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Das Buch

Das Buch

Journalist Lex Falk würde für eine gute Story einfach alles tun – dafür nimmt er sogar einen Auftrag auf dem denkbar langweiligen Planeten 86 in Kauf. Auf dieser abgelegenen Welt schwelt ein militärischer Konflikt, der jedoch, soweit es geht, vertuscht werden soll. Als Falk schließlich die Gelegenheit bekommt, sich durch einen Computerchip mit dem Gehirn eines Frontsoldaten zu verbinden, ist er sich sicher, den ganz großen Coup gelandet zu haben: eine Live-Reportage direkt von der abgeriegelten Kriegsfront auf einem fernen Planeten! Doch dann wird der Soldat beinahe getötet und Lex muss seinen Körper übernehmen, um sich irgendwie in Sicherheit zu bringen und seine hochbrisante Reportage an die Öffentlichkeit zu bringen. Ein Wettlauf gegen die Zeit beginnt …

Der Autor

Der Autor

Dan Abnett, Jahrgang 1965, ist Comic-Autor und Schriftsteller. Mit seinen Romanen für das Warhammer 40,000-Universum, unter anderem die beliebte Gaunts-Geister-Serie und die Eisenhorn-Romane, hat er weltweilt zahlreiche Science-Fiction-Fans gewonnen. Dan Abnett lebt in Kent.

Mehr über den Autor unter: www.danabnett.com

Titel

DAN ABNETT

PLANET 86

Roman

Deutsche Erstausgabe

WILHELM HEYNE VERLAG
MÜNCHEN

Impressum

Titel der englischen Originalausgabe
EMBEDDED
Deutsche Übersetzung von Alfons Winkelmann

Deutsche Erstausgabe 11/2011
Redaktion: Werner Bauer
Copyright © 2011 by Dan Abnett
Copyright © 2011 der deutschsprachigen Ausgabe
by Wilhelm Heyne Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design, München
Satz: C. Schaber Datentechnik, Wels

ISBN: 978-3-641-07217-9

www.heyne-magische-bestseller.de

Widmung + Dank

Für Adelie und Cal und dreißig Jahre

Mit Dank an
Marco und Nik

01

01

Auf der digitalen Brosche am Halsabschluss seines Einteilers stand FANCIMAN, MAJOR GENE GILLARD, S.O.M.D., aber nach dem Händeschütteln und der Begrüßung war klar, dass der Major eine maniriertere Aussprache seines Nachnamens pflegte, so etwas wie »Funsmun«.

Er zeigte zu dem Stuhl hinüber, der für Falk gedacht war, und seine Geste sollte wohl besagen: »Fühlen Sie sich ganz wie zu Hause!« Er selbst nahm wieder hinter seinem Schreibtisch Platz. Beim Hinsetzen zog er die Hosenbeine seines Einteilers hoch, damit sie nicht beulten.

»Wann sind Sie eingetroffen?«, fragte er.

»Gestern Nacht«, erwiderte Falk. »Ich bin vor einem Monat mit einem Spinrad hereingekommen, habe jedoch zwanzig Tage draußen auf dem Cape zur Akklimatisierung verbracht.«

»Dann haben Sie wohl noch nicht viel von Sechsundachtzig gesehen. Sie werden entdecken, dass es ein schönes Land ist, Mr. Falk. Ein wunderschönes Land.«

»Ein Land, das es wert ist, darum zu kämpfen?«, fragte Falk. Seine Worte waren etwas flapsig gemeint. Allerdings bedachte ihn Major Fanciman mit einem angewiderten Ausdruck, als ob Falk gerade gekonnt die ersten paar Zeilen der Siedlerhymne gefurzt hätte.

»Habe ich etwas Falsches gesagt?«, fragte Falk.

Fanciman bereitete ein Lächeln vor und zündete es an, langsam und kennerisch, wie eine Corona Grande.

»Wir achten sehr genau auf unsere Worte, Mr. Falk. Das Wort, das Sie verwendet haben, besitzt eine negative Konnotation. Es läuft, ähm, dem Taktgefühl zuwider. Ich mache Ihnen da keinen Vorwurf, Gott bewahre! Sie sind ja gerade erst angekommen und hatten noch nicht die Zeit, sämtliche unserer Richtlinien zu studieren.«

»Tut mir leid«, log Falk. Während der Akklimatisierungsquarantäne hatte es nicht viel anderes zu tun gegeben. Die Richtlinien hatten mehrere Hunderttausend Worte umfasst und waren bemerkenswert informativ gewesen. Sie hatten Falk überdeutlich gezeigt, wie stark hierzulande gemauert wurde.

Major Fanciman ließ sein Lächeln weiterhin brennen und sorgte sogar beständig dafür, dass es nicht erlosch.

»Es gibt eine Botschaft, Mr. Falk«, sagte er, »und wir möchten uns gern daran halten. Wir möchten, dass sich auch alle von uns unterstützten Korrespondenten daran halten. Wir sind eine erwachsene Spezies und finden es daher inzwischen unnötig, auf so grobe Praktiken wie die bewaffnete Auseinandersetzung zurückzugreifen.«

Falk beugte sich leicht vor.

»Verstehe, Major«, sagte er, »aber ist diese ganze Situation nicht von Natur aus militärisch?«

»Zweifelsohne. Wir haben hier in Shaverton selbst fünf Brigaden liegen. Deren Rolle beschränkt sich jedoch einzig und allein darauf, für die Sicherheit zu sorgen. Die öffentliche Sicherheit.«

»Aber sagen wir es doch einfach mal so«, meinte Falk, »wenn die Öffentlichkeit unmittelbar bedroht würde, könnte ihre Rolle als Garant für die Sicherheit dazu führen, dass das SOMD den Einsatz ihrer Waffen verlangt?«

»Allerdings.«

»Und das wäre keine bewaffnete Auseinandersetzung?«

»Ich sehe, weshalb Sie so renommiert sind«, sagte Fanciman und öffnete einen Ordner auf seinem Schreibtisch. »Bohrende Fragen. Präzise. Flinker Verstand. Das gefällt mir.«

»Oh, wie schön«, meinte Falk.

»Wo wollen Sie bleiben, Sir?«, fragte der Fahrer, den Major Fanciman für Falk angefordert hatte.

»Ist mir ziemlich egal. Wo kriegt man hier einen Drink?«

»Eine Bar?«, erwiderte der Fahrer etwas stockend, als ob er eine Hinterlist in der Frage vermuten würde.

»Wo gehen Sie denn normalerweise einen trinken?«, fragte Falk.

»In der Messe. Oder manchmal auch im Cape Club.«

»Sind beide okay.« Falk lächelte. Er schloss die Fahrzeugtür und grinste den Fahrer ermutigend an.

»Sind nicht für jeden«, entgegnete der Fahrer. Ihm war offenbar nicht ganz wohl bei der Antwort.

»Schön. Ich muss auch nicht in eine Bar für jeden«, sagte Falk.

»Nein, ich meine, sind beide für den Dienst reserviert. Leute wie Sie gehen zum Embassy oder dem Holiday oder GEO.«

»Leute wie ich?«, fragte Falk.

»Presse«, antwortete der Fahrer. »Es existiert eine Liste von Clubs und Bars für die Korrespondenten, vorausgesetzt, Sie sind akkreditiert.«

Falk war akkreditiert. Das war eines der wenigen Dinge, die er ganz genau wusste. Alles Übrige lag so ziemlich im Nebel. Es war schwierig, die Tageszeit festzumachen. Sein Körper teilte ihm nichts mit. Er überlegte, dass er seit etwa fünf Jahren keinen gleichmäßigen Tagesrhythmus mehr erlebt hatte, und der Aufenthalt auf Fiwol mit seinen hektischen, zwanzig Minuten währenden Tagen hatte seine innere Uhr völlig durcheinander gebracht.

Anscheinend war es später Nachmittag. Der Himmel über Shavertons Glasmasten, Blocks und Pylonen sah halt so aus. Er hatte die Farbe eines Lemon Turkish Delight, mit ein paar Wolken überzuckert.

Er wusste nicht, wie lang der Tag-Nacht-Zyklus auf Sechsundachtzig dauerte. Nicht dass er seine Vorabrecherche oberflächlich erledigt hätte. Er war einfach nur nicht allzu interessiert am physikalischen Ökosystem. Das würde er kennenlernen, wenn er darin lebte. Während der Akklimatisierung und der Fahrt ins System hinein auf dem immer langsamer werdenden Spinrad hatte er den politischen, militärischen und sozialen Inhalt des Infopakets studiert, dazu alle anderen Dokumente, auf die er Zugriff nehmen konnte. Das SO war mehr als übereifrig dabei, Material zu redigieren und Nachrichtensendungen zu neutralisieren, sogar die der großen Netzwerke und autorisierten Sendeanstalten. Sein Treffen mit Major Fanciman sollte eine bestimmte Botschaft vermitteln, und diese Botschaft lautete: Lex Falk, Sie sind ein akkreditierter Korrespondent mit mehreren Journalistenpreisen sowie einem Ruf, harte Fakten und genau recherchierte Hintergrundinfos zu liefern, deshalb freut sich das SO sehr, Sie in der Siedlung Sechsundachtzig willkommen zu heißen und Ihre Akkreditierung zu bestätigen. Ihre Anwesenheit hier beweist der Öffentlichkeit daheim, dass das Settlement Office, trotz der Berichte eines offenen Konflikts, auf Sechsundachtzig nichts zu verbergen hat, und Ihre Reportage wird als ungeschminkte Wahrheit und glaubwürdig eingestuft werden.

Natürlich werden Sie nur das berichten, was wir Ihnen zu berichten erlauben.

Das war’s so im Wesentlichen gewesen. Fanciman hatte ihm das alles mitgeteilt, ohne diese Worte tatsächlich direkt in den Mund zu nehmen. Falk musste das verstehen, und er musste klarstellen, dass er es verstanden hatte. Wenn nötig, könnte die Botschaft etwas nachdrücklicher durch Treffen mit Leuten vermittelt werden, die auf der SO-Leiter ein wenig höher standen als Fanciman. Falls es sich wirklich als notwendig erweisen sollte, könnte eine Verständigung dahingehend erreicht werden, dass das SO Falk ein paar fette Brocken hinwerfen würde, die sämtlichen Berichten, die er weitergab, untergründig einen Anschein reinster Wahrheit verleihen würden. Eine Hand wäscht die andere, manus manum lavamat oder so.

Falk lehnte sich in den Kontursitz zurück, als sich der Fahrer nach Westen, nach Equestrian, wandte und der Wagen zunehmend Fahrt aufnahm. Ihr Ziel war die in Dunst gehüllte Megastruktur des Terminals. Der Gedanke amüsierte Falk, dass das Settlement Office sämtliche seiner Überlegungen, wie wenig ihn das alles im Grunde interessierte, über den Haufen geworfen hatte. Seine Knochen waren federleicht, und er reagierte nur verzögert, weil er zu viele Jahre unterwegs gewesen war, es bereitete ihm Probleme, etwas zu finden, das ihn wirklich noch interessierte, und er hatte den Auftrag für Sechsundachtzig nur deswegen angenommen, weil das Honorar plus Spesen nach jeglichen Netzwerk-Standards sehr großzügig war und das ganze Ding nach einem weiteren Pulitzer-Preis roch. Er hatte Ausgaben. Um ein paar Dinge hätte er sich schon längst kümmern sollen, Dinge, für die er wirklich nicht die Begeisterung aufbrachte, sie schnurstracks anzugehen. Er hatte einen vagen Plan – den er jedem mitteilte, der danach fragte, weil er sich dadurch so vielschichtig anhörte –, heimzukehren, sich gesundheitlich wieder in Stand zu setzen und ein Jahr lang einen Ort im Ozean zu mieten, wo er einen neuen Gang einlegen und »den Roman« schreiben würde. Er ließ unerwähnt, dass er nicht mehr so recht wusste, worum es bei »dem Roman« ging, oder dass ihn die Aussicht darauf nicht mehr sonderlich in Ekstase versetzte, obwohl sich ein Leben am Meer nicht schlecht anhörte.

Falk hatte sich noch nicht allzu sehr für Sechsundachtzig erwärmt. Das Klima in der Region von Shaverton, welche Jahreszeit es nun halt sein mochte, lag hart an der Grenze dessen, was hinsichtlich Hitze und Feuchtigkeit noch erträglich war. Der Planet war einer jener Orte, und Falk hatte schon diverse davon aufgesucht, die nicht von Natur aus für eine Besiedlung geeignet waren. Es war eine winzige Abweichung, fast nur eine Nuance, aber bloß weil die Atmosphäre, rein technisch gesehen, menschlichem Leben nicht feindlich war, folgte noch lange nicht daraus, dass Menschen hier auch leben sollten. Die Farbsättigung war sonderbar. In Räumen war alles zu kalt. Alles roch nach Klimaanlage sowie einem allgegenwärtigen Zitronenduft vom Insektenvertilger.

Der Fahrer brachte ihn ins GEO. Das war der Name sowohl des Konzerns als auch des beträchtlichen Glasmastes, dem Sitz des Konzerns am Rand des gewaltigen Terminals. Von den Büros der leitenden Angestellten von Geoplanitia Enabling Operator aus konnte man die schwerhüftigen Fähren sehen, die an den Ankersilos des Capes auf- und niederfuhren und die riesigen Schiffe bedienten, die unsichtbar oben, am Rand des Weltraums, lauerten.

Im Erdgeschoss befand sich eine Bar, mit dürftiger Beleuchtung, plärrender Lautsprechermusik und einem Gestank nach Insektenspray, ausgestattet mit einem Mobiliar aus der Ära der ersten Besiedlung, zweifellos Nachahmungen, gewebt aus Weidenrutenersatz-Polymeren. Diese Bar glich durch Geschäftsmäßigkeit das aus, was ihr an Seele fehlte. Es gab deutlich voneinander getrennte Menschenströme: außer-örtliche Korrespondenten und Geschäftspartner, sortiert nach alten Bekanntschaften oder Netzwerkloyalität; GEO-Angestellte; Einheimische, die hier arbeiteten und alles von Gewährsleuten bis Sex verscherbelten, um ein bisschen von den Spesen, die die Netzwerke zahlten, in die eigene Tasche abzuzweigen.

Falk kam mit einem GEO-Angestellten an der Theke der Bar aus Marmorersatz ins Gespräch. Der Angestellte orderte gerade ein Tablett mit Drinks. Ein Kollege hatte Geburtstag. Während der Barkeeper die Bestellung abarbeitete, brachten ein oder zwei beiläufige Fragen den Angestellten so weit zuzugeben, dass die Stimmung unter dem Personal von GEO in den Keller ging. Die Resultate der Auseinandersetzung – selbst nach zwei Bierersatz war der Angestellte noch genügend klar im Kopf, die Situation nicht als »Krieg« oder auch nur »Konflikt« zu bezeichnen – waren für die Firma alles andere als günstig. Entwicklungsabkommen waren überfällig oder blieben unerfüllt, SO-Subventionen wurden zurückgehalten, und der Aktienkurs von GEO war wegen der öffentlichen Wahrnehmung auf dem Heimatmarkt tief gefallen. GEO hielt wesentliche Anteile an Sechsundachtzig.

»Unser Aktienwert ist im Arsch«, sagte der Angestellte, »und der Ruf unserer Firma liegt gleich daneben. Die Öffentlichkeit glaubt, dass wir diese Auseinandersetzung aus Gier vorantreiben. Ist mal wieder genauso wie auf Sechzig.«

»Nur«, sagte Falk, »dass hier keinem post-globalen Unternehmen etwas angekreidet wird, was sich am Ende als fundamentalistische Terroristen erwiesen, die Bomben in Pharmaunternehmen der Siedlung legten.«

»Verdammt, Sie wissen was davon?«, fragte der Angestellte.

»Ich war da.«

»Auf Sechzig?«

»Am Schluss, ja.«

Der Angestellte nickte und formte den Mund in einer Weise, die andeutete, dass er wohl ziemlich beeindruckt war.

»Auf Sechzig ist dem großen Pharmaunternehmen die Schuld in die Schuhe geschoben worden, bis sich letztlich herausstellte, dass ein ziemlich hässlicher Aktivismus im Gange war. Was hier nicht so ist, oder? Auslöser der Auseinandersetzung war die aggressive Politik von Unternehmen wie GEO. Ziehen Sie bitte keine Vergleiche zu Sechzig, bevor Sie wissen, wovon Sie eigentlich reden, verdammt!«

Der Angestellte bot an, Falk einen auszugeben und ihn zu seinen Kollegen mitzunehmen. Es war eine Bande Bleichsüchtiger, die offensichtlich viel zu viel Zeit in der maßgeschneiderten Umgebung des Glasmastes ihres Unternehmens verbrachten. Was Falk nie verstanden hatte. Er sah beschissen aus, weil er viel zu viel Zeit an Bord eines Spinrads verbrachte, das man nicht in irgendeine beliebige Richtung verlassen konnte. Aber wenn man fünf oder zehn Jahre auf einem anderen Planeten lebte und arbeitete, oder auch für immer, warum zum Teufel sollte man dann nicht rausgehen? Warum zum Teufel sollte man in seinem Mast bleiben? Da könnte man ebenso gut in einem Spinrad ausharren. Da hätte man ebenso gut in Beijing bleiben können.

Sie wollten alles über Sechzig erfahren. Er lieferte ihnen eine kurze, jedoch ausgeschmückte Version und verklärte seine eigene Glaubwürdigkeit als knallharter Journalist. Alle machten »Aah!« und »Ooh!« an den richtigen Stellen, als ob sie von dem Scheiß was verstünden. Alle nickten weise über seine harten, jedoch sentimentalen Erkenntnisse.

Drei von ihnen sollten in einer Woche abreisen, sechs Jahre vor dem eigentlichen Ende ihres Vertrags. Zwei weitere würden im darauf folgenden Monat verschwinden. Wie Falk erfuhr, standen ganze Etagen des Mastes leer. Einige waren zu Beginn der Auseinandersetzungen geräumt worden, als GEO seine Mitarbeiter in andere, weniger umstrittene Siedlungen versetzt hatte. Andere waren nie belegt gewesen. Der Glasmast von GEO stand jetzt seit gerade mal zwanzig Jahren. Es bestand die ernste Möglichkeit, dass er geschlossen und veräußert würde, bevor das Unternehmen, das für seine Errichtung die Kosten aufgebracht hatte, ihn richtig belegt hätte.

Falk hörte ihrem Geschwafel zu. Es geschah automatisch, ein Aufwärmen seiner journalistischen Muskeln. Sie sagten nicht viel über den Zustand des Mastes hinaus, was ihn interessiert hätte. Sie machten sich Sorgen um ihre Zukunft, um ihre Karriere. Sie machten sich Sorgen, wohin man sie versetzen würde und welche Auswirkungen die schlechte Presse auf ihre Aktien und Boni hätte.

Sein Scotchersatz war beschissen, jedoch nach der langen Abstinenz von Transit und Akklimatisierung willkommen. Er hatte einen Kleinen sitzen und fühlte sich prächtig. Er arrangierte seine Gesichtszüge so, dass sie Interesse vorgaukelten.

Mit einem Auge behielt er einen Tisch in der Nähe im Blick, wo sich ein paar Leute von den Netzwerken versammelt hatten. Eines der Gesichter war ihm irgendwie vertraut, wie die sehr alte, stark abgenutzte Version eines Mannes, den er mal gekannt hatte, ein älterer Bruder, ein Vater.

»Falk? Bist du das?«

Er erkannte ihre Stimme, jedoch nicht ihr Gesicht, als er sich zu ihr umdrehte. Sie trug einiges an Masse mit sich herum, sogar noch mehr als beim letzten Mal, da er sie gesehen hatte. Doch wie ihre Stimme, so war auch ihr Lächeln unverändert geblieben.

»Cleesh!«

Er stand auf und nahm sie in die Arme. Seine Hände trafen sich nicht hinter ihrem Rücken. Sie roch nach Nährriegeln und dem süßlichen Nachgeschmack vom Kunstzucker der Diätnahrung. Kleine fleischfarbene Pflaster bedeckten die Konstellationen chirurgisch implantierter Steckverbindungen auf ihrem Schädel, an der Seite ihres Halses und den schwabbeligen Oberarmen, wo sie sich unter den Ärmeln ihres Cola-T-Shirts zeigten.

Falk hatte sie seit Siebenundsiebzig nicht mehr gesehen, und selbst da bloß auf dem Schirm.

»Wie geht’s dir?«, fragte er.

»Mir geht’s prächtig. Richtig prächtig.« Sie lachte.

»Sieh dich einer an! Du hängst nicht an der Strippe.«

»Musste runter«, erwiderte sie und betrachtete ihn von oben bis unten. »Die Ärzte sagten mir, ich müsste. Kann nicht auf ewig kreisen. Ist komplett freeking® für dich. Ich brauchte was Schwerkraftzeit.«

»Aber du kreist doch, Cleesh«, sagte er.

»Weiß ich. Ich bin keine Person für drinnen. Aber es war das oder sterben, also habe ich mir gedacht, ich verbringe ein wenig Zeit in der Gesellschaft von normaler Schwerkraft, schrumpfe um -zig Millionen Größen und sorge dafür, dass ich keinen Herzschlag kriege.«

Wiederum musterte sie ihn von Kopf bis Fuß und grinste.

»Obwohl, sieh dich doch mal an, Falk! Du bist wie’n Vogel. Wir sind wie der Pediaeintrag für grandios und lächerlich.«

»He, ich bin körperlich total fit, verdammt!«, widersprach er.

»Du siehst absolut beschissen aus. Freu mich trotzdem, dich zu sehen«, entgegnete sie. »Gib mir einen aus!«

Er kannte sie schon seit etlichen Jahren, aber das Herz ihrer Beziehung war ein sechzehnmonatiger Auftrag auf Siebenundsiebzig. Cleesh war eine Datenamme; sie nährte, versorgte und managte die Newslines von einer Station neunundzwanzig Meilen hoch im Orbit aus. Sie war die fähigste und kenntnisreichste Redakteurin, mit der er je zusammengearbeitet hatte. Sie waren Freunde geworden, aber er war ihr leibhaftig nie begegnet. Sie stöpselte sich nie aus dem Netzwerk aus und verließ ihre Null-g-Heimat auch niemals. Endloser Aufenthalt in der Schwerelosigkeit haute einen völlig um, früher oder später. Entweder wurden die Knochen spröde, oder man legte ordentlich an Gewicht zu. Manchmal beides. Da war es gleichgültig, wie gut Sonnenlicht, saubere Luft, frisches Wasser und Nahrung simuliert wurden – sie wurden nach wie vor simuliert, und am Ende vergifteten sie einen. Diabetes, autoimmune Systemerkrankungen, Muskelschwund, Organausfall, Fettsucht, Ekzeme; irgendein Preis war stets zu zahlen.

Sie redeten. Er wurde sich bewusst, wie mager seine Handgelenke im Vergleich zu ihren waren. Dürre Ästchen. Vielleicht war er tatsächlich zu lange mit dem Spinrad unterwegs gewesen?

»Du bist wegen dem Ding hier, das kein Krieg ist, stimmt’s?«, fragte sie.

»Natürlich.«

»Du hast ’ne Erlaubnis? Die sehen hier die Sache mit der freien Presse und den Leuten vom Dienst freeking® eng.«

»Ich hab ’ne Freifahrkarte«, erwiderte er. Er nahm einen Schluck von seinem Scotchersatz. »Akkreditierung durch das Settlement Office. Zugang.«

»Natürlich.« Sie lächelte. Es war jenes freundliche, zuversichtliche Lächeln, das er indefinite Male auf den HD-Bildschirmen gesehen hatte.

»Sie haben ein paar Besuche für mich arrangiert. Ich habe einige Schreibtischhengste vom SOMD besucht.« Er rieb die Handflächen aneinander, schaltete den winzigen Schirm seines Handys ein und öffnete das Dokument, das Fanciman ihm gepostet hatte.

»Zwei Tage Zeit, ein Blick auf Mitre Sands, dann ein Besuch in Marblehead.« Er zeigte ihr das kleine Display des Handys in der hohlen Hand.

Cleesh schürzte die Lippen und wackelte mit dem Kopf.

»Was ist?«, fragte er.

»Das wird bloß arrangiertes Werbezeugs sein. Mitre Sands ist angeblich ein Camp, und das zeigen sie jedem.«

»Von wegen angeblich.«

Cleesh trank ein hohes Glas NoKal-Cola. Sie drehte es mit Daumen und Zeigefingern am Rand, als wolle sie einen Safe knacken.

»Okay, aber es ist ’ne Müllhalde, die aufgetakelt wurde, damit die Leute das Gefühl haben, sie würden was Authentisches besuchen. Marblehead, das war mal heiß, ist aber jetzt auch nichts mehr. Tourismus, Falk. Sie zeigen dir ’ne Mauer mit runden Löchern drin. Die zeigen sie allen. In vier Tagen wirst du hier drin sitzen und mir erzählen, dass sie dir die Mauer mit den runden Löchern drin gezeigt haben.«

»So geht das immer«, erwiderte er. »Anfangs lässt man sich von ihnen rumführen, während man allmählich Fuß fasst, dann schießt man seinen Aufpasser in den Wind. Das weißt du.«

»Hier ist das was härter«, sagte sie. »Freeking® hart.«

»Du bist für einen Bericht hergekommen?«

»Ja. Verändert alles. Ich hab mir gedacht, wie schwer kann das sein, wenn Falk das hinbekommt? Sie lassen keinen an das gute Zeug ran. Viele Leute versuchen es heimlich mit Bestechung, um Zugang zu kriegen.«

»Viele Leute, du eingeschlossen?«

»Aber natürlich.«

»Hast du was gefunden, Cleesh?«

Sie sah ihn streng an.

»Ich bin seit drei Monaten hier, Falk. Ich hab was rausgekriegt, und es könnte gut sein. Ist fast unter Dach und Fach. Ich teil’s vielleicht mit dir. Nur dass du wahrscheinlich drei Minuten hier bist und schon was Besseres hast.«

»Na, nun komm schon, Cleesh!«

»Übe dich in Geduld. Lass deinen Zauber wirken. Was ich habe, ist nicht bestätigt oder so. Und wenn es hochkocht, könnte es mich die Akkreditierung auf immer kosten.«

»Ist das riskant?«

Sie zuckte mit den Achseln. »Ich werde den Rest meiner Jahre damit verbringen, Grundkurse in Sprache für Schüler der Siedlung zu geben. Oder im Gefängnis.«

»Gib mir was!«, bat er. »Was weißt du? Steckt der Block wirklich hier mit drin, oder ist das bloß ein Schlagabtausch zwischen Unternehmen?«

Sie senkte die Stimme und beugte sich vor.

»Diesmal könnte es tatsächlich der Block sein, Falk«, erwiderte sie.

02

02

Er war ein guter Junge. Für die kommenden beiden Tage blieb er in Shaverton und haute nicht ab. Er ging Boulevards entlang, die derart nüchtern angelegt waren, dass die Fantasielosigkeit ihrer Planer ebenso deutlich erkennbar war wie die Reihen von Palmenersatz. Er trank Eistee und NoKal-Cola in den blendend hellen Schatten der Terrassen von Imbisslokalen und sah dabei den schwirrenden Insekten und Käfern zu, die summend im Sonnenschein tanzten. Die größten Käfer waren als Schwirrvögel oder Schwirrer bekannt. Sie hatten fast die Größe von Spatzen und waren extrem weit verbreitet. Sie flatterten umher wie zierliche Origamifiguren.

Am zweiten Tag aß er mit Cleesh in einem ProFood-Outlet am Nordende der Cape Street zu Mittag. Sie hatten einen Platz neben einem großen Plastikstandbild von Booster Rooster. Mit ihr waren ein paar Leute gekommen: eine Frau namens Sylvane, die Korrespondentin für NetWorth war, sowie ein unscheinbarer Mann, der, Cleesh zufolge, für SO Logistics arbeitete. Falk überlegte, ob der Mann ihr Kontakt war, und versuchte, ihn etwas für sich einzunehmen, aber er war einzigartig träge und wenig entgegenkommend und sprach fast die ganze Zeit über mit Sylvane über Einfuhrtarife.

»Weißt du, dass Siebenundsiebzig einen Namen gekriegt hat?«, fragte Cleesh Falk.

»Offiziell? Davon hab ich noch nichts gehört.«

»Jou. Sie nennen ihn Fronteria.«

»Was ihn wozu macht? Einer Siedlung? Einem vollen Staat?«

»Einem vollen Staat.«

»Wow!«

»Einhundertdreizehnter Staat der Union«, sagte sie.

»Für mich wird er immer Siebenundsiebzig bleiben«, meinte er. »Wer zum Teufel hätte an Fronteria gedacht?«

»Ich weiß«, stimmte sie zu. »Ist ein freeking® fürchterlicher Name, nicht wahr?«

»Was soll das eigentlich mit diesem bescheuerten Freeking®?«, fragte er und legte sein Wrap auf den Tisch.

»Gesponsertes Kraftwort«, erwiderte Sylvane.

»Soll heißen?«

Sylvane sah schon ziemlich gut aus, aber es war eine rein äußerliche Attraktivität. Ihr Erscheinungsbild wies keinerlei Tiefe auf. Alles war Einkauf und Kosmetik.

»Das SO will sprachliche Entgleisungen bei einer Sendung verhindern«, erwiderte Sylvane. »Insbesondere, wenn das Personal in den kostenlosen US-Netzwerken zu sehen ist. Alle haben ein Sprachpflaster eingepflanzt bekommen, das jegliches Fluchen unterdrückt.«

»Dann hat NoKal-Cola das Angebot unterbreitet, ein Füllwort zum Gebrauch in der Zone zu sponsern«, fuhr Cleesh fort. »Freek®. Wie in NoKal-Freek®, der Sorte mit Zitronengeschmack und viel Koffein. Haben sie dir kein Pflaster angeboten, als du hergekommen bist?«

»Nein«, entgegnete Falk.

»Ich hab euch gesagt, er ist was Besonderes«, sagte Cleesh zu den anderen.

»Die haben dir das echt implantiert?«, fragte Falk voller Unbehagen.

»Sprachpflaster«, sagte Cleesh. »Notwendiges Erfordernis für alle von den Verbündeten oder den Asiaten. Die Netzwerke sollen sauber bleiben.«

»So machst du auch dieses kleine Geräusch am Schluss des Worts?«, fragte Falk.

»Ist schon freeking® erstaunlich, nicht wahr?«, erwiderte Creesh und tat es diesmal absichtlich und mit Genuss. »Ich habe die ersten paar Tage damit verbracht, nach freeking® Strich und Faden zu fluchen, und ich kann nichts freeking® anderes mehr sagen als das gesponsorte Wort.«

»Keiner von euch kann mehr richtig fluchen?«, fragte Falk lachend.

»Nix da«, erwiderte Cleesh. Sylvane schüttelte den Kopf.

»Sag: Scheiße!«, verlangte er.

»Freek®!«, sagte Cleesh.

»Ich will nicht«, meinte Sylvane.

»Niemand hat mir was eingepflanzt«, sagte der Mann von Logistics. »Meiner Ansicht nach ist grobe Sprache ein Zeichen für begrenzte Vorstellungskraft.«

»So was Bescheuertes«, maulte Falk. »Wo ist denn bloß die freie Sprache hingekommen?«

»Das ist freie Sprache«, erwiderte Cleesh. »Ich muss für das Pflaster nichts bezahlen.«

»Ich habe dein verfassungsmäßiges Recht als Bürger der United Status gemeint«, sagte Falk.

»Genau darum geht die ganze freeking® Debatte doch, mein Süßer«, meinte sie.

Am Morgen seiner ersten arrangierten Tour musste er sich zwei Stunden vor der Dämmerung am Depot von Camp Lasky an der Südküste von Shaverton melden. Zwar fand er eine Mitfahrgelegenheit dorthin und traf rechtzeitig ein, fühlte sich jedoch insgesamt echt beschissen. Er konnte sich nicht auf den Tag-Nacht-Zyklus einstellen und litt am Jetlag. Mitten in der Nacht war er hellwach und verspürte einen Hunger auf etwas, das er nicht recht festmachen konnte. Er hatte zu viel vom vorhergehenden Abend damit verbracht, in der GEO-Bar Scotchersatz in sich hineinzuschütten; ein Versuch, müde zu werden und gleichzeitig Sylvane ins Bett zu kriegen. Letzteres war eine rein akademische Übung. Er wollte nicht unbedingt mit ihr schlafen, er wollte einfach nur mit irgendwem schlafen. So pingelig war er da nicht. Es war Teil seines Hungers. Er ließ sie die verneinende Antwort geben, die er erwartet hatte, und redete sich ein, es sei eine nützliche Sparringsübung gewesen, um wieder in den Ring steigen zu können.

So früh aufzuwachen war einfach ein ekliges Gefühl. Falk hatte den Eindruck, als habe jemand die Nacht in zwei Hälften gefaltet. Am Ende war es ihm gelungen, etwa eine halbe Stunde zu schlafen, und er hatte rasende Kopfschmerzen von zu viel Scotchersatz. So richtig besser wurden sie nicht, trotz einiger Pillen und einer Flasche Wasser.

Die Mitfahrgelegenheit warf ihn und zwei weitere Korrespondenten am Tor raus, unter den blau-weißen Flutern. Schwirrer warfen sich völlig unvernünftig gegen die Netze über den Lampen.

Die anderen beiden Korrespondenten wirkten frisch und gut ausgerüstet. Er kam sich schäbig und roh vor und überlegte, ob sie seinen Atem riechen konnten. Scheiß drauf, wenn’s so war!

Zwei SOMD-Kahlköpfe in braungrüner Montur überprüften ihre Akkreditierungen und ließen sie durch die Absperrung in einen Wartebereich neben den Laderampen. Ein weiblicher Stabsfeldwebel namens Tedders holte sie ab. Sie überprüfte erneut ihre Akkreditierungen und sorgte dafür, dass sie ihre Handyanschlüsse sowie jegliche andere Übertragungsausrüstung abgaben. Alles kam in Polyesterbeutel, wurde etikettiert und verschwand darauf in Schließfächern.

»Sie werden für die Besichtigungstour von Mitre Sands eingeschlossen«, erklärte sie. »Wir dürfen nicht zulassen, dass einer von Ihnen ein ungesichertes Lebenszeichen sendet.« Einer der anderen beiden Korrespondenten holte eine Schreibunterlage mit Stift hervor und fragte sie, ob das okay sei. Sie sah es sich einen Moment lang an. Sie war klein und robust, hatte die Ärmel bis zu den Ellbogen hochgekrempelt und trug das Haar zu einem festen Knoten, der ebenso klein und hart war wie eine Handgranate.

»Wie geht’s Ihnen heute, Sir?«, fragte sie, als Falk mit Abtasten an der Reihe war.

»Absolut prächtig, vielen Dank«, erwiderte er. Er hatte sein Spielergesicht aufgesetzt, in der Markierung für »Charme«.

»Schön zu hören«, sagte sie. In ihren Augen stand ein gewisser Ausdruck, und sie betrachtete ihn auf eine Weise, dass er sich vorkam wie eine Fracht, die besonderer Behandlung bedurfte.

»Man hat Ihnen aufgetragen, mich zu erwarten, richtig?«, fragte er.

»Ich erledige meinen Job, Sir. Ich habe meine Vorweg-Informationen gelesen und erfahren, dass ich mich um einen Typen zu kümmern habe, der Journalistenpreise über seinem Kamin hängen hat. Das nehme ich ernst.«

»Ich beiße nicht«, sagte er.

»Ich lasse mich auch nicht beißen«, entgegnete sie. Ihr Lächeln war fest, unerschütterlich. Dann veränderte sich ihr Ausdruck leicht, wurde etwas liebenswürdiger. »Lassen Sie die Einführung aus, wenn Sie möchten. Wir werden Leuten wie Ihnen kaum etwas Neues sagen können.«

»Leute wie wir möchten es trotzdem gern hören«, sagte er. »Ist Teil der Erfahrung, eingebettet zu werden. Abgesehen davon möchte ich auch nicht, dass sie mich schief ansehen, weil ich eine Sonderbehandlung bekomme.«

Er nickte zu den anderen beiden Korrespondenten hinüber.

»Okay, dann mal los«, sagte Tedders.

Weitere vier Repräsentanten der Agentur hatten sich bereits im Büro hinter dem Wartebereich eingefunden. Wie die beiden, die zusammen mit Falk eingetroffen waren, machten sie einen taufrischen und eifrigen Eindruck. Er hätte gern einen Tee gehabt, vielleicht auch etwas Gebäck dazu, weiterhin zwanzig Minuten für sich in einer sauberen Latrine. Er kam sich vor wie ein alter, berüchtigter Onkel, der bei einer Hochzeit aufgekreuzt war.

»Major Selton«, verkündete Tedders. Selton trat heran und stellte sich vor sie. Der Major war ebenfalls eine Sie, eine große, breite Amazone im Vergleich zu der stämmigen, kompakten Tedders. Ihr Arbeitsanzug warf Falten, dass einem Kerl das Blut in Wallung geraten konnte. Ihr Haar war ein schwarzer, kurz geschorener Rasen. Das Licht der Deckenlampen, gnadenlos hart, blitzte auf der digitalen Brosche an ihrem Halsausschnitt.

»Willkommen in Lasky!«, sagte sie. »Ich hoffe, Ihnen allen geht es heute Morgen richtig prächtig. Das SOMD möchte Ihnen Ihren Besuch so angenehm und sicher wie möglich machen, aber ich möchte mich davon überzeugen, dass Sie alle Ihre Einverständniserklärungen unterschrieben haben. Meine Kollegin, Stabsfeldwebel Tedders, hat bereits die Voruntersuchungen durchgeführt, aber ich möchte erneut größten Nachdruck darauf legen, dass Sie alles, was eine Sendung ermöglicht, jetzt abzugeben haben. Sämtliche Ihrer Verbindungen müssen gesichert sein. Wenn Sie es nicht wissen, wenn Sie unsicher sind, fragen Sie ruhig nach!«

Sie trat näher an den großen Wandbildschirm heran, und die Nähe zu ihrer Brosche erweckte ihn zum Leben. Zunächst tauchte eine Karte mit einem farbigen Testmuster auf, dann das Wappen des SOMD vor einem blauen Hintergrund. Sie sprach nach wie vor.

»Siedlung Sechsundachtzig wurde vor einhundertzehn Jahren gegründet, während der zweiten Expansion. Sie war stets ein hochproduktiver Ort gewesen, der sich auf Landwirtschaft und Bergbau spezialisiert hat, dazu Massenproduktion und orbitalen Zusammenbau. Unter den bemerkenswerten Ressourcen des Systems befindet sich der zweite Mond von Sechsundachtzig, 86/b, bekannt als ›Fred‹. Seite drei Ihres Infopakets. Fred besitzt die dritthöchste Konzentration an Transuranen im besiedelten Territorium.«

Auf dem Wandbildschirm öffnete sich ein komplizierter, rotierender Plan von Sechsundachtzig sowie vom Mechanismus des Systems, in dem er lag. Fred war hervorgehoben.

»Vor vierundvierzig Jahren«, fuhr Selton fort, »erklärte das Settlement Office formell sämtliche nördlichen Gebiete von Sechsundachtzig als unter der Gerichtsbarkeit der United Status stehend, womit es die Ansprüche der US auf anhaltende Investitionen in die nördlichen Siedlungsgebiete ebenso anerkannte wie die Unterstützung dieser Gebiete. Ratifiziert wurde dieser Vertrag zwei Jahre später. Neunzehn kleine territoriale Parzellen in den südlichen und subpolaren Zonen verbleiben außerhalb des Gebiets der United Status. Sieben davon sind unabhängige kommerzielle Erkundungsstationen, die übrigen landwirtschaftliche Pachtgüter des Blocks.«

Topografische und geopolitische Satellitenkarten von Sechsundachtzig rollten über den Wandbildschirm, und kleine, hell leuchtende Markierungspunkte tauchten auf und verschwanden sehr rasch wieder. Jeder dieser Punkte schoss vor seinem Verschwinden einen Markierungspfeil auf ein Oberflächendetail herab. Selton verlangsamte die Rotation der Karte mit einer Handbewegung.

»Die nördlichen Territorien haben vor einem Jahrzehnt um volle Anerkennung als Staat nachgesucht. Wir bearbeiten diesen Antrag wie üblich in unserem langwierigen, langsamen Programm der Abwägung von Entdeckungen und Interessenkonflikten. Das SO hat den Antrag unterstützt und geht davon aus, dass Sechsundachtzig binnen fünf Jahren volle Anerkennung als Staat erhält.«

»Es sei denn, dieser Krieg verhindert das?«, fragte eine Korrespondentin in vorderster Reihe.

Auuu! Unterbrich sie doch nicht! Falk fuhr zusammen. Und sprich nicht von »Krieg«!

Selton zuckte mit keiner Wimper. Sie sah die Korrespondentin an, eine junge Frau, die eine bauschige grüne Litexjacke trug, und feuerte ein Boden-Luft-Werbelächeln ab, natürlich lasergesteuert. Falk spürte, wie die junge Frau förmlich zu Asche verbrannte.

»Die Lage hier auf Sechsundachtzig erzwingt vielleicht eine Revision dieser Einschätzung«, sagte Selton glatt. »Sie hat jedoch keine direkte Auswirkung auf den schwebenden Prozess der staatlichen Anerkennung.«

»Aber gewiss …«, fuhr die Frau fort.

Verdammt, lerne, eine Sache fallen zu lassen!, dachte Falk. Und hör um Himmels willen auf, sie zu quälen!

Er hob die Hand.

»Dann wird Sechsundachtzig zu was?«, fragte er. »Zum einhundertvierzehnten Staat der Union?«

»Einhundertvierzehnter oder Einhundertfünfzehnter«, erwiderte Selton und nahm ihn mit einem liebenswürdigen Lächeln zur Kenntnis. »Je nachdem, ob ein weiterer Anwärter – momentan ist das Sechsundsechzig – seine staatliche Legitimierung beschleunigt angeht oder nicht.«

»Wie wird Sechsundachtzig dann heißen?«, fragte Falk.

»Das wissen wir nicht. Es ist noch nicht entschieden.«

»Aber normalerweise begleitet eine formelle Namensgebung die Deklaration der Staatlichkeit.«

»Natürlich. Ich meine, wir sind nicht eingeweiht. Ich glaube, einige Namen werden in der Öffentlichkeit für eine Shortlist getestet. Dafür bin ich nicht zuständig. Sie müssen den Direktor des SO dazu fragen.«

»Vielen Dank«, sagte Falk und tat so, als würde er sich eine Notiz machen. Die junge Frau in der grünen Wanderjacke war ihm verdammt was schuldig, weil er den Hitzestrahl von ihr abgelenkt hatte.

»Wir erwarten, heute etwa vierzehn Stunden draußen zu sein. Das Wetter am Meeresufer sieht schön aus, also sollten wir rasch in die Bergzone gelangen. Wir legen das letzte Stück nicht mehr im Hopter zurück, sondern in einem Bodenfahrzeug. Ich werde Ihnen jeweils ein Mitglied der Einheit zuweisen. Ihm können Sie Fragen stellen, aber Sie werden, und das möchte ich besonders betonen, Sie werden seinen Anweisungen jederzeit Folge leisten. Wir befinden uns in einer möglichen Feuerzone, also könnten Sie sich immer in Lebensgefahr befinden. Befolgen Sie die Anweisungen. Weichen Sie nicht vom Weg ab. Wir erwarten keine Probleme, aber falls es doch welche geben sollte, dürfen diese Probleme durch Sie nicht noch größer werden.«

»Keine Ursache«, sagte Falk.

Die junge Frau in der grünen Wanderjacke sah ihn an.

»Wofür?«, fragte sie.

»Dass ich mich vor Sie geworfen habe.«

»Wovon reden Sie da?«, fragte sie. Sie war eindeutig weder amüsiert noch beeindruckt. Über ihrem Nasenrücken zeigten sich gereizte Falten.

Sie waren draußen, zogen sich die Jacken an und besprühten sie mit Insektenvertilger. Die Sonne ging auf.

»Selton war dabei, Sie abzufackeln«, sagte Falk.

»Ich habe eine berechtigte Frage gestellt«, entgegnete die junge Frau trotzig.

»Allerdings, nicht wahr?«, fragte er lachend.

»Wer zum Henker sind Sie eigentlich?«, wollte sie wissen.

»Falk«, erwiderte er.

»Ich weiß, was ich tue, Falk, verdammt!«, meinte sie.

»Wie viele Tage haben Sie in Ihrer Jugend auf der Schule für Fingerspitzengefühl gefehlt?«, fragte er.

»Scheißdreck!«, sagte sie und wich zurück. »Ich weiß nicht, was das alles soll. Wollen Sie mich anmachen?«

Sie ging davon.

»Sauber«, sagte Tedders. Sie stand direkt neben ihm.

»Einige Leute wissen nicht, wann man ihnen einen Gefallen erweist«, sagte er.

»Was Sie nicht sagen«, meinte Tedders.

»Wer ist das?«, fragte er. Sie sah bereits auf ihrem Handy nach.

»Noma Berlin. Affiliated Dispersal. Sagt, sie hat einen Kurzzeitvertrag mit Data-Scatter.«

»Frischling«, murmelte er.

»Sie ist jung, sie wird lernen«, erwiderte Tedders.

»Was soll das denn nun wieder heißen?«, fragte Falk.

»Der Teil mit ›sie wird lernen‹?«, fragte Tedders zurück. »Oder der mit ›sie ist jung‹?«

Er schüttelte den Kopf, als sei alles bloß ein Witz und ihm sei es gleichgültig. Das kompakte, tragbare Lächeln umspielte unermüdlich Tedders Lippen.

»Kommen Sie mit, Tedders?«, fragte er.

»Heute?«, gab sie zurück. »Nein. Vielen Dank, verdammt!«

Selton rief alle zur Ordnung. Die aufgehende Sonne heizte bereits kräftig auf, und in der Luft summte und brummte es vor Schwirrern. Sie hakte ein paar weitere Punkte ab, beantwortete eine oder zwei Fragen und führte sie dann zu den Hangars hinüber.

In der Zeit seit der Unterweisung hatte sie sich Körperpanzerung sowie einen kittfarbenen Rumpfharnisch angelegt. An ihrer linken Hüfte trug sie eine Seitenwaffe mit kurzer Reichweite in einem Holster.

Die Hangars waren riesige, luftige Räume abseits der Hitze. Eine Reihe großer, mattgrauer Transporterhopter stand da, den Nordtoren gegenüber. C440s, allerneueste Technik, die Eindruck schinden sollten. Die Blätter ihrer Turborotoren waren sauber zusammengelegt wie die Knospen fotonastischer Blumen, die auf die Sonne warteten.

Neben jedem Hopter waren Soldaten des SOMD gerade dabei, sich auszustaffieren. Auf dem Deck lagen Sets der dazu nötigen Sachen in identischen Mustern. Alle Soldaten waren groß, sogar die Frauen. Sie trugen die gleiche braungrüne Felduniform und den gleichen Harnisch wie Selton und waren furchterregend sauber und präzise. Zu jedem Set gehörte eine Hauptwaffe, ehrfürchtig auf ein Bodentuch gelegt. Gewöhnlich handelte es sich dabei um den schweren schwarzen M3A Hardlaser Strahl-Emitter, genannt die Röhre oder der Werfer, obwohl einige Spezialisten die kompakteren PAP-20s 2mil SOMD Standard Caseless an Clips trugen. Falk roch Reinigungsöl und Anti-Staub-Schmiere.

»Falk?«

Einer der Spezialisten war an ihn herangetreten. Er war richtig groß und erweckte durch seine Panzerung einen bulligen Eindruck. Wegen der kurzgeschorenen Haare wirkte sein Kopf überdimensional.

»Sie sind Falk?«, fragte er.

»Ja.«

Der Spezialist streckte die Hand aus.

»Renn Lukes, Ladungsspezialist. Ich werde Ihr Begleiter sein.«