Mats Strandberg
Halbes Leben
Roman
Deutsch von Gabriele Haefs
C. Bertelsmann
Die Originalausgabe erschien 2009 unter dem Titel
»Halva Liv« beim Verlag Forum, Stockholm.
1. Auflage
Copyright © 2008 by Mats Strandberg by agreement with Grand Agency
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2011
beim C. Bertelsmann Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Übersetzung des Gedichts von Dorothy Parker: Julia Stolz
Umschlag: R·M·E, Roland Eschlbeck/Rosemarie Kreuzer
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
ISBN 978-3-641-05589-9
www.cbertelsmann.de
Innenleben
Im stillen Zimmer, schmal und hoch,
wohnt nur mehr ihr Verstand.
Die hübschen Lampen scheinen noch,
auf Motti an der Wand.
Adrett lebt ihr Verstand, apart
von Kälte, Lärm und Schmerz,
froh, dass sie keinen Schlüssel hat,
denn draußen heult ihr Herz.
Dorothy Parker
Ab und zu glaubt sie, ihn zu sehen. Ein Nacken im Gedränge der U-Bahn, ein Halbprofil im Gewimmel auf einem Fest. Dann macht ihr Herz einen Satz, ihr Herzschlag beschleunigt sich. Aber es ist nur ein Gespenst von früher, ein Wunschtraum, der aus dem Unterbewusstsein aufsteigt, und es kommt immer seltener vor.
Buchmesse im verregneten Göteborg. Der Verlag hatte ihr ein Hotelzimmer auf dem Messegelände besorgt, und wegen des ungemütlichen Herbstwetters und ihres vollgestopften Terminplans hatte sie keine Chance, etwas von der Stadt zu sehen. Das Stimmengewirr in den Ausstellungshallen war wie eine massive Wand, einschläfernd und aufregend zugleich. Sie saß am Verlagsstand und signierte ihr erstes Buch, eigentlich nur eine Sammlung ihrer Antworten auf Leserfragen in der Abendzeitung. Sie war noch keine dreißig und konnte sich nach wie vor als jung und vielversprechend betrachten. Abends fand irgendwo in den Hallen immer eine Cocktailparty statt. Danach folgte sie dem Strom zu einem der großen Verlagsfeste, und gegen Mitternacht landeten alle in der Bar des Parkhotels. Sie trank viel zu viel und schlief viel zu spät ein, und am nächsten Morgen ging alles wieder von vorne los. Sie fand es wunderbar.
Am letzten Abend in Göteborg verließ sie das Messegelände zum ersten Mal. Eins ihrer Idole, der zweifache Träger des Augustpreises, hatte sie zum Essen eingeladen. Er hatte das Lokal ausgesucht, ein unscheinbares Restaurant, wo sie garantiert keine Bekannten treffen würden. Es stellte sich bald heraus, dass der zweifache Augustpreisträger ein einfältiger Selbstverherrlicher und eine Parodie seiner selbst war. Als er allen Ernstes behauptete, Frauen läsen nur Kitschromane, ging ihr nicht nur auf, wie alt er war, sondern auch, dass es Zeit zum Aufbruch war. Sie bezahlte ihren Teil der Rechnung und sagte ihm, dass sie ihn nicht mehr antreffen wolle, wenn sie von der Toilette zurückkehre.
Dort blieb sie so lange, bis sie sicher sein konnte, dass er tatsächlich gegangen war.
Der Barmann sah sie verständnisvoll an, als sie endlich die Tür einen Spaltbreit öffnete und ins Restaurant spähte. Ehe sie etwas bestellen konnte, schenkte er ein Glas Rotwein ein und schob es ihr hin. Sie grinste und nahm das Glas dankbar entgegen.
»Was für ein Idiot«, sagte er.
Und diese kurze Bemerkung war der Anfang ihrer Beziehung.
Der Wein schmeckte gut, und sie bat ihn, den Namen aufzuschreiben. Seine achtlosen Großbuchstaben auf dem Zettel waren die gleichen wie in dem Brief, den er ihr nur ein halbes Jahr später schickte: VERZEIH MIR. ICH KANN NICHT SAGEN, WARUM. SUCH MICH NICHT. HASS MICH NICHT.
Natürlich hatte sie Jakob gehasst. Und natürlich hatte sie nach ihm gesucht.
Jakob sah nicht im klassischen Sinne gut aus, und genau das gefiel ihr. Seine dunklen Haare wellten sich unbändig. Die inneren Augenwinkel zogen sich leicht nach unten, schräg auf die Nase zu. Die Iris war kohlschwarz. Später erfuhr sie, dass er samische Vorfahren hatte.
Ein stark sich abzeichnender Adamsapfel hüpfte auf und ab, wenn er redete. Sein Lächeln war umwerfend, und es erschien ihr jedes Mal wie ein Sieg, wenn sie ihm eins entlocken konnte. Sie saß in der Bar und trank noch ein Glas Wein, während das Personal das Restaurant schloss, und sie blieb auch noch, als er abrechnete.
Sie schlug ihm vor, sie auf ihr Hotelzimmer zu begleiten. Sie würde am nächsten Tag nach Hause fahren und wollte sich die Gelegenheit nicht entgehen lassen. Ging davon aus, dass es bei dem einen Mal bleiben würde.
Sie hatten keinen himmelstürmenden Sex, nicht in dieser ersten Nacht. Aber sie fand es schön, mit ihm zu schlafen. Er legte die Arme um sie, als wollte er ihren Körper mit seinem umschließen. Und dieses eine Mal wollte sie nicht weglaufen.
Den ganzen Herbst und Winter über trafen sie sich bei ihr, sooft er nach Stockholm kommen konnte. Sie gingen selten aus und verabredeten sich nicht mit anderen. Sie waren vollkommen mit sich beschäftigt und lebten wie in einem Vakuum. Sie konnte sich nicht vorstellen, jemals genug von seinem Körper zu bekommen, vom Duft seiner Haut in der Halsgrube oberhalb des Schlüsselbeins.
Er war drei Jahre älter als sie, hatte aber gerade erst mit seinem Journalistikstudium begonnen und kellnerte, um sich über Wasser zu halten. Er war in Landsån aufgewachsen, einer kleinen Stadt bei Överkalix, und war mit neunzehn an die Westküste gezogen.
Er hatte eine Clownphobie und war ein begeisterter Fleischesser, hatte aber nichts gegen ihre vegetarische Kost. Er glaubte an Gott, war jedoch nicht religiös. Abends löste er Kreuzworträtsel, und sie beobachtete belustigt sein unbewusstes Mienenspiel zwischen tiefer Konzentration und zufriedenem Lächeln.
Sie erkannte, dass sie ihn liebte. Von ganzem Herzen. Sie hatte das Gefühl, dass sie endlich jemand sah. Die echte Jessica, die sie immer hatte sein wollen, von der sie gespürt hatte, dass sie sie eines Tages sein könnte. Sie hatte niemals ernsthaft eine Zukunft mit jemandem geplant, aber es fiel ihr immer schwerer, die Wochen zwischen seinen Besuchen zu überstehen. Alles war nur noch ein einziges Sehnen. Er sprach schon davon, sich um einen Studienplatz in Stockholm zu bewerben.
Ihre Freunde rieten ihr, nichts zu überstürzen. Sie sagte sich, er sei das Unglaublichste, was ihr in ihrem Leben passiert sei. Aber wenn sie an die Zukunft dachte, konnte sie sich kaum zurückhalten, weil sie etwas Ähnliches noch nie erlebt hatte.
Früher hatte sie die Phase des Frisch-Verliebt-Seins, von der andere so schwärmten, für die schlimmste Form von psychischer Folter gehalten. Sie hasste die Ungewissheit und die paranoiden Gedankenspiralen. Von Anfang an wollte sie klare Ansagen, schriftliche Garantien, einen deutlich abgesteckten Rahmen. Aber bei Jakob war das anders. Sie gestattete es sich, euphorisch, albern, auf eine kitschige Weise frisch verliebt zu sein, die ganz neu für sie war. Mitte Januar beschlossen sie, im Frühling probeweise zusammenzuziehen. Er kündigte seine Mietwohnung. Er wollte zu ihr ziehen. Er liebte sie.
Und fünf Wochen später war er verschwunden.
Einige Tage darauf traf sein Brief ein.
Die Ungewissheit machte sie wahnsinnig, sie konnte nicht schlafen, die Schlaflosigkeit machte sie noch wahnsinniger. Sie wusste einfach nicht, wie sie mit der Situation, den widerstreitenden Gefühlen, der Angst, Rastlosigkeit, Wut und der totalen Hilflosigkeit umgehen sollte. Und dann eine Fehlgeburt in der zehnten Woche. In diesem Chaos hatte sie nicht einmal begriffen, dass sie schwanger war. Sie riss seinen Brief in Fetzen und warf ihn weg. Wollte die Wörter nicht noch einmal lesen, aber in ihr waren sie noch immer vorhanden, gleich unter der Oberfläche.
VERZEIH MIR. ICH KANN NICHT SAGEN, WARUM. SUCH MICH NICHT. HASS MICH NICHT.
Jessica starrt die silberne Packung mit den weißen Tabletten an, als könne sie ihr eine Antwort geben. Versucht auszurechnen, wie viele Tabletten sie noch haben müsste, weil sie doch tatsächlich vergessen hat, ihre Zoloft zu nehmen.
Sie hat keine Erinnerung daran, morgens die Tabletten auf die Zunge gelegt, den chemischen Geschmack wahrgenommen zu haben, ehe sie sie mit einem Glas Wasser hinuntergespült hat. Andererseits, warum sollte sie sich an etwas so Alltägliches erinnern? Das wäre ebenso unmöglich wie der Versuch, sich zu erinnern, ob sie morgens gepinkelt hat oder nicht. Oder? Gibt es Leute, die sich an solche Dinge erinnern?
Sie hätte sich schon vor einigen Jahren geschlagen geben und in der Apotheke eine Tablettenbox kaufen sollen. Dann wäre sie jetzt nicht so ratlos. Schon wieder. Aber etwas an der Vorstellung der vielen Tabletten in ihren kleinen Fächern macht sie nervös.
Jessica legt die Tablettenpackung auf den Waschbeckenrand. Ihr Arzt im Sophiahemmet, der mit den feuchten Augen und den trockenen Händen, hat gesagt, wenn sie nicht wisse, ob sie ihre Tabletten genommen habe, solle sie keine nehmen. Sie an einem Tag zu vergessen, spielt auf lange Sicht gesehen keine Rolle. Offenbar werden sie im Körper auf irgendeine Weise gespeichert, aber eine doppelte Dosis kann zu Nebenwirkungen führen, ähnlich den panischen Angstattacken, die sie früher hatte. Sie glaubt dem Arzt. Sie erinnert sich noch immer an die erste Phase, als sie sich langsam daran gewöhnte, nicht schlafen, nicht essen konnte und das Gefühl hatte, die Augen sprängen ihr aus dem Schädel. Deshalb kann sie sich sehr gut vorstellen, wie eine doppelte Dosis von hundertfünfzig Milligramm ihr Gehirn zum Kochen bringen würde.
Also sollte sie sich jetzt nicht darum scheren und einfach keine Tabletten nehmen, in der sicheren Überzeugung, dass es keinen Unterschied macht. Aber es fällt ihr schwer, das Badezimmer zu verlassen und sich für den Abend bereitzumachen.
Wenn sie vielleicht nur eine halbe Tablette nimmt? Eine halbe zu viel ist wohl kaum gefährlich, das wäre dieselbe Steigerung wie zu Anfang, und wenn sie wirklich heute vergessen hat, ihre Tabletten zu nehmen, dann ist eine halbe doch sicher besser als keine?
Jessica flucht ungeduldig. Wenn sie wenigstens vergessen hätte, dass sie vielleicht vergessen hat, ihre Tabletten zu nehmen. Jetzt, wo sie weiß, dass sie sie vielleicht vergessen hat, ist die Logik außer Kraft gesetzt. Das vertraute Ameisenkribbeln breitet sich unter ihrer Schädeldecke aus, ihre Hirnrinde scheint sich in Krämpfen zusammenzuziehen, sie verspürt kalte Stiche in Stirn und Schläfen. Sie weiß, dass das Einbildung ist, aber was spielt das schon für eine Rolle? Sicher, vielleicht ist sie nur eine Hypochonderin, aber es verursacht Stress, und der Stress hat sie einige Jahre zuvor krank gemacht. Ihre große Angst ist, dass die Angst vor dem Krankwerden sie am Ende wirklich krank machen könnte.
Im ersten Jahr, nachdem Jakob verschwunden war, biss sie die Zähne zusammen, bis ihre Kiefer schmerzten, wenn sie morgens aufwachte. Sie erzählte niemandem von der Fehlgeburt. Es war viel leichter, sich in die Probleme anderer zu vergraben. Die Arbeit an ihrer Ratgeberspalte und den Artikeln über Beziehungen wurde zu einem Zufluchtsort, aber am Ende funktionierte auch das nicht mehr.
Das Schlimmste daran, gegen die berühmte Wand zu laufen oder, genauer gesagt, voll dagegenzuknallen, war, dass der Aufprall ihr vollständig den Atem nahm, sodass sie sich danach nicht wiedererkannte. Sie konnte sich nicht mehr auf sich verlassen, hatte keine Kontrolle mehr.
Im Nachhinein ist es leichter zu erkennen, wo die Sache aus dem Ruder gelaufen ist. Aber als sie das erkannte, war es schon zu spät.
Jessica schüttelt den Kopf, als sie sich im Spiegel sieht und die Liste von Argumenten herunterleiert, die dagegensprechen, dass sie noch einmal krank werden kann.
Ich habe mit Hilfe meines KBT- und meines Stresstherapeuten viel über mich gelernt. Mein Ich hat jetzt größeres Selbstvertrauen. Ich habe die Sache mit Jakob verarbeitet, so gut das eben geht. Ich arbeite viel weniger. Ich habe gelernt, Nein zu sagen, wenigstens ab und zu. Ich verlange nicht mehr von mir, immer perfekt zu sein. Ich wage es, allein zu sein. Ich mache Yoga und jogge und habe bei Stockholms meistempfohlenem Akupunkteur auf dieser schmutzigen Pritsche wie ein Nadelkissen gelegen. Am Ende habe ich angefangen, Glückspillen zu nehmen, Gott sei Dank. Ich trinke nicht mehr so viel Kaffee. Und wenn ich wider Erwarten doch Gefahr laufe, erneut krank zu werden, dann werde ich diesmal die Vorzeichen bemerken, ich werde die Handbremse ziehen, ehe ich aus dem Gleichgewicht gerate. Alles wird sich finden.
Und übrigens war sie nie krank. Es kam ihr nur so vor. Es kam ihr nur so vor, als ob sie sterben müsste. Im Grunde war die panische Angst, die sie in der Wohnung einsperrte, nur eine gesunde Reaktion auf eine unhaltbare Situation. Das behauptet zumindest ihr Stresstherapeut.
Es klingelt an der Tür. Jessica legt die Tablettenpackung in den Badezimmerschrank und schließt ihn mit einem energischen Knall. Sie durchquert das Wohnzimmer, die Bilder an den Wänden nimmt sie nur schemenhaft aus den Augenwinkeln wahr: Petra und Enzo (zusammen auf einer Schäreninsel), Mama und Papa (niemals zusammen), Oma, Opa und Viktor (sie hat sie schon viel zu lange nicht mehr besucht). Ihre nackten Füße bewegen sich lautlos über den weichen, weiß gebeizten Holzboden, den sie so liebt. Obwohl es ihr in dieser Wohnung so schlecht gegangen ist, hat sie nie das Gefühl gehabt, die Angst sitze in den Wänden fest.
Als sie die Tür öffnet, entsteht in der Wohnung ein Durchzug. Die Fenster, die nach Norden gehen, stehen zur Tjärhovsgata hin sperrangelweit offen, und der Duft des Frühlingsabends dringt herein.
Sean, ihr Friseur, steht mit schweißfeuchtem Gesicht im Treppenhaus. Er schiebt die Unterlippe vor und pustet sich eine Haarsträhne aus den Augen. In den Händen hält er zwei schwere Kästen. Er hat alles dabei, um sie für diesen Abend schön zu machen.
»War Micke nervös, ehe er gegangen ist?«
Sean verpasst ihrer Kopfhaut eine leichte Shiatsu-Massage. Jessica hat soeben die Augen geschlossen und sich noch tiefer in ihren Morgenrock gekuschelt. Sie will lieber nicht an die Vernissage denken. Die Tatsache, dass sie in einer guten Stunde im Kulturhuset mit Möchtegern-Intellektuellen und der Medienelite billigen Weißwein trinken wird, kommt ihr noch immer angenehm weit weg vor.
Aber Seans Finger lassen von den verspannten Muskeln auf ihrem Kopf ab. Ein Föhn wird eingeschaltet und heult los. Der warme Luftstrom streichelt ihren Nacken, der sich an seine neue Nacktheit noch nicht gewöhnt hat. Sie öffnet die Augen, schlägt aber rasch den Blick nieder, als sie ihr ungeschminktes Gesicht im Spiegel sieht. Sie erhascht nur den Ausdruck in ihren Augen, will der wachsenden Panik darin nicht begegnen. Sie wüsste gern, ob andere die auch sehen können. Sean scheint nichts bemerkt zu haben.
»Ich nehme an«, sagt sie.
Eigentlich würde sie sich gern eine Stunde lang verhätscheln lassen und sich dann wieder hinlegen. Ein Atarax nehmen, um die Nacht durchzuschlafen. Aber das kann sie Micke nicht antun, er hat es schon lange satt, dass sie ihn niemals begleiten will. Er behauptet, dass die anderen ihn bald für einen Lügner halten werden, wenn er erzählt, dass sie zusammen sind.
»Danke, dass du so kurzfristig kommen konntest«, sagt sie zu Sean, um rasch das Thema zu wechseln.
Er machte eine ungeduldige Handbewegung.
»Ist doch klar, Herzchen. Seit ich dir die Haare schneide, habe ich eine Menge neue Kundschaft bekommen. Das hier geht auf meine Rechnung.«
Sie lacht, aber sie fühlt sich nicht ganz wohl in ihrer Haut. Sie kann sich nie daran gewöhnen, ein bekanntes Gesicht zu sein, und noch weniger eins, das andere nachahmen wollen. Sean zerreibt zwischen seinen Händen weiches Wachs und zupft die kurzen Strähnen zurecht.
Jessicas Gehirn kocht in seinem eigenen Saft, als sie den Sergels torg überquert. Durch die großen Panoramafenster des Kulturhuset sieht sie unzählige menschliche Körper, die sich im dritten Stock drängen. Irgendwo dort oben ist Micke, im Zentrum der Aufmerksamkeit.
Als er fertig war, hat sie Sean gezwungen, noch zu bleiben und eine Flasche Sekt mit ihr zu teilen. Sie hat sogar gefragt, ob er sie begleiten wolle, und es ist ihr peinlich, dass damit deutlich wird, wie wenig Freunde sie hat. Die Einzige, die ihr noch nahesteht, ist Petra, aber gerade an diesem Abend muss die sich um ihren Sohn kümmern und kann nicht mitkommen.
Jessicas Rücken ist schon schweißnass, als sie sich einer Gruppe von Vernissagegästen nähert, die rauchend vor der Eingangstür stehen. Sie sind kühl und elegant und ganz und gar befreit von subkutanem Fett. Sie erkennt die Moderedakteurin von ELLE, die den anderen offenbar Gesellschaft leistet, und ihr letztes Covermodel. Jessica räuspert sich und nickt grüßend, als sie an der Gruppe vorübergeht. Sie hat das Gefühl, dass ihr Lächeln ein wenig unterwürfig ausfällt.
Als Jessica die Rolltreppe verlässt, schnappt sie sich ein Plastikglas Wein von einem Tablett und kippt es im Gehen hinunter, während sie auf Micke zusteuert.
Plötzlich tritt ihr ein zwei Meter großer Nachrichtensprecher mit viel zu fettigen Haaren und viel zu orangem Selbstbräuner in den Weg.
»Ach, sieh mal an, wen haben wir denn hier?«
Sie bleibt genau vor ihm stehen und bereut es sofort, sie hätte einfach mit einem höflichen Lächeln an ihm vorbeigehen sollen.
»Jessica Wilcox«, sagt er mit einem ironisch klingenden Unterton in der Stimme.
Ironie, weshalb?
»Hallo«, sagt sie so neutral wie möglich.
»Jessica Wilcox«, sagt er noch einmal, diesmal lauter.
Der will mich verarschen, will, dass es alle in der Nähe mitkriegen, vielleicht haben sie mich durch das Fenster gesehen und darüber gesprochen, dass ich …
»Ich muss zu Micke«, murmelt sie. »Bei dir ist alles in Ordnung, hoffe ich?«
»Ja, es läuft gut, verdammt gut.«
Er lächelt sie ein wenig zu strahlend an, und Jessica hat das Gefühl, dass das Gespräch um sie herum leiser geworden ist. Instinktiv reckt sie sich.
»Schön, dich zu sehen«, sagt sie und geht um ihn herum.
»Schön, dich zu sehen, Jessica Wilcox!«, ruft er hinter ihr her, und sie richtet sich noch ein wenig mehr auf.
Micke strahlt, als er sie entdeckt. Sie ist gerührt.
»Endlich!«, ruft er, und sie lässt sich von ihm kurz auf den Mund küssen.
»Gibt’s eine Führung durch die Ausstellung?«, fragt sie.
Er lächelt die Leute, die um sie herumstehen, entschuldigend an, und Jessica ist dankbar, weil sie niemanden von ihnen kennt und ihr keine höflichen Floskeln abverlangt werden können.
Micke nimmt ihren Arm und führt sie zur gegenüberliegenden Wand.
»Ist alles gut gegangen?«, flüstert sie ihm ins Ohr.
»Ich glaube schon. Bist du allein hergekommen?«
Sie nickt. Sie sind vor einem der Porträts stehen geblieben, und Jessica unterdrückt ein Gähnen.
Micke ist einer der meistbeschäftigten Mode- und Werbefotografen des Landes, eine der Schlüsselfiguren in der Branche, und er kann es sich leisten, in verschlissenen Jeans und mit einem dicken Priem unter der Oberlippe herumzulungern, und dennoch, oder gerade deshalb, wird er von jedem Fashionista-Führer und jedem klapperdürren Model vergöttert. Er hat seit mehreren Jahren mit Unterbrechungen an dieser Porträtsammlung gearbeitet, aber alle Bilder scheinen bei ein und derselben Gelegenheit entstanden zu sein. Bei Aufträgen für Modezeitschriften und Werbeagenturen hat er Models und Promis überredet, noch einmal vor die Kamera zu treten, abgeschminkt und nachdem die Requisiten entfernt worden waren. Dann hat er sie dazu gebracht, zu gähnen, und eine Großaufnahme in dem Moment gemacht, in dem das Gähnen seinen Höhepunkt erreicht, wenn die Augen sich automatisch schließen und die Halsmuskeln sich maximal dehnen.
Das Ergebnis ist wirklich erstaunlich. Die vertrauten Gesichter auf den Bildern sind ausnahmsweise unverstellt, sehen fast hilflos aus. Außerdem wirkt das Gähnen der eindimensionalen Bilder ansteckend: Überall gähnen Leute diskret hinter geballten Fäusten, während sie zugleich belustigte Blicke wechseln. Angesteckt durch die Bilder und die übrigen Gäste, unterdrückt Jessica ein weiteres Gähnen. Sie hat das Gefühl, dass hier eine totale Gähnpsychose ausbrechen könnte.
»Es klappt doch, oder?«, flüstert Micke eifrig, während er sie weiter durch den Ausstellungsraum führt.
»Es ist genau so, wie du es dir gedacht hast«, sagt sie.
Jessicas Mobiltelefon klingelt in ihrer Jackentasche, und sie zieht es heraus. Es ist die Nummer ihres Vaters. Sie steckt das Telefon wieder ein. Micke wirft ihr einen raschen Blick zu, stellt aber keine Frage.
Micke verschwindet wieder in der Besuchermenge. Ein Journalist von der Gratiszeitung Metro, der aussieht wie vierzehn, will ihn interviewen, danach steht schon der Abgesandte von TV 4 Stockholm bereit. Jessica schlendert weiter, sieht sich die Porträts genau an. Sie schnappt Bruchstücke der Gespräche um sie herum auf, registriert die Gesichter der anderen Gäste, schaut aber hastig weg, wenn jemand versucht, ihren Blick aufzufangen. Sie lacht nur kurz, geht weiter und hofft, dass sie nicht wie eine Diva wirkt.
Jessica hat das Gefühl, dass Micke sie mit mehreren der porträtierten Frauen betrogen hat, aber solange sie nichts Konkretes darüber weiß, spielt es keine Rolle. Solange sie keine Stellung beziehen muss, macht es ihr nichts aus. Was für eine tolle Expertin für Sex und Beziehungen, denkt sie nicht zum ersten Mal. Wirklich eine Ironie des Schicksals!
Auf dem Gymnasium hat Jessica den naturwissenschaftlichen Zweig besucht, obwohl ihr das vorkam wie eine Fortsetzung aller Fächer, die sie bisher verabscheut hatte. Eigentlich wollte sie überhaupt nicht büffeln, aber wie sollte sie einen Schulabbruch begründen, wo sie doch so gute Noten hatte? Jessicas Zeugnisse waren immer hervorragend, und ihr Vater ging davon aus, dass sie ebenfalls Medizin studieren würde. Und dabei hatte er während seiner eigenen medizinischen Ausbildung eine so starke Hypochondrie entwickelt, dass er jede Krankheit bekam, über die er las. Nur deshalb hatte er sich auf Gynäkologie verlegt, die perfekte Laufbahn für einen Hypochonder ohne Vagina. Sein Beruf war eine stetige Quelle der Peinlichkeit. Vor allem, wenn manche ihrer Klassenkameradinnen in seiner Praxis erschienen, als die Zeit kam, sich die Pille verschreiben oder den Ausfluss untersuchen zu lassen. Jessicas Eltern hatten sich inzwischen scheiden lassen, und einige der Klassenkameradinnen trafen ihren Vater um einiges häufiger, als Jessica es tat.
Sie interessierte sich nicht sonderlich für Sex. Sie fand die Vorstellung sogar ein wenig ekelhaft. Während eine Freundin nach der anderen ihre Unschuld verlor, kamen sie mit ihren Fragen immer häufiger zu Jessica. Sie las die Spalten über Sexfragen in den Abendzeitungen und Illustrierten genau durch und fand weitere klinische Tatsachen in den Fachbüchern ihres Vaters. Je mehr Informationen sie absorbierte, umso weniger Lust hatte sie auf Sex. Sie war von Sex besessen, ohne es zu wollen. Eine Expertin in der Theorie, aber niemals in der Praxis.
Natürlich ist sie nicht mehr unschuldig. Und sie mag Sex, ab und zu, auch wenn das Zoloft die Orgasmen stumm in die Ferne davonschweben lässt wie zum Bersten gefüllte Heliumballons. Ehe sie Micke kennenlernte, hatte sie fast drei Jahre lang mit niemandem geschlafen. Noch immer ist es für sie ein Mysterium, wie Sex und Körper und deren Inhalt manchmal so unglaublich schön und erregend und manchmal das Widerlichste sein können, das man sich überhaupt vorstellen kann.
Jessica schaut diskret auf das Display ihres Telefons. Ein Briefumschlag, ihr Vater hat ihr eine Mitteilung hinterlassen. Aber Jessica interessiert sich mehr für die Uhrzeit. Sie ist jetzt lange genug hier gewesen, fast eine Dreiviertelstunde, und sie hat sogar mit einigen Gästen geredet. Micke kann sich nicht beschweren, wenn sie jetzt nach Hause geht.
Mit Hilfe des Atarax schläft sie tief und fest, als Micke in ihr Bett kriecht. Sie kann seinen Atem schon von Weitem riechen, er riecht nach saurem Schnaps und altem Tabak, und Micke flüstert ihr etwas ins Ohr, aus viel zu großer Nähe. Es kitzelt unangenehm, und sie schwimmt widerwillig an die Oberfläche, um ihn abzuwehren.
»Ich dachte, du wolltest heute Nacht zu Hause schlafen«, murmelt sie.
»Mir hat meine Kleine gefehlt«, flüstert er und rückt näher.
Seine Hand hat sich unter die Decke gestohlen und macht einige halbherzige Versuche, ihre rechte Brust zu kneten.
»Das da ist kein Stressball«, sagt sie.
Er kichert beschwipst und lässt sich auf seine Seite des Bettes fallen, und sie ist dankbar, weil er nicht wieder wütend wird und sie frigide nennt. Die Hand bleibt schwer auf ihrem Brustkorb liegen.
Er ist schon eingeschlafen.
Sie ist hellwach.
Vor dem Küchenfenster sind die Vögel zum Leben erwacht. Jessica reißt das Fenster sperrangelweit auf, das Zwitschern schwirrt durch die klare Morgenluft. Es gibt nur Jessica und die Vögel, das übrige Stockholm schläft noch.
Jessica putzt sich die Zähne, während sie den Kopf aus dem Fenster streckt, sie versucht herauszufinden, wie kühl es ist. Auf dem Weg zurück ins Badezimmer folgt sie den Spuren von Mickes nächtlicher Ankunft. Er hat sich einen Weg gebahnt wie ein Tsunami und hat überall auf seinem Weg Wrackteile hinterlassen. Seine spitzen Schuhe, die er gleich beim Hereinkommen abgestreift hat, stehen mitten in der Diele. Die abgenutzte Jeansjacke hat er achtlos über einen Sessel geworfen. Eine zusammengeknüllte Kugel aus Alufolie mitten auf dem Fernsehsofa, eine klebrige Papiertüte der Imbisskette Sibylla auf dem Tisch davor.
Jessica spuckt den Zahnpastaschaum ins Waschbecken, fährt sich einige Male mit der Bürste über die Zunge und spült den Mund mit eiskaltem Wasser aus, das ihre Zähne aufschreien lässt. Micke schnarcht noch immer in ihrem Bett, als sie ihre Turnschuhe anzieht. Sie zieht vorsichtig die Wohnungstür hinter sich zu und verlässt das Haus.
In der Götgata beschleunigt sie ihre Schritte, überquert den Ringväg und geht unterhalb des Eriksdalsbads am Wasser entlang. Danach folgt sie dem Ufer bis Hornstull, weiter am Söder Mälarstrand bis Slussen, und dann wiederum durch die Götgata, bis sie ihr Viertel erreicht hat, mit rotem Gesicht, aber ruhigerem Gemüt. Sie schaut zu ihrem Schlafzimmerfenster hoch, und ihr fällt ein, dass sie die Jalousie hätte herunterlassen müssen, damit Micke nicht von der Sonne im Gesicht geweckt wird. Er wird grauenhaft verkatert sein.
Sie spielt mit dem Gedanken, schnell nach oben zu laufen. Stattdessen geht sie in den Speisesaal von Hotell Malmen, holt sich vom Frühstücksbüffet ein Croissant, eine Packung Nutella und einige Scheiben Wassermelone. Danach beschließt sie, dass es nun an der Zeit ist, sich die Mitteilung ihres Vaters auf dem Anrufbeantworter anzuhören.
Jessica nippt vorsichtig an ihrem heißen Kaffee, während die umständliche Ansage läuft. »Willkommen bei Ihrer Eurovoice … Sie haben … eine … neue Mitteilung … empfangen … neunzehn … null … sieben …« Und dann ist ein vertrautes Räuspern zu hören. Ihr Vater. Wie lange haben sie nicht mehr miteinander geredet? Zuletzt wohl, als sie angerufen hat, um ihm mitzuteilen, dass sie leider zu seinem und Glorias Hochzeitstag nicht kommen könne. Herrgott. Und wie lange haben sie sich dann nicht mehr gesehen?
Sie schaut auf die Götgata hinaus, wo der Verkehr jetzt rollt.
»Hallo? – Du, Jessica, hier ist Papa. Ich habe sehr traurige Nachrichten, leider …«
Sie hält mitten im Kauen inne. Das Croissant schwillt in ihrem Mund an wie ein Schwamm. Kann Mama etwas zugestoßen sein? Nein. Das hätte Jessica vor ihm erfahren.
Falls sie nicht in irgendeinem Krankenhausregister noch immer als Ehepaar verzeichnet sind, aber das kann doch wohl nicht sein?
»… es geht um Mama. Ja, deine Großmutter. Sie ist heute Nacht gestorben. Gloria und ich fahren morgen nach Schonen, um den alten Jungs bei allem zu helfen, was jetzt erledigt werden muss. Du kannst natürlich gern mit uns fahren, aber fühl dich nicht verpflichtet, es gibt wohl nicht viel, was du tun kannst, fürchte ich.«
Jessica zwingt sich, den Schwamm hinunterzuschlucken. Ihr Herz schlägt jetzt wie wild, und sie hat das Gefühl, hilflos ins Bodenlose zu stürzen. Instinktiv packt sie mit der einen Hand die Tischkante.
Oma? Tot?
Ihr Vater beendet seine Mitteilung, aber das hört sie kaum. Sie klappt das Telefon zu und legt es vorsichtig auf den Tisch.
Oma Viola, mit dem langen weißen dicken Zopf, die abwechselnd so lieb und so streng war.
Jessica registriert überrascht, dass sie an ihre Großmutter schon im Imperfekt denkt. Aber ist das ein Wunder? Sie hat ihre Großmutter ja lange nicht mehr gesehen, viel zu lange. Wenn sie zu diesem Hochzeitstag gefahren wäre, wären sie sich dort vielleicht begegnet.
Die Sehnsucht durchbohrt sie schon jetzt, und sie kann nicht fassen, dass sie die Zeit so hat verstreichen lassen. Es gab eine Zeit, in der die Großmutter die wichtigste Person in ihrem Leben war, in den Jahren vor der Scheidung von Jessicas Eltern. Und später, als Jessica plötzlich ein Teenager war und die Welt auf den Kopf gestellt wurde und sie sich darin nicht mehr zurechtfand, war ihre Großmutter da, unverändert, aufnahmebereit. Bei der Großmutter durfte sie immer Kind bleiben. Und jetzt kommt sie sich bedürftiger vor denn je. Will ein letztes Mal von ihrer Oma umarmt werden.
Jessica hat den Blick noch immer nicht vom Telefon auf der glänzenden Tischplatte gelöst. Sie denkt an den Großvater und an Viktor, den Bruder der Großmutter, und sie fragt sich, wie die beiden alten Knaben jetzt zurechtkommen sollen. Ohne Oma. Erinnerungsbilder wirbeln ihr durch den Kopf. Und Jessica merkt, dass sie, abgesehen davon, dass sie an ihre Großmutter im Imperfekt denkt, schon angefangen hat, die Tote zu idealisieren.
Denn die Großmutter hatte auch noch eine andere Seite. Es gab eine Großmutter, deren Liebe einen Anflug von Verzweiflung hatte. Umarmungen, bei denen sie sich ein wenig zu lange anklammerte, Liebesbekundungen und hemmungsloses Lob, die etwas zu enthusiastisch und deshalb nicht überzeugend wirkten. Eine Liebe wie eine schöne warme Decke, in die man sich einwickeln konnte, wenn man sie brauchte, gegen die man sich aber bisweilen wehren musste, um nicht zu ersticken. Sie wollte so viel, hoffte auf so viel, dass man sich unter Druck gesetzt fühlte. Wenn es zu viel wurde, starrte Jessica in die Illustrierten ihrer Großmutter oder spielte die Schläfrige.
Die Großmutter konnte einen Besuch dermaßen wichtig nehmen, dass sie mehrere Wochen im Voraus anrief und fragte, was Jessica essen wollte. Und solche Gespräche ließen Jessica zurückweichen. Immer dieses schlechte Gewissen, weil sie ihr nicht dieselbe Liebe entgegenbringen konnte, ihre Gefühle nicht so intensiv waren. Die Liebe der Großmutter war ebenso herzzerreißend, wie wenn man teure, sorgfältig ausgesuchte Geschenke bekommt, die aus irgendeinem Grund einfach nicht zu einem passen.
Jessica räuspert sich, während sie in der Telefonliste die Nummer ihres Vaters heraussucht.
»Es dauert ein paar Tage«, sagt sie, sowie er sich meldet. »Ich muss noch ein paar Dinge erledigen, dann komme ich.«
Sie beenden das Gespräch rasch, er und Gloria sitzen schon im Auto und sind unterwegs nach Schonen. Dann ruft sie bei der SAS an und bucht einen einfachen Flug. Sie wird übermorgen fliegen.
Zum ersten Mal seit mehreren Jahren sehnt sie sich nach einer Zigarette.
Schon als das Taxi vor dem Funkhaus hält, spürt sie, dass alles schiefgehen wird.
Jessica bezahlt mit der Kreditkarte des Senders. Sie nimmt sonst nicht das Taxi zur Arbeit, aber an diesem Tag konnte nichts sie dazu bringen, in die U-Bahn zu steigen, sich dem unerträglichen Gedränge auszusetzen, wenn Fremde oder deren unförmige Rucksäcke sich gegen ihren Körper pressen, die Stöße, das Schaukeln, das metallische Kreischen der Schienen, die sich ständig wiederholende elektronische Ansage und vor allem die Angst, jemand könne sie erkennen, etwas rufen.
Ficken!
Auf sie zukommen und eine Frage stellen, alle Aufmerksamkeit auf sie lenken.
Nein, damit könnte sie nicht umgehen. Nicht heute. Die Mitteilung vom Tod ihrer Großmutter hat sie verletzlich gemacht. Der Filter zwischen ihr und der Welt ist verschwunden. Sie kann sich nicht gegen alle Eindrücke wehren, sie nicht aussieben.
Shit, shit, shit!
Sie verspürt Stiche in den Schläfen, als sie die schweren Glastüren öffnet, und die vertraute Angst vor der Ohnmacht macht sich bemerkbar. Sie geht die wenigen Stufen zur Rezeption hoch, passiert ein gigantisches Werbefoto von sich neben den anderen Moderatoren des Senders. Die Jessica auf dem Bild scheint ganz in ihrem Element zu sein. Sie lächelt strahlend, und ihre Haare werden von einem unsichtbaren Wind zerzaust. Stark und sorglos, offen und natürlich. Und erfolgreich. Aber ihre Sendung verliert Zuschauer, und zwar nicht wenige. Sie hat den Verdacht, dass die meisten Zuschauerbriefe nunmehr von den Produktionsassistentinnen geschrieben werden.
Jessica nickt den Frauen an der Rezeption zu, läuft eilig an der Kantine vorbei, wo Besteckklappern und lautes Stimmengewirr zu hören ist, das lauter wird, wenn alle gleichzeitig versuchen, einander zu überschreien. Sie zieht ihre Karte durch einen Kartenleser, und die Tür zum Innersten des Rundfunkgebäudes öffnet sich automatisch. Jessica rennt durch die Gänge, atemlos, als ob sie verfolgt würde.
Ihre Ratgeberspalte wurde erst nach Jakobs Verschwinden wirklich beliebt. Jessica war eine offene Wunde, und ihre Texte fielen entsprechend aus. Box- anstelle von Seidenhandschuhen. Nichts verklausuliert, nichts beschönigt, keine Grauzonen. Keine Fragezeichen, die nicht zu Ausrufezeichen werden konnten. Ihre berufliche Rolle wuchs zu einer eigenen Persönlichkeit heran, die sich immer weiter von ihr abspaltete, und das gefiel ihr. Sich vor den Computer zu setzen, war, als würde sie eine andere, um einiges unkompliziertere Person.
Sie zögerte lange, als sie im Fernsehen lanciert werden sollte. Sie war nach ihrem Zusammenbruch gerade wieder auf die Beine gekommen, aber es fiel ihr überraschend leicht, diese andere Persönlichkeit auf dem Bildschirm lebendig werden zu lassen.
Jessica fühlt sich mindestens ebenso sehr als Schauspielerin wie als Sexualberaterin. Sie macht ihre Arbeit gut. Sie ist eine gute Beraterin und weiß, wie man Interviews führt, sie konnte das schon lange, ehe es ihr Beruf wurde. Jessica redet nicht gern über sich selbst. Deshalb hat sie früh gelernt, lange Gespräche zu führen, die sich ausschließlich um ihr Gegenüber drehen. Sie kann andere dazu bringen, sich zu öffnen, indem sie die richtigen Fragen stellt, die Sorte Fragen, die eine lange Antwort erfordern. Das ist natürlich einfach, die meisten Menschen reden am liebsten über sich selbst.
Sean meint, sie müsse den besten Job der Welt haben, aber sie selbst ist sich nicht sicher. Sie macht diese Arbeit nun schon so lange, dass sie die Antworten unmöglich noch variieren kann. Trotzdem überrascht es sie immer wieder, wie sehr die Menschen sich selbst belügen können, wie viele Entschuldigungen es dafür gibt, jemanden im Stich zu lassen, wie groß die Angst ist, dass man nicht das bekommt, was alle anderen offenbar haben. Das Überraschendste ist vielleicht, dass so viele eine Antwort bei Jessica suchen, statt ihren Partner oder ihre Partnerin zu fragen. Oder einen Arzt.
Sie hat Angst, ein verzerrtes Bild der schwedischen Bevölkerung zu bekommen, den Glauben an die Menschen zu verlieren und ihr Mitgefühl einzubüßen. Und sie müsste natürlich dankbar dafür sein, dass diese Menschen sich an sie wenden. Der Tod ihrer Beziehungen ist ihr Lebensunterhalt.
Die Ehrengäste der letzten Sendung der Saison sind Millan und Miranda, ein unzertrennliches Paar mit wallenden Perücken und glitzernder Kleidung, die beim Vorentscheid zum Eurovision Song Contest auf dem vierten Platz gelandet sind. Ihr munteres »Sayonara s’il vous plaît« hat sich den ganzen Frühling hindurch frenetisch an den Trommelfellen der schwedischen Bevölkerung gerieben.
»Ich finde, Sex wird so überschätzt. Aber natürlich nicht wirklich«, sagt Millan mit einem Kichern.
»Nein, aber es ist ausgelutscht«, sagt Miranda.
»Genau«, sagt Millan.
Und was macht ihr dann hier?
Das Gefühl der Verletzlichkeit hat sich einen Weg ins Fernsehstudio gebahnt, wo die dicken Schminkschichten sonst ihr privates Ich verbergen. Jessica zweifelt plötzlich an sich, sieht sich selbst kritisch von außen und wägt ihre Worte zu lange ab. Alles, was sie absolut nicht tun dürfte.
»Wie meint ihr das?«, fragt sie.
Versucht, neugierig zu klingen.
»Ja, aber es wird doch überall herumgevögelt«, sagt Miranda.
»Ja, zum Beispiel in allen Dokusoaps«, sagt Millan.
»Ja, und in der Werbung.«
»Aber vor allem in den Dokusoaps«, sagt Millan. »Ich will nicht, dass meine Kinder mitten am Tag Körper sehen müssen, die sich unter Bettdecken wälzen.«
Sie scheint überhaupt nicht zu ahnen, dass sie durchaus keine originelle oder auch nur aktuelle Ansicht vertritt. Jessica sieht im Studiopublikum mehrere zustimmend nickende Köpfe.
»Es scheint immer mehr nur um Sex zu gehen. Und wir reden ja nicht mal von den Schlagzeilen«, sagt Miranda, und jetzt ist die Zustimmung des Publikums deutlich zu hören.
Jessica weiß, dass das nicht stimmt, durchaus nicht. Schon seit mehreren Jahren ist Sex kein garantiertes Verkaufsmittel mehr. Aber die Wörter … Herrgott, die Wörter, die sie brauchte, um eine Antwort zu formulieren, sind verschwunden. Die leeren Augen von Miranda und Millan ruhen jetzt auf ihr. Sie müsste etwas sagen. Der Sauerstoff im Studio scheint zu Ende zu gehen.
Es fällt schwer zu atmen.
»Ihr hattet doch beim Vorentscheid selbst einige ziemlich gewagte Kleider an«, sagt sie endlich.
»Ja, aber beim Schlager muss es doch ein wenig Glanz und Glamour geben«, sagt Miranda. »Lars Wallin hatte die Kleider genäht, und wir fanden sie ganz toll.«
Das Publikum bricht in spontanen Applaus aus, unter den sich Pfiffe und Rufe mischen.
»Warum soll man sich denn nicht ein bisschen herausputzen und schön machen?«, fragt Miranda. »Höhere Absätze hindern ja wohl keine daran, eine starke Frau zu sein.«
»Natürlich darf man das. Auch ich liebe hohe Absätze.«
Jessica hört selbst, dass das wie eine Entschuldigung klingt.
»Es ist wirklich unglaublich, was hohe Absätze ausrichten können«, sagt Millan. »So was wie: Jetzt geht’s los! Seht euch vor, Jungs, hier komme ich!«
Das Publikum lacht, als Millan demonstrativ die Fäuste in die Luft hebt.
»Die falschen Schuhe können wirklich ein ganzes Outfit ruinieren«, sagt Miranda.
»Ich gucke immer, was ein Typ für Schuhe trägt«, sagt Millan. »Die verraten alles über seine Persönlichkeit.«
»Ja, falsche Schuhe, oder wenn er die Klobrille nicht runterklappt, dann fliegt er raus«, lacht Miranda.
Jessica stellt beide Füße auf den Boden. Vor dem Sofa, auf dem sie sitzt, scheint sich ein Abgrund aus bodenloser Panik aufzutun. Sie schaut hinein, und ihr wird schwindlig, während die Klischees von Millan und Miranda wie ein Novembersturm durch das Studio jagen.
Ich kann nicht hierbleiben. Nein. Lasst mich gehen. Ich sterbe, wenn ich hierbleibe. Mach, dass die Sendung zu Ende ist. Mach, dass ich nach Hause gehen und mir die Decke über den Kopf ziehen und vergessen kann, dass ich ein wertloser Dreck bin, der nichts Vernünftiges aus seinem Leben macht und nicht einmal seine Oma besucht hat, obwohl ich wusste, dass sie krank war, Oma, die immer gesagt hat, alles sei gut, während ich doch eigentlich wusste, dass …
Es ist Zeit für den letzten Zuschauerbrief des Abends, und sie liest laut von dem knallrosa Zettel in ihrer Hand vor.
»Hallo, Jessica. Ich bin eine Frau von siebenundzwanzig und habe eine Frage. Mein Freund behauptet, Sperma sei gut gegen Falten, wenn man nachts damit schläft. Stimmt das? Mit freundlichen Grüßen, Lisa.«
Ganz klar ein gefaketer Brief, die gefaketen Briefe fangen immer an mit »Hallo, Jessica« und sind unterschrieben mit Namen wie Lisa.
»Hm. Cleveres Bürschchen«, sagt Millan kichernd.
»Ich begreife nicht, warum die Typen ihren Freundinnen unbedingt immer ins Gesicht spritzen wollen«, sagt Miranda.
»Weil Männer wie Hunde sind, die in ihr Revier pinkeln wollen«, sagt Jessica mit ihrer gelassenen Moderatorinnenstimme.
Miranda zuckt zusammen.
»Dieses Verhalten gilt in der Pornoindustrie als sexy. Aber ich finde es ungefähr so sexy, wie wenn jemand mir voll ins Gesicht niest«, sagt Jessica, und ihre Stimme trägt noch immer.
Sie hat endlich zu ihrer Rolle gefunden und merkt Millan und Miranda an, dass sie ihr nicht zu sehr zustimmen wollen. Dann könnten sie doch als unsexy dastehen, als frigide.
»Aber warum spielt das denn in Pornos überhaupt eine Rolle?«, fragt Miranda und rutscht in ihrem Sessel hin und her.
»Weil der männliche Samenerguss die einzige Möglichkeit ist, um vor der Kamera zu zeigen, dass jemand die Sache wirklich genießt und nicht nur spielt. Aber es gibt ja einen Unterschied zwischen Samenerguss und Orgasmus, ich hoffe, das wissen inzwischen wirklich alle.«
Sie redet weiter und wendet sich dabei direkt an die fremde Lisa, deren Existenz sie anzweifelt, und sagt, es gebe keinen Beweis für die Wirkung einer solchen »Schlafmaske«. Sie kann das Publikum sogar zweimal zum Lachen bringen.
»Du hast in letzter Minute die Sendung gerettet«, sagt Jessicas Produzent Rickard Medin zwanzig Minuten später.
Sie stehen im Studio, wo die Scheinwerfer gelöscht worden sind. Die Luft ist geprägt von den vielen warmen Körpern, die sich hier eben noch gedrängt haben. Es fehlt noch immer an Sauerstoff, aber das Atmen fällt leichter, jetzt, wo alles vorbei ist.
»Ich war vorhin vorübergehend ein wenig besorgt«, sagt er. »Aber dann war sie wieder da, die bittere Zynikerin Jessica Wilcox, die wir alle kennen und lieben.«
Das ist natürlich als Kompliment gemeint.