Kosmos
Umschlagillustration von Aiga Rasch (9. Juli 1941 – 24. Dezember 2009)
Umschlaggestaltung von eStudio Calamar, Girona, auf der Grundlage
der Gestaltung von Aiga Rasch (9. Juli 1941 - 24. Dezember 2009)
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© 1994, 2011 Franckh-Kosmos Verlags-GmbH & Co. KG, Stuttgart
Alle Rechte vorbehalten.
Mit freundlicher Genehmigung der Universität Michigan
Based on Characters by Rober Arthur.
ISBN 978-3-440-12921-0
Satz: DOPPELPUNKT, Stuttgart
eBook-Konvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig
In flottem Tempo fuhr Justus aus dem Schatten des mannshohen Oleanders. Die Nachmittagssonne traf ihn unerwartet voll ins Gesicht. Irritiert blinzelte er und sah den Rollsplitt am Seitenrand der bergan steigenden Straße erst, als ihm das Hinterrad wegrutschte. Er stürzte der Erde entgegen, zog gerade noch rechtzeitig den Kopf ein und schlug mit der rechten Schulter auf dem harten, ausgetrockneten Boden auf. Ungläubig sah Justus Jonas seinem Rad nach, das noch einige Meter über die Straße schlitterte und dabei kleine Staubwölkchen aufsteigen ließ. Wie im Film, dachte er, während die eigene Rutschpartie noch nicht zu Ende war. Als sein Fall kurz darauf durch ein Hindernis gestoppt wurde, waren nicht mehr als zwei Handbreit zwischen seinem Gesicht und einem Kaktus.
»So ein Mist«, schimpfte der Erste Detektiv. Nach einigen Schrecksekunden rappelte er sich langsam auf. Er war auf dem Weg von der High School nach Hause und sollte Onkel Titus eigentlich schon seit einer Viertelstunde auf dem Schrottplatz helfen.
Unwillkürlich fasste er mit der Hand an die verletzte Schulter – und spürte einen stechenden Schmerz. »Au!«, schrie er erschrocken.
Ungläubig betrachtete er seine Handfläche, die jetzt ebenfalls schmerzte. Drei Stacheln, die ihn an Tante Mathildas Sticknadeln erinnerten, zitterten in der hellen Haut. Justus verzog das Gesicht und biss die Zähne zusammen. Vorsichtig zog er die Dinger eins nach dem anderen heraus. Etwas benommen schüttelte er den Kopf und warf einen schiefen Blick auf seine rechte Schulter. Stacheln auch hier. Es half nichts. Mit ruckartigen Handbewegungen befreite er sich von den Quälgeistern. Er stöhnte auf und bewegte vorsichtig seine Schulter. Aber dann war er erleichtert. Es schien nichts ausgerenkt oder gebrochen zu sein.
Nach ein paar Schnaufern schraubte er sich umständlich hoch und ging hinüber zu seinem Fahrrad. Es hatte den Sturz besser überstanden als sein Besitzer. Die Kette war dort, wo sie hingehörte, nichts hatte sich verbogen, nur auf der Lenkstange leuchteten ihm zwei neue Kratzer entgegen.
Unschlüssig stieg er auf – und sofort wieder ab. Das eine Knie schien weich zu sein wie Butter und das andere zu zittern wie Espenlaub. Beide waren sie jedenfalls ungeeignet zum Radfahren. Justus seufzte und fing an, seinen Drahtesel bedächtig den Hügel hinaufzuschieben.
Als er zwanzig Minuten später auf den Schrottplatz von Onkel Titus einbog, fühlte er sich noch immer reichlich wackelig. Das MG-Cabrio sah er sofort. Das hatte ihm gerade noch gefehlt: erst der Sturz, dann die Kakteen und jetzt das Grinsen, das sein Freund Peter gleich aufsetzen würde. Justus lehnte sein Rad an den hohen Holzzaun, der das Gelände umgab, und schlurfte zum Campingwagen, in dem die drei ??? ein kleines Detektivbüro mit allen technischen Finessen eingerichtet hatten.
Peter sprang gerade aus der Tür des Wohnhauses und steuerte auf sein Auto zu, als er den Freund entdeckte. »Hey«, rief er, »endlich bist du da! Wir haben dich schon überall gesucht.«
»Ich hatte –«, setzte Justus an, aber Peter ließ ihn nicht zu Wort kommen. »Wir haben einen Wochenendjob. Beeil dich, in einer Stunde müssen wir in Camarillo am Flughafen sein.«
»Darf ich mal fragen –«, versuchte Justus ein zweites Mal, Peter zu unterbrechen.
»Nicht jetzt«, schüttelte der seinen Kopf so heftig, dass ihm die hellblonden Haare ins Gesicht fielen, »ich muss schnell nach Hause, meine Sachen packen.«
Mit großen Schritten ging Peter rückwärts zu seinem Auto. »Nimm drei Paar Socken mit, wir kommen erst am Dienstag wieder.« Plötzlich stutzte er und warf Justus einen verwunderten Blick zu. »Wie siehst du denn aus?«
»Ich hatte …«
»Erzähl’s später.« Peter war nicht zu bremsen. »Ich bin in zwanzig Minuten wieder da und hol dich ab.« Er sprang über die Fahrertür in den Wagen und fuhr winkend davon.
Justus sah ihm ungläubig nach und versuchte seine Gedanken zu ordnen. Es war Donnerstag, und jemand wollte, dass sie bis Dienstag für ihn arbeiteten. Die Aussicht, mit unbekanntem Ziel wegzufliegen, gefiel ihm. Leider milderte sie den Schmerz nicht, der sich in seiner Schulter eingenistet hatte.
Er schüttelte sich. Anderes T-Shirt, erst danach Tante Mathilda unter die Augen treten, signalisierte ihm sein Gehirn. Er stieg in den Campingwagen, ließ sich in den Bürosessel fallen und verschnaufte etwas. Nach einigen Minuten rappelte er sich auf, zog eines der T-Shirts, die sie für Notfälle deponiert hatten, aus dem Schrank und ging wieder hinaus, um das Rad im Schuppen zu verstauen.
Dort strafte er die neue Lieferung von Altwaren, die Onkel Titus am Vormittag in Ventura geholt hatte, mit Nichtachtung. Er würde sich noch früh genug damit befassen müssen. Justus war für die Datenerfassung der Bestände zuständig, die sein Onkel ankaufte, um sie später wieder zu verkaufen.
Titus Jonas hatte vor vielen Jahren mit einem Schrottplatz begonnen und ihn zum größten in Rocky Beach gemacht. Aber er beließ es nicht beim Handel mit Altmetall, sondern kaufte und verkaufte schwungvoll alles Mögliche, von Haushaltsartikeln bis zu Kunstgegenständen. Mittlerweile genoss das nicht übel florierende Geschäft selbst bei Antiquitätensammlern einen guten Ruf.
Nachdem er den Schuppen wieder versperrt und den Schlüssel in der Dachrinne versteckt hatte, ging Justus quer über den Platz zum Wohnhaus. Von Titus Jonas keine Spur.
Alte Keramikrohre waren auf dem Hof zu einer Pyramide gestapelt, Waschbecken lagerten hier, einige Eisenträger aus einer gerade abgerissenen Fabrik und drei Dutzend Lampen einer Flutlichtanlage, die als Stadionbeleuchtung ausgedient hatte und jetzt zerlegt zum Verkauf stand. Die Lampen waren gerade der große Renner. Drei davon bestrahlten inzwischen wieder das alte Rathaus von Rocky Beach, einige andere waren in den Gärten vornehmer Villenbesitzer gelandet.
An der Tür spürte Justus von Neuem das schmerzhafte Klopfen in der Hand und in seiner Schulter. Er versuchte, eine lockere Miene aufzusetzen. Bei Erkrankungen, auch wenn es sich um Bagatellen handelte, ließ Tante Mathilda nicht mit sich spaßen. Und jetzt, das war Justus sofort klar, musste erst einmal geklärt werden, was es mit diesem Ausflug auf sich hatte. Er nahm sich fest vor, den Sturz und die Schmerzen vorerst für sich zu behalten.
»Ich hab deinen Seesack fertig gepackt. So ein Glück, dass ihr morgen schulfrei habt.« Lachend kam ihm Tante Mathilda entgegen. »Freust du dich?«
»Na klar«, antwortete er, »riesig. Ich weiß nur noch nicht genau, worauf.«
»Hat dir Peter nichts erzählt?«
Justus schüttelte verwirrt den Kopf. »Oh ja, irgendwas von Flughafen und Wochenendjob, und dass wir’s eilig haben.«
»Ihr sollt nach Sedona zum Musikfestival. Ein Freund von Sax Sendler dreht dort einen Fernsehfilm und braucht Helfer. Sendler hat Bob gefragt, ob ihr einspringen wollt. Es steht sogar ein Flugzeug bereit für Luftaufnahmen. Damit könnt ihr nach Sedona fliegen. Sendler fliegt mit. Bobs und Peters Eltern haben auch nichts dagegen.« Tante Mathilda brach ab und sah ihren Neffen fragend an.
Justus war die Sachlage sofort klar. Sax Sendler war Talentvermittler, in dessen Musikagentur Bob Andrews, der Fachmann für Archivarbeiten und Recherchen des erfolgreichen Detektivtrios, stundenweise arbeitete. Er kannte viele interessante Leute. Wenn der einem einen Job anbietet, ging es Justus durch den Kopf, muss man unbedingt annehmen. Und wenn er jetzt nach Jod verlangte und von den Kakteen anfing, würde Tante Mathilda ein Machtwort sprechen und er daheimbleiben müssen.
»Is’ was mit dir?« Tante Mathildas Miene verlor ein wenig von ihrem Strahlen.
»Nein, gar nichts«, stieß er hervor. »Ich habe … ich habe … mich nur über Peter geärgert, weil der nichts Zusammenhängendes herausgebracht hat.« Er versuchte ein Grinsen aufzusetzen. »Super, nicht?«, fragte er noch immer etwas unsicher.
»Ja, wirklich, ich freu mich richtig für dich. Man kommt ja nicht alle Tage nach Arizona und dann auch noch mit dem Flugzeug. Titus weiß auch schon Bescheid.« Sie schickte Justus einen strafenden Blick. »Du hast ihn ganz schön versetzt heute Nachmittag.«
Justus sah sie zerknirscht an.
Seine Tante lachte. »Mach dir nichts draus. Er ist stattdessen zu einem neuen Beutezug aufgebrochen.« Sie drehte sich um und marschierte in die Küche. Offenbar war ihr nichts Ungewöhnliches an ihrem Neffen aufgefallen. Der trottete ihr langsam nach.
»Hier hab ich euch noch ein paar Brote zurechtgemacht. Wer weiß, wann ihr etwas zu essen bekommt.« Sie betrachtete Justus eindringlich. »Pass auf dich auf, damit ich mir keine Sorgen machen muss.«
Der Erste Detektiv nickte. Er merkte, wie langsam Freude in ihm aufstieg. »Rund um die Uhr pass ich auf mich auf«, sagte er. »Außerdem hab ich ja zwei Leibwächter.« Er grinste. Dann fing er an zu singen, obwohl er wusste, dass Tante Mathilda von seinen Fähigkeiten auf diesem Gebiet nicht allzu viel hielt. »Nach Sedona durch die Lüfte, nach Sedona durch die –« Peters Hupe schickte einen schrillen Misston in seinen schmelzenden Belcanto.
Justus schnappte seinen Seesack und entkam nur knapp dem freundschaftlichen Klaps der Tante auf die rechte Schulter. Ersatzhalber gab er ihr einen Kuss auf die Wange und lief aus dem Haus.
»Ich ruf an, wenn wir angekommen sind«, schrie er, um das Begrüßungsgeheul von Bob und Peter zu übertönen. Sie winkten und Tante Mathilda winkte zurück.
Bob wollte ausführlich gelobt werden, weil er den beiden anderen zu dem Trip verholfen hatte. Peter machte bereits detaillierte Pläne für den Abend in der fremden Stadt. Er hielt sich für ziemlich unwiderstehlich, und wenn seine Freundin Kelly nicht dabei war, schäkerte er nur zu gerne mit anderen Mädchen.
Allmählich ließ sich Justus von der Vorfreude seiner beiden Freunde anstecken. Und als sie zwanzig Minuten später auf dem Flughafen hinter Ventura ankamen, hatte er sein Missgeschick vom Nachmittag schon fast vergessen.
Peter fand nahe der Abfertigungshalle einen bewachten Parkplatz.
»Immer mir nach«, übernahm Bob wie selbstverständlich das Kommando. Lässig, die schwarze Sonnenbrille auf den braunen Haaren, lehnte er am Wagen und wartete, bis Peter alles abgeschlossen hatte. Im Gänsemarsch trabten sie in das winzige, nicht gerade elegante Gebäude.
»Da drüben.« Peter entdeckte die kleine Gruppe als Erster. Zwei junge Frauen und ein nicht mehr ganz so junger, ziemlich drahtiger Mann, bepackt mit einer Kamera, Kabelrollen, einem Stativ und zwei Scheinwerfern, standen an einem der Schalter. Sie gingen auf den Mann zu.
»Guten Tag«, sagte Justus. »Wir sind die Jungs, die Sax Sendler schickt.«
»Und wir kommen von NTV«, antwortete der Mann freundlich und schüttelte ihm die Hand. Dann drehte er sich zu der blonden Frau um, die hinter ihm stand. »Das ist Jean Baxter. Sie ist die Reporterin. Und unsere Chefin.«
»Hi«, grüßten die drei etwas verlegen. Justus musste an Lys denken. Die hätte ihm jetzt einen Rüffel verpasst, weil er ohne langes Nachdenken einfach angenommen hatte, der Boss sei natürlich der Mann.
»Das ist Chelsea Smith, die Kamerafrau«, fuhr der Mann fort, »und ich heiße Simon Hoover. Ich bin für den Ton zuständig.«
»Hat Sax euch erzählt, worum es geht?«, wollte Jean Baxter wissen.
»Nur ganz kurz«, antwortete Bob, »wo ist er überhaupt?«
»Kommt nach«, sagte die Reporterin. »Er muss heute Abend zu irgendeinem Konzert nach Lancaster.« Sie sah auf ihre poppige Armbanduhr. »Wir haben noch fünfzehn Minuten Zeit. Da drüben ist eine kleine Snackbar, dort können wir alles besprechen.«
Sie deponierten ihr Gepäck am Schalter ihrer Fluglinie und gingen ans andere Ende der Halle. Von hinten betrachtete Justus ihre Arbeitgeberin genauer. Jean war groß und ein klein wenig mollig, was ihm auf Anhieb sympathisch war, und trug einen langen dunkelblonden Zopf. Chelsea war kleiner, hatte einen auffallend schlanken, langen Hals und ihre Haare unter einer schief sitzenden Baseballmütze versteckt. Simon sah aus wie ein Bergsteiger. Er war selbst für kalifornische Verhältnisse ausgesprochen braun gebrannt.
Jean Baxter setzte ein strahlendes Lächeln auf. »Ich lade euch ein. Natürlich nur, wenn ihr nicht gerade ein viergängiges Menü bestellt.«
»Bestimmt nicht«, versprach Peter. »Und ich mache den Ober. Wem darf ich was bringen? – Eistee für alle? Okay«
»Also«, fing Jean an, als Peter mit sechs vollen Gläsern auf einem Tablett zurückkam. »Wir haben den Auftrag, einen Film über das diesjährige Musikfestival zu drehen.«
»Wissen wir schon«, warf Bob etwas vorlaut ein und erntete einen strengen Blick von Justus.
»Nicht nur über die Musikszene und die Zuschauer«, fuhr Jean fort, »sondern auch darüber, was so ein Festival wirtschaftlich für eine Kleinstadt bedeutet. Was durch Übernachtung und Eintrittspreise reinkommt, aber auch, was zum Beispiel die Entsorgung der zurückbleibenden Müllberge kostet.«
Je länger sie sprach, desto sympathischer wurde Jean den drei ???. Ohne lange drum herumzureden, gab sie ihre Anweisungen. »Einer von euch wird mir bei meinen Notizen helfen, Namen, Adressen und Stichworte mitschreiben, wenn ich Interviews mache. Aber ihr werdet auch Boten sein und Kabelträger und Beleuchter. Und wenn wir Hunger kriegen, schafft ihr Verpflegung ran.« Für einen kurzen Moment sah sie zu Boden. »Ich weiß, fünfundzwanzig Dollar am Tag sind nicht gerade rosig, aber dafür wohnt ihr auch umsonst. Und ihr könnt hin- und herfliegen. Okay?«
Sie nickten.
»Und wo wohnen wir?«, wollte Peter wissen.
»In der Jugendherberge. Wir sind in einem Motel gleich gegenüber.« Jean sah wieder auf ihre Uhr. »Wir müssen los. Im Flugzeug geb ich euch dann einen Tagesplan für morgen. Damit ihr wisst, was euch erwartet.«
Ein groß gewachsener Mann im blauen Pilotenhemd kam auf sie zu. »Captain Pyton von der Eagle Air«, sagte er. Dabei wandte auch er sich wie selbstverständlich an Simon.
Justus musste grinsen und Jean zwinkerte ihm zu. Dann griff sie nach ihrer Tasche und stand auf.
Das Gepäck war schon auf einem Wagen gestapelt. Sie folgten Pyton auf das Flugfeld. Zwei Dutzend kleine Maschinen standen in Parkposition. Der Captain deutete auf eine Cessna, die mit einem auffälligen Goldstreifen verziert war. Sie verstauten die Seesäcke, die Kabelrollen und das Stativ und kletterten in die Kabine. Chelsea nahm die Kamera auf ihren Schoß, Jean und Simon hielten jeweils einen Scheinwerfer. Pyton stellte ihnen seinen Kopiloten vor. Sie mussten ihre Sicherheitsgurte anlegen, dann wurden die Propeller angelassen.
Justus sah zu Bob und Peter hinüber. Beiden stand die Begeisterung ins Gesicht geschrieben. Sie waren erst ein einziges Mal mit einer so kleinen Maschine geflogen.
»Hast du Angst?«, zischte Peter dem Ersten Detektiv zu. »Du schaust so komisch.«
»Blödsinn«, gab Justus zurück. Angst vorm Fliegen hatte er wirklich nicht. Allerdings meldete sich seine Schulter wieder, und er hoffte inständig, keine der Stacheln beim Herausziehen abgebrochen zu haben.
»Jetzt geht’s los«, riss ihn der Pilot aus seinen Gedanken. Justus beschloss, erst einmal den Flug zu genießen, und drückte sich tief in seinen Sessel.
Sie rollten zur Startbahn. Die Maschine hielt kurz an, bevor sie beschleunigte. Justus sah hinaus. Die am Boden stehenden Flugzeuge flitzten vorbei, die Abfertigungshalle, er konnte den Parkplatz sehen, und dann hoben sie ab.
Peter reckte ausgelassen den Daumen nach oben. Dann fingerte er aus seiner Jacke einen Walkman. »Bon Jovi. Ihr dürft auch mal, wenn ihr wollt.«
Jean Baxter drehte sich zu den drei ??? um. »Euch geht’s wohl richtig gut«, meinte sie lachend. »Mir auch, ich fliege für mein Leben gern.«
»Genau wie ich«, rief Chelsea. Mit einer kessen Handbewegung nahm sie ihre Mütze ab. Darunter quollen lange rote Locken hervor. Peter, der auf einem einzelnen Sitz schräg vor Justus saß, bekam vor Bewunderung ganz runde Augen.
Sie zogen eine große Schleife über den kleinen Flugplatz. Unter ihnen waren die Santa Monica Mountains zu sehen und der Pazifik, bevor sich die Maschine nach Nordosten wandte. »Wir fliegen jetzt ein Stück in Richtung Bakersfield«, rief Captain Pyton über die Schulter nach hinten, »und dann nördlich von Edwards Richtung Mojave Wüste. Wenn wir Glück haben, sehen wir den Colorado bis zum Lake Mead.«
Die Häuser unten wurden immer kleiner. Und je höher sie stiegen, umso mehr ähnelte das Autobahnsystem rund um Los Angeles einer Krake, die ihre Arme in die Landschaft verkrallt hatte. Sechs, ja sogar acht Spuren breit zogen sich die Fahrbahnen durchs Land. Die Cessna legte sich in die Kurve, Justus konnte deutlich den Highway Number One erkennen. Nach einer Viertelstunde ging mit einem kleinen Klingeln das »Fasten Seat Belt«-Zeichen aus. »Wenn Sie jetzt nach vorne sehen«, rief der Pilot, »erkennen Sie am Horizont die Mojave Wüste.«
Wie auf Kommando drehten alle sechs die Köpfe zu den kleinen Fenstern. Ihnen entgegen wuchs eine gelbgraue, kaum strukturierte Fläche, die in der Abendsonne besonders unwirklich aussah.
»So stell ich mir die Sahara vor«, sagte Bob beeindruckt.
»Zu recht«, schaltete sich Justus ein. »Die Mojave, aber auch die Sonora in Arizona sind Wendekreiswüsten, genau wie die Sahara. Denn auf der Höhe der Wendekreise, bei 23,5 Grad südlicher und nördlicher Breite, hat sich ein Wüstengürtel um die Erde gelegt.« Er imitierte die schleppende Redeweise ihres Geografielehrers und grinste frech. »Wie ihr ja sicher alle wisst.«
Chelsea stand auf und kam näher, um mitzuhören. »Die bekannteste dieser Wüsten ist die Sahara«, fuhr Justus mit seinem Vortrag fort. »Dass sie verwandt ist mit unserer Mojave, beweist allein die Tatsache, dass Marrakesch in Marokko auf derselben Höhe liegt wie Tuscon und Los Angeles auf der Höhe von Rabat.«
»Habt ihr das in der Schule gelernt?«, fragte Jean anerkennend.
Justus zog die Schultern hoch. »Teils, teils. Wir haben uns im vergangenen Herbst, nach der großen Trockenheit im Sommer, mit dem Thema Wüste und Wasser beschäftigt. Erinnert ihr euch noch?«
Bob und Peter nickten eifrig. Viel mehr allerdings hätten sie kaum beitragen können. Das war auch gar nicht nötig, denn Justus Jonas kam gerade erst so richtig in Fahrt.