Die Kerkerzelle war eng und dunkel, und Alannah hatte das Gefühl, dass die Wände immer noch mehr zusammenrückten.
Sie vermochte nicht zu sagen, wie viel Zeit vergangen war, seit der Lordrichter ihre Zelle verlassen hatte. Mangon hatte deutlich gemacht, dass er sie für schuldig hielt, und mit ihrer Aussage hatte sie seine Meinung nicht ändern können. Im Gegenteil, sie hatte die Tat im Grunde gestanden, nur hatte sie ihren Hergang völlig unglaubwürdig geschildert. Obwohl sie mit einem einzigen Wort gelogen hatte; alles war genau so geschehen, wie sie es berichtet hatte.
Wieder sah sie den durchbohrten Leichnam vor sich liegen. Die Kleidung des Jünglings war blutbesudelt, seine leblosen Augen weit aufgerissen. Hilflos hatte Alannah vor ihm gestanden und ihn angestarrt, und erst allmählich war die Erkenntnis in ihr Bewusstsein gesickert, dass keine andere als sie selbst diese furchtbare Tat begangen hatte. Die Waffe, mit der sie unwillentlich das Unvorstellbare getan hatte, war unter der wärmenden Sonne geschmolzen und mit dem Blut im Gras versickert. Dann endlich hatte Alannah voller Verzweiflung um Hilfe gerufen.
Von allen Seiten waren sie herbeigeeilt, die anderen Kinder der Ehrwürdigen Gärten, und Bestürzung hatte um sich gegriffen, denn gleich zwei Tabus waren an jenem Tag gebrochen worden: Zum einen hatte zum ersten Mal ein Mensch den geheiligten Ort im Herzen Tirgas Lans betreten, zum anderen war erstmals Blut vergossen worden innerhalb der Weißen Mauern – und Alannah trug die Schuld daran.
Der Lordrichter hatte ihr klargemacht, dass sie sich für ihr Vergehen würde verantworten müssen. Es stand zu viel auf dem Spiel, denn der Friede zwischen Elfen und Menschen war in Gefahr. Dass der Jüngling, dessen Namen Alannah noch nicht einmal kannte, seinerseits einen Frevel begangen und in eine geheiligte Stätte des Elfenvolks eingedrungen war, schien niemanden mehr zu kümmern. Man wollte die angebliche Mörderin bestraft sehen – und Alannah wurde das dumpfe Gefühl nicht los, dass es dafür auch noch andere Gründe gab.
Ihr Volk weilte schon so lange in Erdwelt, dass es sich als einen Teil davon betrachtete, anders als die Menschen oder die Zwerge, die man in der Elfensprache nur als gystai bezeichnete, als geduldete Gäste. In dieser langen Zeitspanne hatten die Elfen gelernt, niederer Gewalt zu entsagen, und es gab nicht wenige, die behaupteten, Glyndyrs Volk stünde kurz davor, auf eine andere, höhere Bewusstseinsebene zu wechseln, um im Einswerden mit der Natur seine höchste Erfüllung zu finden. Lyrik, Musik und alles Schöngeistige dienten dazu, die Seele zu erheben und die Elfen auf eine höhere Form des Seins vorzubereiten, wohingegen jede Art von Gewalt, sei sie körperlicher oder seelischer Natur, einen Rückschritt bedeutete und daher verpönt und geächtet war. Manche vertraten gar die ehrgeizige Auffassung, dass die Elfen – im Gegensatz zu Menschen und Zwergen – zu solch niederen Taten überhaupt schon nicht mehr fähig wären.
Alannah jedoch hatte das Gegenteil bewiesen. Der Zwischenfall in den Ehrwürdigen Gärten hatte gezeigt, dass auch eine Tochter des Elfengeschlechts in der Lage war, ein wehrloses Geschöpf zu töten, und er strafte jene Lügen, die behauptet hatten, die Vollendung des Elfenstammes stünde bereits unmittelbar bevor.
Dies, nahm Alannah an, war der eigentliche Grund dafür, dass ihre Verurteilung und Bestrafung bereits beschlossen waren. Man wollte sich von ihr abgrenzen, wollte die ruchlose Mörderin möglichst rasch loswerden und sich und aller Welt beweisen, dass sie nur eine Ausnahme darstellte und alle übrigen Söhne und Töchter Sigwyns anders waren als sie. Die Frage war nicht, ob man Alannah verurteilen würde, sondern nur noch, wie die Bestrafung ausfallen würde.
Der Gang zum Henker – ein Berufsstand, der sich in den Menschenstädten einer außergewöhnlich guten Auftragslage erfreute – verbot sich selbstredend. Wahrscheinlich, so nahm Alannah an, würde sie verbannt werden, ausgeschlossen aus den Ehrwürdigen Gärten und vertrieben aus Tirgas Lan. Unter den Menschen jedoch würde sie vogelfrei sein, und vermutlich würde es nicht lange dauern, bis irgendein grobschlächtiger Barbar, dessen rohen Körperkräften sie nichts entgegenzusetzen hatte, über sie herfallen würde und …
Alannah fuhr aus ihren Gedanken auf, als erneut die Zellentür geöffnet wurde. Quietschend schwang sie auf, aber wider Erwarten war es nicht der strenge Lordrichter, der auf der Schwelle stand, sondern – zu Alannahs Überraschung – eine Frau.
Sie war groß und schlank und trug eine lange purpurfarbene Robe, die ihr bis zu den Knöcheln reichte. In der Hand hielt sie einen langen Stab, dessen oberes Ende oval geformt war und eine Öffnung bildete, in die ein kleiner Kristall eingesetzt war. Das blaue Leuchten, das von ihm ausging, erhellte die Kerkerzelle. Während sich Alannahs Augen noch den veränderten Lichtverhältnissen anpassten, schlug die Besucherin die Kapuze zurück, sodass ihr Gesicht, dessen obere Hälfte zunächst bedeckt gewesen war, gänzlich sichtbar wurde.
Alannah hielt den Atem an.
Denn noch nie zuvor in ihrem Leben, nicht einmal unter den Kindern der Ehrwürdigen Gärten, war sie solcher Schönheit begegnet.
Der Teint der Fremden war dunkler als bei den meisten Elfinnen, die Haut aber glatt und makellos. Volle Lippen formten einen sinnlichen Mund, die Nase war schmal und gerade, und das Gesicht mit den hohen Wangenknochen war insgesamt so ebenmäßig, dass man es als dyrfraida bezeichnen musste, als in jeder Hinsicht vollkommen. Zusammen mit den schmalen, strahlend blauen Augen, deren Blick fast hypnotisch war, bildeten sie jenen Ausdruck perfekter Harmonie, nach dem Künstler oft vergeblich suchten. Das gelockte Haar der Fremden, das offen auf ihre Schultern fiel, war pechschwarz.
»Bist du überrascht?«, fragte die Besucherin, die Alannahs Gesichtsausdruck richtig deutete. Ihre Stimme war seidenweich.
»Ein wenig«, gestand Alannah. Sie gab dem jähen Drang nach, den sie verspürte, sich vor der Unbekannten zu erheben, die ungleich größere Würde und Autorität ausstrahlte als der Lordrichter. »Offen gestanden hatte ich jemand anderen erwartet.«
»Mangon«, riet die Fremde.
Alannah nickte.
»Er wird dich nicht mehr aufsuchen, mein Kind.«
»Warum nicht?«
»Der Fall wurde ihm entzogen«, antwortete die Unbekannte rätselhaft. »Was für ein trister Ort«, fügte sie hinzu, während sie sich in der Zelle missbilligend umsah.
»Das … ist wohl wahr«, sagte Alannah leise.
»Du solltest nicht hier sein, Tochter. Es ist nicht deine Bestimmung, auf dem Altar politischer Ränke geopfert zu werden. Doch genau darum geht es hier.«
»Wenn Ihr es sagt, dun’ra«, erwiderte Alannah, die respektvolle Anrede gebrauchend, und senkte das Haupt.
»Du hast jemanden getötet«, stellte die Besucherin fest.
»Das ist wahr.«
»Auf welche Weise?«
»Das … weiß ich nicht genau. Und es spielt wohl auch keine Rolle mehr. Lordrichter Mangon ist der Ansicht, allein das Ergebnis einer Tat wäre entscheidend.«
»Lordrichter Mangon«, sagte die Besucherin, »ist ein überaus kluger Mann …«
»Ich weiß, dun’ra«, sagte Alannah kleinlaut.
»… klug genug, um seine eigenen Grenzen zu erkennen«, fuhr die Unbekannte fort, und als Alannah überrascht den Blick hob, sah sie den Anflug eines Lächelns auf den anmutigen Zügen.
»W-wer seid Ihr?«, erkundigte sie sich zaghaft.
»Mein Name ist Riwanon, Ordensmeisterin und Mitglied des Hohen Rates von Tirgas Lan.«
»I-Ihr seid eine Zauberin?«
»Ganz recht, mein Kind«, bestätigte die Besucherin.
Daraufhin sank Alannah ehrerbietig auf die Knie. Wie allen anderen Kindern, die in der Obhut der Ehrwürdigen Gärten heranwuchsen, hatte man auch ihr beigebracht, den Mitgliedern des Hohen Rates den gleichen Respekt zu erweisen wie dem König selbst und ihnen stets in tiefer Dankbarkeit zu begegnen. Denn ohne den Rat und seine magischen Kräfte hätte das Reich schon vor langer Zeit zu existieren aufgehört, und die Welt wäre in Dunkelheit versunken.
»Wie ist dein Name, Kind?«, wollte Riwanon wissen.
»A-Alannah.«
»Wer sind deine Eltern?«
»Ich habe keine. Solange ich zurückdenken kann, bin ich ein Kind der Ehrwürdigen Gärten. In ihrer Obhut wuchs ich auf.«
»Ich verstehe. Nun, Alannah – weißt du, was man über die Kinder der Ehrwürdigen Gärten sagt?«
»Was, dun’ra?«
»Wie es heißt, haben manche von ihnen – besonders jene, die von Geburt an in der Obhut der Gärten leben – besondere Fähigkeiten.«
»Besondere Fähigkeiten?«, fragte Alannah ungläubig. »Was wollt Ihr damit sagen?«
»Nun«, erwiderte Riwanon, »ich will damit sagen, dass das, was dir widerfahren ist, möglicherweise mit dieser Fähigkeit zu tun hat, die zu kontrollieren du lernen solltest. Der Tod des Menschen war ein Unfall, der …«
Weiter kam Riwanon nicht, da sie unterbrochen wurde.
Lächerlich. Einfach lächerlich, sagte plötzlich jemand – und das, zu Alannahs größter Verblüffung, nicht etwa laut, sondern lediglich in ihrem Kopf, sodass sie sich schon einen Augenblick später fragte, ob ihr verwirrter Geist ihr nur einen Streich gespielt hatte.
»Das ist nicht recht, Níobe«, rügte Riwanon streng. »Du darfst nicht über sie urteilen, ehe wir sie nicht angehört haben.«
Was gibt es da noch anzuhören?, maulte die Stimme, die nicht nur in Alannahs Kopf zu sein schien, sondern offenbar auch von der Zauberin vernommen wurde. Was ich bislang mitbekommen habe, genügt mir voll und ganz!
Über Riwanons rechter Schulter tauchte plötzlich das eigenartigste Wesen auf, das Alannah je gesehen hatte. Gehört hatte sie allerdings schon von ihnen, aber es war das erste Mal, dass sie einen zu Gesicht bekam.
Es war ein Kobold.
Oder um genau zu sein: eine Koboldfrau, wie Alannah an der Oberweite und dem langen goldblonden Haar feststellte, das unter dem umgedrehten Blütenkelch hervorwallte, der dem eigentümlichen Wesen als Kopfbedeckung diente.
Alannah erinnerte sich, dass Kobolde häufig die Begleiter von Zauberern waren. Man bekam sie selten zu sehen, aber angeblich nannte jeder Magier – zumindest aber jeder Ordensmeister – einen solch kleinwüchsigen Helfer sein Eigen, der ihm mit Rat und Tat zur Seite stand und sich mit ihm – Alannah erinnerte sich, auch davon gehört zu haben – kraft seiner Gedanken verständigte. Zwar hatte die junge Elfin dies immer nur für eine Legende gehalten, doch offenbar entsprach es der Wahrheit.
Die Koboldin war nur etwa eine Elle groß; ihre Kleidung bestand aus einem aus immergrünen Blättern gefertigten Kleid und besagtem Hut, ein leuchtend gelber Kelch von einer Alannah unbekannten Orchideenart. In ihrem sommersprossigen Gesicht, dessen Backen so ausgeprägt waren, dass man die kleinen Augen darüber kaum sehen konnte, prangte ein spitzes Näschen, darunter war der Mund missbilligend verzogen. Die Fäustchen der dünnen Arme hatte das Wesen entrüstet in die Hüften gestemmt, während es Alannah von Kopf bis Fuß musterte.
Tut mir leid, Herrin, meinte es dann, ohne die Lippen zu bewegen. Eine besondere Begabung kann ich nicht erkennen – schon viel eher ein besonders ausgeprägtes Maß an Dummheit.
»Wie darf ich das verstehen, Níobe?«, erkundigte sich die Zauberin ruhig. »Glaubst du dem Mädchen etwa nicht?«
Natürlich nicht, antwortete die Wichtin. Sieh sie dir doch nur mal an! Zaundürr und kreidebleich im Gesicht. Und dann dieses blasse, fast weiße Haar …
»Was hat denn mein Haar damit zu tun?«, fragte Alannah empört. Einen Augenblick lang kam es ihr ziemlich seltsam vor, sich mit einem Wesen zu unterhalten, das ihr kaum bis zu den Knien reichte und noch dazu beim Sprechen den Mund nicht benutzte. Aber dieses Gefühl verflog schlagartig, als Níobe ihr eine geharnischte Erwiderung an oder vielmehr in den Kopf warf.
Was dein Haar damit zu tun hat? Das will ich dir sagen!, blaffte das kleine Wesen und sprang von der Schulter seiner Meisterin auf den Boden, wo es empört auf- und abhüpfte. Jeder weiß, dass das Haar einer blonden Frau goldfarben sein soll! Nicht nur, dass das schöner anzusehen ist, es ist auch allgemein bekannt, dass goldblonde Frauen klüger sind. Ein Goldschopf wäre niemals so dämlich, einen Menschen zu erstechen, und vor allem nicht, sich dann auch noch erwischen zu lassen!
»A-aber ich habe mich nicht erwischen lassen«, verteidigte sich Alannah. »Ich habe um Hilfe gerufen!«
Nachdem du die Tat begangen hattest? Hältst du das für sehr intelligent?, fragte die Koboldin. Der freche Mensch hat dich angegafft. Er war widerrechtlich in die Ehrwürdigen Gärten eingedrungen und hatte den Tod verdient!
»Das ist nicht wahr!«
Warum nicht?
»Kein Wesen hat den Tod verdient. Es gibt kein Verbrechen, das den Tod rechtfertigt!«
Ist das deine Überzeugung?
»Natürlich. Und jetzt fort mit dir, Kobold, ehe ich dich …«
Willst du mir etwa drohen? Die ohnehin schon schmalen Augen des Wesens hatten sich zu winzigen Schlitzen verengt. Das solltest du hübsch bleiben lassen, Weißkopf, weil ich dir nämlich sonst die Augen auskratze!
Tatsächlich war zu sehen, wie aus den schlanken Fingerchen plötzlich spitze Krallen wuchsen, und auch im kleinen Mund der Koboldin zeigten sich auf einmal zwei Reihen messerscharfer Zähne.
Alannah hatte während der vergangenen Tage viel erduldet. Ohne es zu wollen, war sie zum Mordwerkzeug geworden, man hatte sie verhaftet und in dieses finstere Loch gesteckt und sie eines Verbrechens beschuldigt, das sie nie hatte begehen wollen. Und als wäre dies alles noch nicht genug, trat nun auch noch ein zeternder Blumenknilch auf, der ihr vor Augen führen wollte, wie unendlich töricht sie angeblich war, und der sie dann auch noch bedrohte.
So nicht!
In einem impulsiven Ausbruch sprang Alannah auf, riss die Hände empor, die anders als ihre Füße nicht in Ketten lagen, und noch ehe sie recht begriff, was sie da tat, geschah es abermals.
Kälte befiel sie, ein eisiger Schauer, der sich in ihrem Innersten wie eine Faust zusammenballte – und wie an jenem dunklen Tag in den Ehrwürdigen Gärten schoss plötzlich ein Speer aus Eis aus Alannahs Händen, geradewegs auf den Kobold zu.
»Nein«, schrie die Elfin noch im selben Moment, als ihr klar wurde, was sie da tat – aber es war bereits zu spät.
Der Eisspeer war verschleudert und hätte Níobe durchbohrt, doch als stieße er auf ein unsichtbares Hindernis, zersplitterte er in unzählige Bruchstücke, die rings um die Koboldin zu Boden prasselten und im nächsten Moment zu Wasser wurden.
Níobe hatte zu hüpfen aufgehört.
Mit großen Augen stand sie da und starrte an Alannah empor.
Ups.
Alannah nahm es nur am Rande wahr. Entsetzt blickte sie auf ihre Hände, die einmal mehr etwas getan hatten, was sie nicht wirklich gewollt hatte noch recht begreifen konnte, auch wenn es ihr nun schon zum zweiten Mal passiert war.
»Verzeih mir«, flüsterte sie und sank erneut auf die Knie, diesmal um sich zu vergewissern, dass der Koboldin auch wirklich nichts geschehen war. »Das – das wollte ich nicht, bitte glaub mir …«
»Sie glaubt dir«, erklärte Riwanon, »ebenso wie ich. Und natürlich verzeiht sie dir.«
Tue ich das?
»Allerdings«, sagte die Zauberin in einem Tonfall, dem auch Níobe nicht mehr zu widersprechen wagte. »Im Grunde sind wir es, die sich entschuldigen müssen, mein Kind«, sagte sie dann zu Alannah. »Wir haben dich provoziert.«
Alannah, die vor Entsetzen über sich selbst noch immer nicht klar denken konnte, schüttelte heftig den Kopf. »Nur mich trifft die Schuld. Ich allein habe …« Sie verstummte, als ihr klar wurde, was Riwanon gerade gesagt hatte. »I-Ihr habt mich provoziert?«
»Ganz recht.« Die Zauberin nickte.
»Dann … habt Ihr damit gerechnet, dass etwas Derartiges geschehen würde?«, fragte Alannah fassungslos.
»Mehr noch, mein Kind – wir haben es herausgefordert.«
»Aber … wieso? Was habt Ihr davon?«
»Wir wollten wissen, woran wir bei dir sind.«
»Und nun wisst Ihr es?«
»Allerdings.«
»Dann verratet mir, was das zu bedeuten hat«, bat Alannah leise, fast flehend. »Was geschieht mit mir?«
Die Zauberin lächelte, als wollte sie der Dramatik des Augenblicks spotten. »Was dir widerfahren ist, mein Kind, wird unter uns Zauberern reghas genannt. Es ist eine Gabe, die du vom Schicksal erhalten hast.«
»Eine Gabe?« Alannah lachte freudlos auf. »Wohl eher ein Fluch.«
»Was du daraus machst, ist dir überlassen, denn auch ein freier Wille wurde dir gegeben«, entgegnete Riwanon. »Aber wisse, dass jeder, der dem Orden der Zauberer angehört, über eine solche Gabe verfügt. Es ist die Voraussetzung, um als Novize in die Ordensburg von Shakara aufgenommen zu werden. Wusstest du das?«
»Nein.« Alannah schüttelte den Kopf.
»Über eine solche Gabe zu verfügen, die wir kraft unserer Gedanken einsetzen können und die die Fähigkeiten eines gewöhnlichen Wesens bei Weitem übersteigt, bedeutet große Macht und damit auch Verantwortung. Bisweilen ist sie eine Bürde, aber wir helfen uns gegenseitig dabei, sie zu tragen. Die Frage ist, mein Kind, ob du dies möchtest – oder ob du in Zukunft auf dich allein gestellt sein willst.«
»Was genau bietet Ihr mir da an, dun’ra?«
»Ich biete dir an, mich zu begleiten.«
»Wohin?«
»In die Ordensburg nach Shakara, wo du als Novizin dem Bund der Zauberer beitreten wirst.«
»Ich? Eine Zauberin?«
»Der Gedanke erscheint dir abwegig?«
»Allerdings.«
»Dann denke an das, was du getan hast. Dieses Eis ist deinen Händen nicht aus Zufall entsprungen, Alannah. Die Vorsehung hat dir die Kraft dazu gegeben.«
»Die Vorsehung? Aber ich habe jemanden getötet …«
»Hat jemand eine solche Gabe und ist nicht imstande, sie zu kontrollieren, kann er damit furchtbaren Schaden anrichten, denn dann gehorcht sie den dunklen Stimmen, die in jedem von uns sprechen und die wir als Zorn, Hass und Furcht kennen. Dies wollte ich dir zeigen, deshalb hatte ich Níobe gebeten, dich herauszufordern.«
Alannah blickte auf ihre Hände. »Und wenn ich diese Gabe gar nicht will? Wenn ich sie nur rasch wieder loswerden möchte?«
»Es gibt keinen Weg, sich ihrer auf Dauer zu entledigen. Man könnte versuchen, sie erlöschen zu lassen, dir die Erinnerung daran zu nehmen – aber irgendwann würde sie zurückkehren. Du musst dich deiner Gabe stellen, Alannah. In Shakara wirst du lernen, mit ihr zu leben und sie zum Nutzen aller einzusetzen.«
»Und … die Ehrwürdigen Gärten?«
»Die Gärten musst du nach allem, was geschehen ist, ohnehin verlassen«, antwortete die Zauberin hart, »hier ist kein Platz mehr für dich. Aber ich biete dir ein Leben in Gemeinschaft und unter Gleichgesinnten, wohingegen du ausgestoßen und auf dich gestellt wärst, entschiedest du dich gegen meinen Vorschlag. Natürlich liegt es bei dir – aber bedenke, dass es auf der ganzen Welt kein einsameres Wesen gibt als jenes, dessen Fähigkeiten größer sind als die der anderen. Man wird dich meiden und hassen.«
»Und was wird Lordrichter Mangon dazu sagen?«, fragte Alannah. »Er will, dass ich bestraft werde …«
»Folgst du mir nach Shakara, wirst du ihn nie wiedersehen.«
»Wie ist das möglich?«, fragte Alannah, die sich diesen Gesinnungswandel nicht erklären konnte. Hatte der Lordrichter bei seinem Besuch nicht überdeutlich gemacht, dass der Friede mit den Menschen durch sie bedroht sei und man dieses Risiko nicht eingehen konnte?
»Ein Vorteil, wenn man dem Orden der Zauberer angehört«, erklärte Riwanon, deren Lächeln noch ein wenig breiter wurde. »Wir helfen uns gegenseitig.«
»Was ist Eure Gabe?«, wollte Alannah wissen und legte fragend den Kopf schief. Sie ahnte, dass ein Zusammenhang mit Lordrichter Mangons plötzlichem Meinungswandel bestand.
»Wie alle Ordensmeister habe auch ich meinen Namen nach meinen Fähigkeiten erhalten«, erwiderte die Zauberin. »Aus diesem Grund nennt man mich ›Riwanon‹, was ›Netz der Schönheit‹ bedeutet – und in diesem Netz hat sich der gute Mangon wohl verfangen.«
Alannah stand vor Staunen der Mund offen. Hatte die Zauberin tatsächlich Gefühle in dem hartherzigen Lordrichter wecken können, der bisher immer als unbestechlich und mitleidlos gegolten hatte? Noch immer wusste sie nicht, was sie von alldem halten sollte. Aber was geschehen war, ließ sich nicht mehr rückgängig machen. Die Pforten der Ehrwürdigen Gärten hatten sich unwiderruflich hinter ihr geschlossen, dafür hatte sich ihr ein anderes Tor geöffnet. Es mochte an einen fernen, unbekannten Ort führen, aber immerhin hatte Alannah dort eine Zukunft, wohingegen sie in Tirgas Lan nur Schande und Vertreibung erwarteten.
Die Wahl fiel nicht schwer …
»In Ordnung«, willigte sie daher ein, »ich will es tun. Ich will Euch nach Shakara begleiten und eine Novizin des Ordens werden.«
»Freut mich, das zu hören«, sagte Riwanon, die offenbar keinen Augenblick daran gezweifelt hatte, wie Alannah sich entscheiden würde.
Mich freut es nicht, aber mich fragt ja niemand, tönte es in Alannahs Kopf.
»Verzeih, Níobe, ich wollte dich nicht übergehen«, sagte Alannah schnell. »Was vorhin passiert ist, tut mir wirklich leid. Meinst du, wir können vielleicht Freundinnen werden?«
Die Koboldin schaute zu ihr auf, das Näschen gerümpft, die Backen empört gebläht.
Nö, antwortete sie.
»Nein? Warum nicht?«
Weil du die falsche Haarfarbe hast, deshalb …