wiederum zwinkerte dem Klassenkameraden zu und wir gingen nach oben.

Und als ich dann mit meiner Ejakulation fertig war und Katka mit ihrem Orgasmus, plauderten wir. Sie war gerade von einem Stipendium im österreichischen Krems zurückgekommen. So verbrachte sie jetzt ihre Zeit: Lesungen im In- und Ausland, Auslandsstipendien und Vorträge wie auch Seminare bei den sich an unseren Schulen langsam einspielenden Kursen Kreativen Schreibens. Ihr Stern strahlte jetzt am intensivsten, obwohl von ihrem in Vorbereitung befindlichen nächsten Buch, dem Roman Gegen den Strich, fürs erste nur zwei ganz kurze Auszüge an die Öffentlichkeit gelangt waren. Aber darüber redeten wir nicht, für Gespräche über Literatur hatte sie, wie schon gesagt, ganz andere Partner. Und als ich erwähnte, meine Frau sei mit meiner Tochter nach München gefahren, fragte Katka, für wie lange denn.

„Also bist du eigentlich frei. Dann lass uns für ein paar Tage aus der Stadt verschwinden.“

Genüsslich beobachtete sie mein Zögern. Bisher hatten wir uns nur hier getroffen. Nachdem ich den Schuldienst quittiert und auf das Fitnesscenter in der Pension umgesattelt und es von meinem Klassenkamerad gemietet und mit den notwendigen Geräten ausstaffiert hatte, wurde die Pension Jenewein zur zweiten Heimat für mich und ihre festeren Kunden auch zu meinen Klienten, weil sie sehr schnell verstanden hatten, dass die geistigen Werte aus dem ersten Stock (das Rammeln mit schönen Damen) ergänzt werden mussten um die physischen vom Erdgeschoss (das Rammeln mit meinen Fitnessgeräten). Ich fühlte mich dort einfach zu Hause und Katka gehörte auch schon fast zum Hausinventar, und deswegen scherte obiger Vorschlag gewaltig aus all dem aus. Aber, wie ich schon sagte, ich wehrte mich nicht dagegen.