Bram Stoker
Dracula
Vollständige Ausgabe
Nach einer alten Übersetzung bearbeitet von Martin Engelmann
Titel der Originalausgabe von 1897
Dracula
Mit Fußnoten von Martin Engelmann
Bearbeitet nach
Bram Stoker, Dracula,
ed. by Maurice Hindle, Penguin Classics, London 2003
ISBN 978-3-8412-0128-7
Aufbau Digital,
veröffentlicht im Aufbau Verlag, Berlin, 2010
© Aufbau Verlag GmbH & Co. KG, Berlin
© Aufbau Media Betreuungsgesellschaft mbH, Berlin 2010
(für die Bearbeitung von Martin Engelmann)
Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jegliche Vervielfältigung und Verwertung ist nur mit Zustimmung des Verlages zulässig. Das gilt insbesondere für Übersetzungen, die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen sowie für das öffentliche Zugänglichmachen z.B. über das Internet.
Umschlaggestaltung morgen, unter Verwendung eines Fotos
von Kai Dieterich/bobsairport
E-Book Konvertierung: le-tex publishing services GmbH,
www.le-tex.de
www.aufbau-verlag.de
ERSTES KAPITEL
ZWEITES KAPITEL
DRITTES KAPITEL
VIERTES KAPITEL
FÜNFTES KAPITEL
SECHSTES KAPITEL
SIEBENTES KAPITEL
ACHTES KAPITEL
NEUNTES KAPITEL
ZEHNTES KAPITEL
ELFTES KAPITEL
ZWÖLFTES KAPITEL
DREIZEHNTES KAPITEL
VIERZEHNTES KAPITEL
FÜNFZEHNTES KAPITEL
SECHZEHNTES KAPITEL
SIEBZEHNTES KAPITEL
ACHTZEHNTES KAPITEL
NEUNZEHNTES KAPITEL
ZWANZIGSTES KAPITEL
EINUNDZWANZIGSTES KAPITEL
ZWEIUNDZWANZIGSTES KAPITEL
DREIUNDZWANZIGSTES KAPITEL
VIERUNDZWANZIGSTES KAPITEL
FÜNFUNDZWANZIGSTES KAPITEL
SECHSUNDZWANZIGSTES KAPITEL
SIEBENUNDZWANZIGSTES KAPITEL
ZUR TEXTGESTALT
Bram Stoker
Meinem lieben Freund Hommy-Beg1 gewidmet.
Wie diese Blätter angeordnet sind, ergibt sich aus ihrer Lektüre. Alles Überflüssige ist in ihnen ausgelassen worden, auf dass die Geschichte als eine vom möglichen Zweifel künftiger Generationen unabhängige historische Tatsache überliefert werde. Es handelt sich nicht um nachträglich entstandene Aufzeichnungen, bei denen die Erinnerung immer trügen kann, vielmehr stellen alle ausgewählten Dokumente authentische Zeugnisse dar, die die Meinungen und den Wissensstand der jeweils schreibenden Personen zum Zeitpunkt der Aufzeichnung treu wiedergeben.
Jonathan Harkers Tagebuch
(in Kurzschrift verfasst)
Bistritz, den 3. Mai
Habe München am 1. Mai um 8:35 Uhr abends verlassen, Ankunft in Wien früh am darauffolgenden Morgen – hätte eigentlich um 6:46 Uhr ankommen sollen, aber der Zug hatte eine Stunde Verspätung. Budapest scheint eine herrliche Stadt zu sein, soweit ich es nach der Aussicht aus dem Zugfenster und nach einem kurzen Spaziergang durch die Straßen beurteilen kann. Ich wollte mich nämlich nicht allzu weit vom Bahnhof entfernen, da wir erst so spät angekommen waren, jedoch wohl zur fahrplanmäßigen Zeit wieder abfahren würden. Mein Eindruck war ganz derart, dass ich ab hier den Westen verlassen und den Osten betreten habe. Die Donau weist in Budapest eine beträchtliche Breite und Tiefe auf, und die westlichste der prächtigen Brücken versetzt einen mitten in die Zeit der Türkenherrschaft zurück.
Wir fuhren pünktlich ab und kamen nach Einbruch der Nacht in Klausenburg an. Hier wohnte ich im Hotel »Royal«. Zum Dinner oder vielmehr Supper aß ich ein Huhn, das mit rotem Pfeffer zubereitet war. Es war sehr gut, aber es machte Durst. (Anm.: Das Rezept für Mina besorgen!) Auf meine Frage hin sagte mir der Kellner, man nenne es »Paprikahendl«, und ich würde es, da es ein Nationalgericht sei, überall in den Karpaten bekommen.
Meine spärlichen Deutschkenntnisse kamen mir sehr zustatten; ich wüsste wirklich nicht, wie ich hier ohne sie weiterkommen sollte.
In London hatte ich noch etwas Zeit gehabt und das British Museum2 besucht, um die in der Bibliothek vorhandenen Bücher und Karten über Transsilvanien durchzusehen. Für den geschäftlichen Verkehr mit einem einheimischen Adligen schien es mir durchaus von Vorteil zu sein, mir vorab einige Landeskenntnisse anzueignen. Ich erfuhr, dass mein Reiseziel im äußersten Osten des Landes liegt, dort, wo Transsilvanien, das Fürstentum Moldau und die Bukowina aneinandergrenzen, inmitten der Karpaten, die eine der wildesten und unbekanntesten Gegenden Europas sind. Die Lage der Burg Dracula vermochte ich jedoch weder in den vorhandenen Karten noch in den Büchern zu entdecken, denn es gibt von diesem Landstrich natürlich noch keine exakten Pläne, die unseren Militärkarten vergleichbar wären. Immerhin fand ich heraus, dass Bistritz, die Poststation, die mir Graf Dracula genannt hatte, ein hinlänglich bekannter Ort ist. Ich will im Folgenden einige meiner Eindrücke festhalten; sie sollen mir als Gedächtnisstütze dienen, um Mina von meiner Reise zu berichten.
Die Bevölkerung Transsilvaniens setzt sich aus vier verschiedenen Nationalitäten zusammen: Im Süden leben die Sachsen und, gemischt mit ihnen, die Wallachen, welche Nachkommen der Daker sind. Im Westen leben die Magyaren und im Osten und Norden die Szekler. Ich gehe zu den Letztgenannten, welche behaupten, von Attila und den Hunnen abzustammen. Das mag stimmen, denn als die Magyaren im elften Jahrhundert das Land eroberten, fanden sie dort Siedlungen der Hunnen vor. Ich las, dass innerhalb des hufeisenförmigen Gebirgszuges der Karpaten jeder nur erdenkliche Aberglaube anzutreffen sei, ganz so, als sei hier das Zentrum eines Wirbels aller fantastischen Einbildungen der alten Welt. Wenn dies zutrifft, wird mein Aufenthalt sicher interessant werden. (Anm.: Ich muss den Grafen über all das befragen!)
Obgleich mein Bett ziemlich bequem war, schlief ich nicht gut, und ich hatte alle möglichen verworrenen Träume. Sicherlich hatte das damit zu tun, dass die ganze Nacht hindurch ein Hund unter meinem Fenster heulte. Oder vielleicht war auch der Paprika schuld: Obwohl ich alles Wasser meiner Karaffe ausgetrunken hatte, war ich immer noch durstig. Gegen Morgen schlief ich endlich ein. Ich erwachte durch ein beständiges Klopfen an meiner Tür, woraus ich schließe, dass ich sehr fest geschlafen haben muss. Zum Frühstück aß ich wiederum Paprika und ein Porridge aus Maismehl, welches sie »Mamaliga« nennen, dazu Auberginen mit Fleischfüllung – ein exzellentes Gericht, das »Impletata« heißt. (Anm.: Auch hiervon das Rezept besorgen!) Ich musste schnell frühstücken, denn mein Zug ging kurz vor acht, oder besser: Er sollte zu dieser Zeit abfahren, denn nachdem ich pünktlich um 7:30 Uhr am Bahnhof war, musste ich noch fast eine Stunde im Waggon sitzen, bis sich der Zug endlich bewegte. Es scheint, als gingen die Züge umso unpünktlicher, je weiter man nach Osten kommt. Wie mag es da erst in China sein?
Den ganzen Tag bummelte der Zug durch eine äußerst reizvolle Gegend. Manchmal sahen wir kleine Städtchen oder Burgen auf steilen Hügeln – ein Anblick, wie man ihn nur aus illuminierten alten Messbüchern kennt. Zuweilen passierten wir Flüsse oder Bäche, die, nach den breiten Geröllstreifen auf beiden Seiten zu schließen, wohl häufig über ihre Ufer treten. An den Stationen warteten regelmäßig kleinere oder größere Gruppen von Leuten in den unterschiedlichsten Trachten. Einige von ihnen glichen mit ihren kurzen Jacken, ihren runden Hüten und ihren selbst geschneiderten Hosen ganz unseren Bauern daheim oder jenen, die ich auf meiner Reise durch Frankreich und Deutschland gesehen hatte. Andere wiederum sahen sehr malerisch aus. Die Frauen waren durchweg hübsch, bis man sie aus der Nähe sah und ihre stattlichen Taillen erkannte. Sie alle trugen weite weiße Ärmel, und die meisten von ihnen hatten breite Gürtel, von denen zahllose Bänder nach Art eines Ballettkleidchens herunterflatterten, worunter sich dann natürlich noch Unterröcke befanden. Die Slowaken, das wildeste Volk der Gegend, sahen am seltsamsten aus mit ihren mächtigen Cowboyhüten, schmutzig weißen Pluderhosen, weißen Leinenhemden und ungeheuer schweren, fast einen Fuß breiten Ledergürteln, die über und über mit Messingnägeln beschlagen waren. Ihre Hosen steckten in hohen Stiefeln, und sie hatten lange schwarze Haare und große schwarze Schnurrbärte. Sind sie auch malerisch anzuschauen, so machen sie jedoch keinen sehr vertrauenerweckenden Eindruck. Auf den Stationen hockten sie beieinander wie orientalische Räuberbanden, jedoch habe ich mir sagen lassen, dass sie eher harmlos und von geringer Selbstsicherheit seien.
Die Dämmerung war bereits hereingebrochen, als wir in Bistritz ankamen. Eine alte, sehr interessante Stadt, die praktisch an der Grenze liegt – von hier aus führt der Borgopass in die Bukowina hinüber. Demgemäß besitzt Bistritz eine sehr bewegte Vergangenheit, deren Spuren noch heute zu erkennen sind. Vor fünfzig Jahren hatte hier eine Serie großer Brände gewütet, wodurch Bistritz fünfmal nacheinander verwüstet wurde. Zu Beginn des 17. Jahrhunderts wurde die Stadt drei Wochen lang belagert und verlor dabei, da zu den Opfern der Kämpfe auch noch Tote durch Hunger und Seuchen hinzukamen, dreizehntausend Einwohner.
Graf Dracula hatte mich an das Hotel »Zur Goldenen Krone« verwiesen, welches sich als ein Haus von altem Stil erwies – zu meiner großen Freude, denn schließlich will ich die Eigenarten dieses Landes so gut wie irgend möglich kennenlernen. Ich wurde offenbar erwartet, denn als ich an die Tür des Hauses trat, kam mir sogleich eine freundlich blickende ältere Frau in gewöhnlicher Bauerntracht entgegen; über ihren weißen Kleidern trug sie vorne und hinten eine lange, doppelte Schürze aus buntem Stoff, die, bei aller sonstigen Bescheidenheit der Kleidung, fast ein wenig zu eng geschnürt war. Als ich näher trat, verbeugte sie sich und sagte »Der Herr Engländer?« – »Ja«, erwiderte ich, »Jonathan Harker.« Sie lächelte und gab einem älteren Mann mit weißen Hemdsärmeln, der ihr bis zur Tür gefolgt war, einen Wink. Dieser ging und kam gleich darauf mit einem Brief in der Hand wieder zurück.
»Mein Freund,
willkommen in den Karpaten! Ich erwarte Sie mit Ungeduld, für heute aber schlafen Sie erst einmal wohl. Um drei Uhr morgens geht die Postkutsche nach der Bukowina, ein Platz ist für Sie reserviert. Am Borgopass wird mein Wagen Sie erwarten und zu mir bringen. Ich hoffe, dass Sie von London bis hierher eine gute Reise hatten und dass Sie sich Ihres Aufenthalts in meiner schönen Heimat freuen mögen.
Ihr Freund Dracula«
4. Mai
Ich erfuhr, dass mein Wirt ebenfalls einen Brief des Grafen erhalten hatte, worin er beauftragt worden war, für mich den besten Platz in der Postkutsche zu reservieren. Als ich den Mann über Details ausfragen wollte, wurde er jedoch zurückhaltend und gab vor, mein Deutsch nicht zu verstehen. Das schien mir eine Ausrede zu sein, denn zuvor hatte er mich noch sehr gut verstanden. Oder wenigstens hatte es mir so geschienen, denn auf alle meine Fragen war mir stets eine genaue Antwort zuteil geworden. Nun aber wechselte er mit seiner Frau – der alten Dame, die mich empfangen hatte – scheue Blicke. Er murmelte, dass das Geld in einem Brief gekommen wäre und dass er nichts weiter wisse. Als ich ihn fragte, ob er den Grafen Dracula kenne und mir etwas über dessen Burg sagen könne, bekreuzigten sich beide und beendeten das Gespräch mit der Behauptung, sie wüssten überhaupt nichts. Nun war nur noch wenig Zeit bis zur Abreise, sodass ich niemanden sonst mehr fragen konnte, wie mysteriös und beunruhigend mir diese Sache auch schien.
Kurz bevor ich aufbrach, kam die alte Dame dann aber doch noch einmal zu mir aufs Zimmer und beschwor mich in einem beinahe hysterischen Ton:
»Müssen Sie denn dort hingehen, junger Herr? Müssen Sie denn wirklich gehen?« Sie war dermaßen aufgeregt, dass sie das wenige Deutsch, das sie konnte, vergessen zu haben schien, denn sie vermischte es mit Worten einer anderen Sprache, die ich absolut nicht verstand. Ich konnte ihr nur halbwegs folgen, indem ich ihr viele Fragen stellte. Als ich ihr aber sagte, dass ich selbstverständlich reisen müsse, da ich in wichtigen Geschäften unterwegs sei, begann sie erneut:
»Wissen Sie denn, was heute für ein Tag ist?« Ich antwortete, es wäre der 4. Mai. Sie schüttelte den Kopf und sagte:
»Oh ja, das weiß ich, das weiß ich! Aber wissen Sie denn nicht, was das für ein Tag ist?« Auf meine Entgegnung, dass ich sie nicht verstünde, fuhr sie fort:
»Es ist St. Georg! Wissen Sie denn nicht, dass, wenn die Uhr heute Mitternacht schlägt, alle bösen Dinge in der Welt freien Lauf haben? Wissen Sie wirklich nicht, wohin Sie gehen und was Sie erwartet?« Sie war so verstört, dass es mir nicht gelang, sie zu beruhigen. Schließlich warf sie sich auf die Knie und flehte mich an, nicht zu gehen oder wenigstens meine Abfahrt um ein oder zwei Tage zu verschieben. Das alles war einfach lächerlich, aber dennoch fühlte ich mich unbehaglich. Wie auch immer: Ich hatte meinen geschäftlichen Pflichten nachzukommen und konnte deren Gefährdung nicht dulden. Ich versuchte also, die Frau wieder hochzuziehen, und erklärte ihr so ernst wie nur möglich, dass ich ihr danken würde, aber dass mein Auftrag unabänderlich sei und ich natürlich gehen müsse. Sie erhob sich daraufhin, trocknete ihre Tränen und nahm ein Kruzifix von ihrem Hals, um es mir zu reichen. Ich wusste nicht recht, was ich damit anfangen sollte, denn als anglikanischer Protestant halte ich derartige Dinge für mehr oder minder götzendienerisch, andererseits brachte ich es aber auch nicht übers Herz, das Geschenk einer alten Frau zurückzuweisen, die es anscheinend gut mit mir meinte und die sich in einer solchen Aufregung befand. Vermutlich las sie diesen Widerstreit in meinem Gesicht, denn sie legte mir schließlich selbst den Rosenkranz um den Hals und sagte dazu: »Um Ihrer Mutter willen!« Dann ging sie aus dem Zimmer. Ich schreibe diesen Teil meines Tagebuches, während ich auf die Kutsche warte, die – natürlich – Verspätung hat. Der Rosenkranz hängt noch immer um meinen Hals. Ich weiß nicht, ob es am Aberglauben der alten Frau, an den vielen Geistergeschichten dieser Gegend oder gar am Kruzifix selbst liegt, aber ich fühle mich nicht annähernd so unbeschwert wie sonst. Sollten diese Blätter vor mir bei Mina eintreffen, so sende ich hiermit fürs Erste herzliche Abschiedsgrüße – hier kommt meine Kutsche!
Auf der Burg, den 5. Mai
Die graue Morgendämmerung ist vergangen, und die Sonne steht schon hoch über dem fernen Horizont, der gezackt ist von Bäumen oder Hügeln – ich kann es nicht genau erkennen, da große und kleinere Dinge aufgrund der Entfernung ununterscheidbar sind. Ich bin aber nicht müde, und da man mich nicht wecken, sondern vielmehr warten wird, bis ich von selbst erwache, will ich einstweilen schreiben, bis der Schlaf kommt. Es sind so viele seltsame Dinge, die ich zu berichten habe, dass es demjenigen, der diese Aufzeichnungen liest, vielleicht vorkommen wird, als hätte ich vor meiner Abreise von Bistritz zu reichlich diniert. Um dies zu widerlegen, führe ich hier meine Mahlzeit an: Ich aß etwas, was sie hier »Räuberbraten« nennen – Stücke von Speck, Zwiebeln und Rindfleisch, gewürzt mit rotem Paprika, an Stöcken festgemacht und über dem Feuer geröstet, ganz so, wie man in London Katzenfutter aus Pferdefleisch macht. Der Wein war ein weißer Mediasch, der ein eigentümliches Brennen auf der Zunge erzeugt, das aber nicht unangenehm wirkt. Ich trank davon nur ein paar Gläser, sonst hatte ich nichts weiter.
Als ich mich zur Kutsche begab, hatte der Kutscher seinen Sitz noch nicht eingenommen; ich sah ihn mit der Wirtin sprechen. Das Gespräch drehte sich offensichtlich um mich, denn hin und wieder blickten sie zu mir herüber. Dann kamen noch einige Leute hinzu, die zuvor auf der Bank vor dem Hause gesessen hatten – so eine Bank nennen sie hier übrigens »Überbringer des Wortes«. Diese Leute hörten eine Weile zu, um mich daraufhin mitleidig anzusehen. Einige Wörter wiederholten sich immer wieder und drangen bis zu mir, seltsame Wörter, denn die Gruppe bestand aus verschiedenen Nationalitäten. Ich holte heimlich mein Wörterbuch aus der Reisetasche und suchte mir die gehörten Begriffe zu übersetzen. Was ich da las, war nicht dazu angetan, mich aufzuheitern, denn da stand »Ordog – Satan«, »Pokol – Hölle«, »Stregoica – Hexe«. »Vrolok« und »Vlkoslak« bedeuten dasselbe, das eine ist Slowakisch, das andere Serbisch für ein Wesen, das entweder ein Werwolf oder ein Vampir ist. (Anm. Ich muss den Grafen über diesen Aberglauben befragen!)
Als wir abfuhren, schlug die ganze Versammlung vor der Wirtshaustür – die Menge war unterdessen beträchtlich angewachsen – das Kreuzzeichen und streckte dann zwei gespreizte Finger gegen mich aus. Nur mit Mühe erfuhr ich die Bedeutung dieser Geste von einem meiner Reisegefährten. Erst wollte er nicht mit der Sprache heraus, als ich ihm aber sagte, ich sei Engländer, erklärte er mir, dass es sich um einen Zauber zum Schutz gegen den Bösen Blick handle. Auch diese Auskunft war nicht sehr erfreulich für mich, der ich gerade zu einem unbekannten Ort aufbrach, um dort einen mir ebenso unbekannten Mann zu treffen. Andererseits waren alle Leute um mich herum so gutherzig, so besorgt und so sympathisch, dass ich nicht sosehr Verstörung als vielmehr Rührung empfand. Ich werde wohl nie den letzten Blick auf den Wirtshausgarten und die sich um den breiten Torweg drängende malerische Menge vergessen; wie sie sich bekreuzigten, im Hintergrund das reiche Blattwerk aus Oleander und Orangenbäumen, die in grünen Kübeln in der Mitte des Hofes standen. Dann ließ unser Kutscher, dessen weite, hier »Gotza« genannte Leinenhose seinen gesamten Sitz bedeckte, seine lange Peitsche über den vier kleinen Pferden knallen, die alle nebeneinander angeschirrt waren, und wir waren unterwegs.
Bei der Schönheit der Gegend, durch die wir fuhren, verlor ich rasch alle Erinnerung an die Gespensterfurcht der Leute. Hätte ich allerdings die Sprache oder vielmehr die Sprachen meiner Mitreisenden verstanden, so wäre ich die unangenehmen Eindrücke wohl nicht so schnell losgeworden. Vor uns lag ein grünes, sanft ansteigendes Land von bewirtschafteten und wilden Wäldern. Hier und dort gab es steile Hügel, gekrönt von einer Baumgruppe oder von einem Bauerngehöft, dessen Giebel zur Straße zeigte. Die Apfel-, Pflaumen-, Kirsch- und Birnbäume standen in reichster Blüte, und im Vorbeifahren schien das grüne Gras unter den Bäumen von herabgefallenen Blütenblättern übersät. Durch diese liebliche Hügellandschaft, die man das Mittelland nennt, zog sich die Straße dahin und verlor sich weit in der Ferne im Grünen. Dann wieder wurde sie von Fichtenwäldern aufgenommen, deren Spitzen wie dunkelgrüne Zungen hier und da an den Hügeln hinabliefen. Der Weg war holperig, trotzdem flogen wir mit fiebernder Hast darüber hin. Ich konnte mir diese Eile nicht erklären, aber der Kutscher war scheinbar darauf erpicht, ohne jeglichen Zeitverlust Borgo Prund zu erreichen. Man versicherte mir, dass unsere Straße im Sommer ausgezeichnet sei und dass man sie jetzt nur noch nicht von den Winterschäden wiederhergestellt habe. In dieser Hinsicht muss sie sich also von den übrigen Karpatenstraßen unterscheiden, welche nach alter Tradition nicht allzu gepflegt sind. Von alters her lassen die Hospodare3 nämlich nichts ausbessern, um nicht bei den Türken den Argwohn zu erwecken, man wolle Truppen gegen sie marschieren lassen – der Funken des Krieges glimmt in dieser Region beständig unter der Asche.
Nach den sanften grünen Hügeln des Mittellandes begannen mächtige Waldhänge, die bis an den Rand der schroffen Karpatengipfel reichten. Beiderseits unseres Weges stiegen die Wälder an, und die pralle Nachmittagssonne ließ all die herrlichen Farben dieses wundervollen Landes leuchten: Die Schatten der Gipfel waren von tiefem Blau und von Purpur; Grün und Braun herrschten vor, wo Gras und Fels sich trafen. Darüber bot sich eine scheinbar endlose Aussicht auf gezacktes Gestein und spitze Klippen, die in der Ferne schließlich von majestätischen, schneebedeckten Gipfeln bekrönt wurden. Durch mächtige Spalten im Gestein sah man da und dort im Licht der sinkenden Sonne weißen Schaum herabstürzender Bäche. Einer meiner Mitreisenden berührte meinen Arm, als wir gerade einen Hügel umfuhren und sich der Ausblick auf einen ungeheueren schneebedeckten Gipfel öffnete, auf den wir direkt zuzusteuern schienen.
»Sehen Sie, ›Isten Szek‹ – ›Gottes Sitz‹!«, sagte er und bekreuzigte sich andachtsvoll. Während wir in endlosen Serpentinen dahinfuhren und die Sonne immer tiefer und tiefer sank, begannen rings um uns herum lange Schatten heraufzukriechen. Dies wurde noch dadurch betont, dass auf der schneebedeckten Bergspitze noch lange der Widerschein der scheidenden Sonne lag, die den Gipfel in einem kalten, blassen Rot erglühen ließ. Zuweilen trafen wir auf Tschechen oder Slowaken in malerischer Kleidung, und ich konnte bemerken, dass der Kropf hier ein sehr verbreitetes Übel sein muss. Am Wegrand standen viele Kreuze, und wann immer wir ein solches passierten, bekreuzigten sich alle meine Mitreisenden. Hier und dort kniete ein Bauer oder eine Bäuerin vor einer Kapelle, aber sie sahen sich nicht einmal nach uns um – so tief waren sie in Andacht und Hingebung versunken, dass sie weder Augen noch Ohren für die sie umgebende Welt hatten. Viel Neues gab es für mich zu sehen, zum Beispiel Heuschober auf Bäumen oder auch herrliche Gruppen von Birken, deren weiße Stämme wie Silber durch das saftige Grün leuchteten. Manchmal begegneten wir einem Leiterwagen, dem landesüblichen Bauerngefährt, dessen lange, schlangenartige Konstruktion den hiesigen Straßenverhältnissen besonders gut angepasst ist. Auf den Leiterwagen saßen ganze Gruppen heimkehrender Bauern, die Tschechen mit weißen, die Slowaken mit gefärbten Lammpelzen; die Letzteren trugen lanzenartige Stäbe, deren Ende in eine Axt auslief. Als schließlich der Abend hereinbrach, wurde es rasch kalt, und die fortschreitende Dämmerung versenkte die Umrisse der Eichen, Buchen und Fichten in ein immer tieferes Dunkel, während sich in den Tälern, die wir bei unserem Anstieg zum Pass hinter uns ließen, einzelne Tannen noch scharf vor dem Hintergrund des alten Schnees abhoben. Einige Male, als die Straße durch Fichtenwälder führte, deren Dunkel sichüber uns beinahe gänzlich schloss, erzeugten lange graue Schleier, die zwischen den Bäumen zu hängen schienen, eine teils feierliche, teils unheimliche Stimmung in uns. Schon seit Sonnenuntergang waren seltsam geformte, gespenstische Nebelfetzen durch die Täler gezogen, und die daraus erwachsenen Gedanken und Fantasien spannen sich nun weiter. Die Straße wurde nun manchmal so steil, dass die Pferde trotz der Eile des Kutschers nur noch langsam vorwärtskamen. Ich wollte absteigen und zu Fuß gehen, wie wir es zu Hause tun, aber der Wagenlenker wollte nichts davon wissen: »Nein, nein«, sagte er, »Sie dürfen hier nicht gehen, es gibt viele streunende Hunde!« Und dann fügte er hinzu: »Außerdem steht Ihnen noch genug Aufregung bevor, bevor Sie zur Ruhe gehen.« Dies sollte wohl ein roher Scherz sein, denn er sah sich um, als wollte er sich des zustimmenden Lächelns der Übrigen versichern. Der einzige kurze Halt, den er dann einlegte, diente zum Anzünden der Wagenlaternen.
Als es ganz dunkel geworden war, schien sich eine gewisse Erregung der Passagiere zu bemächtigen; einer nach dem andern redete auf den Kutscher ein, als wollten sie ihn zu noch größerer Eile anspornen. Er trieb die Pferde daraufhin unbarmherzig mit der Peitsche an und versuchte sie sogar durch wilde Zurufe zu erhöhter Anstrengung zu bewegen. Dann entdeckte ich in der Dunkelheit einen schwachen, grauen Lichtschimmer vor uns, als wenn ein Spalt in den Felswänden wäre. Die Unruhe der Passagiere steigerte sich immer mehr, und die gebrechliche Kutsche hüpfte in ihren ledernen Federn und schwankte wie ein Boot auf stürmischer See. Ich musste mich festhalten. Bald wurde der Weg aber wieder ebener, und wir flogen nur so dahin. Die Berge schienen immer näher an uns heranzukommen und buchstäblich über uns zusammenzurücken: Wir hatten den Borgopass erreicht. Einzelne der Mitreisenden begannen nun, mir kleine Geschenke zu machen, die sie mir mit einem Ernst aufdrängten, der eine Zurückweisung ausschloss. Es waren ohne Zweifel seltsame Dinge, aber jedes wurde in guter Absicht, mit einem freundlichen Wort und mit einem Segenswunsch überreicht, begleitet von jenen beschwörenden Gesten, die ich schon vor dem Hotel in Bistritz gesehen hatte – dem Kreuzzeichen und dem Zeichen gegen den Bösen Blick. Dann lehnte sich der Kutscher vor, und auch die Fahrgäste starrten, die Ellbogen auf den Kutschenrand gestützt, gespannt hinaus in das nächtliche Dunkel. Es war offenkundig, dass etwas sehr Aufregendes geschah oder erwartet wurde; aber obgleich ich jeden meiner Reisegefährten fragte, gab mir keiner auch nur die kleinste Erklärung. Die allgemeine Erregung hielt an, bis wir vor uns endlich die östliche Öffnung des Passes erkennen konnten. Dunkle, drohende Wolken zogen über unseren Köpfen hinweg, und in der Luft lag die bedrückende Stimmung eines aufziehenden Gewitters. Es war, als trennte der Gebirgszug zwei grundverschiedene Atmosphären und als träten wir nun in die des Sturmes ein. Ich hielt nun selbst Ausschau nach dem Gefährt, das mich zum Grafen bringen sollte; jeden Augenblick erwartete ich, Wagenlaternen aufblitzen zu sehen, aber alles blieb dunkel. Das einzige Licht verbreiteten unsere eigenen Lampen, in deren flackerndem Schein der Dampf unserer vom Laufen heißen Pferde wie eine weiße Wolke aufstieg. Etwas heller lag vor uns der sandige Weg, aber nichts zeigte an, dass sich auf ihm ein Wagen nähern würde. Die Fahrgäste seufzten erleichtert auf, was mein eigenes Missbehagen Lügen zu strafen schien. Ich dachte schon darüber nach, was nun zu tun wäre, als der Fuhrmann nach der Uhr sehend zu den anderen etwas sagte; so leise und ruhig, dass ich es kaum hören konnte. Ich meinte aber dennoch verstanden zu haben: »Eine Stunde vor der Zeit!« Dann wandte er sich zu mir und sprach in einem Deutsch, das wohl noch schlechter als meines war:
»Keine Kutsche da, der Herr wird anscheinend gar nicht erwartet! Sie fahren nun am besten mit uns nach der Bukowina und kehren dann morgen oder übermorgen zurück; besser noch übermorgen.« Während er dies sagte, begannen seine Pferde zu wiehern, zu schnauben und wild auszuschlagen, sodass der Fuhrmann sie halten musste. Dann kam, begleitet von Schreien und wildem Bekreuzigen der Bauern um mich herum, von hinten eine Kalesche mit vier Pferden an uns heran und machte auf gleicher Höhe halt. Beim Schein der Laternen konnte ich erkennen, dass die Pferde kohlschwarz und prächtig gebaut waren. Die Zügel führte ein hochgewachsener Mann mit langem braunem Vollbart und einem großen schwarzen Hut, der wohl sein Gesicht vor uns verbergen sollte. Als er sich zu uns wandte, konnte ich ein paar funkelnde Augen sehen, die im Lampenlicht rot erschienen. Er sagte zu unserem Kutscher:
»Du bist früh dran heute, mein Freund.« Der Mann erwiderte, verlegen stammelnd:
»Der englische Herr hatte große Eile«, worauf der Fremde entgegnete:
»Weil du ihn, wie ich vermute, nach der Bukowina fahren wolltest. Du kannst mich nicht täuschen, mein Bester, ich weiß zu viel, und meine Pferde sind schnell.« Während er das sagte, lächelte er, und der Schein der Laterne fiel auf einen harten Mund mit sehr roten Lippen und spitzen, schneeweißen Zähnen. Einer meiner Reisegefährten flüsterte seinem Nachbarn Worte aus Bürgers »Lenore« zu:
»Die Toten reiten schnell!«4
Der seltsame Kutscher hatte die Worte offenbar auch gehört, denn er sah den Sprecher lächelnd an. Dieser wandte sein Gesicht ab, spreizte mit der einen Hand zwei Finger und schlug mit der anderen das Kreuz. »Gib mir das Gepäck des Herrn«, forderte der Fremde, und mit außerordentlicher Geschwindigkeit wurden meine Koffer abgeladen und auf der Kalesche untergebracht. Ich stieg dann auf der Seite des Postwagens aus, wo die Kalesche stand, wobei mir der fremde Kutscher half, indem er meinen Arm mit stahlhartem Griff umspannte – seine Kraft muss beträchtlich sein. Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, zog er die Zügel an, die Pferde wendeten und jagten wieder der finsteren Enge des Passes zu. Als ich zurücksah, bemerkte ich noch den Dampf der Pferde, der im Laternenschein emporstieg, und dunkel sich davon abhebend meine sich bekreuzenden Reisegenossen. Ich hörte noch, wie ihr Kutscher die Peitsche klatschen ließ und den Pferden etwas zurief; dann flogen sie dahin, der Bukowina zu.
Als sie im Dunkel verschwunden waren, überlief mich ein eisiger Schauer, und das Gefühl der Verlassenheit kam über mich. Der Kutscher aber legte mir einen Mantel um die Schultern und eine Decke auf die Knie und sagte in fließendem Deutsch:
»Die Nacht ist kalt, und mein Herr, der Graf, hat mir aufgetragen, für Sie zu sorgen. Hier unter dem Sitz steht eine Flasche Sliwowitz (Anm. der Pflaumenbranntwein des Landes), falls Sie seiner bedürfen sollten.« Ich nahm nichts davon, aber es war mir immerhin eine Beruhigung zu wissen, dass man für mich sorgte. Ich hatte ein eigentümliches Gefühl, welches aber nicht Furcht genannt werden konnte. Hätte es allerdings irgendeine Möglichkeit gegeben, auf diese nächtliche Fahrt zu verzichten, so hätte ich sie ergriffen. Der Wagen fuhr in schnellem Tempo dahin, bis wir plötzlich eine vollkommene Kehrtwendung machten und in die entgegengesetzte Richtung jagten, wobei ich den Eindruck hatte, noch immer auf der gleichen Straße zu sein. Ich merkte mir einige besonders auffällige Punkte und stellte fest, dass ich mich nicht getäuscht hatte. Zu gerne hätte ich den Kutscher gefragt, was das zu bedeuten habe; ich tat es aber nicht, weil ich mir sagte, dass in meiner Situation ein Protest ohnehin zwecklos wäre, wenn er wirklich etwas gegen mich im Schilde führte. Neugierig war ich aber, wie spät es wohl sei. Ich zündete ein Streichholz an und sah bei seinem Schein nach meiner Uhr – es waren nur noch wenige Minuten bis Mitternacht! Mich erfasste ein jäher Schreck; vermutlich hatten mich der allgemeine Aberglaube und meine jüngsten Erlebnisse etwas nervös gemacht. Ein Gefühl ängstlicher Spannung überkam mich.
Dann begann weit entfernt auf einem Bauernhof an der Straße ein Hund zu heulen; es war ein langes, todtrauriges Weinen, wie vor Angst. Ein zweiter antwortete, und so pflanzte sich das fort, bis schließlich alle Hunde der Gegend in dem Konzert mitzumachen schienen, das nun, getragen vom Nachtwind, leise durch den Pass zog. In meiner von der finsteren Nacht aufgewühlten Einbildungskraft schien das Geheul die ganze Gegend ringsum erfasst zu haben. Bei den ersten Lauten scheuten und schnaubten die Pferde, aber der Kutscher sprach leise auf sie ein, und sie wurden wieder ruhiger, wenn sie auch zitterten und schwitzten, wie nach der Flucht vor einer Gefahr. Nun aber begann, noch weit entfernt, auf den Bergen zu beiden Seiten des Weges ein lauteres, heller klingendes Geheul, das Geheul von Wölfen, welches die Pferde und auch mich in hohem Maße erschreckte. Ich war fast so weit, aus dem Wagen zu springen, so sehr schlugen die schnaubenden, sich aufbäumenden Pferde aus, und der Kutscher musste seine ganze Kraft aufwenden, um sie zu halten. Nach wenigen Minuten hatten sich meine Ohren aber an die Laute gewöhnt, und auch die Pferde waren wenigstens so weit beruhigt, dass der Kutscher absteigen und sich vor sie hinstellen konnte. Er streichelte die Tiere und flüsterte ihnen etwas in die Ohren, wie es die Pferdedresseure machen. Das hatte eine gute Wirkung, denn unter seinen Zuwendungen wurden sie wieder fügsamer, obgleich sie immer noch zitterten. Der Kutscher stieg dann wieder auf seinen Bock und fuhr mit straffen Zügeln in flottem Tempo weiter. Diesmal aber bog er, nachdem wir die höchste Stelle des Passes überwunden hatten, plötzlich auf einen schmalen Weg nach rechts ab.
Bald waren wir unter Bäumen, deren dicht verschlungene Äste förmlich einen Tunnel bildeten, bald stiegen schroffe Felsen zu beiden Seiten kühn in die Höhe. Obwohl wir geschützt waren, konnten wir den stärker werdenden Nachtwind hören; es pfiff und winselte durch die Felsen, und klatschend und krachend schlugen die Zweige der Bäume zusammen. Es wurde immer kälter und kälter und bald fiel auch ein leichter Schnee, der uns und unsere Umgebung in einen weißen Überzug hüllte. Der scharfe Wind trug uns das Heulen der Hunde aus immer weiterer Ferne zu. Dagegen kam das Geheul der Wölfe näher und näher, als ob sie uns von allen Seiten umringten. Ich war sehr erschrocken, und die Pferde teilten meine Furcht; der Kutscher aber schien nicht im Mindesten beunruhigt. Er wandte den Kopf aufmerksam nach rechts und links, aber ich konnte nichts bemerken.
Plötzlich, dicht zur Linken, tauchte eine flackernde blaue Flamme5 aus dem Dunkel auf. Der Kutscher sah sie wohl zur gleichen Zeit, denn er hielt die Pferde an, sprang ab und verschwand in der Finsternis. Ich wusste nun nicht, was ich tun sollte, insbesondere, da das Geheul der Wölfe immer näher kam. Aber während ich noch überlegte, kehrte der Kutscher unversehens zurück, nahm wortlos seinen Sitz wieder ein, und die Fahrt ging weiter. Ich muss darauf wohl eingeschlafen sein und geträumt haben, denn mir kommt es jetzt so vor, als hätte sich dieser Zwischenfall unzählige Male wiederholt. Ist dies wirklich passiert? Wenn ich daran denke, scheint es mir nur ein schlimmes Albdrücken gewesen zu sein. Einmal erschien die Flamme so nahe bei uns, dass ich sogar in der Dunkelheit, die uns umgab, die raschen Bewegungen des Kutschers erkennen konnte. Er ging auf die Flamme zu – sie muss in Wirklichkeit sehr schwach gewesen sein, denn sie erleuchtete nicht einmal ihre allernächste Umgebung – und legte einige vom Weg aufgeraffte Steine zu einer besonderen Figur zusammen. Dabei kam es zu einer eigenartigen optischen Täuschung: Als der Kutscher zwischen mir und der Flamme stand, verdeckte er sie nämlich keineswegs, sondern ich sah sie gespenstisch weiterflackern. Das entsetzte mich, aber da die Erscheinung nur kurze Zeit anhielt, führte ich sie auf eine Sinnestäuschung infolge des langen Hinausstarrens in die Nacht zurück. Dann verschwanden die blauen Lichter rasch, und wir sausten durch die Finsternis dahin, rings um uns das Geheul der Wölfe, die uns in einem weiten Kreise zu verfolgen schienen.
Schließlich aber stieg der Kutscher noch einmal ab und entfernte sich von der Straße weiter, als er es bisher getan hatte. Während seiner Abwesenheit begannen die Pferde ärger als je zu zittern, zu schnauben und vor Angst zu wiehern, und ich konnte mir die Ursache dafür zunächst nicht erklären, denn das Geheul der Wölfe hatte mittlerweile aufgehört. Dann kam aber über dem gezackten Kamm der fichtenbewachsenen Felsen der Mond hinter den finsteren Wolken hervor, und bei seinem fahlen Licht erblickte ich um uns einen Ring von Wölfen mit weißen Zähnen, roten heraushängenden Zungen, sehnigen Beinen und zottigem Fell. Ihr grimmiges Schweigen war viel unheimlicher als ihr Geheul. Ich war wie gelähmt vor Schreck. Ein solches Gefühl hat man nur, wenn man sich unvermittelt einer ungeheueren Gefahr gegenübersieht.
Plötzlich begannen die Wölfe wieder aufzuheulen, als ob das Mondlicht eine besondere Wirkung auf sie gehabt hätte. Die Pferde schlugen aus, wieherten und verdrehten ihre Augen so panisch, dass mich ihr Anblick rührte, obwohl der lebendige Ring des Verderbens auch mich unentrinnbar umgab. Ich rief nach dem Kutscher, denn der einzige Ausweg schien mir zu sein, den Ring der Wölfe im Fahren zu durchbrechen. Ich schrie und trommelte mit den Fäusten gegen den Wagenschlag, um die Bestien abzulenken und dem Kutscher die Möglichkeit zu geben, die Kalesche zu erreichen. Womit dieser gerade beschäftigt war, weiß ich nicht, aber auf einmal hörte ich ihn im Befehlston etwas rufen, dann sah ich ihn mitten auf dem Weg stehen. Er schwenkte seine Arme, als wollte er ein störendes Hindernis beiseiteräumen, und die Wölfe wichen zu meiner größten Überraschung zurück. Dann schob sich eine schwarze Wolke vor den Mond, und es war wieder finster.
Als ich das Dunkel mit den Augen wieder zu durchdringen vermochte, kletterte der Kutscher gerade auf den Bock. Die Wölfe waren verschwunden. Das alles war so seltsam und unheimlich, dass mich eine schreckliche Beklemmung überkam; ich wagte nicht zu sprechen oder mich zu regen. Die Zeit schien mir endlos, während wir unsere Fahrt nun in völligem Dunkel fortsetzten, denn die ziehenden Wolken verdeckten den Mond. Meist ging es bergauf, zuweilen aber auch kurz und steil abwärts. Plötzlich wurde mir bewusst, dass der Kutscher den Wagen in den Hof einer großen Burgruine lenkte, aus deren hohen schwarzen Fenstern kein einziger Lichtstrahl drang, und deren zerbröckelnde Zinnen sich wie eine gezackte Linie vom nunmehr wieder mondhellen Himmel abhoben.