Rubinroter Schatten
Rubinroter Schatten
Roman
Deutsch
von Sandra Müller
unter dem Titel »Eternal Kiss of Darkness«
bei Avon, New York.
Erste Auflage
Copyright © der Originalausgabe 2010 by Jeaniene Frost
© der deutschsprachigen Ausgabe 2011 by Penhaligon Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Lektorat: Holger Kappel
Redaktion: Rainer Michael Rahn
Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling
ISBN 978-3-641-05980-4
www.penhaligon.de
die quasi mein Ersatz für eigene Kinder sind.
Wesley, Lauren, Patrick, Michael,
Matthew, Christopher und Amy.
Mögen all eure Geschichten gut ausgehen.
Mencheres roch das Blut, bevor der erdige Geruch der Ghule zu ihm drang, die sich im Erdgeschoss des verfallenen Lagerhauses zusammengerottet hatten. Sie zeigten sich unbeeindruckt, als er eintrat. Noch ein Schnuppern, und er wusste, dass es Vampirblut war, nach dem zwei von ihnen stanken. An den anderen vier klebte das kupfrige Aroma nicht, aber den mordlüsternen Blicken nach, mit denen sie Mencheres musterten, hatten sie vor, das zu ändern.
»Ein junger Vampir ist vor Kurzem hier in der Gegend verschwunden«, sagte Mencheres anstelle einer Begrüßung und ignorierte die Ghule, die ihn zu umschleichen begannen. Sie wirkten wie ältere Teenager, und ihren Energiefeldern nach zu urteilen, waren sie in untoten Jahren nicht älter. »Kurzes blondes Haar, Tribal Tatoos auf den Oberarmen, Silberpiercing in der Augenbraue. Nennt sich Trick«, fuhr Mencheres fort. »Habt ihr ihn gesehen?«
»Ziemlich unklug, sich so kurz vor Anbruch der Dämmerung noch draußen herumzutreiben, Vampir«, antwortete der am stärksten nach Blut riechende Ghul gedehnt, ohne auf Mencheres’ Frage einzugehen. Dann lächelte er und entblößte seine spitz zugefeilten Zähne.
Statt Furcht ließ der Anblick Ärger in Mencheres aufkommen. Die Ghule wähnten sich durch die nahende Dämmerung im Vorteil, dabei schwächte sie nur junge Vampire. Zwar verbarg Mencheres seine Machtaura, sodass er wie ein junger Vampir wirkte, aber wären die Ghule schlau gewesen, hätte Mencheres’ Furchtlosigkeit sie stutzig gemacht.
In diesem Fall hätten sie Trick allerdings auch nicht ausgerechnet in der Gegend ermordet, in der sie auch ihr Quartier hatten. Mencheres hatte nur eine Stunde gebraucht, um sie aufzuspüren. So viel Dummheit stellte nicht nur eine völlige Missachtung vamprisch-ghulischen Rechts dar; sie gefährdete auch die Geheimhaltung der Existenz beider Arten. Wäre Mencheres in einer anderen Gemütsverfassung gewesen, hätte er den Ghul mit dem Haifischgebiss ohne viel Federlesens umgebracht und die übrigen fünf einer öffentlichen Bestrafung zugeführt. So wie sie nach Vampirblut stanken, brauchte er kein Geständnis von ihnen, um zu wissen, dass sie Trick ermordet hatten.
Die Ghule hatten Glück, denn Mencheres stand der Sinn heute nicht nach Rache. Vielleicht war es gut, dass er das zweite Gesicht verloren hatte, überlegte er. Hätte er nämlich geahnt, dass er seine jahrtausendealte Fehde mit dem korrupten Gesetzeshüter Radjedef so beenden würde, hätte er an seinem eigenen Verstand gezweifelt.
Andererseits wäre all das ohne den Verlust seiner Visionen gar nicht nötig gewesen. Zorn stieg in Mencheres auf. Nachdem ihm vier Jahrtausende lang immer wieder Blicke in die Zukunft vergönnt gewesen waren, traf ihn der Verlust des zweiten Gesichts so unerwartet wie vernichtend. Oft hatte er sich darüber beklagt, wie frustrierend es war, dass viele seinen Vorahnungen keine Beachtung schenkten. Ohne seine Vorahnungen war es ihm nun, seinen anderen Fähigkeiten zum Trotz, nicht mehr möglich, die Seinen zu schützen. Die vorwurfsvollen Worte eines Freundes klangen ihm noch im Ohr. Warum kannst du mir ausgerechnet jetzt, wo ich dich am meisten brauche, nicht mehr helfen?
Radjedefs Hass auf Mencheres war jahrtausendealt, aber er war zu schlau, um sich mit einem Feind anzulegen, der selbst den vernichtendsten Plänen bereits im Vorfeld entgegenwirken konnte. Nun, da Mencheres nicht länger das zweite Gesicht besaß, hatte Radjedef allerdings leichtes Spiel. Sie beide wussten, dass Radjedef nicht zögern würde, den beträchtlichen Einfluss, den er durch sein Amt als Gesetzeshüter besaß, zu missbrauchen, um Mencheres Verbrechen zur Last zu legen, die er nie begangen hatte. Radjedef legte das Recht gern zu seinen Gunsten aus. Das hatte er schon getan, bevor er dem mächtigen Rat der Vampire beigetreten war.
Seinem Erzfeind hätte die Konfrontation mit ihm und das unvermeidliche Blutvergießen, das stattgefunden hätte, bevor einer von ihnen als Sieger daraus hervorgegangen wäre, sicher großen Spaß gemacht. Aber Mencheres würde es erst gar nicht dazu kommen lassen. Die Vorstellung, wie frustriert Radjedef sein würde, wenn er seine ausgeklügelten Rachepläne nicht in die Tat umsetzen konnte, bereitete ihm diebische Freude.
Als die sechs Ghule nun mordlustig grinsend die Silbermesser zückten, rührte Mencheres sich nicht vom Fleck. Die Angelegenheit würde blutig werden, aber mit Blut war Mencheres vertraut. Mit Schmerz auch. Beide begleiteten ihn schon weitaus länger, als die Ghule ahnten.
Sein Blick ging zum noch dunklen Himmel, und kurz fragte er sich, ob im Jenseits die Sonne schien. Bevor der Tag anbrach, würden er oder die Ghule es wissen.
Kira lief die Ashland Avenue entlang. Noch zwei Straßen bis zu ihrer Wohnung. Ein plötzlicher Windstoß blies ihr das Haar ins Gesicht. Chicago trug nicht ohne Grund den Beinamen Windy City. Sie strich sich ein paar der vorwitzigen Strähnen hinter die Ohren und hievte ihren schweren Rucksack auf die andere Schulter. So oft, wie sie ihn schon zur Arbeit und wieder nach Hause geschleppt hatte, hätte man meinen sollen, er wäre ihr inzwischen weniger schwer erschienen. Wenigstens stellte ihr Chef ihr für Observierungen den Firmenwagen zur Verfügung, und andere Leute, die im West Loop wohnten und arbeiteten, hatten auch kein Auto. Nur mussten die nicht so viele Fotoapparate, Camcorder, Ferngläser und andere zur Observierung notwendige Gerätschaften mit sich herumschleppen.
Immerhin hatte sie eine erfolgreiche Nacht hinter sich. Die Observation der untreuen Ehefrau ihres Klienten hatte Früchte in Form von mehreren belastenden Beweisfotos getragen, die Kira ins Büro gebracht hatte, bevor sie mit der Green Line nach Hause gefahren war. Heute konnte sie schlafen, so lange sie wollte, und selbst ihr pingeliger Chef würde nichts zu beanstanden haben.
Als Privatdetektivin achtete sie immer auf alles, was um sie herum geschah, aber als sie um die nächste Ecke bog, wurde sie noch aufmerksamer. Am Tag bereitete ihr die Strecke, auf der sie gerade unterwegs war, keine Probleme, jetzt aber war ihr unbehaglich zumute. Sie war froh, dass die Sonne allmählich aufging. Die Zeile verfallener Lagerhäuser hätte inzwischen eigentlich gar nicht mehr da sein sollen, aber die anhaltende Rezession hatte Abriss und Wiederaufbau verzögert. Die unansehnlichen Gebäude garantierten jedoch, dass die Mieten in dem Apartmenthaus, in dem sie wohnte, sehr viel niedriger waren, als sie es sein würden, wenn erst einmal schicke neue Apartments den verlassenen, graffitibesprühten Schandfleck ersetzten. Allerdings musste sie stets auf der Hut sein. Überfälle waren in dieser Gegend an der Tagesordnung.
Sie hatte das letzte Gebäude schon fast hinter sich gelassen, als ein heiseres Lachen sie herumfahren ließ. Es war aus einem der Lagerhäuser gekommen und klang eher bedrohlich als belustigt. Geh weiter, befahl sich Kira. Du bist fast daheim.
Wieder erschallte das fiese Lachen, diesmal war ihm ein gequälter Schrei vorausgegangen. Kira blieb stehen und lauschte angestrengt. Später am Tag hätte der Lärm von Menschen und Autos jeden Laut aus den Lagerhäusern übertönt; da aber alles noch schlief, hörte sie als Nächstes etwas, das wie ein lautes Stöhnen klang. Wer immer es ausgestoßen hatte, war in Not, und als dann wieder dreckiges Gelächter erklang, wusste Kira, dass beides zusammenhing.
Sie ließ den Rucksack von den Schultern gleiten, um ihr Handy herauszuholen, während sie schnellen Schritts die Sicherheit ihres Apartmenthauses anstrebte.
»Neun eins eins, Sie haben einen Notfall?«, meldete sich eine Stimme, nachdem Kira die Nummer eingetippt hatte.
»Ich möchte einen Code 37 melden«, antwortete Kira.
»Wie bitte?«
»Schwere Körperverletzung«, erklärte Kira, überrascht, dass die Vermittlung den Polizeicode nicht kannte. Sie gab die Adresse des Lagerhauses durch. »Klingt, als käme es aus dem Erdgeschoss«, fügte sie noch hinzu.
»Einen Augenblick, bitte. Ich verbinde sie mit dem zuständigen Revier«, kam die Antwort. Kurze Zeit später wurde sie erneut gefragt, um was für einen Notfall es sich handelte.
»Ich möchte einen Fall von schwerer Körperverletzung melden«, erklärte Kira und bemühte diesmal gar nicht erst den Polizeicode. Noch einmal gab sie Adresse und Begleitumstände durch, frustriert, alles zum zweiten Mal vortragen zu müssen.
»Sie haben den Vorfall aber nicht persönlich beobachtet?«, wurde sie gefragt.
»Nein, reingegangen bin ich nicht«, gab Kira barsch zurück. Sie war inzwischen stehen geblieben, weil sie fast daheim war.
»Aha«, antworte die inzwischen gelangweilt klingende Stimme. »Ihr Name, bitte.«
»Ich möchte lieber anonym bleiben«, sagte Kira nach einer Pause. Bei der Polizei gab es eine Akte über sie, und die war nicht ganz lupenrein.
»Wir schicken einen Streifenwagen vorbei«, vermeldete die Person am anderen Ende der Leitung.
»Danke«, murmelte Kira und legte auf. Sie hatte getan, was sie konnte. Hoffentlich half es dem Unbekannten, der so gepeinigt geklungen hatte.
Als sie dann aber auf die Tür ihres Apartmenthauses zuging, zögerte sie. Ihr Instinkt sagte ihr, dass sie kehrtmachen und zum Lagerhaus zurückkehren sollte. Der Streifenwagen würde erst in fünf bis zehn Minuten eintreffen. Was, wenn dem verletzten Unbekannten nicht mehr so viel Zeit blieb?
»Versuche nie, den Helden zu spielen, Kind. Überlass das der Polente.«
Die mahnenden Worte ihres Chefs klangen Kira noch im Ohr. Statt ihr schlechtes Gewissen zu beruhigen, machten sie sie allerdings wütend. Wäre ihr Exmann nicht gewesen, hätte sie jetzt auch zur »Polente« gehört. Sie hatte die Polizeiakademie mit Bravour durchlaufen, einen fertigen Abschluss in der Tasche und befand sich zwei Straßen vom Tatort entfernt, nicht mehrere Minuten wie die Polizeistreife.
Macks tiefe und kratzige Stimme hallte ihr als Nächstes in den Ohren: Rette ein Leben. Das war das Motto ihres Mentors gewesen. Hätte Mack ähnlich gedacht wie ihr Chef, wäre Kira jetzt womöglich tot und begraben und würde nicht auf dem Gehweg stehen und sich fragen, ob sie einem Notleidenden helfen sollte oder nicht.
Mack hätte nicht gezögert, Polente hin oder her. Wem wollte sie lieber ähnlich sein? Ihrem alten Freund Mack oder ihrem abgebrühten Boss Frank?
Kira machte auf dem Absatz kehrt und lief auf die Lagerhäuser und den Schrei zu.
Mencheres stieß ein langgezogenes Stöhnen aus, als sich das Silbermesser in seine Brust bohrte. Als die Ghule angefangenen hatten, ihn zu traktieren, hatte er keinen Mucks von sich gegeben, und sie hatten die Klingen nur umso langsamer durch sein Fleisch gezogen, sein Schweigen als Provokation aufgefasst. Also keuchte und stöhnte er, schrie sogar auf. Es half; sie wurden immer eifriger, die Schnitte tiefer.
Bald würde er sich entscheiden müssen. Wollte er seine Energie einsetzen, um zu verbergen, dass er ein Meistervampir war, oder um sich vor dem schlimmsten Schmerz zu schützen? Er hatte bereits so viel Blut verloren, dass beides ihm nicht mehr möglich sein würde. Besaßen die Angreifer allerdings einen Funken Verstand, würden sie das Weite suchen, wenn klar war, was in ihm schlummerte. Nein, das konnte er nicht riskieren. Er wählte also den Schmerz.
Mencheres ließ den geistigen Schutzwall zusammenbrechen, den er zwischen sich und den mit gnadenloser Zielsicherheit eingesetzten Messern errichtet hatte. Sofort hatte er das Gefühl, sein Körper würde in Flammen stehen – eine Reaktion auf die silbernen Klingen, die ihn aufschlitzten.
Nun, da die geistige Barriere zwischen ihm und dem Schmerz aufgehoben war, stellte sich ein neues Problem. Jede neue Schnitt- oder Stichwunde löste einen Energiestrudel in ihm aus, der nach Rache schrie. Mencheres unterdrückte ihn, konzentrierte sich darauf, seine Machtaura einzudämmen, und versuchte seine eigenen Mordgelüste zu verdrängen, obwohl die Energie in ihm unbedingt freigesetzt werden wollte.
»Stakes«, sagte Mencheres, den Ghul bei dem Namen nennend, den die anderen benutzt hatten. »Bist du unerfahren oder ist das schon alles, was du draufhast?«
Der Ghul fauchte angesichts der Beleidigung und hackte Mencheres eine tiefe Wunde in den Schenkel. Ein zweiter Ghul griff sich Mencheres’ hüftlanges schwarzes Haar und säbelte ein Büschel davon auf Schulterhöhe ab.
Wieder spürte Mencheres Zorn in sich aufsteigen; dunkel und todbringend wollte er mit seiner Macht verschmelzen und Form annehmen. Er unterdrückte ihn in dem Wissen, dass schon ein einziger Augenblick des Kontrollverlustes seinerseits den Tod der Ghule zur Folge haben würde. Und noch hatten sie ihren Zweck nicht erfüllt.
»Messer runter und Finger weg von ihm«, keuchte jemand.
Nicht weniger überrascht als die Ghule sah Mencheres in die Richtung, aus der die Stimme gekommen war. War er so mit sich selbst beschäftigt gewesen – genau wie die Ghule –, dass ein Mensch sich ihnen unbemerkt hatte nähern können?
Der Beweis stand in klassischer Schusshaltung am anderen Raumende und hatte die Pistole auf die Mencheres umringenden Ghule gerichtet. Es war eine Frau. Ihre Augen waren weit aufgerissen, das Gesicht bleich, aber ihre Waffe hielt sie mit sicherem Griff.
Das hatte ihm gerade noch gefehlt.
»Gehen Sie«, befahl Mencheres. Ihr warmer, sterblicher Leib würde für die Körperfresser eine zu große Versuchung darstellen, wenn sie sich nicht auf der Stelle aus dem Staub machte.
»Na, na«, tönte Stakes und ließ sein Messer in Mencheres’ Schenkel stecken. »Seht mal, Leute. Dessert.«
Die Frau spannte mit einem Klicken den Hahn. »Ich schieße«, drohte sie. »Ihr nehmt jetzt alle die Messer runter und schert euch weg von ihm. Die Polizei ist schon unterwegs …«
Ihre Stimme brach, als Stakes von Mencheres abwich. Bisher hatte der Körper des Ghuls den größten Teil von Mencheres’ Verletzungen verdeckt, aber als sie ihn endlich ganz sehen konnte, stutzte sie.
Die Ghule griffen an.
Mencheres wusste, dass er es geschehen lassen sollte. Einfach am Stahlträger gefesselt stehen bleiben, den Hilflosen markieren und die Frau den Ghulen überlassen. Immerhin hatte er hier etwas zu erledigen, und die Rettung einer leichtsinnigen Sterblichen gehörte nicht dazu.
Aber in dem einen Augenblick, den die Ghule brauchten, um die Frau zu erreichen, kam Mencheres noch ein Gedanke und verdrängte alle Rationalität in ihm. Sie hatte ihn retten wollen. Das durfte er sie nicht mit dem Leben bezahlen lassen.
Mit einem Schlag brach seine Macht sich Bahn und traf die Ghule mit Wucht. Die blutigen Stricke, die Mencheres fesselten, lösten sich tanzend wie Schlangen, während Mencheres den sechs Ghulen mit einem weiteren Energiestoß zuleibe rückte. So stark wie sonst war er nicht, aber die grellen Schreie der Körperfresser endeten genauso abrupt wie ihr Angriff auf die Frau. Als alle Stricke sich gelöst hatten und Mencheres auf die Frau zutrat, rührte sich kein einziger Ghul mehr.
Mit einem Fußtritt beförderte Mencheres Stakes von dem Körper der Frau herunter, auf die er gefallen war. Sie keuchte, Blut lief ihr als dünnes Rinnsal aus dem Mund und ergoss sich aus ihrer klaffenden Bauchwunde. Sein Zögern hatte fatale Folgen gehabt. Der Ghul hatte sie tödlich verwundet, bevor Mencheres ihn aufgehalten hatte. Bald würde die Frau verblutet sein.
Sie starrte zu ihm auf, ihr Gesicht wirkte gequält, doch als sie den Blick auf ihren Bauch senkte, breitete sich angstvolles Verstehen darin aus.
»Tina«, flüsterte sie. Dann verdrehte sie die blassgrünen Augen und wurde bewusstlos.
Diesmal zögerte Mencheres nicht; er schlitzte sich mit den Fängen das Handgelenk auf und hielt ihr die Wunde an die Lippen. Kein Blut floss. Natürlich, die Ghule hatten ihn ausbluten lassen. Sofort hob er die Frau hoch und trug sie zu dem Stahlträger, an den er vor so kurzer Zeit noch gefesselt gewesen war. Dort nahm Mencheres etwas von seinem Blut vom Boden auf und ließ es der Fremden in den Mund laufen. Ihr Puls war inzwischen unregelmäßig, aber er achtete nicht darauf und zwang sie zu schlucken.
Sirenengeheul näherte sich. Die Polizeistreife war fast da, genau wie die Frau gesagt hatte. Mencheres nahm noch eine Handvoll Blut und rieb es in ihre Bauchwunde. Das Blut der Frau mischte sich mit seinem, aber nur kurz. Dann hörte die Wunde auf zu bluten, die Ränder schlossen sich, als die regenerierende Wirkung seines Blutes einsetzte.
Das Schlagen zweier Autotüren war zu hören. Mencheres ließ die Fremde auf dem blutigen Fußboden zurück und näherte sich den Ghulen. Sie konnten nur die Augen bewegen, während er auf sie herunterstarrte.
»Hättet ihr mich gleich getötet, hättet ihr vielleicht noch ein paar Tage zu leben gehabt«, bemerkte Mencheres kühl. Dann holte er zu einem kurzen, kontrollierten energetischen Schlag aus. Ein ploppendes Geräusch ertönte, und im nächsten Augenblick rollten sechs abgetrennte Köpfe von den Körpern der Ghule weg.
Fußtritte näherten sich dem Lagerhaus. Mencheres hielt kurz inne und sah zu der Frau hinüber. Sie hatte das Bewusstsein wiedererlangt und starrte ihn an, ihre hellen Augen wirkten vor Schock und Entsetzen wie gebannt.
Sie hatte seine Reißzähne gesehen. Den Mord an den Ghulen. Sie wusste zu viel, er konnte sie nicht einfach hierlassen.
»Polizei«, hörte er eine Stimme. »Irgendjemand verletzt …?«
Mencheres griff sich die Frau und sauste durch ein eingeschlagenes Fenster davon, bevor die Beamten entsetzt das Gemetzel begutachten konnten, das sie erwartete.
Kira wusste, dass sie weder träumte noch halluzinierte oder verrückt geworden war. Und das war ja das Schlimme. Es bedeutete, dass alles, was sie gesehen hatte, Wirklichkeit war, was wiederum bedeutete, dass ihr Entführer kein Mensch war. So unglaublich es schien, es war die einzig logische Erklärung. Menschen konnten keine Verletzungen überleben, wie sie sie bei ihrem Blick auf den an den Stahlträger Gefesselten gesehen hatte. Menschen hatten auch keine Reißzähne und grün leuchtende Augen. Und sie konnten auch niemandem den Kopf abreißen, ohne ihn auch nur anzufassen.
So gern sie sich eingeredet hätte, durch das erlittene Trauma einer Sinnestäuschung erlegen zu sein, stand doch fest, dass Menschen nicht fliegen konnten. Aber ihr Entführer war aus dem Lagerhaus davongeflogen und dann, mit ihr im Arm, als wäre sie leicht wie eine Feder, in mehreren spektakulären Sätzen von Dach zu Dach gesprungen.
Da Kira unter Höhenangst litt, hatten Benommenheit, Schock, Blutverlust und Schwindel schließlich ihren Tribut gefordert, und sie war während der Flucht ohnmächtig geworden. Nun befand sie sich allem Anschein nach in einem ganz gewöhnlichen Schlafzimmer, nach wie vor in ihren zerrissenen, blutverschmierten Klamotten und mit auf wundersame Weise verheilter Bauchwunde, während ihr Entführer ihr in einem Sessel gegenübersaß.
»Fürchte dich nicht, du bist in Sicherheit«, waren die ersten Worte, die er in seinem seltsamem Akzent an sie richtete.
Allein Kiras Überlebensinstinkt hielt sie davon ab, »Schwachsinn« zu murmeln. Sie blickte an sich herab, aber natürlich war ihre Pistole nirgends zu sehen. Nicht dass sie ihr gegen ihn und die Kreaturen im Lagerhaus irgendetwas genutzt hätte.
»Wo bin ich?«, wollte Kira wissen, während sie unter der Decke, die irgendjemand – er? – über sie gebreitet hatte, hervorkroch.
»An einem sicheren Ort«, antwortete ihr Entführer, woraufhin Kira im Geist erneut ein spöttisches Schnauben ausstieß. Klar doch. Sie war so sicher wie ein Fallschirmspringer mit kaputtem Schirm.
»Wie seltsam«, murmelte der Mann im nächsten Augenblick. »Ich kann deine Angst riechen, aber kein Wort davon hören.«
Kira hatte sich gerade aus dem Bett aufrappeln wollen, da hielt sie inne. Ein eisiger Adrenalinstoß durchfuhr sie, als sie ihren Entführer zum ersten Mal genauer in Augenschein nahm.
Langes schwarzes Haar fiel ihm bis über die Brust, war aber an einigen Stellen auf Schulterlänge abgeschnitten. Auf den ersten Blick wirkten seine Gesichtszüge orientalisch, aber seine helle Haut ließ sie vermuten, dass er noch andere Vorfahren hatte. Sein breiter Mund war zu einem schiefen Lächeln verzogen, und seine schwarzen Brauen beschatteten ebenso schwarze Augen. Wo war der unirdische grüne Glanz, den sie zuvor darin gesehen hatte? Das Alter des Mannes schätzte sie auf Mitte zwanzig, da er um die Augen herum noch keine Fältchen hatte. Sein Hals war zwar noch blutverschmiert, aber anscheinend hatte er Hemd und Hose gewechselt. Wären das Blut und die ungleich geschnittenen Haare nicht gewesen, hätte Kira ihn für einen jungen, zuvorkommenden Geschäftsmann halten können.
Aber in der Morgendämmerung hatte sie ihn halb zerstückelt gesehen, auch wenn von den Verletzungen jetzt nichts mehr zu sehen war. Noch ein Beweis dafür, dass er kein Mensch sein konnte.
Warum sich mit Höflichkeiten abmühen?, überlegte Kira. Sie wussten beide, dass sie vermutlich getötet würde, damit sie das, was sie beobachtet hatte, nicht weitererzählen konnte.
»Faszinierend«, sagte der Mann fast wie zu sich selbst. »Ich kann kein Wort von dem hören, was du denkst.«
Kira fuhr sich unwillkürlich mit den Händen an den Kopf, als könnte sie mit physischer Kraft verhindern, dass er ihre Gedanken las. Seine zum schiefen Lächeln verzogenen Lippen zuckten.
»Normalerweise würde dir das nichts nützen, aber wie gesagt, ich kann deine Gedanken nicht hören.«
»Was bist du?«, entfuhr es ihr. Ein Außerirdischer? Sie hatte doch gewusst, dass die Regierung log, was diese Roswell-Geschichte anging …
»Nichts, was dir Kopfzerbrechen bereiten müsste, Tina«, antwortete er schulterzuckend. »Bald wirst du …«
»Warum hast du mich Tina genannt?«, unterbrach Kira ihn in panischem Flüsterton.
»Vielleicht brauche ich einfach noch ein bisschen Blut«, murmelte der Fremde.
»Finger weg von meiner Schwester«, fauchte Kira und erhob sich. Was für eine Kreatur er auch war, vor der Polizei hatte er Reißaus genommen. Was bedeutete, dass er sich vor der in Acht nehmen musste, und falls er etwas mit Tina im Schilde führte, würde er sich vor Kira auch in Acht nehmen müssen.
Er streckte die Hand aus. »Du missverstehst mich. Du hast ›Tina‹ gesagt, bevor du ohnmächtig geworden bist. Ich dachte, das wäre dein Name.«
Kira konnte sich an nichts erinnern, aber es erschien ihr logisch. Als ihr die Schwere ihrer Verletzungen bewusst geworden war, war ihr letzter Gedanke gewesen, dass sich niemand mehr um Tina kümmern würde, wenn sie starb. Und wenn alles mit rechten Dingen zugegangen wäre, hätte sie an ihrer Verletzung sterben müssen, doch beim Erwachen hatte sie als Erstes festgestellt, dass ihr Bauch verheilt war. Unglaublicherweise sogar spurlos, und sie war wohlauf, obwohl sie nach wie vor in ihrer blutigen und zerrissenen Kleidung steckte.
Und so dachte sie noch einmal genau über ihren Entführer nach. Er musste sie irgendwie geheilt haben. Hieß das, er sagte die Wahrheit, wenn er behauptete, sie wäre in Sicherheit, oder hatte die Kreatur womöglich noch Schlimmeres mit ihr vor? Wenn er nichts Böses im Schilde führte, warum hatte er sie dann nicht einfach im Lagerhaus zurückgelassen, als die Polizei eingetroffen war?
Der düstere Fremde saß regungslos; seine Hand deutete noch immer in ihre Richtung. Kira amtete tief durch und setzte sich wieder aufs Bett. Die vielen ungewöhnlichen Situationen, mit denen sie durch ihren Job bereits konfrontiert gewesen war, hatten sie gelehrt, dass es nichts nützte, die Fassung zu verlieren. Etwas Derartiges hatte sie allerdings sogar als Privatdetektivin noch nicht erlebt, aber wenn sie überhaupt eine Überlebenschance haben wollte, musste sie die Nerven behalten.
»Ich heiße Kira.« Wenn er ihre Sachen an sich genommen hatte, würde er das dank ihrer Brieftasche ohnehin bald wissen. »Ich möchte jetzt gehen. Ich weiß nicht mehr, was heute Morgen passiert ist. Wenn ich versuche, mich daran zu erinnern, ist da nur Nebel …«
»Du lügst«, antwortete der Mann mit einem Schnauben, das sich direkt elegant anhörte. Seine kohlschwarzen Augen wurden schmal. »Um das zu wissen, muss ich deine Gedanken nicht lesen. Ich kann es riechen.«
Kira schluckte schwer. »Würdest du an meiner Stelle nicht so tun, als hättest du die Erinnerung verloren?«
»Ich weiß nicht«, antwortete er beinahe nachdenklich. »Ich war nie an deiner Stelle. Ich wusste immer von Kains Kindern, schon als ich selbst noch ein Kind war.«
Er schüttelte den Kopf, als wollte er einen Gedanken verscheuchen. »Warum erzähle ich dir das? Ich brauche wohl wirklich Nahrung. Komm, bringen wir es hinter uns …«
Urplötzlich stand er vor ihr, hatte die Hände auf ihre Schultern gelegt. Wie hatte er das so schnell fertiggebracht? Ihr Herz begann zu jagen, und eine furchtbare Ahnung erfüllte sie. Bringen wir es hinter uns? Sprach er so selbstverständlich von ihrer Ermordung?
»Fürchte dich nicht«, sagte das Monster sanft. In seinen Augen tat sich etwas. Sie leuchteten grellgrün, als er sie zwang, ihn anzusehen. Sie spürte einen Druck im Kopf. O Gott, er wollte sie köpfen wie die Kreaturen im Lagerhaus.
»Aufhören«, keuchte Kira. »Ich wollte dir helfen …«
»Ich weiß«, unterbrach er sie und ließ seine Finger über ihr Gesicht gleiten. »Das war sehr mutig von dir. Dumm auch, aber dennoch mutig. Sieh mir in die Augen, Kira. Heute Morgen ist nichts geschehen. Du bist nie in diesem Lagerhaus gewesen. Du hast mich nie gesehen. Du bist nach Hause gegangen und eingeschlafen, das war alles …«
Seine Stimme wurde immer tiefer, bis schließlich nicht mehr nur sein ungewöhnlicher Akzent darin vibrierte. Kira spürte, wie der Druck in ihrem Kopf zunahm, aber es hatte nicht den Anschein, als würde er ihr gleich von den Schultern gerissen. Vielleicht wollte der Mann sie ja doch nicht umbringen. Um die Kreaturen im Lagerhaus zu köpfen, hatte er nicht so lange gebraucht. Nachdem sie ihm einige Augenblicke lang in die grell leuchtenden Augen gestarrt hatte, versuchte Kira noch einmal, ihn zu überzeugen.
»Genau das werde ich sagen. Was du auch bist, was immer das für Kreaturen waren, ich will es gar nicht wissen. Ich will einfach alles vergessen.«
Er wirkte verwirrt. »Unmöglich«, murmelte er. Seine Augen begannen noch greller zu leuchten. »Heute Morgen ist nichts geschehen. Du bist nach Hause gegangen, hast dich schlafen gelegt …«
»Alles abgespeichert«, antwortete Kira und blinzelte. Ihm in die Augen zu sehen war, als starrte man in zwei grüne Scheinwerfer.
Ehe sie sich’s versah, stand er am anderen Ende des Zimmers und musterte sie so argwöhnisch wie sie eben noch ihn.
»Du bist immun gegen meine Macht.« Er lachte auf. »Wahrlich ein denkwürdiger Tag. Vielleicht liegt es daran, dass ich dich mit meinem Blut geheilt habe. Das könnte jetzt meine Hypnosekräfte beinträchtigen. Sobald dein Körper es abgebaut hat, bist du wieder empfänglich.«
Das hörte sich gar nicht gut an. Es klang langwierig, als würde sie hier so schnell nicht wegkommen. Und allmählich dämmerte es ihr. Blut. Hypnose. Reißzähne. Fliegen. Das passte nur auf eine Kreatur, aber dieser Fremde konnte doch wohl kein echter Vampir sein, oder?
»Ich erinnere mich natürlich an das, was heute Morgen passiert ist, aber du kannst dich darauf verlassen, dass ich niemandem davon erzählen werde«, sagte Kira mit ruhiger Stimme. »Du brauchst nicht abzuwarten, bis mein Körper irgendwas abgebaut hat. Ich gehe nach Hause und verliere kein Sterbenswörtchen über dich, das Lagerhaus oder sonst was Unnatürliches.«
Er starrte sie an, Dunkelheit ersetzte das Grün in seinen Augen. Dann schüttelte er sehr langsam den Kopf.
»Im Augenblick glaubst du das vielleicht, aber ich kann unmöglich riskieren, dass du deine Meinung irgendwann änderst.«
Nur das Geräusch der sich schließenden Zimmertür verriet, dass er sich bewegt hatte. Kira lief ebenfalls zur Tür, doch obwohl sich der Knauf drehen ließ und sie fest drückte, schaffte sie es nicht, sie zu öffnen. Offenbar stand etwas sehr Schweres davor.
Wie sollte sie dem Mann entkommen, wenn er so unglaublich schnell war? Wieder kam ihr das Wort »Vampir« in den Sinn. Alles deutete darauf hin, dass ihr Entführer genau das war. Aber sollten Vampire im Sonnenlicht nicht in Flammen aufgehen? Bei ihm war das nicht der Fall gewesen. Als er mit ihr aus dem Lagerhaus geflohen war, war die Sonne bereits aufgegangen gewesen, was ihm jedoch nicht geschadet hatte. Ein Kreuz trug sie auch am Hals, aber auch das hatte ihn nicht davon abgehalten, sie über sämtliche Dächer Chicagos zu schleppen. Das machte ihre »Vampir«-Theorie dann doch wieder fragwürdig.
Kira konnte selbst nicht recht glauben, dass sie überhaupt rätselte, was für eine Art übernatürliches Wesen er sein mochte. Solche Kreaturen hätten gar nicht existieren dürfen, geschweige denn sie kidnappen! Sie war hin- und hergerissen zwischen ihrem eigenen Unglauben und dem, was sie gesehen hatte. So gern sie geglaubt hätte, die lange Nacht ohne Schlaf hätte sie halluzinieren lassen, war ihr blutiger, aber perfekt verheilter Bauch doch der Bewies dafür, dass ihre Augen sie nicht täuschten. Und den Wundschmerz hatte sie sich auch nicht eingebildet. Oder die Kälte, die ihr durch alle Poren gesickert war, das Gefühl wegzugleiten … und dann die abrupte Rückkehr ins Leben, gerade rechtzeitig, um mit ansehen zu können, wie ihr dunkelhaariger Entführer mehreren Leuten den Kopf abgerissen hatte, ohne ihnen auch nur nahe zu kommen.
Was er war, blieb unwichtig, entschied Kira. Sie musste nur von ihm wegkommen und fing an, im Schlafzimmer auf und ab zu gehen, ohne die opulente Ausstattung eines Blickes zu würdigen. Nirgends ein Telefon in Sicht. Nebenan ein Badezimmer mit allem Schnickschnack, aber nichts, das ihr bei ihrem Ausbruch hätte von Nutzen sein können. Kein PC. Sie ging zum Fenster und starrte frustriert hinaus. Natürlich lag das Zimmer mehrere Stockwerke über der Erde und hatte weder Balkon noch Spalier. Vermutlich konnte sie sich glücklich schätzen, dass das Grundstück nicht auch noch von einem Wassergraben umgeben war und sich Wölfe dort unten tummelten.
War sie überhaupt noch in Chicago? Oder hatte der Mann sie, während sie bewusstlos gewesen war, sehr viel weiter weggebracht?
Kira sank aufs Bett und betastete den Stoff der Steppdecke. Frank würde ihr Fehlen vermutlich erst irgendwann gegen Abend auffallen. Ihr Chef wusste, dass sie die ganze Nacht über auf der Pirsch gewesen war; da war es nur natürlich, dass sie mal länger schlief. Und ihre Schwester würde denken, dass sie noch unterwegs war, wenn sie nicht ans Telefon ging. Kiras einzige Hoffnung bestand darin, dass ihr Kidnapper ihren Rucksack im Lagerhaus zurückgelassen hatte. Die Polizei würde unvermeidbar Nachforschungen über ihren Verbleib anstellen, wenn sich ihre Habseligkeiten am Tatort eines grausigen Mehrfachmordes fanden. Hatte der Fremde ihren Rucksack mitgenommen, als er sie gepackt hatte? Sie konnte sich nicht erinnern. Im Schlafzimmer war er jedenfalls nicht, so viel stand fest.
Kira krallte sich in die Steppdecke. Vor lauter Frust hätte sie sie am liebsten zerfetzt, aber die Decke war sehr dick, und sie würde sich höchstens die Fingernägel ruinieren.
Ein Lächeln trat auf Kiras Gesicht. Improvisationstalent ist in unserem Beruf unabdingbar, hatte Frank ihr während ihrer Ausbildung zur Privatdetektivin erklärt. Und damit hatte er recht gehabt.
Kira ging ins Badezimmer. Die Steppdecke zog sie hinter sich her.
Mencheres schloss die Augen und schluckte. Warmes Fleisch presste sich an seinen Mund, köstlich vibrierte eine Ader unter seinen Lippen. Ein Nebel aus angenehmen Gedanken legte sich über sein Bewusstsein, während er abermals sacht seine Fänge in die Haut grub. Die Gedanken waren allerdings nicht seine. Sie gehörten Selene, der Sterblichen, deren Blut er saugte.
Ja, beiß mich noch einmal. Tiefer. Ah, schön ist das, hör nicht auf …
Selene erschauderte so ekstatisch, wie Mencheres selbst es seit Jahrhunderten nicht mehr gespürt hatte. Noch ein Schluck, dann ließ er von ihr ab und schloss die Bisswunde mit einem Tropfen seines Blutes, während der Augenblick der Verzückung, der ihm vergönnt gewesen war, zu Asche wurde.
Selenes Leidenschaft war lediglich eine Reaktion auf seinen geübten Biss und das milde, euphorisierende Gift, das alle Vampire in ihren Reißzähnen hatten. Hätte er es gewollt, hätte er ihr mit seinem Biss die atemberaubendsten Orgasmen bescheren können, aber jeder andere Vampir wäre dazu ebenso in der Lage gewesen. Wenn es eines gab, das Mencheres in seinem langen Leben gelernt hatte, dann, dass es einen erheblichen Unterschied darstellte, ob man für einen anderen eine Quelle der Lust war oder wirklich begehrt wurde.
Früher einmal hätte er das spöttisch von sich gewiesen. Als er noch ein sterblicher ägyptischer Herrscher gewesen war, hatten die Menschen es als Ehre angesehen, das Lager mit ihm zu teilen, und Mencheres hatte vielen die Ehre erwiesen. Nachdem er dann zum Vampir geworden war, waren Männer wie Frauen zu ihm geströmt in der Hoffnung, er würde sie ebenfalls verwandeln. Später hatte der Schutz sie gelockt, den seine Macht verhieß. Irgendwann galt es dann auch unter Vampiren als Auszeichnung, das Bett mit ihm teilen zu dürfen. Selbst wenn Mencheres unter Sterblichen lebte und verbarg, was er wirklich war, zog sein Reichtum die Menschen wie magisch an. Doch nach über zweitausendfünfhundert Jahren hatten selbst die erlesensten Sinnesfreuden ihren Reiz verloren. Mencheres wollte mehr.
Er hatte geglaubt, es in Patra gefunden zu haben, der jungen ägyptischen Königin, die er vor zweitausend Jahren zur Gemahlin genommen hatte, aber die Beziehung hatte in einer Katastrophe geendet. Damals war er so naiv gewesen zu glauben, er könnte Patras Machthunger stillen, indem er sie zur Vampirin machte, seinen ungeheuren Reichtum mit ihr teilte und sie in die tiefsten und verbotensten Geheimnisse ihrer Art einweihte, aber das war ihr nicht genug gewesen. Nichts, was er getan hatte, war ihr genug gewesen, und ein lange zurückliegender Frevel hätte am Ende fast zur Vernichtung aller geführt, die Mencheres wichtig waren, bis Patra im vergangenen Jahr schließlich ums Leben gekommen war. So traurig es war, bisher hatten sich alle aus eigennützigen Motiven zu ihm hingezogen gefühlt, selbst die, denen er vertraute. Selbst die, die er liebte.
Kurioserweise war die im Schlafzimmer unter ihm eingesperrte Sterbliche die einzige Ausnahme. Kira hatte versucht, ihm das Leben zu retten, ohne seinen Stammbaum, seinen Rang, seinen Reichtum oder sein Charisma zu kennen. Sie hatte für ihn ihr Leben aufs Spiel gesetzt, ohne auch nur die geringste Gegenleistung zu erwarten. So etwas hatte noch niemand für ihn getan. Nie.
An dieser rätselhaften und selbstlosen Tat sowie seiner Unfähigkeit, Kiras Gedanken kontrollieren oder auch nur wahrnehmen zu können, lag es auch, dass er nun nicht aufhören konnte, an sie zu denken. Selbst als der Tag schon in den Abend überging und er einen Vampir mit Speisen und Getränken in ihr Zimmer geschickt hatte, ging sie Mencheres nicht aus dem Kopf.
Kira. Im Griechischen bedeutete das »Lady«. Im Keltischen »dunkel«. Was passte besser zu ihr? Auf ihr Aussehen traf beides zu – ihr Gesicht war zart und lieblich bis auf das energische Kinn, das auf Eigensinnigkeit hindeutete. Kiras Augen waren blassgrün, die Brauen aber dunkel, passend zu ihrer Haarfarbe, die nur an den Spitzen in Gold überging. Für Mencheres’ Geschmack war ihr Haar ein wenig zu kurz, reichte ihr nur knapp bis über die Schultern, war aber dabei so voll und lockig, dass es ihn praktisch dazu einlud, mit den Fingern darin zu wühlen.
Auch in Kiras Körper kontrastierten Weiblichkeit und Stärke. Ihre Zartheit grenzte fast ans Zerbrechliche, aber sie hatte das Auftreten einer Kämpferin, und die breiten Schultern ließen ihre vollen Brüste nur um so deutlicher hervortreten. Als sie ihn angefaucht hatte, er solle sich von ihrer Schwester fernhalten, waren ihre wundervoll breiten Schultern gestrafft und das energische Kinn vorgeschoben gewesen. Sie hatte gewusst, dass er kein Mensch war, aber sie hatte nicht gezögert, sich auf diese vermeintliche Drohung hin mit ihm anzulegen. Wahrlich eine dunkle Lady.
»Ja, bitte!«
Der Aufschrei riss Mencheres jäh aus seinen Gedanken. Bei den Göttern, er hatte Selene liebkost und dabei unbewusst mit einigen Machtsträngen ihre Nervenenden stimuliert. Wie hatte er sich nur so in seine Gedanken an Kira verstricken können, dass er Selene in seinen Armen vergaß? Mencheres zog seine Macht zurück und schob Selene weg.
»Ich habe, was ich brauche«, sagte er zu ihr.
Sie öffnete die Augen und schmiegte sich wieder an ihn. »Lass mich dir mehr als Blut geben«, bot sie mit heiserer Stimme an.
»Nein«, antwortete Mencheres automatisch.
Kaum hatte er die Worte ausgesprochen, fiel ihm wieder ein, dass er sie gar nicht zurückweisen musste. Seine Gemahlin war tot; einer Frau, die er in sein Bett nahm, drohte also nicht mehr die Todesstrafe. Wenn er Selene wollte, konnte er sie haben.
Doch was für eine Ironie des Schicksals; nachdem die unerfüllte Lust länger in ihm gebrannt hatte, als so manche Zivilisation existierte, stand ihm nun, da er sie endlich hätte ausleben können, der Sinn nicht mehr danach. Selene war schön, sie war willig, und doch wollte er sie nicht.
Kiras Gesicht tauchte vor seinem geistigen Auge auf, aber Mencheres verdrängte das Bild, bevor er sich allzu genau damit befassen konnte.
»Nein«, sagte er noch einmal zu Selene, sein Tonfall duldete keinen Widerspruch.
Sie ging, nachdem sie ihm noch einen letzten sehnsüchtigen Blick zugeworfen hatte, den er vorgab, nicht zu bemerken. Wie all die anderen wollte sie nicht ihn. Sie wollte die Macht, Sicherheit und übernatürliche Lust, die er ihr geben konnte. Aber irgendwann während Mencheres’ langen und unfreiwilligen Zölibats war dieser Handel für ihn inakzeptabel geworden.
Kurz nachdem Selene sich getrollt hatte, trat Gorgon, der einzige Vampir, den Mencheres zu seiner Begleitung mitgenommen hatte, in die Bibliothek.
»Herr«, sagte er. »Es gibt ein Problem mit der Sterblichen, die du heute Morgen mitgebracht hast.«
Mencheres erhob sich und war schon auf der Treppe zu Kiras Zimmer, als Gorgon ihn aufhielt.
»Äh, Herr? Du gehst vielleicht besser nach draußen.«