Zsolnay eBook

 

Henning Mankell

 

Der Feind im Schatten

Roman

 

Aus dem Schwedischen

von Wolfgang Butt

 

 

 

Paul Zsolnay Verlag

 

Die Originalausgabe erschien 2009 unter dem Titel

Den orolige mannen bei Leopard förlag in Stockholm.

 

eBook ISBN 978-3-552-05502-5

 

© Henning Mankell 2009

Published by agreement with Leopard förlag, Stockholm and Leonhardt & Høier Literary Agency A/S, Copenhagen

Alle Rechte der deutschsprachigen Ausgabe:

© Paul Zsolnay Verlag Wien 2010

Satz: Eva Kaltenbrunner-Dorfinger, Wien

 

www.hanser-literaturverlage.de

www.henning-mankell.de

 

Datenkonvertierung eBook:

Kreutzfeldt digital, Hamburg

 

 

»Ein Mensch hinterlässt immer Spuren.

Es ist auch kein Mensch ohne einen Schatten …«

 

»Man vergisst, was man nicht vergessen will,

und denkt an das, was man lieber vergessen hätte …«

 

Graffiti an Hauswänden in New York

 

Inhalt

 

 

Prolog   7

 

TEIL 1

In die Sümpfe   15

 

TEIL 2

Unter der Oberfläche   157

 

TEIL 3

Dornröschenschlaf   289

 

TEIL 4

Das Trugbild   435

 

Epilog   573

 

 

Nachwort   589

 

Prolog

Die Geschichte beginnt mit einem Wutanfall.

Noch kurz zuvor hatte in der schwedischen Regierungskanzlei, wo der Vorfall sich abspielte, morgendliche Stille geherrscht. Die Ursache war ein Bericht, der am Vorabend abgegeben worden war und den der schwedische Ministerpräsident jetzt, an seinem dunklen Schreibtisch sitzend, las.

Es war einer der ersten Frühlingstage im Jahre 1983 in Stockholm, ein feuchter Dunst hing über der Stadt, und die Bäume hatten noch nicht ausgeschlagen. In den Ministerien sprach man natürlich genauso viel übers Wetter wie an anderen Arbeitsplätzen. Wenn es um Wetter und Wind ging, wandten sich alle in den allerheiligsten Räumen der Regierungskanzlei an Åke Leander. Es hieß, er könne mit den sichersten Wettervorhersagen aufwarten.

Leander hatte vor einigen Jahren einen Titel bekommen, der vornehmer klang als »Hausmeister«, vielleicht war er »Vorstand der Hausverwaltung« oder etwas in der Art. Er selbst betrachtete sich jedoch weiterhin als Hausmeister und hatte nicht das Bedürfnis, eine neue Berufsbezeichnung zu tragen.

Åke Leander war schon immer da gewesen, stets in der Nähe von Ministern und Staatssekretären, die kamen und gingen. Er gehörte zum Inventar, war pflichtbewusst und diskret. Jemand hatte mal im Scherz vorgeschlagen, er solle nach seinem Tod der Schutzheilige der Regierungskanzlei werden, ein freundliches Phantom, das seine Hand über ihre Anstrengungen hielt, die Geschicke des Landes Schweden zu lenken.

Dass er so viel über Wind und Wetter wusste, lag an dem Hobby, das Åke Leander neben seiner Arbeit betrieb. Er war unverheiratet und wohnte in einer nicht gerade großen Zweizimmerwohnung auf Kungsholmen. Hier pflegte er ein weltumspannendes Netz von Freunden, mit denen er als eifriger Amateurfunker in ständigem Kontakt stand. Er kannte seit langem die meisten Codewörter im Abkürzungsjargon der Amateurfunker auswendig. Nicht nur, dass QRT bedeutete »Sendung abbrechen« oder dass AURORA Empfangs- und Sendestörungen aufgrund hochfrequenten Nordlichts erklärte. Fast jeden Abend saß er mit den Kopfhörern da und sendete sein QRZ: »Sie werden angerufen von …« und dann sein Name. Die Legende berichtet, dass vor sehr langer Zeit der damalige Ministerpräsident aus einem nicht bekannten Grund wissen musste, welches Wetter im Oktober und November auf Pitcairn Island vorherrschte, jener entlegenen Insel im Stillen Ozean, auf der die Seeleute der Bounty nach der Meuterei gegen Kapitän Bligh das beschlagnahmte Schiff verbrannt hatten, um danach für immer dort zu bleiben. Åke Leander hatte dem Ministerpräsidenten am folgenden Tag die gewünschten Auskünfte über das Wetter erteilt. Und natürlich hatte er nicht gefragt, warum. Er war, wie bereits erwähnt, äußerst diskret.

»Åke Leander verfügt über bessere internationale Kontakte als irgendeiner im Außenministerium«, pflegte man ein wenig boshaft zu sagen, wenn er gemessenen Schritts durch die Korridore ging.

 

Als der Ministerpräsident die letzte Seite gelesen hatte, stand er auf und trat an ein Fenster. Draußen wirbelten Möwen in der Luft.

Es ging um die U-Boote. Die verfluchten U-Boote, die im Herbst 1982 vermutlich in schwedische Hoheitsgewässer eingedrungen waren und die Landesgrenzen verletzt hatten. Genau in der Zeit hatte in Schweden die Wahl stattgefunden, und Olof Palme war vom Sprecher des Reichstags mit der Regierungsbildung beauftragt worden, nachdem die Bürgerlichen eine Anzahl Mandate verloren hatten und im Parlament unterlegen waren. Bei ihrem Amtsantritt hatte die neue Regierung eine Kommission zur Aufklärung der Vorkommnisse mit den U-Booten eingesetzt, die man nie zum Auftauchen hatte zwingen können. Sven Andersson war der Vorsitzende des Ausschusses gewesen, dessen Bericht jetzt vorgelegt worden war. Olof Palme hatte ihn gelesen. Und er verstand nichts. Die Schlussfolgerungen der Untersuchung waren unbegreiflich. Olof Palme war außer sich.

 

Doch ist festzuhalten, dass Olof Palme nicht zum ersten Mal über Sven Andersson in Rage geriet. Eigentlich reichte seine Abneigung gegen ihn bis zu jenem Tag im Juni 1963 zurück, als unmittelbar vor Mittsommer ein grauhaariger siebenundfünfzigjähriger Mann in eleganter Kleidung auf der Riksbro mitten im Zentrum von Stockholm festgenommen worden war. Es ging so diskret vor sich, dass niemand aufmerksam wurde. Der Festgenommene hieß Wennerström, war Oberst der schwedischen Luftwaffe und von diesem Moment an als Spion für die Sowjetunion enttarnt.

Zum Zeitpunkt der Festnahme befand sich der damalige Ministerpräsident Tage Erlander auf dem Heimweg von einer Auslandsreise, einer der wenigen Urlaubswochen, die er in einer von Resos Ferienanlagen in Riva del Sole verbracht hatte. Als Erlander aus dem Flugzeug stieg und von Journalisten bestürmt wurde, war er nicht nur völlig unvorbereitet, er war auch nahezu unwissend, was die Sache betraf. Ihm war weder etwas von der Festnahme bekannt noch von einem suspekten Fliegeroberst namens Wennerström. Möglicherweise waren der Name und der Verdacht bei einem der Einzelberichte, die der Verteidigungsminister ihm von Zeit zu Zeit erstattete, zur Sprache gekommen und aufgewirbelt wie alter Staub. Aber nichts Ernstes, nichts, womit man sich abzugeben hatte. In den trüben Wassern, die den Kalten Krieg ausmachten, war der Verdacht der Spionage für die Russen stets gegenwärtig und trieb dicht unter der Oberfläche. Erlanders Antworten fielen entsprechend aus. Der Mann, der eine lange Reihe von Jahren ununterbrochen schwedischer Ministerpräsident war, siebzehn Jahre, wenn man genau nachzählt, stand wie ein Trottel da und wusste nicht, was er antworten sollte. Weder Verteidigungsminister Andersson noch sonst jemand, der mit dem Fall vertraut war, hatte ihm mitgeteilt, was los war. Während des Fluges von einer knappen Stunde hätte er ausreichend über das schockierende Vorkommnis informiert werden können und die Möglichkeit gehabt, sich auf die Begegnung mit den aufgebrachten Journalisten vorzubereiten. Aber keiner war ihm zum Flughafen Kastrup entgegengekommen, um ihn einzuweihen.

Auch wenn es nie in Einzelheiten an die Öffentlichkeit drang, stand Erlander in den folgenden Tagen kurz vor dem Rücktritt vom Posten des Ministerpräsidenten und als Vorsitzender der Sozialdemokratischen Partei. Nie zuvor war er so enttäuscht gewesen von seinen Kollegen in der Regierung. Und Olof Palme, der schon damals der Mann zu sein schien, den Erlander als Kandidaten für seine Nachfolge betrachtete, teilte loyal dessen Empörung über die Nachlässigkeit, die zu Erlanders Erniedrigung geführt hatte. Olof Palme wachte über seinen Herrn und Meister wie ein Bluthund, pflegte man in regierungsnahen Kreisen zu sagen. Niemand widersprach dem.

Olof Palme konnte Sven Andersson nie verzeihen, was er Erlander angetan hatte.

Viele fragten sich später, warum Olof Palme Sven Andersson trotzdem in seine Regierung holte. Das war eigentlich nicht schwer zu verstehen. Hätte Olof Palme gekonnt, hätte er es nicht getan. Aber er konnte ganz einfach nicht. Sven Andersson hatte große Macht und starken Einfluss bei der Parteibasis. Er war Arbeitersohn im Gegensatz zu Olof Palme, der altem baltischem Adel entstammte, der Offiziere in der Familie hatte – der selbst übrigens Reserveoffizier war –, der vor allem aber der wohlhabenden schwedischen Oberklasse angehörte. Er hatte keinerlei tiefere Verankerung in der Partei. Olof Palme war ein Überläufer, der es zwar ernst meinte mit seiner parteipolitischen Überzeugung, aber dennoch ein fremder politischer Pilger auf lebenslangem Besuch war.

 

Åke Leander, der auf dem Flur vor dem Zimmer des Ministerpräsidenten vorbeiging, ein bissig formuliertes Rundschreiben in der Hand, in dem die Nachlässigkeit der Angestellten der Staatskanzlei beim abendlichen Abschließen der Türen angeprangert wurde, hörte den Wutausbruch. Er hielt kurz inne und ging dann weiter, als wäre nichts geschehen.

Olof Palme konnte seine Wut nicht mehr beherrschen. Hochrot im Gesicht, mit dem eigentümlichen Zucken der Arme, das seine Momente des Zorns kennzeichnete, wandte er sich zu Sven Andersson um, der sich in das graue Sofa drückte.

»Aber es gibt keine Beweise«, brüllte er. »Nur Behauptungen, Andeutungen, Anspielungen von illoyalen Marineoffizieren. Diese Untersuchung bringt uns keinerlei Klarheit. Im Gegenteil, sie führt uns geradewegs in die politischen Sümpfe.«

Zwei Jahre zuvor, in der Nacht zum 28. Oktober 1981, war ein sowjetisches U-Boot in der Gåsebucht außerhalb von Karlskrona auf Grund gelaufen. Das war nicht nur schwedisches Hoheits-, sondern dazu noch militärisches Sperrgebiet. Das U-Boot hatte das Kennzeichen U 137, und der Kapitän an Bord, Anatoli Michailovitsch Guschtschin, erklärte, das U-Boot sei aufgrund eines unbekannten Defekts am Kreiselkompass vom Kurs abgekommen. Schwedische Marineoffiziere und einfache Fischer waren der festen Überzeugung, dass nur ein sehr betrunkener Kapitän das Kunststück hatte fertigbringen können, so weit ins Schärenmeer einzudringen, ohne schon früher auf Grund zu laufen.

Am 6. November wurde die U 137 in internationale Gewässer geschleppt und verschwand. In diesem Fall bestand also kein Zweifel daran, dass ein sowjetisches U-Boot in schwedischen Hoheitsgewässern unterwegs gewesen war. Doch ob es eine bewusste Verletzung des schwedischen Hoheitsrechts oder Trunkenheit am Ruder war, wurde nicht geklärt. Dass die Russen steif und fest bei dem defekten Kompass blieben, wurde allgemein als Bestätigung dafür angesehen, dass der Kapitän wirklich betrunken war. Keine Flotte, die etwas auf sich hält, gibt zu, dass einer ihrer Befehlshaber im Dienst betrunken ist.

Damals hatte es die Beweise gegeben. Aber wo waren sie jetzt?

Was der damalige Verteidigungsminister zu seiner eigenen und zur Verteidigung der Untersuchung vorzubringen hatte, weiß niemand. Er selbst hatte keine Aufzeichnungen gemacht, und Olof Palme, der einige Jahre später ermordet wurde, hinterließ auch keine schriftlichen Kommentare.

Auch Åke Leander kommentierte den Wutanfall des Ministerpräsidenten nicht, weder mündlich noch schriftlich. Er quittierte seinen Dienst im Frühjahr 1989 und zog sich in seine Wohnung und zu seinen Freunden im Äther zurück. Er wurde vom damaligen Ministerpräsidenten mit warmem Dank verabschiedet, und niemand hatte später das Gefühl, er könnte als Geist in der Staatskanzlei spuken, nachdem er in aller Stille im Herbst 1998 verschieden war.

 

Mit diesem Wutanfall begann also alles. Die Geschichte von den Bedingungen der Politik, von der Reise in die Sümpfe, wo Wahrheit und Lüge die Vorzeichen tauschten, so dass am Ende über nichts mehr Klarheit zu erlangen war.

 

TEIL 1

 

In die Sümpfe

 

1

 

Als Kurt Wallander fünfundfünfzig geworden war, hatte er sich zu seinem eigenen Erstaunen einen lange gehegten Traum erfüllt. Seit der Trennung von Mona vor fast fünfzehn Jahren hatte er die Wohnung in der Mariagata, wo so viele bedrückende Erinnerungen in den Wänden steckten, verlassen wollen, um aufs Land zu ziehen. Jedes Mal, wenn er nach einem meist trostlosen Arbeitstag nach Hause kam, wurde er daran erinnert, dass er hier mit einer Familie gelebt hatte. Jetzt starrten ihn die allein gelassenen Möbel vorwurfsvoll an.

 

Er konnte sich nicht mit dem Gedanken abfinden, dort zu leben, bis er vielleicht nicht mehr allein zurechtkäme. Obwohl er ja noch nicht einmal sechzig war, kam ihm immer öfter das einsame Alter seines Vaters in den Sinn. Er brauchte nur beim Rasieren am Morgen sein Gesicht im Spiegel zu betrachten, um einzusehen, dass er ihm immer ähnlicher wurde. Als er jung war, hatte er mehr seiner Mutter geähnelt. Jetzt war es, als würde sein Vater ihn wie ein Läufer einholen, der lange zurückgelegen hatte, sich aber unerbittlich heranarbeitete, je näher er dem unsichtbaren Zielband kam.

Wallanders Weltbild war ziemlich einfach. Er wollte kein Einsiedler werden, der in mürrischer Einsamkeit alt wurde und höchstens von seiner Tochter Besuch bekam, vielleicht noch von einem seiner früheren Kollegen, dem plötzlich einfiel, dass er noch lebte. Er hegte keine erbaulichen religiösen Hoffnungen, dass ihn jenseits des schwarzen Flusses etwas erwartete. Dort war nur das gleiche Dunkel wie das, aus dem er einst gekommen war. Bis zu seinem fünfzigsten Lebensjahr hatte er eine unklare Todesfurcht empfunden, es war eine Art persönliches Mantra gewesen, dass er so lange tot sein würde. Er hatte in seinem Leben allzu viele Tote gesehen. Es gab kaum etwas in ihren stummen Gesichtern, das darauf hindeutete, dass ihre Seelen von einem Himmel aufgenommen worden waren. In einem düsteren Augenblick, kurz nach seinem fünfzigsten Geburtstag, der mit Torte im Polizeipräsidium und einer mit Standardphrasen gespickten Rede der damaligen Polizeipräsidentin Lisa Holgersson begangen worden war, hatte er in einem eigens dafür gekauften Notizbuch begonnen, sich alle Toten, die er gesehen hatte, in Erinnerung zu rufen. Es war eine makabre Beschäftigung, und er begriff selbst nicht, warum es ihn reizte. Als er zum zehnten Selbstmörder kam, einem Mann in den Vierzigern, einem Süchtigen mit allen Problemen, die man sich vorstellen konnte, gab er auf. Der Mann hatte sich auf dem Dachboden des Abrissgebäudes, in dem er hauste, erhängt. Der Tote, sein Name war Welin, hatte sich so aufgehängt, dass es ihm das Genick brach und er nicht das Risiko einging, langsam erdrosselt zu werden. Der Rechtsmediziner hatte Wallander gesagt, dem Mann sei es geglückt. Er war sein eigener glücklicher Henker gewesen. An diesem Punkt hatte Wallander die Selbstmordfälle aufgegeben und törichterweise einige Stunden dem Versuch gewidmet, sich an die Jugendlichen oder Kinder zu erinnern, die er tot aufgefunden hatte. Aber auch das gab er bald auf. Es war allzu grauenhaft. Hinterher schämte er sich und verbrannte das Notizbuch, als hätte er etwas getan, was nicht nur pervers, sondern auch verboten war. Eigentlich war er ein heiterer Mensch; er musste sich nur erlauben, diese Seite seines Wesens zu bejahen.

Der Tod hatte ihn stets begleitet. Er hatte im Dienst selbst zwei Menschen getötet, war jedoch nach dem Abschluss der obligatorischen Ermittlungen nicht angeklagt worden, ohne Not Gewalt angewendet zu haben.

Zwei Menschen getötet zu haben, das war das ganz persönliche Kreuz, an dem er zu tragen hatte.

 

Aber eines Tages fasste er einen entscheidenden Entschluss. Er war draußen in der Nähe von Löderup gewesen, dem einstigen Wohnort seines Vaters, und hatte mit einem Bauern gesprochen, der Opfer eines Raubüberfalls geworden war. Auf dem Rückweg nach Ystad hatte er das Schild eines Immobilienmaklers gesehen, das auf eine kleine Schotterpiste wies, wo ein Haus zum Verkauf stand. Sein Entschluss kam aus dem Nichts. Er hielt an, wendete und suchte das Haus. Schon bevor er aus dem Wagen stieg, war ihm klar, dass das Haus saniert werden musste. Es war ein Fachwerkbau, ursprünglich ein U-förmiger Hof. Jetzt war einer der Flügel verschwunden, vielleicht durch einen Brand. Er ging auf dem Hof umher. Es war ein früher Herbsttag. Am Himmel war ein Zugvogelschwarm auf dem Weg nach Süden. Er blickte durch die Fenster ins Innere und erkannte, dass zunächst nur das Dach gründlich repariert werden musste. Die Aussicht war hinreißend, er konnte in der Ferne das Meer ahnen, vielleicht sogar mit einer der Fähren auf dem Weg von Polen nach Ystad. An jenem Nachmittag im September 2003 verliebte er sich auf der Stelle in dieses Haus.

Er fuhr auf direktem Weg zu dem Makler im Zentrum von Ystad. Der Preis war nicht so hoch, dass er den notwendigen Kredit nicht würde abbezahlen können. Schon am folgenden Tag besichtigte er das Haus mit dem Makler, einem hektisch redenden jungen Mann, der mit dem Kopf ganz woanders zu sein schien. Die letzten Besitzer des Hauses waren von Stockholm heruntergezogen, ein junges Paar, das sich aber sofort wieder zu trennen beschloss, noch bevor das Haus eingerichtet war. Die Wände des leeren Hauses verbargen nichts, was ihn geängstigt hatte. Und das Wichtigste war, dass er auf der Stelle einziehen konnte. Das Dach würde wohl noch ein, zwei Jahre halten. Er musste nur ein paar Zimmer streichen, vielleicht die Badewanne auswechseln und möglicherweise einen neuen Herd kaufen. Aber der Heizkessel war erst fünfzehn Jahre alt, und die elektrischen Installationen waren kaum älter.

Bei der Abfahrt fragte Wallander, ob es weitere Interessenten gebe. Einen, erwiderte der Makler und setzte eine besorgte Miene auf, als wünschte er, dass Wallander das Haus bekäme, aber – so die unausgesprochene Warnung – dann müsse er sich schnell entscheiden. Doch Wallander hatte nicht vor, die Katze im Sack zu kaufen. Er sprach mit einem seiner Kollegen, dessen Bruder Hausbesichtigungen durchführte, und schon am nächsten Tag sah der sich mit ihm das Haus gründlich an. Er fand nur das, was auch Wallander schon bemerkt hatte. Am selben Tag besuchte Wallander seine Bankfiliale und erfuhr, dass er einen Kredit aufnehmen konnte, der für den Kauf des Hauses ausreichte. In all den Jahren, die er schon in Ystad lebte, hatte er zerstreut, aber regelmäßig Geld gespart, das jetzt für die Anzahlung reichte.

Am Abend setzte er sich an den Küchentisch und nahm eine gründliche Kalkulation vor. Irgendwie war ihm feierlich zumute. Gegen Mitternacht hatte er sich entschieden: Er würde dieses Haus mit dem dramatischen Namen Schwarzhöhe kaufen. Trotz der fortgeschrittenen Stunde rief er seine Tochter Linda an, die in einer Neubausiedlung in der Nähe der Ausfahrt nach Malmö wohnte. Sie schlief noch nicht.

»Komm her«, sagte Wallander. »Ich habe Neuigkeiten.«

»Mitten in der Nacht?«

»Du hast doch morgen frei.«

 

Es war eine Überraschung gewesen, als Linda ihm vor einigen Jahren auf einem Spaziergang am Strand von Mossby eröffnete, sie habe beschlossen, in seine Fußstapfen zu treten. Er hatte nicht lange gebraucht, um zu spüren, dass ihre Entscheidung ihn froh machte. Auf eine Weise kam es ihm vor, als gäbe sie all den Jahren, die er selbst als Polizist verbracht hatte, im Nachhinein einen Sinn. Nach Beendigung ihrer Ausbildung arbeitete sie in Ystad. Die ersten Monate wohnte sie bei ihm in der Mariagata. Das war keine gute Lösung, weil er, wie ein alter Hund, daran gewöhnt war, zu sitzen, wo er wollte; auch fiel es ihm schwer, sie als wirklich erwachsen zu betrachten. Als sie schließlich eine eigene Wohnung fand, war das der Gong, der ihre Beziehung rettete.

 

Sie hatte ihn zum Haus begleitet und sofort gesagt, dass dies genau das Haus sei, das er kaufen solle. Kein anderes, genau dieses Haus, am Ende eines Wegs, auf einem sanft ansteigenden Hügel mit Blick aufs Meer.

»Großvater wird hier seinen Spuk treiben«, sagte sie. »Aber du brauchst keine Angst zu haben. Er wird wie ein Schutzheiliger sein.«

Es war ein großer Augenblick in Wallanders Leben, als er den Kaufvertrag unterzeichnete und dann mit einem großen Schlüsselbund in der Hand dastand. Am ersten November zog er ein, nachdem er zwei Zimmer gestrichen, aber auf den Kauf eines neuen Herds verzichtet hatte. Er verließ die Wohnung in der Mariagata ohne den geringsten Zweifel daran, das Richtige zu tun. An dem Tag, an dem er sein neues Haus in Besitz nahm, wehte ein stürmischer Wind aus südöstlicher Richtung.

Schon am ersten Abend fiel der Strom aus. Plötzlich saß Wallander im Dunkeln in seinem neuen Heim, während draußen der Sturm tobte. Die tragenden Dachbalken ächzten und knarrten, und an einer Stelle regnete es durch. Aber er bereute nichts. Hier würde er wohnen.

Auf dem Hof stand eine Hundehütte. Seit seiner Kindheit hatte Wallander von einem Hund geträumt. Mit dreizehn hatte er die Hoffnung aufgegeben, jemals einen Hund zu bekommen, aber genau da hatten ihm die Eltern einen geschenkt. Er hatte das Tier über alles geliebt. Später hatte er gedacht, dass die Hündin Saga ihm ein Gefühl dafür gegeben hatte, was Liebe sein konnte. Als Saga drei Jahre alt war, wurde sie von einem Lastwagen überfahren. Die Trauer und der Schock waren schlimmer als alles, was er bis dahin erlebt hatte. Es fiel Wallander nicht schwer, sich an seine chaotischen Gefühle zu erinnern, obwohl Sagas Tod vierzig Jahre zurücklag. Der Tod schlägt zu, das wusste er nun. Mit harter und erbarmungsloser Faust.

Zwei Wochen später schaffte er sich einen Hund an, einen schwarzen Labradorwelpen. Er war nicht ganz reinrassig, doch der Besitzer bezeichnete ihn als ein Tier von großer Klasse. Wallander hatte schon vorher beschlossen, den Hund Jussi zu nennen – nach dem berühmten schwedischen Tenor Jussi Björling, einem seiner größten Helden.

 

Anfang Dezember lud er seine Kollegen vom Polizeipräsidium zu einer Einweihungsfete ein. Auch an diesem Abend fiel der Strom aus, aber inzwischen war er vorbereitet und stellte Kerzen auf und zündete die beiden alten Petroleumlampen an, die er von seinem Vater geerbt hatte. Nach einer knappen Stunde kam der Strom zurück. Es war ein Abend, an den Wallander sich noch lange erinnern wollte. Noch war er nicht zu alt, um einen Aufbruch zu wagen. Noch hatte er Freunde, nicht nur Kollegen, die aus einer Art von zweifelhaftem Pflichtgefühl zu ihm kamen.

Spät in der Nacht, als die Gäste gefahren waren, machte Wallander einen Spaziergang mit Jussi. Er nahm eine Taschenlampe mit, um in der Dunkelheit nicht zu stolpern. Er war nicht nüchtern, und zwischen den Äckern, die im Sommer gelb vom Raps leuchten würden, gab es viele verdeckte Gräben. Er ließ Jussi von der Leine, und der Hund verschwand in der Dunkelheit. Der Himmel war kalt und klar, der Wind war abgeflaut. Weit draußen am Horizont ahnte er die Lichter eines Schiffes. Hierher bin ich gekommen, dachte er. Ich habe einen Aufbruch gewagt, habe mir sogar einen Hund angeschafft. Die Frage ist nur, wohin ich von hier aus gehe.

Jussi kam wie ein Schatten aus der Dunkelheit zurück. Aber auch der Hund brachte keine Antwort auf die an das nächtliche Dunkel gerichtete Frage.

 

Fast vier Jahre später, es war der Beginn des Jahres 2007, träumte Wallander von ebendiesem Augenblick, der Nacht nach dem Fest in seinem neuen Haus. Die Frage hängt immer noch in der Luft, dachte er beim Aufwachen. Es sind vier Jahre vergangen, und noch immer weiß ich nicht, wohin mein Weg geht.

Es war nach dem Dreikönigstag, ein Dienstag. In der Nacht war ein kurzes Schneeunwetter über das südliche Schonen hinweggefegt und über die Ostsee abgezogen. Eine Schneewehe versperrte die Einfahrt zu seinem Haus. Schon um kurz nach sechs war Wallander draußen und schippte Schnee, während Jussi eifrig nach Hasenspuren am schneebedeckten Feldrand schnüffelte. Wallander wollte an diesem Morgen den Arzt aufsuchen, der seinen Blutzucker kontrollierte. Es war inzwischen mehr als zehn Jahre her, dass sein Diabetes diagnostiziert worden war. Anfangs hatte er die Werte mithilfe von Medikamenten, Ernährungsumstellung und mehr Bewegung auf einem niedrigen Niveau halten können. Aber seit einigen Jahren musste er auch täglich spritzen. Nach dem Besuch beim Arzt wollte Wallander sich weiter der Ermittlung widmen, die ihn seit Anfang Dezember in Atem hielt. Ein älterer Waffenhändler und seine Frau waren bei einem Überfall schwer verletzt worden; den Räubern war eine große Anzahl Waffen in die Hände gefallen. Der Mann lag immer noch im künstlichen Koma, sein Zustand war äußerst kritisch. Die Frau hatte einen Schädelbruch und würde auf einem Auge blind bleiben, war aber bei Bewusstsein. Wallander, der als Erster am Tatort eingetroffen war, einem schönen Haus in einem großen Garten gut zehn Kilometer nördlich von Ystad, war außer sich gewesen vor Empörung über die maßlose Gewalt, die dem Paar zugefügt worden war. Sie waren bewusstlos geschlagen, gefesselt und liegengelassen worden, um zu sterben.

Der Mann, Olof Hansson, hatte sein Waffengeschäft von zu Hause aus betrieben. Er hatte das Gewerbe von seinem Vater übernommen. Gemeinsam mit seiner Frau Hanna hatte er sich auf Revolver und Pistolen spezialisiert, oft handelte es sich um einzigartige Sammlerstücke. Die Räuber waren gut vorbereitet gewesen. Wallander und Staatsanwalt Erik Petrén hatten mit den übrigen Mitgliedern der Ermittlungsgruppe die Bilder der Überwachungskamera gesehen. Sie erkannten fünf maskierte Räuber. Eine der Kameras hatte den Augenblick eingefangen, als Olof Hansson von einem Holzknüppel am Hinterkopf getroffen wurde. Ein halbersticktes Stöhnen war im Raum zu hören.

Wallander rief sich ein altes Paar in Erinnerung, das vor bald zwanzig Jahren in Lenarp ermordet worden war. In seiner privaten Buchführung war dies eine der intensivsten Ermittlungen gewesen, für die er in all seinen Jahren in Ystad die Verantwortung getragen hatte. Die Tat war von zwei Asyl suchenden Flüchtlingen begangen worden, nachdem sie beobachtet hatten, wie der alte Bauer in einer Bank eine hohe Geldsumme abgehoben hatte. Es kam Wallander so vor, als sähe er das Verbrechen von damals jetzt ein zweites Mal vor sich, ein Grauen, das sich wiederholte. Was vor langer Zeit geschehen war, vermischte sich mit dem, womit er jetzt befasst war. Die gleiche bestialische Brutalität, die ihn heute nicht weniger erschreckte als damals.

Seit über einem Monat arbeiteten sie nun schon daran, die Täter dingfest zu machen. In den ersten Wochen hatte es keinerlei handfeste Spuren oder Ansatzpunkte gegeben. Dass der Raubüberfall gründlich geplant war, betrachtete Wallander jedoch als eine Spur an sich. Die Täter wären mit großer Wahrscheinlichkeit in kriminellen Kreisen zu suchen. Nur einmal in diesen Wochen hatte Wallander Ystad verlassen, um nach Hässleholm zu fahren. Dort hatte er sich mit einem Mann namens Rune Berglund unterhalten. Sie hatten sich im abendlichen Dunkel am Sportplatz der Stadt getroffen. Berglund hatte eine kriminelle Vergangenheit und war wegen Raub und schwerer Körperverletzung mehrfach vorbestraft. Dann war er plötzlich bekehrt worden und hatte zur Verwunderung aller seine Laufbahn als Ganove beendet, hatte jedoch weiterhin ein umfangreiches Kontaktnetz. Für eine Ermittlung hatte Wallander ihn als Informanten von einem Kollegen in Malmö »ausgeliehen«. Seitdem wandte er sich gelegentlich an Berglund, wenn er Informationen benötigte. Der Preis war stets der gleiche, zwei Hunderter für die Kollekte. Berglund arbeitete von sieben bis vier bei einer Reifenfirma und verbrachte seine freie Zeit in der freikirchlichen Gemeinde, wo er Jesus gefunden hatte. Oder war es vielleicht umgekehrt, dass Jesus ihn gefunden hatte? Wallander zweifelte nie daran, dass seine Hunderter wirklich in der Kollekte landeten.

Berglund war nicht erstaunt gewesen, als Wallander sein Anliegen erklärte, der Waffendiebstahl bei Ystad hatte in den Medien für viel Wirbel gesorgt. Berglund meinte, es könne sich um eine Auftragsarbeit für ausländische Interessenten handeln. Olof Hansson hatte sein Haus zwar mit einer aufwendigen Alarmanlage gesichert, doch sie war längst nicht vergleichbar mit dem, was man auf dem Kontinent finden konnte. Es konnte also für gerissene Waffendiebe einfacher sein, in Hanssons Haus einzubrechen als in ein Ziel im Ausland. Berglund versprach, sich zu melden, falls er etwas erfuhr. Und tatsächlich rief er Wallander am Tag vor Heiligabend an und gab ihm den Hinweis, dass es sich um eine aus Schweden und angeheuerten Polen zusammengesetzte Bande handeln könne.

An Heiligabend starb Olof Hansson. Damit wurde aus einem Fall von schwerem Raub und Körperverletzung ein Mordfall. Zwei Polizistinnen, Ann-Louise Edenman aus Lund und Kristina Magnusson, die, wie Wallander, von Malmö nach Ystad gezogen war, bearbeiteten den Fall. Wallander hatte die Leitung der Ermittlungen übernommen. Manchmal erinnerte er sich daran, wie es gewesen war, als der erfahrene Kommissar Rydberg sein nächster Vorgesetzter war. Es war in seiner Anfangszeit in Ystad. Dann war Rydberg an Krebs erkrankt und gestorben. Wallander hatte ihn in all den Jahren vermisst, es hatte Perioden gegeben, da dachte er täglich an ihn. Wenn er in einer schwierigen Ermittlung steckte, kam es immer noch vor, dass Wallander mit einer Blume einen Spaziergang zu Rydbergs Grab machte. Vor dem einfachen flachen Stein überlegte er, was Rydberg getan hätte. Und er fragte sich, ob Ann-Louise Edenman oder Kristina Magnusson sich irgendwann in der Zukunft einmal vorstellen würden, was Wallander in ihrer Situation getan hätte.

Er wusste es nicht, und wollte es eigentlich auch nicht wissen.

 

Am zwölften Januar veränderte sich Wallanders Leben auf einen Schlag. Zunächst erzielten sie einen Durchbruch in der Ermittlung. Kristina Magnusson kam hereingestürmt, als Wallander in seinem Zimmer saß und Berichte über Waffendiebstähle durchlas, die das Reichskriminalamt geschickt hatte. Wallander sah ihr an, dass etwas passiert war. Er erkannte sich selbst in ihr. Es kam noch immer vor, dass er mit wichtigen Neuigkeiten in die Zimmer seiner Kollegen stürmte.

»Hanna Hansson hat angefangen zu sprechen«, sagte Kristina. »Sie beginnt, sich zu erinnern.«

»Was sagt sie?«

»Dass sie zumindest zwei der Männer kannte.«

»Sie waren doch maskiert.«

»Sie sagt, sie habe sie an den Stimmen erkannt. Die Männer wären schon einmal im Laden gewesen.«

»Unmaskiert?«

Kristina Magnusson nickte. Wallander wusste sofort, was das bedeuten konnte.

»Sie sind also auf alten Überwachungsfilmen?«

»Das ist nicht ausgeschlossen.«

»Bist du sicher, dass sie sich nicht irrt?«

»Sie schien klar im Kopf zu sein. Und sehr bestimmt.«

»Weiß sie schon, dass ihr Mann tot ist?«

»Nein. Ihre beiden Töchter sind im Krankenhaus, aber die Ärzte haben sie gebeten, sie noch zu schonen.«

Wallander schüttelte zweifelnd den Kopf. »Wenn sie klar im Kopf ist, wie du sagst, dann weiß sie es schon. Sie sieht es in den Augen ihrer Töchter.«

»Du meinst also, dass wir es ihr auch sagen können?«

Wallander stand auf. »Ich meine nur, dass wir uns nichts vormachen lassen sollen. Sie begreift, dass ihr Mann tot ist. Wie lange waren sie verheiratet? Siebenundvierzig Jahre? Jetzt rufen wir unsere Leute zusammen und gehen die Filme aus diesen Kameras durch.«

Als Wallander einige Schritte hinter Kristina Magnusson, die er insgeheim gern von hinten betrachtete, auf den Korridor trat, klingelte das Telefon in seinem Zimmer. Er überlegte kurz, ob er es klingeln lassen sollte, machte dann aber kehrt. Es war Linda. Sie hatte ein paar Tage frei, nachdem sie Silvester Dienst gehabt hatte. Der Jahreswechsel war in Ystad mit zahlreichen Familienstreitigkeiten und Körperverletzungen außergewöhnlich unruhig verlaufen.

»Hast du Zeit?«

»Eigentlich nicht. Wir können vielleicht zwei der Waffendiebe identifizieren.«

»Wir müssen uns treffen.«

Sie klang angespannt. Wallander war sogleich besorgt, wie immer, wenn er fürchtete, ihr könnte etwas passiert sein.

»Ist es etwas Ernstes?«

»Nein, gar nicht.«

»Wir können uns um ein Uhr treffen.«

»Mossby Strand?«

Wallander hielt es für einen Witz. »Soll ich Badezeug mitbringen?«

»Ich meine es ernst. Am Strand von Mossby. Aber kein Bad.«

»Was sollen wir da draußen bei Kälte und Sturm?«

»Ich bin um ein Uhr da.«

Sie legte auf, bevor er weitere Fragen stellen konnte. Was wollte sie? Er ging in den Sitzungsraum, wo es den besten Fernsehapparat gab. Zwei Stunden lang sahen sie sich Filme aus Hanssons Überwachungskamera an. Um kurz vor halb eins hatten sie noch die Hälfte der Filme vor sich. Wallander stand auf und sagte, sie könnten um zwei Uhr weitermachen. Martinsson, mit dem Wallander die längste Zeit in Ystad zusammengearbeitet hatte, sah ihn verwundert an. »Sollen wir jetzt unterbrechen? Du hast doch sonst keine festen Mittagszeiten.«

»Ich will nicht essen. Ich habe ein anderes Treffen.«

Er verließ den Raum und dachte, dass er zu scharf geklungen hatte. Martinsson und er waren nicht nur Kollegen, sie waren auch Freunde. Bei Wallanders Einweihungsfest im Haus bei Löderup hatte Martinsson eine Rede auf ihn und den Hund und das Haus gehalten. Wir sind wie ein fleißiges altes Paar, dachte er, als er das Polizeipräsidium verließ. Ein altes Paar, das miteinander zankt, hauptsächlich, um in Form zu bleiben.

Er ging zu seinem Wagen, einem Peugeot, den er vor vier Jahren gekauft hatte, und fuhr los. Wie oft bin ich diesen Weg schon gefahren? Wie viele Male wird es sich noch wiederholen? Während er an einer roten Ampel wartete, dachte er an etwas, was sein Vater ihm erzählt hatte, von einem Cousin, den Wallander selbst nie kennengelernt hatte. Der Cousin hatte eine Fähre zwischen zwei Inseln in den Schären vor Stockholm gefahren; die Überfahrt dauerte nicht länger als fünf Minuten, jahrein, jahraus dieselbe Strecke. Eines Tages war eine Sicherung bei ihm durchgebrannt. Es war an einem Spätnachmittag im Oktober gewesen, und die Fähre war voller Autos. Plötzlich hatte er das Ruder umgelegt und Kurs aufs offene Meer genommen. Nachher erzählte er, er habe gewusst, dass die Dieselmenge in den Tanks ausgereicht hätte, eines der baltischen Länder zu erreichen. Aber das war auch alles, was er sagte, als er schließlich von aufgebrachten Autofahrern überwältigt worden war und die Küstenwache die Fähre zurück auf ihren Kurs gebracht hatte. Er hatte nie eine Erklärung für sein Verhalten gegeben.

Wallander dachte, dass er ihn auf eine unklare Weise verstand.

Einzelne Wolken jagten über den Himmel, als er am Meer entlang nach Westen fuhr. Durch das Seitenfenster sah er Unwetterwolken, die sich am Horizont auftürmten. Am Morgen hatte er im Radio gehört, dass gegen Abend wieder mit Schneefällen zu rechnen war. Kurz vor der Abzweigung nach Marsvinsholm wurde er von einem Motorrad überholt. Der Fahrer winkte ihm, und Wallander dachte, dass es eine seiner schlimmsten Befürchtungen war, Linda könnte eines Tages mit ihrem Motorrad verunglücken. Er war vollkommen ahnungslos gewesen, als sie vor einigen Jahren mit ihrer chromglänzenden Harley-Davidson auf seinen Hof gefahren kam. Ob sie den Verstand verloren habe, war seine erste Frage, nachdem sie den Helm abgenommen hatte.

»Du kennst nicht alle meine Träume«, hatte sie mit einem glücklichen Lächeln erwidert. »Genauso wie ich sicher nicht alles weiß, wovon du träumst.«

»Auf jeden Fall nicht von einem Motorrad.«

»Schade. Sonst könnten wir zusammen fahren.«

Er war so weit gegangen, sie anzuflehen und ihr zu versprechen, ein Auto für sie zu kaufen und das Benzin zu bezahlen, wenn sie ihr Motorrad abschaffte. Aber sie lehnte ab, und er wusste von Anfang an, dass er verloren hatte. Sie hatte seine Sturheit geerbt, es würde ihm nicht gelingen, ihr das Motorrad auszureden, womit er sie auch zu locken versuchte.

Als er auf den Parkplatz von Mossby Strand fuhr, der im stürmischen Wind verlassen dalag, hatte sie den Helm abgenommen und stand mit flatternden Haaren auf einer Sanddüne. Wallander stellte den Motor ab, blieb sitzen und betrachtete seine Tochter in der dunklen Lederkleidung und den teuren Stiefeln, die sie für den Preis eines fast kompletten Monatsgehalts in einer Fabrik in Kalifornien hatte nähen lassen. Einst war sie ein kleines Mädchen, das auf meinem Schoß saß, und ich war der größte Held in ihrem Leben, dachte Wallander. Jetzt ist sie sechsunddreißig Jahre alt, arbeitet wie ich bei der Polizei und hat einen scharfen Verstand und ein großes Lächeln. Was will ich mehr?

Er stieg aus und kämpfte sich im stürmischen Wind durch den Sand nach oben, bis er neben ihr stand.

Sie lächelte ihn an. »Hier ist einmal etwas geschehen«, sagte sie. »Weißt du noch, was?«

»Du hast mir eröffnet, dass du Polizistin werden wolltest. Das war hier.«

»Ich meine etwas anderes.«

Wallander begriff plötzlich, worauf sie hinauswollte. »Hier ist ein Schlauchboot mit zwei Toten angetrieben«, sagte er. »Es ist so viele Jahre her, ich weiß nicht mehr genau, wann es war. Es waren Ereignisse, die sich in einer anderen Welt abgespielt haben, könnte man sagen.«

»Erzähl mir von dieser Welt.«

»Deshalb hast du mich wohl kaum herkommen lassen.«

»Erzähl trotzdem.«

Wallander machte eine ausladende Armbewegung zum Meer hin. »Über die Länder auf der anderen Seite wussten wir nicht viel. Wir taten wohl manchmal so, als gäbe es sie nicht. Wir waren abgeschnitten von den baltischen Staaten, die unsere nächsten Nachbarn waren. Und sie von uns. Eines Tages trieb das Schlauchboot hier an Land, und die Ermittlung führte mich nach Lettland, nach Riga. Ich machte einen Besuch hinter dem Eisernen Vorhang, den es nicht mehr gibt. Die Welt war damals anders. Nicht schlechter, nicht besser, nur anders.«

»Ich bekomme ein Kind«, sagte Linda. »Ich bin schwanger.«

Wallander hielt den Atem an, als hätte er nicht verstanden. Dann starrte er auf ihren Bauch in der schwarzen Lederkleidung.

Sie musste lachen. »Natürlich sieht man noch nichts. Ich bin erst im zweiten Monat.«

Später sollte Wallander sich an jede Einzelheit dieser Begegnung mit Linda erinnern. Sie gingen zum Strand hinunter und duckten sich gegen den Wind. Sie erzählte ihm, was er wissen wollte. Als er eine Stunde verspätet ins Präsidium zurückkam, hatte er die Ermittlung, für die er die Verantwortung trug, beinahe vergessen.

Kurz vor fünf an diesem Nachmittag, gerade bevor es wieder zu schneien begann, gelang es ihnen, die Bilder von zwei Männern zu sichern, die vermutlich in den Waffenraub und den brutalen Mord verwickelt waren. Wallander fasste zusammen, was alle fühlten: Sie waren der Aufklärung des Falls um einen großen Schritt näher gekommen.

Als die Sitzung vorüber war und alle ihre Papiere und Mappen einsammelten, hatte Wallander große Lust, von der überwältigenden Freude zu erzählen, die ihm so plötzlich widerfahren war.

Aber natürlich sagte er nichts.

Es lag ihm ganz einfach nicht. So eng ließ er seine Kollegen nicht an sich heran, niemals.