5. REGHAS

Granocks Entsetzen war nicht tief genug, um länger als einen Augenblick zu währen. Er war ohne Eltern auf der Straße aufgewachsen und hatte von Kindesbeinen an gelernt, sich auf eigene Faust durchzuschlagen. Entsprechend robust und unerschrocken war er.

»Wer ist da?«, fragte er in die Dunkelheit, weniger aus Interesse, als um Zeit zu gewinnen. Vielleicht, sagte er sich, war dies ja sein Glückstag, und er würde Gelegenheit erhalten, noch einmal reiche Beute zu machen.

»Du bist ein Dieb«, stellte der Schemen fest, von dem Granock im wenigen Mondlicht, das in die enge Gasse fiel, kaum mehr als dunkle Umrisse ausmachen konnte. »Ein einfallsreicher Dieb zweifellos, aber nichtsdestotrotz nur ein Dieb.«

»Und?«, fragte Granock dagegen. Der Fremde sprach mit eigenartigem Akzent und singendem Tonfall.

»Wie viel hast du erbeutet? Zehn Goldstücke? Fünfzehn?«

»Wer weiß«, sagte Granock achselzuckend und wog die klimpernden Beutel in der Hand. »Hab es noch nicht gezählt.«

»Auf jeden Fall ein guter Fang«, stellte der Fremde fest.

»Auf jeden Fall.«

»Und damit bist du zufrieden, Granock?«

Der junge Dieb merkte auf. »Woher kennst du meinen Namen?«

»Ich habe dich beobachtet, Junge«, entgegnete der Fremde zu seiner Verblüffung, »schon eine ganze Weile lang. Und ich weiß manches über dich – vielleicht mehr als du selbst.«

»Was du nicht sagst.« Granock bemühte sich, unbeeindruckt zu klingen – in seinem Inneren jedoch empfand er tiefe Bestürzung. Wer war dieser Fremde? Und wieso behauptete er, ihn beobachtet zu haben?

Die Antwort lag auf der Hand.

Er musste für die Stadtwache arbeiten. Einer von Erweins Spitzeln, der sich eine Belohnung verdienen wollte, indem er den berüchtigten »Blitzdieb«, wie sie ihn nannten, endlich fasste.

Aber so leicht konnte man Granock nicht schnappen.

»Wer bist du?«, wiederholte er seine erste Frage. »Komm heraus aus deinem Versteck, damit ich dich sehen kann!«

»Wozu?«, kam es zurück. »Damit du mit mir das Gleiche anstellen kannst wie mit diesen bedauernswerten Kreaturen?«

Granock blickte die Gasse hinab. Irgendwo dort hinten standen die beiden Kaufleute, reglos wie zu Statuen erstarrt. Allerdings war es nur noch eine Frage von Augenblicken, bis die Wirkung des Banns nachlassen würde. Die feisten Kerle würden zu sich kommen, begreifen, dass sie ausgeraubt worden waren, und lauthals nach den Wachen schreien. Bis dahin musste Granock verschwunden sein. Das Gespräch mit dem Schatten hatte für seinen Geschmack bereits viel zu lang gedauert.

Es war Zeit, es zu beenden.

Er streckte die Hände aus, um den Fremden in Starre zu versetzen. Ein tiefer Atemzug, ein konzentrierter Gedanke – aber die erwartete Wirkung blieb aus.

»Was denn?«, rief der Fremde. »Ist das alles, was du aufbieten kannst? Lassen dich deine Kräfte plötzlich im Stich?«

Zornesröte schoss Granock ins Gesicht. Noch einmal streckte er die Hände in Richtung des Fremden aus, um ihn erstarren zu lassen – aber erneut trat die erwünschte Wirkung nicht ein.

»Erbärmlich«, kommentierte der Schatten. »Ich würde lachen, wenn es nicht so traurig wäre.«

»Was ist traurig?«, fragte Granock zerknirscht.

»Dass du dir selbst im Weg stehst. Ich kenne dich, mein Junge. Du nennst dich Granock, und deine Mutter hast du nie kennengelernt, weil sie starb, als sie dir das Leben schenkte. Dein Vater hat dir die wichtigsten Regeln des Überlebens beigebracht, ehe er sich zu Tode gesoffen hat mit dem billigen Fusel, den er in Unmengen trank. Er starb in einer Gasse wie dieser, einsam und allein. Willst du auch so enden?«

»Woher weißt du das alles?«, fragte Granock erschrocken.

»Wie ich schon sagte: Ich habe dich beobachtet.«

»Aus welchem Grund? Was willst du von mir? Hat Fürst Erwein dich geschickt?«

»Nein«, erklärte der Fremde und trat aus der Dunkelheit. »Ich bin in höherem Auftrag hier. Mein Name ist Farawyn.«

Das Mondlicht fiel auf das Gesicht des Unbekannten, und Granock konnte sehen, mit wem er es zu tun hatte: Die vornehm wirkenden Gesichtszüge mit den hohen Wangenknochen, mit der scharf geschnittenen Nase und der schmalen Augenpartie waren fraglos die eines Elfen. Daher also der eigenartige Akzent und der seltsame Tonfall.

»I-Ihr seid kein Mensch«, stellte Granock wenig geistreich fest.

»Nein«, gab der andere zu, aus dessen schulterlangem grauem Haar ein spitzes Ohrenpaar hervorlugte. »In meinen Adern fließt das Blut der Söhne Sigwyns, und ich gehöre dem Hohen Rat der Elfen an.«

»Dem Hohen Rat?«, fragte Granock verwundert. »Aber das bedeutet, dass Ihr ein … ein …«

»Dass ich in den Wegen der Magie beschlagen bin«, half Farawyn aus. »Ich bin das, was ihr Menschen einen Zauberer nennt. Das sollte dir erklären, weshalb dein kleiner Trick bei mir nicht funktioniert hat.«

»Aber … was tut Ihr hier? Ich meine, Ihr sagtet, Ihr hättet mich beobachtet …«

»In der Tat.«

»Wozu? Aus welchem Grund?«

»Mein Junge«, sagte Farawyn und trat weiter auf ihn zu, bis dass er ganz dicht vor Granock stand, »ist dir nie der Gedanke gekommen, dass du zu Höherem berufen sein könntest als dazu, durch dunkle Gassen zu streunen und arglose Kaufleute auszurauben?«

»Zu Höherem berufen? Was meint Ihr damit?«

»Diese Gabe ist ganz erstaunlich.«

»Vielleicht.« Granock zuckte mit den Schultern. »Ich habe sie, solange ich denken kann. Wenn ich es mir nur fest genug wünsche, kann ich Menschen erstarren lassen.«

»Keineswegs«, widersprach Farawyn kopfschüttelnd. »Es sind nicht die Menschen, die du erstarren lässt – es ist die Zeit um sie herum. Die Kaufleute bewegen sich noch immer, nur eben sehr viel langsamer als du. Wenn der Bann von ihnen abfällt, werden sie glauben, dass nur ein Augenblick verstrichen ist – und sich wundern, wo ihre Geldbörsen geblieben sind.«

»Allerdings«, pflichtete Granock ihm grinsend bei.

»Eine herausragende Fähigkeit«, sagte Farawyn, »deren Wirkung allerdings nur von sehr kurzer Dauer ist.«

»Was soll’s?«, fragte der junge Dieb. »Bislang bin ich ganz gut damit zurechtgekommen.«

»Bislang«, gab Farawyn zu. »Aber würdest du nicht gern lernen, deine Kräfte noch wirkungsvoller einzusetzen? Möchtest du nicht eine bevorzugte Stellung einnehmen unter den Sterblichen?«

Granock brauchte nicht lange zu überlegen.

»Nein«, erwiderte er rundheraus.

»Warum nicht?«

»Ganz einfach: weil ich alles habe, was ich zum Überleben brauche. Und weil ich ganz gewiss nicht auf den Rat eines Elfen angewiesen bin, um …«

Er verstummte, als plötzlich aufgeregtes Geschrei zu vernehmen war. »Zu Hilfe! Zu Hilfe!«, brüllte jemand aus Leibeskräften. »Wir wurden ausgeraubt …!«

»Natürlich brauchst du den Rat eines Elfen nicht«, sagte Farawyn leichthin. »Zieh nur weiter deiner Wege und stiehl dich durchs Leben. Vermutlich wird es noch eine ganze Weile dauern, bis sie dir auf die Schliche kommen, doch dann werden sie eine Möglichkeit finden, dich zu fassen. Den ›Blitzdieb‹ nennen sie dich, richtig? Nun, ich bin sicher, sie werden dich in ihren Kerkern zuvorkommend behandeln.«

»Zuvorkommend?«, fragte Granock, während bereits das Stampfen von Soldatenstiefeln und das Klirren von Kettenhemden in den Gassen widerhallten. »Was meint Ihr damit?«

»Zweifellos werden sie dich foltern, um zu erfahren, wie du diese erstaunlichen Dinge bewerkstelligst. Aber da du das selbst nicht weißt, wirst du ihnen eine Antwort schuldig bleiben. Also werden sie dich weiterfoltern und immer weiter, gemäß dem Gesetz der Unvernunft. Irgendwann wirst du die Schmerzen nicht mehr ertragen. Dann wirst du entweder anfangen, ihnen Lügen zu erzählen, oder den Verstand verlieren. Vorausgesetzt, du bist dann überhaupt noch am Leben.«

Granock machte ein verdrießliches Gesicht. Was der Elf ihm da vor Augen führte, waren keine sehr erbaulichen Aussichten. Und wenn er ehrlich gegenüber sich selbst war, musste er sich eingestehen, dass auch er insgeheim diese Befürchtungen hegte. Bislang hatte er immer Glück gehabt – aber wer vermochte zu sagen, wie lange dieses Glück noch andauern würde?

»Ich hingegen«, fuhr der Zauberer fort, »biete dir nicht nur Schutz, sondern auch die Möglichkeit, andere kennenzulernen, die über ähnliche Fähigkeiten verfügen wie du.«

»Andere? Ihr meint, es gibt noch mehr von meiner Art?«

»Das will ich meinen, junger Freund«, versicherte Farawyn amüsiert – an dem Geschrei, das durch die Gasse hallte, schien er sich gar nicht zu stören.

»Es war der Blitzdieb!«, hörte man einen der Kaufleute brüllen.

»Wo ist er hin?«

»Das wissen wir nicht. So schnell er aufgetaucht ist, so plötzlich ist er auch wieder verschwunden.«

»Könnt ihr ihn beschreiben? Wie sah er aus?«

»Auch das wissen wir nicht …«

»Es gibt einen Ort«, erklärte der Zauberer weiter, »an dem sich all jene versammeln, die die Vorsehung mit einer besonderen Gabe bedacht hat. Dieser Ort ist ihnen Zuflucht und Heimat. Dort lernen sie, ihre Fähigkeiten zu vervollkommnen, und sie stellen sie in den Dienst eines höheren Ideals.«

»Was meint Ihr mit höherem Ideal

Farawyn lächelte. »Es mag dir seltsam erscheinen, aber es gibt hehrere Ziele, als sich den Wanst zu füllen und in einem warmen Bett zu schlafen.«

»Ach ja?« Granocks Erstaunen war keineswegs gespielt. »Und welche?«

»Er kann noch nicht weit sein!«, rief jemand heiser durch die Nacht. »Vermutlich ist er in diese Gasse gelaufen. Los, Männer, folgt mir!« Erneut waren Stiefeltritte und das Geklirr von Rüstzeug zu hören. Jeden Augenblick würden die Soldaten der Stadtwache auftauchen.

»Komm mit mir, und ich verspreche dir, dass du Gelegenheit erhalten wirst, es herauszufinden«, antwortete der Zauberer auf Granocks Frage und hielt ihm die schlanke weiße Hand hin. »So pflegt ihr Menschen doch ein Abkommen zu besiegeln, oder?«, fragte er, als er die Verwirrung im Gesicht des jungen Diebs erkannte.

Granock nickte, aber trotz der Verfolger, die sich geräuschvoll näherten, zögerte er.

Was sollte er tun? Er hatte nun wirklich nichts für Elfen übrig. Ihre überhebliche Art gefiel ihm nicht, und wenn er ehrlich war, flößten sie ihm auch ein wenig Furcht ein. Dieser Farawyn machte da keine Ausnahme. Andererseits hatte er wohl keine Wahl, wenn er nicht in wenigen Augenblicken in Ketten gelegt und abgeführt werden wollte.

»Also schön«, knurrte er und ergriff die Hand des Zauberers.

»Eine gute Entscheidung«, lobte Farawyn, während er ihn bereits mitzog, die Gasse hinab und in den Schutz der Dunkelheit. »Ich werde dir eine Welt zeigen, die größer ist als alles, was du dir vorzustellen vermagst …«