Es wäre schon ziemlich dreist, wollte man behaupten, die Ursachen für den Beginn des Zweiten Krieges und damit für jenen letzten Kampf, der über das Schicksal der Welt entscheiden sollte, wären einfach und klar zu benennen. Weder war es allein die Trägheit der Elfen noch die Gier der Zwerge, weder das Machtstreben der Menschen noch die permanente Gewaltbereitschaft der Orks, die letztlich das Reich ins Chaos stürzten. Es war vielmehr alles zusammen, zahlreiche Kräfte, die den Strom der Vernichtung speisten.
Doch wenn es eine Gruppierung gibt, die in besonderer Weise für die Geschehnisse Verantwortung trägt, dann ist es jener Stand, dem auch ich angehöre, der unwürdige Schreiber dieser Chronik.
Dwethiana.
Die Weisen.
Oder wie die Sterblichen zu ihnen sagen und wie auch ich sie des besseren Verständnisses halber fortan nennen werde: die Zauberer.
Zu allen Zeiten hat es sie gegeben, diejenigen, die das Schicksal oder die Vorsehung mit besonderen Gaben ausgestattet hat. Gaben, die sie befähigen, die Gesetze der Natur zu beugen. Reghas pflegen wir eine solche Gabe zu nennen, die sich nicht selten auch als Bürde erweist, denn sie birgt eine große Verantwortung.
Um diese zu schultern, wurde vor Urzeiten, noch während des Goldenen Zeitalters, der Magische Rat gegründet, dessen Angehörige sich mit einem feierlichen Eid dazu verpflichteten, ihre reghai zum Dienst und zum Wohle aller einzusetzen.
Über Jahrtausende standen die Zauberer den Elfenkönigen bei, beschützten sie und berieten sie bei ihren Entscheidungen, und sie waren maßgeblich daran beteiligt, als das Reich unter der Regentschaft Sigwyns des Eroberers seine bis dahin größte Ausdehnung erfuhr: Von gylmaras im Westen bis zu den Wildlanden im Osten, von yngaia bis an die Gestade der See erstreckte es sich.
Doch Sigwyns Stern sank, als seine Gemahlin Liadin ihn betrog, und das Reich drohte sich zu spalten. Um dies zu verhindern, taten die Zauberer, was getan werden musste, auch wenn es den selbst auferlegten Regeln widersprach: Sigwyn wurde entmachtet, und aus dem Magischen Rat wurde der Hohe Rat der Elfen, der dem König fortan nicht mehr nur beratend zur Seite stand, sondern ihn auch kontrollieren sollte.
Ruhe und Ordnung kehrten nach amber zurück, doch mit der Größe des Reichs zeigte sich auch seine Schwäche. Die Verwaltung über weite Entfernungen aufrechtzuerhalten, erwies sich als schwierig, und in jenen Städten, die weit entfernt lagen vom Zentrum des Reichs, schwelte die Glut des Aufruhrs.
König Iliador der Träumer war es, der den Hohen Rat bat, diesem Missstand abzuhelfen, und er wurde gehört. Einem jungen Zauberer namens Qoray, der aus der fernen Stadt Anar stammte, gelang es, die Kraft der Elfenkristalle zu nutzen, um die Pforten von Zeit und Raum zu öffnen und das zu errichten, was wir den Dreistern nannten: eine magische Verbindung, die es uns erlaubte, innerhalb eines Augenblicks von einem Ort des Reichs zum anderen zu reisen. Von Dinas Lan, dem strahlenden Zentrum des Reichs, konnte man mittels des Dreisterns nach Norden in die Ordensburg von Shakara gelangen oder nach Osten ins ferne Anar sowie nach Süden auf jenes Eiland, das zugleich Vergangenheit und Schicksal des Elfenvolks ist – die Fernen Gestade. Durchschritt man jene Kristallpforten, erreichte man einen Augenaufschlag später seinen Zielort, ohne die Mühsal und die Gefahren einer langen Reise auf sich zu nehmen.
Der König zeigte sich davon begeistert und ebenso der Rat, der im Gegenzug für diese Leistung weitere Rechte von der Krone zugesprochen erhielt. Niemand fragte sich, woher Qoray seine Kenntnisse nahm oder was er selbst damit bezweckte. Dies erfuhr die Welt erst, als Scharen grässlicher Unholde aus den Kristallpforten quollen. Da nämlich zeigte Qoray sein wahres Gesicht und nannte sich auf einmal Margok, und unter diesem Namen überzog er amber mit Tod und Verderben.
Lange Jahre währte der Krieg der Elfen gegen jene grobschlächtigen, brutalen Wesen, die Margok unter Zuhilfenahme verbotener Zauber selbst ins Leben gerufen hatte. Margoks Kreaturen nannte er sie – sie selbst jedoch, nicht willens oder nicht in der Lage, dies auszusprechen, gaben sich einen anderen Namen: Orks.
In verlustreichen Kämpfen gelang es, die Unholde zu besiegen und sie zurückzutreiben hinter die Gipfel des Schwarzgebirges, bis an die Gestade des gylmaras, der seither »Modersee« genannt wird. Margok flüchtete, wohin, das fragte niemand. Die meisten, auch viele seiner Anhänger, hielten ihn für tot. Die Kristallpforten wurden geschlossen, und das Silberne Zeitalter begann, in dem die im Krieg zerstörten dinai wieder aufgebaut wurden, diesmal als stolze Festungen mit wehrhaften Mauern, die die Namen Tirgas Lan und Tirgas Dun erhielten.
Die Drachen verließen die Welt, neue Rassen tauchten auf und beanspruchten ihren Platz unter den Völkern Erdwelts, unter ihnen die Zwerge, die Gnomen …
Und die Menschen.
Kaum jemand im Elfenreich maß den Meldungen aus dem Osten Bedeutung bei, in denen es hieß, die wilden Lande jenseits der dwaímaras würden auf einmal von Kreaturen besiedelt, die wie die Söhne Glyndyrs und Sigwyns aufrecht auf zwei Beinen gingen und sich aus dem Zustand ursprünglicher Unschuld erhoben. Doch die Menschen, wie sie sich nannten, waren ebenso strebsam, wie sie fruchtbar waren. So schnell, wie sie sich vermehrten, unterwarfen sie sich das Land im Osten und besiedelten es. Eine Gefahr für das Elfenreich stellten sie dennoch nicht dar. Denn jung und unerfahren, wie sie waren, suchten die gywara Streit unter ihresgleichen und lieferten einander blutige Schlachten, sodass ihr Einfluss nicht zu groß werden konnte. Zu jener Zeit verstanden es sowohl die Könige der Zwerge als auch die Herrscher des Elfenreichs, die Streitigkeiten unter den Menschen immer wieder zu schüren, sodass ihr Volk nicht erstarken konnte.
Jahrtausende vergingen, und die Welt wandelte erneut ihr Gesicht. Um sein Reich inmitten der immer größer werdenden Anzahl von Völkern zu behaupten, brauchte der Elfenkönig mehr denn je die Hilfe des Hohen Rates. Und je größer der Einfluss der Zauberer wurde, desto mehr von ihnen wurden gebraucht.
Überall im Reich suchte man nach ihnen – ohne zu ahnen, dass das, was man fand, den Anfang vom Ende bedeutete …
Aus der Chronik Syolans des Schreibers
I. Buch, 3. Kapitel