Clemens J. Setz     Söhne und Planeten

Clemens J. Setz

Söhne und Planeten

Roman

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für Julia

Kubische Raumaufteilung

Ich, sagt die lächerliche Figur zwischen den Buchdeckeln, bin das Alter Ego eines lebensunfähigen Phantoms. Um seinetwillen muss ich über die Seiten dieses misslungenen Meisterwerks geistern, würdelos und angeschlagen, in diesem endlosen, eiförmigen Purgatorium. Die schreckliche Welt, ha! – ein Möbiusband mit einer lachenden und einer weinenden Seite!

v. s.

1
Heimkehr

Ein grauhaariger Mann stand klatschend in der Herrengasse. Obwohl es leicht regnete und viele Passanten Schirme wie buntfarbige Sprechblasen über ihren Köpfen spazieren trugen, schaute der Mann in den Himmel und spendete ihm Beifall. Die meisten Menschen wichen der seltsamen Erscheinung aus. Viele wurden auch langsamer, als sie näher kamen, und suchten nach einer Sammelbüchse oder einem Hut, in die man Münzen werfen konnte. Aber da es nichts dergleichen gab, blieb ihnen nur übrig anzunehmen, dass der Mann ein Verrückter war. Ein Kind, das an der Hand seiner Mutter ging, begann ebenfalls zu klatschen, als es den Mann bemerkte. Die Mutter griff sofort ein und bog die Hände des Kindes wieder auseinander. Dabei fiel ihr der Schirm auf den Boden.

René Templ trat versehentlich auf den Schirm, stolperte und stieß gegen die Einkaufstasche der Frau. Er entschuldigte sich und hob das Ding auf, putzte es umständlich ab und gab es ihr zurück. Templ schaute ihr nach, als sie die Straßenseite wechselte. Der Schirm hatte ein wenig an Symmetrie eingebüßt und eierte, wenn man ihn drehte.

Nichts bleibt für lange Zeit unversehrt.

Das Bild in Natalies Wohnung war aus dem Rahmen gefallen und sie hatten es gemeinsam wieder an seine Stelle gehängt. Das hatte zwei Stunden gedauert. Danach war nur mehr Zeit für eine kurze Umarmung geblieben. Er hatte seine Hose anbehalten.

Ein merkwürdiges Bild: Ein endloser Raum, angefüllt mit den immer gleichen geometrischen Figuren. Würfel, miteinander verbunden durch längliche Quader.

Der Weg nach Hause führte ihn jeden Tag durch die Innere Stadt. Er liebte diesen Stadtteil, weil er sehr weit von seiner Wohnadresse entfernt lag. Wenn er von dieser wohltuenden Ferne wieder genug hatte, fuhr er mit der Straßenbahnlinie 7 bis zur Eggenberger Allee. Hier, versteckt zwischen zwei imposanten Mehrfamilienhäusern, wohnte er in einem kompakten, aber immerhin zweistöckigen Haus. In der kleinen Auffahrt stand eine alte, rostige Wäschestange, auf der sein Sohn früher geturnt hatte. Jetzt freilich ging das nicht mehr.

Den Garten ließ er, so gut es ging, verwildern. Ein Vogelhäuschen gab es dort, das er nicht gebaut hatte. Am Haus selbst hatte er kaum jemals etwas reparieren müssen. Und in einem dicken Zementblock eingemauert kauerte ein Gartengrill, den er noch nie verwendet hatte. Sein Leben hier war das des fantasielosen Nachmieters.

Spuren hinterließ René Templ nur in seinem Arbeitszimmer, und auch da nur in kleinen überschaubaren Ausmaßen. Er tippte auf der Schreibmaschine seine handtellergroßen Geschichten, die er dann anschließend in stundenlanger Arbeit revidierte oder in ausführlichen Selbstgesprächen kommentierte. An Programme zur Textverarbeitung und deren unberechenbares Verhalten hatte er sich nie gewöhnen können.

Vom Fenster aus sah man direkt auf die Allee. Es war ein beinahe quadratisches Fenster mit einem einzigen Flügel; das war eine Besonderheit des Arbeitszimmers. Das Foto auf dem Schutzumschlag von Templs letztem Buch zeigte sein ernstes Gesicht im Rahmen dieses Fensters. Der Fotograf hatte lange gebraucht, bis er die halbtransparente Reflexion eines Baumwipfels mit auf dem Bild hatte. Im Rest des Hauses gab es nur doppelflügelige Fenster.

Das Angenehme an den Häusern in dieser Straße war die Ellbogenfreiheit, die sie hatten. Kein Schulter-an-Schulter-Stehen wie bei einer zum Appell angetretenen Schulklasse. Man konnte es, wenn man rastlos war oder es im Haus nicht aushielt, lange umrunden und sich gut überlegen, ob man wieder zurückkehren wollte.

Kevin kam aus der Toilette. Er war entsetzlich müde. Um die Ecke, in ihrem Zimmer saß seine Mutter am Telefon und sprach mit einem Immobilienmakler: – Aber wenn man dieses Geld jetzt einfach nicht hat … wenn niemand was unternimmt – Ja … ja, ich verstehe, das ist klar, das müssen Sie mir nicht erklären … Ja … gut … aber wenn das Schicksal – Ich verstehe. Gut, gut, in Ordnung –

Dann hörte man die Gartenpforte, ein Geräusch wie das Zähneknirschen eines Säuglings. Sein Vater kam. Schnell verschwand Kevin in seinem Zimmer. Er setzte sich auf sein Bett und ließ seinen Körper zu Atem kommen. Verdammtes Treppensteigen.

Warum willst du immer das gleiche Gespräch führen? Warum?

Der Satz wartete in ihm, wärmte sich auf, trat von einem Ski auf den anderen. Templs Herz schlug wild und unwillig.

Was würde sie ihm diesmal vorwerfen? Weshalb triffst du dich die ganze Zeit mit diesem Karl Senegger? Seit du ihn kennst, bist du ganz verändert! Du bist so streng und … verschlossen. Alles kaputt machen, immer. Senegger nahm ihn wenigstens ernst, aber sie? Und Natalie?

Licht im Zimmer von Kevin, stellte er fest. Sitzt sicher noch über seinen Büchern. Oder nein, die Kurzatmigkeit, die so genannte. Wahrscheinlich schon im Bett. Starrt zur Decke. Zählt die Flecken und gibt ihnen Namen berühmter Entdecker.

Die Tür wurde ihm geöffnet.

– Endlich, ich muss mit dir reden, gut, dass es nicht noch später –

In der Aufregung verschluckte er den vorbereiteten Satz. Seine Frau redete schnell weiter:

– Heute hat er sich nicht einmal mehr selbst anziehen können, so müde war er. Müde, hast du das verstanden: müde. Ich meine, richtig, nicht bloß schläfrig. Du hättest ihn sehen sollen, die Augen sind ihm einfach zugefallen. Und im Auto ist er mir eingeschlafen, und ich bin mir sicher, dass er auch im Unterricht schläft.

– Aber die Lehrerin weiß doch –

– Ja, natürlich, wandte sich seine Frau von ihm ab, und wie durch ein Wunder blieb die Schürze, die sie trug, für einen Moment stehen, drehte sich nicht mit. – Das ist typisch! Genau das hab ich mir gedacht! Du sagst einfach: Die Lehrerin weiß doch Bescheid. Als würde das irgendwas ändern! Und sie riss sich die Schürze vom Leib.

Templs erster Impuls riet ihm zur Umkehr. Warum willst du immer das gleiche – Er hatte Angst vor seiner Frau.

– Ich, ich akzeptiere das nicht länger. Du wirst dich endlich den Tatsachen stellen, sagte nun seine Frau mit veränderter, dunklerer Stimme. Du wirst das endlich einmal einsehen und nicht immer auf Nebensächlichkeiten herumreiten!

– Ja, ja, ich –

– Es ist der Sauerstoff!

– Aber jeder ist einmal müde … besonders natürlich –

– Das glaub ich einfach nicht! Diese Ignoranz – Bei seinem Schulkollegen war es genau dasselbe! Du warst doch damals bei diesem Schriftsteller eingeladen, dessen Frau ebenfalls an einer Lungengeschichte gestorben ist.

– Das war doch etwas anderes.

– Ah, ja, an dem Tag darf niemand rütteln, was? Da hast du diesen Karl Senegger kennen gelernt, der dich jetzt unbezahlt für seine Dienste einspannt.

Obwohl sie Unsinn daherredete, hatte sie mit einer Sache Recht: Er mochte es tatsächlich nicht, wenn sie an diesem Tag herumnörgelte. Sie war nicht dabei gewesen und hatte keine Ahnung, was er für ihn bedeutete. Das Abschiedsfest für das alte Landhaus des Dichters Ernst Mauser. Er erinnerte sich noch genau an den blassblauen Swimmingpool, an die alten Männer im Wasser, die als Gäste eingeladen waren. Und Karl Senegger, der mit ihm über die Zukunft der Kultur und allerlei andere Dinge diskutiert hatte. Am Ende hatte er Templ gebeten, sich ein paar Manuskriptseiten anzusehen. Von wem? Von seinem Sohn. Der sei soeben gestorben.

– Das war etwas vollkommen anderes, glaub mir, sagte er langsam.

Sie hielt das Hautstück über der Nasenwurzel mit zwei Fingern fest. Konzentration, ganz ruhig. Ihr Zeigefinger schnellte nach vor:

– Du! Du hättest es in der Hand, schrie sie. Verdammt noch einmal! Warum tust du nicht, was du tun kannst? Für dein Kind …

– Es muss doch … auch für uns … passen, sagte Templ, und in dem Wort lag so viel ehrliche Selbstpreisgabe, wie er aufbringen konnte.

Aber es hatte keine Wirkung. Es gelang nie, aber auch wirklich nie. Die Anzeigen für Immobilien, das war jetzt die Strafe, die ihm bevorstand. Der Rotstift, die lästige Arbeit des Einkreisens, stotternde Telefonate mit Maklern. Für so etwas heiraten … Verschwendung von Energie. Dabei könnten sie es so schön haben.

Am besten auf die Toilette. Er setzte sich in Bewegung. – Himmelherrgott, er war noch nicht einmal dazu gekommen, die Schuhe auszuziehen. Aber Gott sei Dank hatte sie den verbotenen Schritt über den Teppich nicht bemerkt. Schnell zurück.

Sie kam mit der vorwurfsvoll gefalteten Zeitung zurück. Sie faltete sie auf und blätterte umständlich beim Gehen, ignorierte herausfallende Werbezettel und blieb vor ihm stehen.

– Wo, wo willst du hin?

– Nur kurz aufs Klo.

Seine Stimme war das Feigste an ihm. Sie verweigerte seit einiger Zeit häufig den Gehorsam. Wenn er brüllen wollte, brachte sie, eine lahme Rebellin gegen seinen Körper, nur ein konzentriertes, beschleunigtes Flüstern hervor. Als hätte sie Angst, jemanden aufzuwecken. Aber Kevin schlief ohnehin fast nicht mehr, sondern lauschte stattdessen auf das Auf- und Abschwellen der ineinander verbissenen Stimmen seiner Eltern, unten im Haus.

Wie lange habe ich gespart, bis wir uns dieses Haus leisten konnten?

Templ öffnete den Gürtel, ließ die Hose herunter und befühlte sein Glied, das kraftlos da hing wie ein Erhängter. Ruck am Nacken. Alraunen.

Nächtelang geschrieben … Rezensionen … Kritiken, Manuskripte … Streitgespräche mit Verlegern, den zweitempfindlichsten Menschen der Welt … und dann, das bisschen Glück mit diesem Senegger und dem Projekt, an dem er mich mitarbeiten lässt … Der Nachlass meines Sohnes, nur ein paar Manuskriptseiten. Ich brauche da jemanden, der sein Handwerk wirklich versteht. Natalie kennen gelernt, Wimpernakrobatin …

Er streichelte sich ein wenig, zur Beruhigung und um sich abzulenken, und als sein Glied endlich nachgab und sich aufrichtete, ging er über zu Pumpbewegungen. Sie sahen so lächerlich aus, dass er zur Decke schauen musste, um seine Erregung nicht zu verlieren.

Risse im Verputz. Das Gitter der Lüftung.

Was wäre schön, was wäre …

Noch reagierte sein Körper nicht. Die rettende Welle der Erregung entlang der Wirbelsäule blieb aus. Seine Hand schüttelte weiter tapfer sein Glied. Templ begann zu schnaufen, aber davon wurde ihm nur schwindlig und er hielt einen Moment inne. Sein Penis glotzte ihn dumm an.

Nächtelang … hab ich … nächtelang

Er begann von vorne, schnelle Schüttelbewegungen, die Vorhaut über der Eichel ging auf und zu – das Maul eines Fisches. Er blickte auf die Seite, auf die oblatenförmigen Seifenstücke, die sich im Waschbecken langsam auflösten. Er musste unwillkürlich an Verdauung denken und seine Erregung flachte wieder ab.

Er schloss die Augen.

Was wäre schön … Eine Frau mit kurzen Haaren, mit Glatze, mit gepiercten Augenbrauen… Blas mir einen … steck ihn weit rein, bis du würgst –

Es klopfte. Seine Hand gefror.

War sie die ganze Zeit vor der Tür gestanden? Hatte sie sein Schnaufen gehört? Er hielt still, reagierte nicht.

Geschlossene Augen, ein Gesicht, ein offener Mund, geschminkte Lippen. Kirschförmig. Fick sie, fick sie. Bis hinunter zu den Mandeln, dass sie würgt … Fick die Kirsche! Und leg eine Hand auf ihre Glatze und beweg ihren Kopf vor und zurück – Ah, ja … Da er nun versuchte, völlig lautlos zu masturbieren, verkrampfte er sich zunehmend und seine Vorhaut begann ihm wehzutun. Er war dieses heimliche Ritual tatsächlich nicht mehr gewohnt. Aber gerade in dem Moment, da er die Hoffnung schon aufgeben wollte, kehrte die Erregung, ein kleines, rettendes Notsegel, das sich in ihm aufspannte, zurück. Er faltete mit seiner freien Hand das Taschentuch auseinander, sehr langsam, dann hielt er es vor sich hin und zielte. Zwei dünne Fäden Sperma landeten auf seinem Finger. Er versuchte, das weiße Zeug aufzufangen, aber es tropfte auf den Boden, auf den grünen, halbmondförmigen Teppich vor der Klomuschel. Fluchend bückte er sich nach dem Fleck und wischte darauf herum. Dabei geriet sein Penis an sein Hemd, blieb kurz kleben. Herrgott, der Samen eines alternden Mannes war wirklich wie Kleister, zäh, dickflüssig, ganz anders als die jugendlichen zahnpastaweißen Enterhaken, die er über die Brüste und das Gesicht und den Hintern verschiedener Frauen ausgeworfen hatte. Die Erinnerung brannte in ihm, eine mulmige Nische voll heiliger Artefakte, teurer Erinnerungen und geheimer Triumphe. Das Mädchen, das ihn als erstes ihre Brustwarzen in den Mund nehmen ließ. Sie rochen und schmeckten ein wenig nach Schweiß, dazu hatte sie ein paar Härchen, die kranzförmig um ihre dunklen Brustwarzen standen und ihn an der Lippe kitzelten. Aber trotzdem …

Er wischte vergeblich. Der lästige Fleck war, wie alle Dinge, denen man die Chance gibt, Beweismittel zu sein, sofort unauslöschlich geworden: ein Makel.

Er richtete sich auf und sah sich in seiner Zelle um. Ein Waschbecken gab es, einen Handtuchhalter, keine Fenster. Auch einen kleinen Schrank mit Medikamenten, der im Badezimmer keinen Platz mehr gefunden hatte.

Was hatte ein Umzug in ein anderes Haus für einen Sinn? Es war doch überall dasselbe: Vier Wände, die einen Raum einschlossen, in dem man sich vor den Gezeiten verstecken konnte. Würfel, das war es, nichts anderes, Würfel in der Landschaft. Davon wurde keine Krankheit besser. Man tauschte einen Würfel gegen einen anderen, das war alles.

Er öffnete die Tür einen Spalt weit und schaute hinaus. Der Flur war leer und dunkel. Seine Frau musste bereits ins Bett gegangen sein.

Scham empfing ihn, vermischt mit frischer Luft, als er aus der Toilette trat. Sinnlose Vergeudung von Kraft. Er schwitzte. Er fühlte das Alter in seinen Knochen und knackte mit den Fingergelenken. Irgendwann würde er noch auseinanderbrechen wie altes Brot.

Er fand seine Frau schlafend, quer über beide Seiten des Betts. Der Anblick war komisch, andererseits ärgerte es ihn, dass sie nach so vielen Jahren noch immer nicht die einfachsten Begrenzungslinien verinnerlicht hatte. Er begann, an ihren Beinen zu ziehen, dabei stellte er fest, dass sie Krampfadern hatte, und er erschrak davor, ohne genau zu wissen, warum. Er brauchte eine Weile, bis er den richtigen Griff gefunden hatte, dann ging alles ganz leicht und er hievte die Beine seiner Frau auf ihre Betthälfte zurück. Bestimmt war sie davon aufgewacht, aber das war ihm egal. Sie hatte ihr Stichwort schon verpasst, sie würde nichts mehr sagen.

Templ legte sich hin und betastete durch den Stoff sein Glied, das sich ein wenig wund anfühlte. Er trug immer noch seine Hose und das Hemd. Egal, dachte er. Ich bin nicht schuld. Aber schuld woran? – das spielte keine Rolle mehr.

Sein schlaftrunkenes Gehirn zeigte, wie jeden Abend, eine Zusammenfassung der vergangenen Ereignisse und fügte ein paar erstaunliche Details hinzu. Ein Glasauge im Schnabel eines Vogels, der aus einer Kuckucksuhr heraussprang. Ein Sortiment Golfschläger, die die Köpfe zu vertraulichen Beratungen zusammensteckten. Mäuse, die in einem Briefkasten verschwanden. Ein Keyboard, das nur aus der Ziffer 3 bestand …

Den Schauspielern und Komparsen des vergangenen Tages sagte er die Dinge, die er hätte sagen wollen, er formulierte neu, versuchte es mit anderen Tonfällen und Gesten. So lange, bis er alle, denen er bei Tageslicht nicht gewachsen war, in die Knie gezwungen hatte. Und wie sie sich nun alle bei ihm entschuldigten, einer nach dem anderen – er badete in der Bestätigung seiner heimlichen Überlegenheit. Er war redegewandt, er besaß Geschmack, er war mächtig. Und er war ein anständiger Mensch. Alle entschuldigten sich bei ihm und waren froh, mit einem blauen Auge davongekommen zu sein.

Dann fühlte er plötzlich einen Sog nach unten, er drohte zu fallen, er fiel, sein Kopf fiel nach hinten – er schreckte hoch. Manchmal erwies sich die Schwelle des Einschlafens als gefährlicher, als man dachte. Mitten in einer federleichten Balance-Fantasie konnte man von einem Motorrad, das über ein gespanntes Seil lief, abgleiten, nach links … Oder der Rand eines Gehsteigs entpuppte sich als die steile Wand eines Canyons … Er blinzelte, um sich zu beruhigen. Dann rollte er sich auf die andere Seite. Der Atem seiner Frau ging regelmäßig, also war er ganz allein im Zimmer. Verlassen.

Er setzte sich im Bett auf. Das ungesunde Licht im Nachbarhaus lehnte von außen an den Vorhängen. Die Nachbarn ließen oft nächtelang alle Lichter brennen. Merkwürdige Familie. Der Vater ständig besoffen. Und die Mutter geht oft mitten in der Nacht mit dem Hund spazieren.

Die Anstrengung in der Toilette hatte ihn aufgeregt. Er würde bestimmt lange wach liegen. Also war es wohl das Klügste, er stand gleich auf und beschäftigte sich mit irgendwas. Seltsam, dass in der Nacht jede Betätigung, jeder Zeitvertreib einen Hauch von Gesetzesübertretung besaß. Templ überlegte in der Dunkelheit, was er tun konnte. Er könnte weiter an seinem Artikel über die unerforschte Verwandtschaft zwischen Kohärenz und Mitleid arbeiten. Aber einen Teil davon in der Nacht zu schreiben, während der Hauptteil am Tag verfasst worden war, in hellen, konzentrierten Mittagsstunden, würde dem Werk eine traumdeuterische Schwäche geben. Alles in der Nacht Geschriebene richtete sich, wenn man es nur gewähren ließ, gegen Logik und Wissenschaft.

Vielleicht irgendeine mechanische Arbeit. Etwas schnitzen vielleicht. Er lächelte über diesen Einfall. Einmal, als Kind, war er gar nicht so schlecht gewesen in diesem Metier. Eine kleine Mondkatze, ein grimmiger Zwerg, ein weidendes Reh. Wo waren eigentlich all seine Figuren geblieben? Vermutlich faulten sie auf dem Dachboden dahin.

Irgendein Spiel? Ein Puzzle zusammenlegen? Langweilig. Die Dartscheibe im Keller montieren? Vielleicht. Er setzte die Füße auf den kalten Schlafzimmerboden, um zu sehen, wie sich dieser Gedanke anfühlte. Ja, das konnte er versuchen.

Würde er jemanden aufwecken, wenn er den Nagel einschlug? Aber die Wände da unten waren weich, es würde schon ohne großen Krach gehen.

Er schlich aus dem dunklen Schlafzimmer in den schmalen Vorraum, wo Mäntel, Jacken und aufgeblähte Rucksäcke wie Insektenlarven an der Wand hingen. Er zog die Hausschuhe an und stieg über die Wendeltreppe hinunter in den Keller. Eine 100-Watt-Glühbirne, die nackte und leidenschaftslose Abstraktion einer Lampe, hüllte den Kellerraum in grellgraues Licht. Die Dartscheibe lagerte zuoberst in einem großen Bücherregal aus Metall, das er einmal günstig bei einem Garagenverkauf erstanden hatte. Es stammte aus einer aufgelösten Blindenbibliothek und roch stark nach Desinfektionsmittel.

Sehr dumm, die kleine Stehleiter war oben, im Zimmer seines Sohnes. Lieber nicht stören. Den armen, kleinen Sklaven seiner Atmung.

Templ versuchte, seinen Körper in die Höhe zu strecken, aber er gelangte gerade einmal bis zum vorletzten Regalboden, auf dem giftige Farbdosen standen und ihre Etiketten abschwitzten. Er blickte sich nach etwas um, auf das er sich stellen könnte. Es gab einen kaputten Sessel, ein Fahrrad und einen großen Gesundheitsball aus Gummi. Einen alten, einsturzgefährdeten Fernseher. Eine Familie zusammengerollter Landkarten.

Nichts zu machen.

Er versuchte es noch einmal aus dem Stand, streckte sich und balancierte auf einem Fuß, auf den Zehen, aber diesmal langte er überraschenderweise nur mehr bis zu dem Stapel Modemagazine, auf die von oben Farbe getropft war. War er plötzlich geschrumpft? Er hüpfte einige Male auf und ab, knackte mit seinen Gelenken und rotierte mit den Armen.

Als er es nach diesen Übungen ein drittes Mal versuchen wollte, erschrak er, da er schon beim vorsichtigen Näherkommen erkannte, dass er tatsächlich kleiner geworden war. Er reichte jetzt nicht einmal mehr bis zu den Magazinen. Er war nicht viel größer als sein Sohn! Schnell blickte er an sich herunter, untersuchte seinen Körper, tastete sich ab, aber er fand keine Erklärung. Er schüttelte den Kopf, gab sich eine konzentrierte Ohrfeige und versuchte es noch einmal, streckte sich, so gut es ging, aber sank wieder nur um einige Zentimeter zurück. Panik erfasste ihn und er flüchtete aus dem Keller zurück in die Wohnung, wo es um einiges wärmer war, wie er verwirrt und nur mit halber Aufmerksamkeit feststellte. Als er am Spiegel im Vorzimmer vorbeikam, traute er sich nicht hineinzusehen. Zurück im Bett kugelte er sich eng zusammen und versteckte den Kopf unter der Decke. Er hasste die Nacht und die unsinnigen Zaubertricks, die sie sich mit den Menschen, ihren willenlosen Kulturmarionetten, erlaubte.

2
Luft

Mit ungewöhnlich leiser Stimme bat der Arzt Vater und Sohn ins Behandlungszimmer.

Zuerst saß das Kind eine Zeitlang unschlüssig auf dem Behandlungstisch – oder wie man dieses Metallgestell sonst nennen mochte –, dann endlich kam der Arzt. Er war ein Mann um die Fünfzig, zu seinen Requisiten gehörten halbtransparente Handschuhe und ein Stethoskop, das ihm wie ein Kopfhörer lässig um den Hals hing.

Einatmen, ausatmen.

Langsamer einatmen. Halten. Ausatmen.

Und jetzt husten.

Templ betrachtete gelangweilt das Behandlungszimmer. Hin und wieder traf sein Blick den seines Sohnes, der unerhört vorwurfsvoll war. Das Gesicht des Kindes ähnelte auf unerträgliche Weise dem eines alten Mannes, der gezwungen wird, etwas zu tun, was eine Menge unangenehmer Erinnerungen heraufbeschwört. Kevin atmete aus, er atmete wieder ein, er hustete künstlich – währenddessen fixierte er seinen Vater. Sieh nur. Sieh, was er von mir verlangt!

Ich bin keine große Hilfe, dachte Templ und las zum vierten Mal den Text auf einem großen Werbeposter: Mens Sana. Darunter war ein fröhlich lächelndes Gehirn gezeichnet.

Da er wegsah, hörte das Kind wieder zu husten auf. Er fühlte sich gerädert, er hatte sehr schlecht geschlafen, alles war ihm zu laut, zu grell. Scheußliche Träume hatten einander in der Nacht abgewechselt.

Der Arzt führte Vater und Sohn in einen angrenzenden Raum, wo die Lungenfunktion gemessen werden sollte. Dort stand neben anderen rätselhaften Installationen ein mittelgroßer Glaskasten, ähnlich einer Dolmetscherkabine.

– Was jetzt wichtig wäre, sagte der Arzt: dass du, Kevin, da drinnen bleibst … nur für zehn Minuten, die sind gleich vorbei … und in dieses Mundstück atmest, ganz natürlich, nicht übertrieben.

Kevin trat entsetzt von dem Glaskäfig zurück. Er blickte hilfesuchend zu seinem Vater auf.

– Kann die Tür vielleicht offen bleiben, fragte Templ, ich glaube, er fühlt sich nicht gut, wenn das geschlossen bleibt.

– Nein, das ist leider notwendig, ich weiß nicht … Kevin rückte ein wenig näher an seinen Vater heran. Ja, jetzt wo er auf seiner Seite war. Aber der Glaskasten wirkte ja auch wirklich ein wenig bedrohlich. Da drinnen zehn Minuten eingesperrt …

– Die zehn Minuten sind gleich vorbei, begann der Arzt noch einmal in einem schärferen Tonfall. Das hält er bestimmt aus, oder, Kevin?

Kevin schüttelte den Kopf, berührte nun schon fast das Hosenbein seines Vaters. Mutig, dachte Templ, und für einen Augenblick musste er der Versuchung widerstehen, seinen Sohn aufzuheben und ihn sich auf die Schultern zu setzen. Woher die Kraft für diesen Widerstand kam, war unklar, aber sie war schon seit Jahren da, Tag für Tag, ein zäher Widerstand, ein subversives Vatersein. Nein, kein Ritt auf der Schulter, du gehst jetzt brav in den Glaskasten.

– Ich gehe mit, wenn es kein Problem ist, sagte er. Er erschrak über seine Worte. Welcher jämmerliche Instinkt war da mit ihm durchgegangen? Es sollte doch nur darum gehen, den Jungen möglichst schnell in diesen Kasten und dann genauso schnell wieder aus der Praxis heraus zu bringen. Aber jetzt? Jetzt durfte er selbst Patient spielen. Und man sah es dem Blick des Arztes bereits an: Der Vorschlag gefiel ihm. Wie ein geheimer Handschlag zweier Logenbrüder wirkte sein Vorschlag: Ein beschützender Vater hatte sich einem anderen beschützenden Vater zu erkennen gegeben. Ein stolzer Ehering auf der rechten Hand des Arztes.

– Gut, ja, in Ordnung, wenn Sie da drinnen Platz finden, gemeinsam.

– Nein, das heißt, wenn Kevin nicht vielleicht –

Er versuchte, den letzten Rest an väterlicher Aufmunterung, zu der er noch fähig war, zusammenzukratzen, um Kevin zu bestärken. Er machte eine Geste mit Schultern und Händen, ein lässiges Gewähren-Lassen, eine Geste, wie sie Fußballtrainer machen, die so etwas bedeutete wie: Du machst das schon, auf dich kann ich mich verlassen, du bist doch der Star, der Mann im Haus.

Aber die Geste half nichts. Er blieb der Mann, Kevin drängte sich an ihn, hatte Angst vor dem Käfig, ein zitterndes Tierjunges. Und es half nichts, wie immer, es half nichts und niemand. Er musste mit hinein.

Kevin nahm auf seinem Schoß Platz und Templ fiel auf, wie schwer der schwächliche Junge inzwischen geworden war. Wann hatte er ihn das letzte Mal auf dem Schoß gehalten? Zu der komplexen Suchanfrage gab es zwar eine Erinnerung, aber die schien bereits Jahrzehnte entfernt.

Der Glaskäfig und das erdrückende Gewicht seines Sohnes raubten ihm die Luft. Er schloss die Augen – egal, mochte der Arzt denken, was er wollte – und dachte etwas Beruhigendes. Das war doch alles nicht so schlimm, in Wirklichkeit. So wie damals, als er mit seiner Frau – damals noch seine Freundin, Studentin der Rechtswissenschaften – in einer Telefonzelle den Regen abgewartet hatte, in einer angenehm engen Telefonzelle. Siehst du? Da war die Enge angenehm gewesen. Damals hatte er sie geküsst, draußen das Rauschen des Regens, sie beide leicht bekleidet. Sie waren aus dem Kino gekommen, da hatte es geregnet – wetterwendische Schwäche in einem Mai vor vielen Jahren.

Er bemerkte, dass er Kevin umklammert hielt, und ließ schnell los.

Er blickte verwirrt nach draußen. Da stand der Arzt und schaute ihn – konnte das sein? – erstaunt an, vielleicht sogar entsetzt. Man durfte doch wohl seinen Sohn umarmen. Immerhin hatte der Junge Angst. Lasst mich doch alle in Ruhe. Glaskäfig … Jetzt merkte er auch, dass das Kind auf seinem Schoß ganz steif und unbeweglich geworden war. Es atmete, wie man am Heben und Senken seines Rückens erkennen konnte, nur mehr sehr flach.

Eine sonderbare Wärme breitete sich auf Templs Schoß aus.

Großer Gott! Er sprang auf, sodass sein Sohn nach vorne kippte. Templs Kopf stieß an die niedrige Decke der Kabine. Aah! Der Arzt öffnete schnell die Tür. Der hydraulisch versiegelte Kasten atmete erleichtert aus.

– Was ist denn passiert? Haben Sie Platzangst?

Aber Templ drängte ihn auf die Seite, voller Wut und mit der Genugtuung, endlich seine Arme wieder gebrauchen zu können – weg da, aus dem Weg! Es war eine einzige … Verschwörung, ein Skandal! Sein Sohn war hysterisch, nichts weiter, wie seine Mutter. Er, Templ, war umgeben von lauter Irren.