Einleitung
Daran kann sich Neuköllns Bürgermeister Heinz Buschkowsky noch
genau erinnern: Dass er »ausgelacht und durch den Kakao gezogen wurde«,1 als er vor fünf Jahren zum ersten
Mal öffentlich den Begriff Friedensrichter erwähnte und über eine islamische
Gerichtsbarkeit in seinem Berliner Stadtteil berichtete. Keiner wollte ihm
glauben, dass in Strafverfahren mit muslimischen Verdächtigen Streitschlichter
oder sogenannte Friedensrichter zwischen Täter und Opfer und deren Familien
vermitteln. Ihre Ziele: Sie wollen Konflikte zwischen den beteiligten Familien
entschärfen und privat regeln. Die Geschäftsgrundlage bei den meisten
Verständigungen: die Beweislagen zugunsten mutmaßlicher Messerstecher, Entführer
oder Erpresser verfälschen, um mildere Strafen oder sogar Straffreiheit für die
Täter zu erwirken. Das geschieht in erster Linie dadurch, dass Täter, Opfer und
andere Zeugen vor der Polizei oder bei Gericht Aussagen verweigern,
bagatellisieren oder sich nicht mehr erinnern können. »Es ist gang und gäbe«,
weiß der Neuköllner Lehrer und Psychologe Kazim Erdogan, »dass man Verfahren
beeinflussen möchte. Die Aussagen der Zeugen ändern sich von der Polizei bis zur
Hauptverhandlung.«
Was Bürgermeister Buschkowsky erst vor wenigen Jahren entdeckte, ist
einigen Berliner Strafverteidigern seit Jahrzehnten bekannt. Rechtsanwalt
Nicolas Becker entsinnt sich, 1975, gleich zu Beginn seiner Karriere, einem
türkischen Friedensrichter begegnet zu sein: »studiert, elegant gekleidet, mit
guten Beziehungen zu Polizei und Justiz«. Dieser Friedensrichter beschränkte
sich damals auf die Vermittlung bei Straftaten wie Betrug oder Körperverletzung.
Mit Tötungen wollte er nichts zu tun haben. Auch sein Anwaltskollege Detlef
Kolloge ist schon in den neunziger Jahren auf einen Streitschlichter gestoßen,
einen Palästinenser, der vorgab, eine wichtige Rolle in der europäischen PLO zu spielen. Der
Mittler wollte wissen, ob es sich positiv auf den Prozessverlauf auswirken
würde, wenn sich die Familien einigten. Es ging um eine hohe Schlichtungssumme.
Kolloge winkte ab. Eine Verständigung könne nach seinem Selbstverständnis als
Verteidiger das Verfahren nicht beeinflussen. Und im Übrigen gedenke er nach den
Regeln der deutschen Strafprozessordnung zu verteidigen.
Friedens- und Schlichtungsgespräche sind aus der organisierten
Kriminalität bekannt, bei der italienischen und bei der russischen Mafia, bei
Vietnamesen oder Rockerbanden. Im Sommer 2010 wurde zum Beispiel nach heftigen
Kämpfen in Hannover ein Rockerfrieden zwischen den Hells Angels und den Bandidos
geschlossen. Macht- oder Revierkämpfe und Blutrache können ohne
Friedensgespräche zu einer unendlichen Kette von Gewalttaten oder jahrelangen
Blutfehden führen, an denen letztlich keine der Parteien ein Interesse hat.
Die Schlichtung im muslimischen Kulturkreis hingegen hat ihre Wurzeln
in einer jahrtausendealten Tradition und besitzt deshalb eine gesellschaftliche
Bedeutung. In archaischen Zeiten gehörte sie zum Brauchtum arabischer Stämme und
ist später vom islamischen Recht aufgenommen werden. Die Schlichtung kommt
deshalb auch in der gesamten Bandbreite der Kriminalität zum Einsatz, bei
schweren Verbrechen wie Mord und Totschlag, bei Alltagskriminalität wie Betrug,
häuslicher Gewalt und Schlägereien und selbst bei Ehrverletzungen wie
Beleidigung oder Verleumdung.
Die Mehrzahl aller deutschen Richter, Staatsanwälte, Kriminalbeamten
und Strafverteidiger hat vermutlich noch nie von einem Friedensrichter oder
Streitschlichter gehört und ist ihm erst recht nicht in der Praxis begegnet. Das
ist kein Wunder. Die Streitschlichtung zwischen Opfer und Täter nach Straftaten
wird in Deutschland nur in Regionen mit einem großen muslimischen
Bevölkerungsanteil praktiziert – und in der Regel im Verborgenen. Es ist
eine Art Schattenjustiz, die ihre Wirkung am besten ohne Wissen der
Strafverfolgungsorgane entfaltet.
In muslimisch geprägten Städten und Regionen haben Kriminalisten und
Robenträger mittlerweile gemerkt, dass eine Paralleljustiz gegen sie arbeitet,
die sie freilich nur selten dingfest machen können. Sie ärgern sich im
Stillen – allenfalls noch in der Kantine –, wenn sorgfältig geknüpfte
Beweisketten plötzlich reißen oder wenn Angeklagte den Gerichtssaal überraschend
mit einem Freispruch statt mit einer Gefängnisstrafe verlassen.
Nur wenige haben den gefährlichen Einfluss von Absprachen zwischen
Tätern und Opfern im muslimischen Kulturkreis auf die deutsche Strafjustiz
bislang öffentlich angeprangert. Am deutlichsten hat das die verstorbene
Berliner Jugendrichterin Kirsten Heisig ausgesprochen: »Mich beschleicht …
ein ungutes Gefühl, denn das Recht wird aus der Hand gegeben und auf die Straße
verlagert oder in ein paralleles System verschoben, in dem dann ein Imam oder
andere Vertreter des Korans entscheiden, was zu geschehen hat.«2 Ebenso prononciert ist die Kritik
des Hannoveraner Kriminologen Christian Pfeiffer: »Ich habe zahlreiche Hinweise,
dass es vor allem in Städten eine Kultur der Schlichtung gibt, die nach den
Grundsätzen der Scharia abläuft. Makler mit hohem Ansehen fällen nach Anhörung
beider Seiten eine Art Richterspruch gegen Geld. Es ist typisch für eine
Parallelgesellschaft, dass sie auch eine eigene Justiz aufbaut.«
Ein exemplarischer Fall:3 Sie war noch Richterin auf Probe
im Kriminalgericht Berlin-Moabit, im zweiten Dienstjahr ohne viel Erfahrung. Die
Anklage, die sie im Juli 2009 zu verhandeln hatte, schien mit einer Reihe
aussagebereiter Zeugen gut unterfüttert. Der Tatort im Juni 2008: der Wohnwagen
eines libanesischen Gebrauchtwagenhändlers in Berlin-Kreuzberg. Melih M.4 wollte von einem Landsmann 17 000 Euro zurückhaben,
die er ihm für den Kauf von Autos in Italien geliehen hatte. Hamit S. jedoch
konnte oder wollte seine Schulden nicht bezahlen. Auf Vorschlag des
Friedensrichters Hassan Allouche trafen sich die beiden Streithähne zu einem
Gütetermin. Der verlief indes nicht gütlich. Der zahlungsunwillige Schuldner
erhielt unversehens einen Messerstich und erlitt eine einen Zentimeter tiefe
Fleischwunde. Voller Wut stellte er bei einer Polizeistreife, die sich zufällig
in der Nähe aufhielt, eine Strafanzeige gegen Melih M. Daraufhin wollte auch der
Geldverleiher eine Strafanzeige wegen Betruges gegen den säumigen Zahler
stellen. Davon hielten ihn aber, wie es in einem späteren Schriftsatz seines
Anwaltes hieß, »ältere arabische Mitbürger« ab, um »dortigen Sitten und Riten
entsprechend, das Problem intern zu lösen«.
Das versuchte der angezeigte mutmaßliche Messerstecher auch. Melih M.
bot seinem Opfer Geld an, wenn er die Strafanzeige zurücknähme. Als dieser sich
bockig zeigte, soll Melih M. den harten Weg eingeschlagen haben: Er soll seinem
Schuldner mit dem Tod gedroht und angedeutet haben, dass man auch seine Tochter
entführen könne. Parallel ließ Melih M. seinen Anwalt vortragen, dass sich der
Vorfall ganz anders abgespielt habe: Nicht er, sondern das Opfer habe ihn mit
dem Messer angegriffen. Er habe sich nur verteidigt und dabei müsse es zu dem
Unfall mit dem Messer gekommen sein.
Zwei Monate später hisste der säumige Schuldner die weiße Fahne. Sein
Anwalt teilte der Polizei mit, dass sein Mandant sich mit dem angezeigten Melih
M. »geeinigt« habe und sie »die Sache beenden« würden. Hamit S. verzichte »auf
seine Rechte, nimmt die Anzeige zurück und bittet, das Verfahren einzustellen«.
Im islamischen Recht kann eine Strafanzeige zurückgenommen werden, nicht aber im
deutschen Strafrecht, wenn es – wie hier – um eine gefährliche
Körperverletzung geht. Also mahlten die Mühlen der deutschen Justiz weiter.
In der Hauptverhandlung verweigerten die Zeugen entweder die Aussage,
relativierten sie (die Stichwunde war plötzlich nur ein »Kratzer«), oder sie
hatten nichts gesehen. Besonders unverschämt fand die Richterin den Auftritt des
Friedensrichters Hassan Allouche als Zeuge. Der erklärte der Jungrichterin
nämlich großspurig, dass eigentlich er als Friedensrichter für den Fall
»zuständig« sei: »Ich soll alle Probleme in der arabischen Gemeinde schlichten,
alle Nationalitäten kommen jetzt zu mir aus der gesamten Bundesrepublik«,
notiert das Gerichtsprotokoll den Beginn seiner Aussage. Allouche berichtete
über seine Vermittlungsversuche im Wohnwagen, aber nichts über seine Rolle als
Streitschlichter nach dem Messerstich. Die Ehefrau des Opfers schilderte
anschließend vage den Hintergrund des merkwürdigen Prozessgeschehens: Man wolle
sich vertragen. »Die Sache wurde vergessen. Mein Mann will keinen Streit.« Es
ist typisch, dass solche Verständigungen, und erst recht ihre Einzelheiten, für
Staatsanwälte und Richter im Dunkeln bleiben.
Die Richterin fühlte sich überfordert. Sie hakte nicht konsequent
nach, worauf man sich geeinigt hätte, und fragte sich, was wohl ältere Kollegen
an ihrer Stelle getan hätten: »Ich war völlig machtlos und alle guckten nur auf
den Friedensrichter.« Sie stellte das Verfahren wegen geringer Schuld ein. Am
Ende der Verhandlung überreichte ihr der Friedensrichter Allouche seine
Visitenkarte und fragte sie, ob man künftig nicht in dem einen oder anderen Fall
zusammenarbeiten könne.
Das Fazit: Ein arabischer Streitschlichter und seine Klienten
spielten mit der Berliner Strafjustiz Katz und Maus. Ein Bagatellfall, der sich
hierzulande in vielen Variationen auf allen Ebenen der Strafverfolgung und in
allen Kriminalitätsbereichen wiederholen kann, wenn Täter und Opfer aus dem
islamischen Kulturkreis stammen.
Im Gegensatz zur Blutrache oder zum Ehrenmord ist diese
Schattenjustiz eine bislang wenig beleuchtete Facette der muslimischen
Parallelgesellschaft. Ein ganzes Bündel von Fragen drängt sich auf. Wie
verbreitet ist die Schlichtung als Gegenjustiz zur deutschen
Strafgerichtsbarkeit? Mit welchen Mitteln behindert oder untergräbt sie unsere
Justiz? Welche Folgen hat die Nebenjustiz für die Kriminalitätsbekämpfung in
muslimisch geprägten Vierteln? Zementieren die »Richter ohne Gesetz« Strukturen
organisierter Kriminalität in arabischen, türkischen und kurdischen Milieus?
Stehen sich Scharia und deutsches Strafrecht in allen Bereichen unversöhnlich
gegenüber? Oder gibt es auch Bereiche, in denen beide Rechtsordnungen zum
wechselseitigen Nutzen verschmelzen? Und zum Schluss die wichtigste Frage:
Welche Handlungsmöglichkeiten gibt es, um die bisherige Ohnmacht des
Rechtsstaats gegenüber der islamischen Paralleljustiz zu überwinden?
Anmerkungen