6. TWAR ELIDOR

Sorgen.

Elidor gestand es sich nicht gern ein, aber seit er zum Königsamt berufen worden war und die Elfenkrone schwer und drückend auf seiner Stirn ruhte, waren Sorgen seine täglichen Begleiter.

Vorüber waren die Tage, da er stundenlang in den Ehrwürdigen Gärten hatte lustwandeln und den Lautenklängen lauschen können, da eine Ode genügt hatte, ihn aus der Wirklichkeit in das Reich der Muße zu entführen. Die Zeit, in der er sich der Kunst widmen konnte, war knapp geworden, und selbst dann waren ihm Lautenspiel und Gesang nicht mehr der Quell jener unschuldigen Freude, die er einst bei ihrem Genuss verspürt hatte.

Denn stets verfolgten ihn seine Sorgen, und mit jedem Tag, der verstrich, wurden sie immer noch zahlreicher: Zwergenkönige, die mit der Besteuerung unzufrieden waren; Händler, die eine Herabsetzung der Zölle forderten und drohten, andernfalls die Barbaren des Nordlandes mit geschmuggelten Waffen zu beliefern; Trolle, die die Waldsiedlungen und die Äußeren Haine bedrängten; Menschenfürsten, die ihren Reichtum und ihre Ländereien mehren wollten; und natürlich die Orks, jene Unholde, die jenseits des Schwarzgebirges hausten und in blanker Zerstörungswut gegen die Grenzbefestigungen anrannten.

Und als wäre all dies noch nicht genug, war es auch noch zu einem Zwischenfall gekommen, der die ohnehin schon wackeligen Beziehungen zu den Menschen noch mehr ins Wanken gebracht hatte.

Erwein, der Fürst der Menschenstadt Andaril, war zu Beratungen über die Herabsetzung der Grenzzölle nach Tirgas Lan gekommen. Obwohl die Menschenstädte – ebenso wie die Zwergenreiche entlang des Scharfgebirges – offiziell Teil des Elfenreichs waren, hatten sie sich im Lauf der vergangenen Jahrhunderte mit einer denkwürdigen Mischung aus Frechheit, Trotz und Starrsinn weitgehende Selbstständigkeit errungen. Zwar gehörten die großen Städte Sundaril und Andaril ebenso wie ihre entfernteren Nachbarn Taik, Girnag und Suln nach wie vor zum Reichsverbund und waren dem Elfenkönig nicht nur zum Tribut verpflichtet, sondern auch zur Gefolgschaft. Jedoch strebten die Stadtherren und Fürsten unverdrossen nach immer noch mehr Unabhängigkeit, was Elidor den seiner Ansicht nach stärksten Triebfedern menschlichen Handelns zuschrieb: Machthunger und Habgier.

Ihnen zu geben, wonach sie verlangten, und zugleich dafür zu sorgen, dass ihre Macht im Osten des Reiches nicht zu groß und damit vielleicht zur Gefahr wurde, war eine jener Künste, die man von ihm als König verlangte. Statt die Saiten der Laute in harmonischem Dreiklang zu zupfen, musste er die Interessen des Reiches durchsetzen und dabei noch den Schein wahren, ein gütiger und wohlwollender Herrscher zu sein. Keine leichte Aufgabe für jemanden, dessen erklärtes Ziel es einst gewesen war, ein der Kunst geweihtes Leben zu führen, bis zu jenem fernen Tag, da er Erdwelt verlassen und zu den Fernen Gestaden reisen würde.

Aus diesem Grund hatte es Elidor seinen Beratern überlassen, die Fäden der Politik für ihn zu ziehen, und da sie in diesen Dingen sehr viel erfahrener und beschlagener waren als er, hatten sie ein System ausgeklügelt, das den Stadtstaaten der Menschen weitgehende Freiheit einräumte und sie dennoch so eng wie nur irgend möglich an das Reich band: Indem man ihnen bestimmte Privilegien zukommen ließ und sie mit wechselhafter Aufmerksamkeit behandelte, schürte man gezielt den Neid und die Missgunst der Menschen untereinander. Statt begehrlich nach Tirgas Lan zu blicken, führten sie untereinander Kriege. Blutige Scharmützel zwischen den Soldaten Sundarils und jenen aus Andaril waren eher die Regel als die Ausnahme, und auch die übrigen Städte gefielen sich darin, ihre Kräfte in ebenso sinnlosen wie aufreibenden Kämpfen zu messen.

Es hatte eine Zeit gegeben, da hatte Elidor dieses Vorgehen als unmoralisch empfunden. Inzwischen jedoch war er überzeugt, dass es der einzige Weg war, die Menschen in Zaum zu halten – und dass man damit letztlich noch größeres und schrecklicheres Blutvergießen vermied.

Nun jedoch war etwas geschehen, das das mühsam konstruierte System, mit dem man die Menschen unter Kontrolle hielt, erschüttert hatte.

Iwein, Fürst Erweins jüngster Sohn, der seinen Vater zu den Unterredungen nach Tirgas Lan begleitet hatte, war zu Tode gekommen. Nicht durch ein tragisches Unglück, sondern durch die Hand einer Elfin.

Es war Mord gewesen.

Der erste, den ein Elb seit undenkbar langer Zeit begangen hatte.

Warum nur, fragte sich Elidor wieder und immer wieder, hatte diese Untat ausgerechnet in seine Regierungsperiode von gerade mal hundertvierzehn Jahren fallen müssen?

Es war in den Ehrwürdigen Gärten geschehen, einem Ort, dessen Betreten Menschen untersagt war. Erweins eigensinniger, gerade erst dem Kindesalter entwachsener Sohn hatte es dennoch getan – und furchtbar dafür bezahlt. Und natürlich verlangte Erwein Genugtuung für den Schmerz, der ihm zugefügt worden war.

Aus einer Begegnung, die der Sicherheit des Reiches hatte dienen sollen, war ein Krisentreffen geworden. Denn eines ließ sich mit Bestimmtheit sagen: Die Zölle zu senken oder steuerliche Vergünstigungen auszusprechen, würde diesmal nicht reichen, um den Unmut der Menschen zu besänftigen.

Elidor unterdrückte ein resigniertes Seufzen. Das durfte er sich nicht erlauben in der Gegenwart jenes Menschen, der mit seinem Gefolge aus fünf Kriegern vor seinem Thronpodest stand, am ganzen Körper bebend vor Zorn und mit dunkel geränderten Augen. Er hatte einen ungepflegten zotteligen Bart und in wilden Strähnen hängendes Haar, und über seinem Kettenhemd trug er einen roten Waffenrock mit dem schwarzen Adler Andarils auf der Brust.

»Fürst Erwein«, hörte sich Elidor selbst sagen und bemühte sich, seine Stimme dabei so sanft wie nur irgend möglich klingen zu lassen. »Bitte seid meiner Anteilnahme versichert. Ich war zutiefst betroffen, als ich von dem schrecklichen Vorfall hörte, und …«

»Eure Anteilnahme in allen Ehren, Hoheit«, fiel Erwein dem König unter Missachtung jeglichen Hofprotokolls ins Wort, »aber die gibt mir nicht den Sohn zurück, den ich verloren habe.«

»Das weiß ich, Fürst, aber …«

»Dem Schicksal hat es gefallen, dass jede meiner drei Frauen mir einen Sohn schenkte«, fuhr Erwein düster fort. »Ortwin ist der älteste, groß an Wuchs wie an Körperkraft, aber langsam im Denken und leicht zu durchschauen. Nurtwin war mein Zweitgeborener, doch die Zwerge erschlugen ihn in der Schlacht von Kamlach. Vor sechzehn Wintern schließlich kam Iwein zur Welt, und von früher Jugend an zeigte er, dass er eines Fürsten von Andaril würdig war. Auf ihm ruhte all meine Hoffnung für die Zukunft. Nun jedoch lebt er nicht mehr, wurde er niedergestreckt von der Hand einer feigen Mörderin. Der Quell meiner Freude ist versiegt. Und Ihr, Hoheit, sprecht von Anteilnahme?«

Ehe der König etwas erwidern konnte, ergriff Fürst Ardghal, sein Oberster Berater, das Wort; er war in der Kunst der Diplomatie und des geschickten Verhandelns ungleich beschlagener als der schöngeistige Elidor. »Seine Majestät bestreitet keineswegs Euren hohen Verlust, Fürst Erwein«, versicherte Ardghal beflissen, »noch maßt er sich an, auch nur annähernd nachfühlen zu können, wie groß Euer Schmerz sein muss. Euer Wertvollstes wurde Euch genommen, und niemand von uns, nicht einmal der König selbst, vermag auszudrücken, wie groß unser Bedauern über diesen Zwischenfall …«

»Zwischenfall?«, schnitt Erwein auch dem Berater das Wort ab. »Was Ihr als einen Zwischenfall bezeichnet, Ardghal, nenne ich feigen, niederträchtigen Mord!«

Das feindselige Lodern in den Augen des Fürsten war unübersehbar, und Elidor erschauderte angesichts des Zorns, der ihm vonseiten des Menschen entgegenschlug. Noch niemals zuvor hatte er solch rohe Gefühle, einen solchen Ausbruch negativer Empfindung erlebt, und in diesem Moment erahnte er, wozu Menschen fähig waren, die sich zum Äußersten getrieben sahen.

Erneut war es Ardghal, der das Sprechen übernahm, und Elidor war ihm dankbar dafür, denn der König merkte, wie sein Selbstbewusstsein unter den glühenden Blicken des Menschen dahinschwand wie Eis in der Sonne.

»Seit ungezählten Jahren, Fürst Erwein, ist innerhalb dieser Mauern niemand mehr eines gewaltsamen Todes gestorben. Ihr müsst uns glauben, dass wir über die Tatsache, dass dies nach all der langen Zeit geschah, nicht weniger schockiert sind als Ihr – und dass wir alles Nötige tun werden, den Hergang der Tat lückenlos aufzuklären. So hat der König bereits den obersten Lordrichter beauftragt und …«

»Ist er ein Mensch oder ein Elf?«, wollte Erwein wissen.

»Er ist ein Sohn Sigwyns«, antwortete Ardghal.

»Und Ihr erwartet, dass ich dem Ergebnis dieser Untersuchung traue, die von einem Elfen durchgeführt wird?«, fragte Erwein spitz. »Der Täter war ein Elf, das Opfer ein Mensch – folglich sollte auch die Untersuchung von Menschen durchgeführt werden.«

»Ich bedaure«, entgegnete Ardghal in seltener Direktheit, »ein solches Vorgehen ist in den Gesetzbüchern des Reiches nicht vorgesehen. Die Söhne und Töchter Sigwyns haben als Hüter der Traditionen dafür zu sorgen, dass …«

»Ich will Gerechtigkeit!«, beharrte Erwein und erhob dabei seine Stimme, sodass die Elfenwächter, die den Thronsaal säumten, zusammenzuckten. Mit einem fragenden Blick erkundigte sich Gethen, der Hauptmann der Wache, ob seine Leute eingreifen sollten, aber Ardghals kaum merkliches Kopfschütteln hielt sie zurück. Die Situation war auch so schon unerfreulich genug.

»Und Gerechtigkeit soll Euch widerfahren«, antwortete der königliche Berater dem Fürsten bestimmt. »Im Namen meines Herrschers König Elidor verspreche ich Euch, dass Ihr sowohl der Untersuchung als auch der anschließenden Verhandlung zu jeder Zeit beiwohnen dürft.«

»Ich will nicht irgendwelche Untersuchungen oder sonst einen elfischen Firlefanz«, wehrte Erwein ab. »Ich will den Täter!«

»Was?«, fragten sowohl der König als auch sein Berater wie aus einem Mund.

»Eine Elfin, deren Namen ich noch nicht einmal erfahren habe, hat meinen jüngsten Sohn getötet. Ich verlange ihre Auslieferung. Ich selbst werde dafür sorgen, dass sie ihrer gerechten Bestrafung zugeführt wird!«

»Noch ist sie nicht verurteilt«, gab Ardghal zu bedenken.

»Urteil hin oder her – sie wird bestraft werden!«, sagte Erwein rundheraus. »Mein Herz dürstet nach ihrem Blut, und ich werde diesen Durst stillen!«

»Das kommt nicht infrage!«, rief König Elidor, noch ehe sein Berater etwas erwidern konnte.

Zum einen empörte sich seine empfindsame Seele gegen die Rohheit, mit welcher der Mensch auftrat, und gegen die Dreistigkeit, mit der er Forderungen an ihn stellte. Es stimmte, Erweins Sohn war von Elfenhand getötet worden, aber es war auch eine Tatsache, dass der junge Iwein in die Ehrwürdigen Gärten eingedrungen war und damit gegen ein Gesetz verstoßen hatte. Elidor war weit davon entfernt, ein Unrecht gegen das andere aufzurechnen, aber er würde auf gar keinen Fall einen Elfen der Gerichtsbarkeit der Menschen übergeben, die weder Anklage noch Verteidigung kannte, sondern nur das scharfe Beil des Henkers.

Erneut ergriff er das Wort, wenn auch sehr viel ruhiger und besonnener als zuvor. »Als Herrscher von Tirgas Lan sehe ich mich außerstande, Eurer Bitte um Auslieferung der Täterin nachzukommen.«

»Was ich geäußert habe, Hoheit, war keine Bitte«, stellte Fürst Erwein klar. »Es war eine Forderung, die zu erfüllen ich Euch dringend ersuche. Andernfalls …«

»Seht Euch vor, Fürst Erwein«, warnte ihn Ardghal. »Die Worte, die Ihr wählt, könnten Euch einen hohen Preis kosten.«

»Oder Euch«, konterte der Mensch ungerührt.

»Denkt an den Treueid, den Ihr geschworen habt.«

»Das tue ich. Als Euer Vasall bin ich der Krone von Tirgas Lan zum Gehorsam verpflichtet – und die Krone hat umgekehrt dafür zu sorgen, dass ihren Untertanen Gerechtigkeit widerfährt, Hoheit, Elfen und Menschen gleichermaßen. Oder wollt Ihr das leugnen?«

»Keineswegs, Fürst«, antwortete Elidor kühl.

»Wie kommt es dann«, fuhr Erwein fort, »dass Menschen und Elfen nicht gleich sind für die Krone? Dürfte sich ein Mensch, der einen Elfen ermordet hat, vor einem Gericht der Menschen verantworten? Natürlich nicht. Man würde ihn vor den Lordrichter führen, und er wäre verurteilt, noch ehe die Verhandlung überhaupt begonnen hätte.«

»Das ist nicht wahr!«, erhob Ardghal entschieden Einspruch.

»Nein?« Erneut blitzte es in Erweins zu Schlitzen verengten Augen. »Dann beweist es und übergebt mir die Elfin, auf dass ich selbst über Iweins Mörderin richte. Eine Woche Bedenkzeit will ich Euch geben.«

»Ihr … Ihr fordert mich heraus?«, fragte Elidor, fassungslos über so viel Unverschämtheit.

»Das tue ich«, bestätigte Erwein rundheraus. »Eine Woche lang werde ich Iwein betrauern. Dann jedoch werde ich zurückkehren, Hoheit, und Ihr werdet mir die Mörderin entweder ausliefern …«

Er verstummte.

»Oder?«, fragte Elidor.

Trotz seines Zorns und seines Schmerzes vermied Erwein eine direkte Antwort, so klug war er. »Geht in Euch und überlegt, ob Ihr Euch Andaril zum Feind machen wollt«, sagte er nur, dann verließ er den Thronsaal mit seinem Gefolge, ohne auf seine Entlassung durch den König zu warten.

Betroffen blickte Elidor ihm nach.

Ihm war bewusst, dass dieser Augenblick den Wendepunkt seiner Herrschaft bedeuten konnte, dass alles auf dem Spiel stand, was seine Vorgänger weise und vorausschauend aufgebaut hatten. Dennoch sah er sich außerstande, Erweins Zorn zu besänftigen oder den Fürsten der Krone gegenüber zumindest wieder wohlwollend zu stimmen.

»Ardghal?«, fragte er, nachdem die Menschen den Thronsaal verlassen hatten, über dem sich die Palastkuppel spannte. Die kreisrunde Öffnung, die sich in der Mitte des Saals befand und von einer Balustrade umgeben war, gewährte jedem Besucher einen Blick in die Schatzkammer Tirgas Lans, die sich genau unter dem Thronsaal befand. Doch wehe dem, der es gewagt hätte, sich am Besitz des Elfenkönigs zu vergreifen …

»Eine schwierige Situation, mein König«, gab der Berater seine Einschätzung kund. »Erwein könnte seinen Streit mit der Nachbarstadt Sundaril begraben und sich mit den anderen Menschenherrschern verbünden. Dann könnten sie gemeinsam gegen Tirgas Lan ziehen. Der Ausgang eines solchen Kriegs wäre unabsehbar.«

Als Schöngeist, der er nun einmal war, bereitete Elidor schon die Vorstellung klirrender Waffen Übelkeit. Es war schlimm genug, dass es überall im Reich immer wieder zu kleinen blutigen Streitigkeiten kam. Einen ausgewachsenen Krieg konnte und wollte er nicht verantworten.

»Was für Möglichkeiten haben wir, einen solchen Krieg zu verhindern?«, fragte er.

Ardghal tauschte einen Blick mit den anderen Beratern, die um den Thron versammelt waren, dann antwortete er: »Ich hatte vor, Erwein mit dem Amt eines außerordentlichen Schwertführers des Reiches zu betrauen, aber …«

»Ein außerordentlicher Schwertführer des Reiches?« Elidor hob die Brauen. »Ich wusste nicht, dass es ein solches Amt gibt.«

»Tut es auch nicht«, entgegnete der Berater schulterzuckend. »Es wäre eigens für Erwein geschaffen worden. Nach unserer bisherigen Erfahrung übersteigt seine Geltungssucht alles andere.«

»Außer der Liebe zu seinem jüngsten Sohn«, wandte Elidor resignierend ein.

»Oder seinem Verlangen nach Rache«, konsternierte Ardghal.

»Und … wenn wir es tun?«, fragte der König nach einer Weile.

»Was meint Ihr?«

»Wenn wir ihm geben, wonach er verlangt und ihm die Mörderin ausliefern? Sie ist eine Tochter der Ehrwürdigen Gärten, gewiss, aber sie hat unleugbar jene Freveltat begangen.«

»Hoheit sollten nicht einmal daran denken, diesen Schritt zu unternehmen«, riet Ardghal rundheraus ab. »Eine Elfin dem Beil eines Menschenhenkers zu überstellen, würde nicht nur Euer Ansehen bei den Söhnen und Töchtern Sigwyns unwiderruflich beschädigen. Die Menschen würden annehmen, dass sich der Herrscher von Tirgas Lan von ihnen einschüchtern ließe und des Friedens willen erpressbar wäre – und das kann sich das Reich noch weniger leisten als einen Krieg.«

»Also bleibt keine Wahl?«, fragte Elidor, dessen ohnehin schon bleiches Gesicht noch um einige Nuancen blasser geworden war. »Wir können nur den Weg des Krieges beschreiten?«

»Ich fürchte, mein König«, antwortete Ardghal leise und so endgültig, dass es Elidor kalte Schauer über den Rücken jagte.

Den Ellbogen auf die Lehne des Elfenthrons gestützt, ließ der König seinen Kopf auf die geballte Faust niedersinken. Die andere Hand fuhr zur Krone Sigwyns auf seinem Haupt. Am liebsten hätte er sie abgelegt, um sich der Entscheidung zu entziehen, die unausweichlich vor ihm lag, hätte sich wieder der Musik und den anderen schönen Dingen des Lebens zugewandt, statt sich mit derlei Problemen herumzuschlagen. Aber er war der Herrscher, und kein anderer als er hatte darüber zu befinden, was geschehen musste.

»Mit Verlaub, mein König – es gibt noch eine andere Möglichkeit«, sagte plötzlich jemand neben ihm.

Überrascht blickte Elidor auf.

Der gesprochen hatte, war Palgyr, ein Zauberer und Angehöriger des Hohen Rates. Es war üblich, dass jeweils ein Abgesandter Shakaras den Amtsgeschäften des Königs beiwohnte, so wie es in den Reformen nach Sigwyns Tod festgelegt worden war. Für gewöhnlich hielten sich diese Abgesandten, die lediglich als Beobachter am Hofe weilten, um den Hohen Rat über die Vorgänge in Tirgas Lan zu informieren, im Hintergrund und mischten sich nur dann ein, wenn der König sie ausdrücklich dazu aufforderte oder die Situation es unumgänglich machte.

Elidor wusste nicht, ob er erleichtert oder bestürzt darüber sein sollte, dass der Zauberer das Wort ergriff. Zum einen hoffte er, die Hilfe zu erhalten, die er sich so sehnlich wünschte. Zum anderen bedeutete dies wohl, dass er dabei war, als König gänzlich zu versagen.

»Was willst du, Zauberer?«, schnarrte Ardghal unwillig. »Der König hat dich nicht um eine Stellungnahme gebeten.«

»Dessen bin ich mir bewusst, mein König«, sagte Palgyr an Elidor gewandt; den Berater ignorierte er geflissentlich. »Ich habe das Wort auch nicht in meiner Eigenschaft als Abgesandter Shakaras ergriffen, sondern als treuer Untertan der Krone Tirgas Lans.«

Elidor hob die Brauen. »Also sprecht«, forderte er den Zauberer auf, und Palgyr drängte sich an den königlichen Beratern vorbei vor den Thron.

Er hatte hagere, von spärlichem grauem Haar und einem ebenso grauen Bart umrahmte Gesichtszüge, denen die scharfe Hakennase und die kleinen stechenden Augen etwas von einem Raubvogel verliehen. »In der Tat«, sagte er, »ist es eine prekäre Lage, in die man Euch gebracht hat, mein König.« Der Zauberer erwähnte nicht, wem er die Verantwortung dafür gab, aber die missmutigen Mienen Ardghals und der anderen Berater machten deutlich, dass sie sich angesprochen fühlten. »Auf den ersten Blick betrachtet, habt Ihr nur die Wahl: eine Auseinandersetzung zu führen, die niemand hier will, oder dem Ansehen der Krone nachhaltig zu schaden und so das Reich zu schwächen.«

»So ist es«, bestätigte Elidor.

»Falsch«, widersprach Palgyr. »Denn es gibt noch eine andere Möglichkeit. Eine, die weder Eurem Ansehen Schaden zufügen noch zu sinnlosem Blutvergießen führen wird.«

»Gerede!«, ging Ardghal unwirsch dazwischen. »Was sollte das für eine Möglichkeit sein?«

Wieder schien Palgyr den Berater gar nicht zur Kenntnis zu nehmen. »Wo kein Täter ist, gibt es auch keinen Kläger.«

»Was genau meint Ihr damit?«, fragte Elidor verwirrt.

»Fürst Erweins Zorn und sein Durst nach Rache richten sich auf die Elfin, die seinen Sohn ermordet hat, und er verlangt ihre Auslieferung. Aber was, wenn sie nicht mehr existiert? Wenn das Objekt seiner Rachsucht nicht mehr greifbar wäre?«

»I-Ihr meint …?«, fragte Elidor stockend; das Unaussprechliche wollte ihm nicht über die Lippen.

»Nein, das nicht.« Palgyr schüttelte den Kopf. »Würden wir so unsere Probleme lösen, wären wir kaum besser als die Menschen, die wir so gern der Barbarei bezichtigen, nicht wahr?«

»Was schlägst du dann vor?«, verlangte Ardghal zu wissen.

»Die Täterin«, erwiderte der Zauberer rundheraus, »müsste entkommen. Sie müsste zu einem Ort fliehen, wo sie niemand finden kann und sie vor den Nachstellungen der Menschen sicher wäre. Erwein würden wir sagen, dass die Mörderin trotz aller Vorsichtsmaßnahmen geflohen und unauffindbar wäre.«

»Erwein ist kein Narr«, wandte Ardghal ein. »Er würde diese Lüge sofort durchschauen.«

»Das würde er zweifellos«, gestand Palgyr ein. »Aber was weiter? Er würde uns der Lüge bezichtigen, aber ohne Beweise ist so eine Anschuldigung wertlos. Allein mit dieser Behauptung würde er sicherlich keinen Rückhalt bei den anderen Städten und Stammesfürsten finden, und ohne die kann er keinen Angriff gegen Tirgas Lan führen. Der Fürst von Andaril wird also erwägen müssen, was ihm wichtiger ist – seine eigene Machtposition oder die Rache für den Tod seines Sohnes. Und ich glaube zu wissen, wie seine Wahl ausfallen wird.«

»Ach, das glaubst du!«, sagte Ardghal. »Und was, wenn du dich irrst? Es steht viel auf dem Spiel, Zauberer.«

»Nicht mehr als ohnehin schon«, entgegnete Palgyr. »Mit dem Unterschied, dass mein Plan zumindest die Möglichkeit einer friedlichen Lösung bietet.«

»Dein Vorhaben beruht allein auf Mutmaßungen und Spekulationen«, hielt Ardghal dagegen. »Was ist, wenn Erwein ganz anders reagiert, als du vorherzusagen glaubst? Was ist, wenn ihn die anderen Menschenfürsten auch ohne Beweise unterstützen, weil sie unsere List durchschauen?«

»Ich kenne die Menschen genau«, behauptete der Zauberer. »Ihr Handeln ist leicht vorauszusagen. Auch für sie steht zu viel auf dem Spiel. Wenn sie ihre eigenen Rechte nicht gefährdet sehen, gehen sie ein solches Risiko nicht ein.«

»Die Menschen sind wankelmütig! Heute entscheiden sie so, morgen ganz anders. Man kann ihr Handeln nicht voraussehen!«

»Ich behaupte es zu können!«, sagte Palgyr überzeugt.

»Und wenn du dich irrst, bedeutet es unseren Untergang!«

»Schweigt!«, gebot Elidor, worauf der Berater zwar verstummte, jedoch laut nach Luft schnappte. Es war das erste Mal, dass der König ihm das Wort verbot. Und es war das erste Mal, dass der Elfenherrscher auf jemand anderen hörte.

»Meister Palgyr hat recht«, ergriff Elidor für den Zauberer Partei. »Ihr habt mich vor eine Wahl gestellt, die ich unmöglich treffen kann. Palgyrs Vorschlag jedoch birgt die Hoffnung auf Frieden. Wollt Ihr das bestreiten?«

»Nun … äh … nein«, kam Ardghal nicht umhin zuzugeben. »Aber bedenkt, Hoheit: Der Orden von Shakara versucht vielleicht, auf diese Weise seinen Einfluss am Hofe auszuweiten.«

»Keineswegs«, beteuerte Palgyr. »Wie ich schon sagte: Ich spreche nicht in meiner Eigenschaft als Gesandter des Hohen Rates, sondern um Blutvergießen zu vermeiden. Wenn Ihr es wünscht, wird der Rat niemals erfahren, dass diese Unterredung stattgefunden hat.«

»Ihr würdet den Eid brechen, den Ihr als Mitglied des Rates geleistet habt?«

»Meinen Eid«, stellte Palgyr klar, »habe ich auf Tirgas Lan geschworen. Ich habe gelobt, meine Kräfte zum Wohle des Reiches einzusetzen, und nichts anderes habe ich im Sinn. Wie werdet Ihr Euch also entscheiden, mein König?«

Elidor hielt dem fragenden Blick des Zauberers nicht stand. »Fürst Ardghal?«, wandte er sich an seinen Berater.

»Mir ist nicht wohl dabei, Hoheit«, bekundete dieser.

»Aber haben wir eine Wahl?«, hielt ein anderer dagegen. »Wir wollen keinen Krieg mit den Menschen, aber wir können ihnen auch keine Tochter Sigwyns ausliefern. Der Vorschlag des Zauberers ist der einzig gangbare Weg.«

»Also gut«, sagte Elidor und seufzte laut. »Wir nehmen den Vorschlag des Zauberers an.«

»Eine kluge Entscheidung, mein König«, sagte Palgyr. »Schon in wenigen Stunden wird dieses Problem gelöst sein.«

»Wie wollt Ihr das bewerkstelligen?«

»Das lasst meine Sorge sein, Hoheit. Nur brauche ich freie Hand.«

»Die habt Ihr.«

»Auch gegenüber dem Lordrichter?«

»Gewährt«, sagte Elidor, noch ehe Ardghal etwas einwenden konnte.

»Gut«, sagte Palgyr nur, und ein rätselhaftes Lächeln spielte um seine Lippen.