Lea Korte
Sommernacht auf Mallorca
Eine Liebesgeschichte
ISBN 978-3-8412-0287-1
Aufbau Digital,
veröffentlicht im Aufbau Verlag, Berlin, April 2011
© Aufbau Verlag GmbH & Co. KG, Berlin
Die Originalausgabe erschien 2011 bei Rütten & Loening,
einer Marke der Aufbau Verlag GmbH & Co. KG
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Umschlaggestaltung capa, Anke Fesel
unter Verwendung eines Motivs von Susanne Wind / buchcover.com
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1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
10. Kapitel
11. Kapitel
12. Kapitel
Ein Wort noch …
»Warum reist man, wenn man nicht dazu gezwungen ist?«
Heute, da ich von den gleichen Breitengraden zurückkomme, die ich an einem anderen Punkt Südeuropas überschritten habe, gebe ich mir dieselbe Antwort wie bei meiner Rückkehr von Mallorca: Es geht nicht so sehr ums Reisen als vielmehr ums Fortkommen. Wer von uns hat nie einen Schmerz gekannt, den es zu vertreiben galt, oder ein Joch, das abzuschütteln gewesen wäre?
Nohant, den 25. August 1855
Notiz aus George Sands Roman »Ein Winter auf Mallorca«
»Ich habe viele Arten der Liebe kennengelernt: die Künstlerliebe, die Liebe als Frau, als Schwester, als Mutter, die Liebe zu Gott, die Dichterliebe und was weiß ich nicht alles. Manch eine Liebe ist noch am gleichen Tag, an dem sie das Licht der Welt erblickt hatte, gestorben, ohne sich demjenigen zu offenbaren, der sie erweckt hatte. Manch eine hat mein Leben zur Qual gemacht und mich in eine Verzweiflung gestürzt, die dem Wahnsinn nahe war. Einer anderen zuliebe führte ich jahrelang in der Abgeschiedenheit ein völlig dem Metaphysischen zugewandtes Leben. Mit alledem habe ich es wirklich ernst gemeint.«
George Sand (1804–1876)
Zitat aus: Brief an Albert Grzymala, Ende Mai 1838
Isabella legte den Sicherheitsgurt ab und schaute noch einmal aus dem kleinen Fenster neben ihr in das satte Abendrot des wolkenlosen mallorquinischen Himmels. Welch ein traumhafter Anblick! Bereits der Anflug eben war wundervoll gewesen: erst die Weite des Meeres, über ein paar vereinzelte Schiffe hinweg, so winzig klein, dass man sie für Spielzeuge hätte halten können, dann, schon im Landeanflug, die Aussicht auf die malerischen Buchten der Insel, im Hintergrund die erstaunlich üppig begrünten Berge, dann noch ein kurzes Stück über die Ebene und die sanfte Landung.
So ganz überzeugt war Isabella nach wie vor nicht, dass diese Insel der passende Ort für sie war, um abzuschalten und zu sich zu kommen, aber ihre Freundin Uschi, Reisekauffrau mit Leib und Seele, hatte ihr geschworen, dass sie genau hier am besten aufgehoben sei.
»Diese Insel bietet dir alles, was du liebst. Du wirst sehen: Das wird Erholung pur! Du kannst segeln, schwimmen, tauchen, wandern …«
»Und Ballermann?«, war Isabella ihr ins Wort gefallen. »Usch, ist denn da nicht überall die Hölle los?«
»Blödsinn! Die Insel besteht doch nicht nur aus einer Partymeile, sondern hat weit mehr als das zu bieten. Jetzt vertrau mir doch mal: Mallorca ist herrlich!«
Isabella seufzte. Vertrauen … Das fiel ihr zurzeit in der Tat schwer, selbst bei Uschi, mit der sie schon seit dem Kindergarten befreundet war und die sie noch kein einziges Mal enttäuscht oder betrogen hatte – im Gegensatz zu Axel, den sie zwar noch nicht so lange kannte, aber mit dem sie immerhin seit geraumer Zeit Tisch und Bett teilte, oder besser gesagt: geteilt hatte … und wegen dem Uschi sie ja hierher verfrachtet hatte. Ach, dass es auch keinen Zaubertrank gab, um solche Kerle einfach ein für alle Mal über Nacht zu vergessen!
»Mallorca ist ein Traum«, hatte Uschi ihr weiter vorgeschwärmt. »Häuser, so pittoresk wie in der Provence, Strände, so makellos wie in der Karibik, eine Sonne …«
»… so rund wie ein Fußball«, wiegelte Isabella den Enthusiasmus ihrer Freundin mit einer müden Geste ab. »Lass gut sein, Usch, ich gehe ja auf dein Eiland. Wahrscheinlich ist eine Insel ohnehin der beste Ort für eine Paartherapeutin, die selber nur gescheiterte Beziehungen aufzuweisen hat. Nicht umsonst sagt man, jemand sei reif für die Insel …«
Und so hatte sie sich von Uschi drei Wochen »Malle« buchen lassen, eine Suite im Vier-Sterne-Hotel in der Bahía Alcúdia mit Blick aufs Meer, vom Strand nur eine kleine Düne entfernt und »all-inclusive« – was sich zwar durchaus auf das leibliche Wohl der Gäste bezog, allerdings nur insofern, wie es um so profane Dinge wie Essen und Massagen ging. Männer waren in dem Preis nicht inbegriffen; andererseits hatte sie von denen vorerst ohnehin genug.
»Wir möchten Sie bitten, hier vorn auszusteigen. Bitte, hier entlang!« Die glockenhelle Stimme der Stewardess mit unüberhörbar spanischem Akzent holte Isabella zurück ins Hier und Jetzt. Die vordere Flugzeugtür wurde geöffnet, und die ersten Passagiere drängten sogleich nach draußen in den schlauchförmigen Gang. Auch Isabella erhob sich. Sie schlängelte sich zwischen die anderen Fluggäste und folgte ihrem Vordermann auf dem Weg ins Flughafengebäude in der Hoffnung, dass zumindest derjenige, dem sie alle folgten, wusste, wo sich die Kofferausgabe befand. Ihr Weg führte sie durch riesige Hallen und von einem Laufband zum nächsten, so dass Isabella allmählich das Gefühl bekam, der mallorquinische Flughafen müsse noch größer als der Frankfurter sein, von dem sie gerade kam. Als das fünfte, endlos lange Laufband vor ihr auftauchte, beschloss sie, eine Pause zu machen und einen Blick aus der hohen Fensterfront zu werfen. Sie wandte sich nach rechts – und prallte mit einem breitschultrigen Mann zusammen.
»Oh, Verzeihung!«, stotterte Isabella und sah in ein Paar äußerst blaue Augen.
»No problem«, meinte der Mann mit einem breiten Lächeln.
Isabella erwiderte es knapp und ging weiter, wurde aber sofort wieder gebremst. Verwundert sah sie sich um und erkannte, dass sich die Schnalle ihrer Umhängetasche im Tragegurt des Rucksacks des Fremden verheddert hatte. Sie trat einen Schritt zurück und versuchte, sie voneinander zu befreien.
»Es tut mir leid«, entschuldigte sie sich noch einmal und vermied es, zu ihm aufzublicken, zumal sie spürte, dass der Mann sie immer noch anschaute. Blaue Männeraugen waren derzeit die letzten, in die zu schauen sie ertrug, vor allem sooo blaue. Schließlich waren ähnlich blaue Augen der Grund dafür, dass sie jetzt hier war und auf ein paar höchst leidvolle Monate zurückblicken konnte.
»May I help you?«, bot er ihr an, doch Isabella wollte auch keine Hilfe. Sie wollte den Mann einfach nur wieder loswerden. Sie ärgerte sich, weil sie merkte, dass sie in ihrer Aufregung doppelt so lange brauchte, wie es eigentlich nötig gewesen wäre, aber endlich hatte sie die Schnalle doch gelöst. Ohne aufzusehen, nickte sie noch einmal in seine Richtung und eilte weiter. Sie hörte, dass der Mann ihr ein munteres »Hope to see you again!« nachrief, drehte sich aber nicht um, sondern ging auf direktem Weg weiter zu der Fensterfront. An einem Wiedersehen war sie ohnehin nicht interessiert.
Da Isabella nicht wusste, ob der Mann weitergegangen war oder noch immer zu ihr hinschaute, hielt sie ihren Kopf strikt gen Außenbereich gewandt und konzentrierte sich so sehr darauf, sich auf keinen Fall in seine Richtung zu drehen, dass sie nicht im Geringsten mitbekam, was sie eigentlich vor ihrer Nase erblickte. Erst als ihr nach ein paar Minuten mit Schrecken einfiel, dass ihr Koffer sicher schon ausgeladen war, wagte sie einen raschen Blick hinter sich und konnte aufatmen: Der Mann war weg. Sie hastete zurück zum fünften Laufband und hoffte, dass sich noch niemand ihres Koffers bemächtigt hatte und sie das Band, auf dem er seine inzwischen sicher recht einsamen Runden drehte, überhaupt fand. Zu ihrer Erleichterung tauchte im gleichen Moment ein Hinweisschild auf, und nach dem nächsten Seitengang gelangte sie tatsächlich in die Halle der Gepäckrückgabe. Suchend blickte sie sich nach einer Anzeigetafel um und hörte, wie hinter ihr ein Mann ebenfalls nach dem Band der Koffer der Lufthansa-Maschine von Frankfurt fragte. Doch nicht die Frage an sich veranlasste sie zusammenzuzucken – es war die Stimme. Ihr wurde gleichzeitig heiß und kalt, und in ihrem Kopf braute sich ein wirres Schwirren und Wummern zusammen. Axel! Das war doch … Axels Stimme!
Aufgepeitscht von Hoffnung und Angst schnellte Isabella herum, doch Axel stand nicht hinter ihr, und auch sonst konnte sie ihn nirgends entdecken. War sie so »reif für die Insel«, dass sie sogar schon Geisterstimmen hörte? Im gleichen Moment wiederholte der Mann, der nur wenige Schritte von ihr entfernt stand, seine Frage, und jetzt, als Isabella ihn ansah, fand sie, dass seine Stimme der Axels doch gar nicht so ähnlich sei. Trotzdem musste sie ihn weiter anschauen, so lange, bis auch er die Augen auf sie richtete und sie irritiert fragte, ob sie sich kennen würden.
»Ich, wir … Nein, nein, ich … es ist nichts«, stammelte Isabella. Hastig senkte sie den Kopf, womit sie sich zumindest ein wenig hinter ihrem langen schwarzen Haar verstecken konnte, und eilte zu den Kofferbändern weiter. Beim Näherkommen entdeckte sie auf einem der Bänder einen großen roten, allein kreisenden Koffer, der sich erwartungsgemäß als der ihre herausstellte. Mit einem kraftvollen Ruck nahm sie ihn herunter und zog ihn hinter sich her in Richtung Ausgang, aber dann versagten ihre Knie auf einmal den Dienst. Nur mit Mühe schaffte sie es noch bis zu einem der Stützpfeiler des Gebäudes, lehnte ihren Kopf dagegen und zwang sich, ruhig zu atmen. Axel! Wie ein Pingpongball knallte der Name in ihrem Kopf hin und her. Axel. Axel. Axel. Wie hatte Uschi beim Abschied gemeint? Sie solle froh sein, dass sie den untreuen Lügner los sei. »Besser ein Ende mit Schrecken als ein Schrecken ohne Ende! Bis du aus dem Urlaub zurückkommst, wirst du den Kerl vergessen haben und dich freuen, dass deine Wohnung wieder nur dir gehört und sich nun seine Neue über seine Weibergeschichten grämen kann.«
So verheißungsvoll sich dies auch anhörte – im Moment hatte Isabella noch heftigste Zweifel an der Erfüllung dieser Weissagung. Jeder zweite Mann erinnerte sie irgendwie an Axel, und überhaupt schien es hier von Männern nur so zu wimmeln. Mein Gott, worauf hatte sie sich mit dieser Reise nur eingelassen? Mallorca … Und wenn die Insel hundert Mal schön war und sie das Meer und die Sonne liebte, gern schwamm und wanderte und was auch immer – es gab hier eindeutig zu viele Männer. Es gab hier überhaupt von allem zu viel. Und wenn schon Mallorca, dann hätte sie nicht eine Hotelsuite buchen sollen, sondern höchstens eine Kammer in einer Kartause. Es gab hier doch so ein altes Kloster, oder nicht? Warum hatte Uschi sie nicht dahin verbannt? O mein Gott, stöhnte Isabella, was treibe ich hier bloß? Was soll ich hier? Wie habe ich mich nur auf diesen Urlaub einlassen können?
Sie stieß einen Schwall Luft aus und merkte, wie das Ehepaar, das nur wenige Meter von ihr entfernt stand, zu ihr hinsah. Das letzte, was ihr jetzt noch fehlte, war, dass jemand sie ansprach und ihr seine Hilfe anbot. Erschrocken richtete sich Isabella auf und schleppte sich weiter. Dass sie sich dabei auf die Lippen biss, um nicht loszuweinen, merkte noch nicht einmal sie selbst.