4. LEIDOR

Es gab Leute, die nannten Andaril eine Burg, was zum Teil richtig war, denn ein zinnenbewehrter Turm bildete den Mittelpunkt der Siedlung, in den bei Gefahr zumindest jene flüchten konnten, die es verstanden hatten, sich beizeiten die Gunst und das Wohlwollen des Fürsten Erwein zu sichern.

Manche nannten Andaril auch eine Stadt, was auf die vielen Hütten und Häuser zurückzuführen war, die sich rings um die Burg erstreckten und zwischen denen sich ein unüberschaubares Gewirr enger und engster Gassen wand. Händler boten dort ihre Waren feil, und wie es hieß, gab es kaum etwas, dass es in Andaril nicht zu kaufen gab, von der Liebe einer Hure bis hin zur Klinge eines gedungenen Mörders. Und dann waren da noch jene, die Andaril schlicht als Dreckloch bezeichneten, als stinkenden Haufen Abfall.

Granock gab diesen Leuten durchaus recht, hatte aber erfahren müssen, dass die übrigen Städte des Ostens von Sundaril bis Taik kaum besser waren. Schmutz übersäte auch dort die Gassen, der Gestank war nicht weniger beißend, und wenn man nicht zu den Privilegierten gehörte, war man dazu verurteilt, sein Leben in schäbigen Baracken zu fristen, zusammen mit Ratten und anderem Ungeziefer, und von den wenigen Brocken Fleisch zu leben, die die Obrigkeit einem großmütig hinwarf, die sich dann darüber amüsierten, wenn sich die Armen darum balgten wie Hunde um einen abgenagten Knochen.

Granock hasste sie.

Die Edlen in ihren noblen Gewändern. Die Ritter und Fürsten, die geschworen hatten, das einfache Volk zu schützen, es in Wahrheit jedoch ausbeuteten und unterdrückten. Am meisten jedoch hasste er jene, die diese Welt beherrschten und die all diese Missstände hätten beseitigen können, wenn sie es nur gewollt hätten. Stattdessen jedoch kümmerten sie sich nur um ihre eigenen Belange.

Die Elfen.

Es kam selten genug vor, dass sich einer von ihnen in den Menschenstädten blicken ließ, aber wenn es doch geschah, so ließ es sich Granock nicht nehmen, es den spitzohrigen Burschen heimzuzahlen. Auf dem Schwarzmarkt wurden Höchstpreise für ein Elfenschwert bezahlt, auch elfische Schmuckstücke und Fibeln standen hoch im Kurs. Die Elfen waren die Herren der Welt und entsprechend wohlhabend, folglich hatte Granock kein Problem damit, sich an ihnen zu bereichern. Auch reiche Kaufleute aus Taik oder Girnag, die aus purer Prahlerei einen Beutel klingenden Goldes am Gürtel trugen, waren ein lohnendes Ziel – so wie die beiden, die in diesem Augenblick das Wirtshaus verließen.

Knarrend öffnete sich die Tür, aus dem Schankraum fiel gelbes Licht auf die Gasse, das den Schmutz und den Unrat beleuchtete. Eine Meute Ratten spritzte mit entsetztem Quieken davon.

Die Umrisse zweier feister Männer waren zu sehen, die heiser lachten. Ihre Zungen waren bereits schwer vom Alkohol, und Granock zweifelte nicht daran, dass sie den Weg zum nächsten Bordell einschlagen würden, um dort für bare Münze zu erstehen, was jede Frau mit halbwegs gutem Geschmack ihnen andernfalls verweigert hätte. Noch war also reichlich Gold in ihren Beuteln.

Granock lugte hinter einer Häuserecke hervor, zog sich die Kapuze seines Umhangs noch tiefer ins Gesicht und wartete ab. Die beiden Betrunkenen torkelten genau in seine Richtung.

Ein verwegenes Grinsen huschte über seine sonnengebräunten, von wirrem dunklem Haar umrahmten Züge. Er hatte es sich zur Gewohnheit gemacht, seinen Opfern eine Chance zu geben, eine Möglichkeit, ihre Barmherzigkeit über ihre Gier und ihre Ichsucht zu stellen, und er wollte auch diesmal keine Ausnahme machen, obwohl sein Magen bis zu den Knien hing und er eine anständige Mahlzeit gut hätte vertragen können.

Inzwischen waren sie so nah heran, dass er hören konnte, worüber sie sich unterhielten.

»Hassu gehört?«, fragte der eine Kaufmann den anderen.

»Was’n?«

»Der jüngsse Sohn von Fürss Erwein …«

»Was iss mit ihm?«

»Tot«, sagte der eine nur.

»Issas wahr?«

»Jawoll.« Ein tiefes Rülpsen war zu hören. »Angeblisch soll’s ’ne Elfin gewesen sein.«

»Ei-eine Elfin?«

»Genau. Der junge Herr war ssu Bessuch in der Elfenstadt, und da ham se ihn einfach abgestochen.«

»Oje«, meinte der andere Kaufmann, um im nächsten Moment in albernes Kichern zu verfallen.

»Was hassu denn? Iss keine komische Geschichte.«

»Nee«, gab der andere zu. »Musse nur grade an was denken.«

»Woran?«

»Dass ich froh bin, dass ich nich’ abgestochen wurde – sonst könnte ich jetz’ nich’ zu Madame Lavanda und ihren Damen gehen, und das wär’ verdammt schade.«

»Da hassu recht. Verdammt schade …«

Wieder lachten die beiden und klopften sich gegenseitig auf die Schulter. In diesem Moment erreichten sie jene Häuserecke, hinter der Granock lauerte und nun hervortrat.

»Almosen!«, krächzte er und gab sich Mühe, dabei möglichst elend zu klingen. »Bitte ein Almosen, ihr hohen Herren …«

»Hundsfott!«, fuhr der eine Kaufmann ihn an und schien schlagartig stocknüchtern. »Was fällt dir ein, mich derart zu erschrecken?«

»Verzeiht, Herr«, gab sich Granock unterwürfig. »Wenn Ihr nur eine milde Gabe für mich hättet. Ich habe weder etwas zu essen noch ein Dach über dem Kopf.«

»Das ist dein Problem, Bettler«, beschied ihm der Kaufmann hart, »und ganz gewiss nicht meines!«

»Aber Euer Beutel ist voller Gold – könnt Ihr nicht etwas davon erübrigen?«

»Bist du von Sinnen? Mein Gold geht dich überhaupt nichts an! Sei froh, wenn ich dich nicht bei der Stadtwache melde und prügeln lasse. Gesindel wie dich sollte man davonjagen.«

»Jawoll«, stimmte der andere Kaufmann zu. »Oder erschlagen wie eine Ratte!«

»Das ist eine sehr gute Idee«, stimmte sein Saufkumpan zu. »Und jetzt hinweg, Bursche, ehe ich meinen Dolch ziehe und dir damit das ungewaschene Gesicht in Streifen schneide!«

»Ist das Euer letztes Wort?«

»Mein allerletztes«, versicherte der Hartherzige – und brachte sich damit um sein Geld.

Denn Granock machte keine Anstalten, sich davonzumachen, wie es von ihm verlangt wurde – stattdessen hob er die Hände und streckte sie den Kaufleuten verlangend entgegen.

»Was soll das denn jetzt, Bursche? Hast du immer noch nicht begriffen, dass du von mir nichts …?«

Der feiste Kaufmann verstummte inmitten seiner Rede. Und nicht nur das – er erstarrte auch, und das im wörtlichen Sinn: Sein Mund blieb offen stehen, und seine Hand verharrte am Griff des Dolchs. Der andere Händler teilte das Schicksal seines Kumpels. Stieren Blickes und mit einem dämlichen Grinsen im Gesicht starrte er Granock an.

»Was denn, hohe Herren?«, fragte dieser, während er daranging, die Erstarrten um ihre Geldbeutel zu erleichtern. »Solltet Ihr Eure Meinung etwa geändert haben und mir doch etwas geben wollen? Habt Ihr plötzlich Euer großes Herz entdeckt? Aber nein, doch nicht gleich die ganze Börse!«

Mit einem Messer durchschnitt er kurzerhand ihre Gürtel und nahm die Beutel mit dem Gold an sich – dass dadurch die seidenen Hosen ihren Halt verloren und bis auf die Knöchel nach unten rutschten, war nur eine kleine Revanche für das, was die Armen tagtäglich erdulden mussten.

»Ihr könnt froh sein, Freunde, dass ich Euch nur die Gürtel durchschneide und nicht die Kehlen«, beschied er ihnen, während er sah, wie es im Augenwinkel des einen Kaufmanns zuckte, unendlich langsam, aber deutlich erkennbar. Der Effekt ließ bereits nach – er musste zusehen, dass er wegkam.

»Bis zum nächsten Mal«, feixte er und tippte sich zum Gruß mit zwei Fingern an die Stirn. Dann wandte er sich um und rannte mit wehendem Umhang die Gasse hinab, um in der Dunkelheit zu verschwinden.

Zwei, drei Minuten lang lief er, dann wurden seine Schritte auf einmal langsamer, und er blieb stehen. Er hatte plötzlich das seltsame Gefühl, beobachtet zu werden, und sah sich um.

Da gewahrte er in einem dunklen Torbogen eine noch dunklere Gestalt, die dort völlig reglos stand.

»Guten Abend«, grüßte sie ihn, und Granock glaubte, im Dunkel ein blitzendes schmales Augenpaar auszumachen. »Ich habe auf dich gewartet …«