3. LOFRUTHAIETH!

Wie anders als in den Ehrwürdigen Gärten war es an diesem Ort.

Es gab kein Licht, keine Sonne und damit auch keine Wärme, die die Voraussetzung für jedes Leben war. Es wuchsen keine Bäume und keine Blumen, die in prächtigen Farben blühten. Es gab keine Brunnen, die lustig plätscherten, und keine Flöten spielten fröhliche Weisen.

Kälte, Stille und Dunkelheit herrschten in der Kerkerzelle, und dennoch war es dort nicht annähernd so finster wie in Alannahs Seele.

Immer wieder sah sie die schrecklichen Ereignisse vor ihrem inneren Auge, ohne dass sie verstehen oder auch nur im Ansatz begreifen konnte, was tatsächlich geschehen war.

Und vor allem: Warum war es gerade ihr passiert?

Nichts hatte darauf hingedeutet, nichts die Katastrophe erahnen lassen. Dennoch war es aus ihr hervorgebrochen, so unvermittelt wie ein Sommergewitter, wie ein Blitz, der aus heiterem Himmel in ein Gebäude einschlug.

Noch immer sah sie ihn vor sich, wie er sich am Boden wand, schreiend und am ganzen Körper zitternd. Überall war Blut gewesen, an ihren Kleidern und an ihren Händen, die sie noch immer wie von Sinnen rieb, obwohl Alannah sie in der Dunkelheit nicht einmal sehen konnte, als könnte sie damit die Schuld wegreiben, die an ihr klebte – auch wenn sie völlig ahnungslos gewesen war, unwissend im gefährlichsten Sinn des Wortes.

In der Dunkelheit, die sie umgab, hatte sie jedes Zeitgefühl verloren. Sie vermochte nicht zu sagen, wie lange sie bereits an diesem düsteren Ort weilte, und es entzog sich auch ihrer Kenntnis, ob es draußen Tag war oder Nacht. Ihr Kerker, der sich tief unter den Mauern Tirgas Lans befand, hatte keine Fenster und nur eine Tür, die aus massivem Eisen bestand und mehrfach verriegelt war. An Flucht war also nicht zu denken. Aber Alannah wollte auch nicht fliehen. Denn selbst wenn es ihr gelungen wäre, dieser Zelle zu entkommen – vor ihrem schlechten Gewissen gab es kein Entrinnen. Unablässig würde es sie verfolgen und sie peinigen. Immer wieder würde es ihr vor Augen führen, was sie getan hatte, denn die schrecklichen Bilder hatten sich unauslöschlich in ihr Gedächtnis gebrannt.

Irgendwann vernahm sie ein Geräusch: Schritte, die durch den Korridor auf der anderen Seite der Tür hallten und sich rasch näherten.

Alannah hielt den Atem an.

Würde sie nun endlich erfahren, was mit ihr geschehen würde? Und vor allem: Bekam sie Aufschluss über das, was sich in den Ehrwürdigen Gärten zugetragen hatte?

Unmittelbar vor ihrer Zellentür setzte der harte Klang der Schritte aus. Alannah hörte dumpfe Stimmen, konnte aber nicht verstehen, was gesprochen wurde. Dann wurden die eisernen Riegel zurückgezogen, und die Zellentür schwang knarrend auf.

»Lady Alannah?«

Der fahle Schein einer Kristallfackel blendete Alannahs Augen, die sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten, und es dauerte einen Moment, bis sie wieder etwas erkennen konnte. Dann gewahrte sie auf der Türschwelle eine große, Respekt einflößende Gestalt, die in einen weiten Umhang mit Kapuze gehüllt war. Ein Diener begleitete die Gestalt und trug die Fackel.

»Lady Alannah?«, fragte der fremde Besucher noch einmal. Seine Stimme klang streng, unverhohlene Anklage lag darin.

»J-ja?«

Der Besucher trat vor und schlug die Kapuze zurück. Scharf geschnittene Gesichtszüge kamen darunter zum Vorschein, die eiserne Entschlossenheit verrieten. Das lange dunkle Haar war streng zurückgekämmt und zu einem Zopf geflochten, die schmalen Augen blickten Alannah in stillem Vorwurf an.

»Ihr wisst, wer ich bin?«, erkundigte er sich.

»Sollte ich das?«, fragte Alannah.

»Ich bin Mangon, Lordrichter von Tirgas Lan«, stellte der Fremde sich vor, und Alannah erstarrte innerlich.

Auch wenn sie ihm noch nie zuvor begegnet war, hatte sie natürlich schon von Mangon gehört, dem obersten Richter des Reiches. Sein Sinn für Gerechtigkeit war legendär, aber auch seine Erbarmungslosigkeit gegenüber jenen, die das Gesetz missachteten. Nie hätte Alannah geglaubt, ihm eines Tages gegenüberzustehen, schon gar nicht als Angeklagte – aber genau das war nun der Fall. Verwirrt fragte sie sich, warum sich der Lordrichter persönlich ihres Falles annahm.

»Wahrscheinlich fragt Ihr Euch«, sagte Mangon, sie offenbar bis in den letzten Winkel ihrer Seele durchschauend, »weshalb ich hier bin.«

»D-das ist wahr«, gab Alannah zu.

»Eure ebenso unüberlegte wie frevlerische Tat hat Seine Majestät den König in eine überaus schwierige Lage gebracht.«

»In eine schwierige Lage? Wie das?«

»Dieser Jüngling, der in den Ehrwürdigen Gärten auf grausame Weise sein Leben verlor, war nicht irgendein Mensch, Lady Alannah. Er war der jüngste Sohn des Fürsten von Andaril.«

»Aber der Fürst von Andaril ist ein Vasall des Reiches«, wandte Alannah ein. »Er wird nicht …«

Sie unterbrach sich selbst, als ihr klar wurde, wie unsinnig ihre Worte waren. Der Fürst von Andaril mochte dem Elfenkönig treu ergeben sein, er war in erster Linie ein Mensch, und als solcher war ihm Rache für seinen Sohn wichtiger als seine Loyalität gegenüber seinem König.

»Unser Herrscher muss Vorsicht walten lassen«, erklärte Lordrichter Mangon. »Unter den Menschen gärt und brodelt es. Einige wollen sich wohl gegen uns erheben. Das sind nicht mehr die Primitiven, mit denen es noch unsere Väter zu tun hatten. Ihre Macht und ihr Einfluss wachsen beständig, und es gibt nicht wenige, die behaupten, dass dieser Rasse die Zukunft gehört. Umso wichtiger ist es, dass diese Sache bereinigt wird. Die Folgen wären ansonsten unabsehbar, womöglich würde ein neuer blutiger Krieg ausbrechen.«

»Keine Sorge«, versicherte Alannah. »Ich werde alles tun, was zur Klärung des Falles beiträgt.«

»Klärung?« Mangon hob die schmalen Brauen. »Was gibt es zu klären? Ihr habt den Jungen umgebracht, das wisst Ihr so gut wie ich. Ihr seid eine Mörderin!«

»I-ich weiß«, sagte Alannah leise, während sie sich zum ungezählten Mal fragte, was nur geschehen war. Eben noch war sie ein Kind der Ehrwürdigen Gärten gewesen, geliebt, geschätzt und von allen geachtet – und von einem Augenblick zum anderen fand sie sich in einer Kerkerzelle wieder und wurde des Mordes beschuldigt.

»Dann gesteht Ihr die Tat?«, fragte der Lordrichter.

Alannah seufzte. Was sollte sie auf diese Frage antworten? Sollte sie das Offensichtliche bestreiten? Leugnen, dass sie es gewesen war, die den armen Jungen getötet hatte? Als Kind der Ehrwürdigen Gärten war sie zuvorderst der Wahrheit verpflichtet. Die Wahrheit stand über allen anderen.

»Ja«, sagte Alannah leise, »ich gestehe, dass ich den Menschen getötet habe.«

»Wie kam es dazu?«, wollte Mangon wissen, und Alannah hatte das Gefühl, dass sein gestrenger Blick sie geradewegs durchbohrte.

»Ich weiß es nicht«, antwortete sie ehrlich.

»Ihr wisst es nicht mehr?«

Alannah schüttelte den Kopf. »Nein, ehrenwerter Herr Lordrichter, das sagte ich nicht. Ich habe das, was geschah, nicht etwa vergessen, doch weiß ich nicht, wie es geschah. Ich – ich kann es mir nicht erklären

»In diesem Fall, werte Lady, kann ich Eurem Gedächtnis auf die Sprünge helfen: Ihr habt den Jungen kaltblütig ermordet!«

»Das ist nicht wahr!«, beteuerte Alannah.

»Nein?« Der Lordrichter trat einen Schritt auf sie zu. »So berichtet mir, was geschah, auch wenn Ihr es nicht erklären könnt, wie Ihr Euch auszudrücken beliebt. Erzählt es freiheraus und überlasst die Erklärungsversuche jenen, die sich mit den Motiven von Mördern und Totschlägern auskennen. Und bleibt bei der Wahrheit«, sagte er drohend. »Wenn Ihr mich belügt, werde ich es erkennen.«

»Ich bin ein Kind der Ehrwürdigen Gärten und der Wahrheit verpflichtet«, erinnerte ihn die Gefangene. »Dennoch«, fügte sie dann kleinlaut hinzu, »werdet Ihr mir nicht glauben, so fürchte ich.«

»Ihr solltet nicht versuchen, mit mir zu spielen.« Mangon verschränkte grimmig die Arme vor der Brust. »Ich durchschaue Euch, Alannah. Indem Ihr versucht, mir weiszumachen, ich wäre Euch gegenüber voreingenommen, wollt Ihr mich milde stimmen. Aber dieser Plan wird nicht aufgehen.«

»Es ist kein Plan«, versicherte Alannah. »Was ich Euch zu sagen versuche, ist nur …«

»Eure Aussage!«, verlangte der Lordrichter streng, und der jungen Elfin blieb nichts anderes, als ihm zu berichten – auch wenn sie bereits zu wissen glaubte, wie dieses Verhör enden würde.

Mit ihrer Verurteilung …

»Es war am frühen Morgen«, begann sie dennoch. »Ich war zeitig erwacht und hatte den Rosenteich aufgesucht, um mich mit einem Bad zu erfrischen, wie ich es öfter tue. Aber an diesem Morgen fühlte ich, dass etwas anders war.«

»Inwiefern?«

»Ich hatte den Eindruck, beobachtet zu werden«, antwortete Alannah. »Ich sah mich um und fragte, ob da jemand sei, aber ich erhielt keine Antwort. Also nahm ich an, dass ich mich wohl geirrt hätte. Das merkwürdige Gefühl jedoch blieb. Als ich dann aus dem Wasser stieg, hörte ich ein verdächtiges Geräusch. Ich wollte nach meinen Kleidern greifen, aber noch ehe ich dazu kam, teilte sich das Gebüsch, und ein Jüngling trat daraus hervor …«

»Ein Mensch«, ergänzte Mangon.

»Ich weiß nicht, wie es ihm gelingen konnte, die Ummauerung der Ehrwürdigen Gärten zu überwinden – dennoch stand er plötzlich vor mir, wirklich und leibhaftig, und seine Blicke schienen mich zu verschlingen. Ich erschrak, weil ich mich hilflos und ausgeliefert fühlte, und riss abwehrend die Arme empor – und in diesem Moment geschah es.«

»Ihr habt ihn getötet«, sagte der Lordrichter.

Alannah nickte.

»Obwohl er Euch noch nicht einmal angerührt hatte.«

»Es ist Sterblichen verboten, die Ehrwürdigen Gärten zu betreten«, stellte Alannah klar. »Dieser Jüngling begehrte zu sehen, was kein sterblicher Mann je erblicken darf.«

»Und dafür habt Ihr ihn bestraft.«

»Ja«, stimmte sie zu, »und nein. Ich weiß nicht genau, was geschehen ist.«

»Das will ich Euch sagen: Ihr habt die Brust des Jungen durchbohrt, und das mit derartiger Kraft, dass die Tatwaffe im Rücken wieder ausgetreten ist. Und während er zuckend vor Euch am Boden lag und starb, hattet Ihr noch die Geistesgegenwart, die Waffe zu verstecken, sodass man sie bisher nicht finden konnte. Ist es nicht so gewesen?«

»Nein.« Alannah schüttelte entschieden den Kopf. »Es gab keine Tatwaffe.«

»Keine Tatwaffe?« Mangon zeigte ihr ein freudloses Grinsen. »Wollt Ihr behaupten, Ihr, eine junge Elfin von zartem Wuchs, hättet mit bloßer Hand seinen Brustkorb durchstoßen?«

»Keineswegs«, antwortete Alannah, »aber es gab auch keine Waffe, wie Ihr sie begreift. Es war etwas, das … das aus meinen Händen kam.«

»Aus Euren Händen? Was redet Ihr da?«

»Ich habe Euch gesagt, Ihr würdet mir nicht glauben.«

»Und das wundert Euch?«

»Ich verstehe es selbst nicht, Herr Lordrichter«, versicherte Alannah mit Verzweiflung in der Stimme. »In dem Augenblick, als dieser junge Mensch mir gegenüberstand, ist etwas mit mir geschehen. Eine Veränderung, die ich weder verstehe noch angemessen beschreiben kann. Aber in diesem Moment, als ich nackt und scheinbar völlig hilflos war, fühlte ich plötzlich eine innere Kraft, wie ich sie noch nie zuvor verspürt habe – und auf einmal lag dieser Mensch blutüberströmt vor mir.«

»Wollt Ihr behaupten, Eure Gedanken hätten ihn durchbohrt?«, fragte Mangon, und leiser Spott lag in seiner Stimme. »Oder gar Euer Blick?«

»Nein. Was seinen Brustkorb durchschlug, war etwas, das aus meinen Fingerspitzen kam.« Alannah betrachtete ihre schlanken Hände, während sie sprach. »Es war kalt, und es war hart und dazu spitz wie ein Speer. Es durchstieß die Brust des Jungen, noch ehe ich selbst recht begriff, was geschah.«

»Wovon genau sprecht Ihr?«, wollte Mangon wissen.

»Eis«, sagte sie leise. »Ich spreche von Eis, Herr Lordrichter. So klar wie Kristall – und so tödlich wie eine Klinge …«