Es war ein finsteres Ritual, das auf der Lichtung stattfand, eingehüllt von der Dunkelheit einer mondlosen Nacht und umgeben von der schwarzen Wand des Waldes.
Zehnmal war der dumpfe Schlag der Trommeln erklungen, zehnmal hatte sich die Klinge ins Herz eines unschuldigen Opfers gesenkt, zehnmal war die geheime Formel gesprochen worden, die in verbotenen Schriften die Zeit überdauert hatte.
Carryg ai gwaith …
Zehn Menschen hatten ein grausames Ende gefunden, Dorfbewohner aus dem Süden, die man in den Nächten zuvor aus ihren Hütten verschleppt hatte. Niemand würde je erfahren, was mit ihnen geschehen war. Ihre Schreie hatten sich mit dem heiseren Gebrüll der Urwaldtiere zu einem schaurigen Chor vermischt, um dann jäh zu verstummen.
Carryg ai gwaith …
Das Ritual war beendet, die Anweisungen waren genau befolgt worden, und jeder der in weite Kutten gehüllten Schatten, die auf der Lichtung standen, wartete darauf, dass der Bannspruch seine Wirkung entfaltete.
Carryg ai gwaith …
Stein zu Blut.
Die Veränderung trat so langsam und unmerklich ein, dass sie kaum jemandem auffiel, zumal der flackernde Schein der Fackeln nicht ausreichte, um die Lichtung ganz zu erhellen.
Reglos standen die Schatten inmitten der zehn steinernen Figuren, zu deren Füßen je eines der leblosen Opfer lag, das Herz durchbohrt und die Gesichtszüge in namenlosem Schrecken erstarrt.
Mit jedem Augenblick, der verstrich, wurden die Mienen der Toten blasser und sanken ihre Augen tiefer in die Höhlen, bis die Toten schließlich den Eindruck erweckten, als hätten sie ihr Leben nicht eben erst ausgehaucht, sondern schon vor langer Zeit, und als hätte die Feuchtigkeit des Dschungels ihre Körper konserviert. Ihre Haut wurde nicht nur bleich, sondern auch runzlig wie welkes Laub, während das Fleisch darunter zu verdörren schien. Bald spannte sich die Haut dünn und ledrig über die Knochen, und die Gesichter wurden zu grässlichen Schädelfratzen. Allerdings blieb der entsetzte Ausdruck darin unverändert.
Gleichzeitig war zu beobachten, wie das Blut, das den menschlichen Körpern entzogen wurde, unterhalb der Statuen zusammenfloss – dunkelrote Rinnsale, die in dünnen gezackten Linien an den Sockeln und schließlich an den Standbildern selbst hinaufkrochen.
»Es beginnt!«, rief jener Schatten, der das Ritual geleitet hatte und in der Mitte der Lichtung stand, die blutige Klinge noch in der Hand. »Sie erwachen …!«
Nicht nur die Trommeln und Schreie der Opfer waren längst verstummt, sondern auch die Geräusche des Urwalds, so als hielte die Natur den Atem an und harrte bang der Ereignisse, die über die Welt hereinbrechen würden.
Gebannt beobachteten die Vermummten, wie sich die Blutbahnen weiter über die lebensgroßen Figuren ausbreiteten, wie sie den Brustkorb überzogen und die muskulösen geschuppten Arme und sich dabei immer weiter verästelten, wie sie die Klauen bedeckten und den peitschenähnlichen Schweif und wie sie sich schließlich am Hals emporwanden und den kahlen Schädel mit dem zähnestarrenden Maul umhüllten.
Ein heftiger Windstoß ließ die Flammen der Fackeln fauchen und die Blätter der Bäume rascheln, und schlagartig verschwanden die blutigen Linien, die die Standbilder wie Spinnennetze überzogen hatten – geradeso, als hätte sie etwas mit unfassbarer Gier ins Innere der steinernen Figuren gesogen.
Fast im selben Augenblick ging mit den Statuen eine dramatische Veränderung vor sich.
Sie öffneten die Augen.
Wo zuvor noch kalter, grauer Stein gewesen war, loderte auf einmal orangerote Glut, und dann schüttelte der erste der steinernen Krieger die Reglosigkeit ab, die ihn über Jahrtausende hinweg gebannt hatte, und stieg von seinem Sockel.
Das schmutzige Grau des alten Gesteins war zu giftigem Grün geworden, das von schwarzen Linien und Zacken durchzogen war. Die Kreatur legte den Kopf in den Nacken und stieß ein kehliges Zischen aus, wobei ihre gespaltene Zunge vor- und zurückglitt. Dann erst bemerkte sie offenbar die Vermummten auf der Lichtung, und auf einmal zögerte sie.
Sie begriff, dass etwas nicht stimmte, aber sie konnte nicht wissen, wie viel Zeit vergangen war, seit sie das letzte Mal Angst und Schrecken in dieser Welt verbreitet hatte. Ein ganzes Zeitalter war seither verstrichen.
Doch in dieser mondlosen Nacht, zu jener düsteren Stunde, kehrten die Krieger des Bösen zurück: Einer nach dem anderen erwachte zum Leben und verließ seinen Sockel, auf dem er die letzten Jahrtausende geruht hatte. Unzählige Winter waren gekommen und gegangen – der Blutdurst der Kreaturen jedoch war ungebrochen, und so rissen sie ihre Mäuler auf und entblößten ihre langen spitzen Zähne, während sie sich bedrohlich auf die Vermummten zu bewegten, ungeachtet der Tatsache, dass sie ihnen ihre Befreiung zu verdanken hatten.
Die Schatten scharten sich um ihren Meister, während sich ihnen die Kreaturen immer mehr näherten. Ihre Augen leuchteten in der Dunkelheit, ihr Atem zischte voller Bosheit und Wut.
Schon streckten sie ihre Klauen aus, um die Vermummten zu packen – aber es kam nicht dazu.
Denn der Meister hob die noch blutige Klinge in den wolkenverhangenen Himmel und sprach mit lauter Stimme jene Worte, die einst verboten worden waren und dennoch die Jahrtausende überdauert hatten. Sie retteten ihm und seinen Anhängern nicht nur das Leben, sondern machten die furchterregenden Krieger aus dunkler Vergangenheit auch zu ihren ergebenen Dienern.
Gaida ai’lafanor’ma rhula rhyfal’raita’y’taith – Kraft dieser Klinge gebiete ich den Kriegern der Dunkelheit!
Schlagartig verharrten die Kreaturen, blickten mit einer Mischung aus Unglauben und hilfloser Wut zu dem Dolch empor, der mit jenem Blut benetzt war, das in ihren Adern floss – und der dunkle Zauber, dem sie unterlagen und der sie allen Regeln der Natur zum Trotz zu denkenden, auf zwei Beinen wandelnden Wesen gemacht hatte, ließ ihnen keine Wahl, als zu gehorchen.
Die Glut in ihren Augen verlosch, und eines nach dem anderen sank auf die Knie, beugte das kahle schuppige Haupt vor seinem neuen Herrscher und erneuerte zischelnd den Eid, den sie bereits einmal geschworen hatten, vor undenklich langer Zeit.
Einem anderen Herrscher …