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J.R.Ward: Nachtjagd
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Titel der Originalausgabe
DARK LOVER (PART 1)
Aus dem Amerikanischen übersetzt von Astrid Finke
Redaktion: Natalja Schmidt
Copyright © 2005 by Jessica Bird
Copyright © 2007 der deutschen Ausgabe und der
Übersetzung by Wilhelm Heyne Verlag, München,
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München.
www.heyne.de
Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling
ISBN 978-3-641-06691-8
V003
www.penguinrandomhouse.de

Inhaltsverzeichnis

Die Autorin
DANKSAGUNG
GLOSSAR DER BEGRIFFE UND EIGENNAMEN
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Copyright

DANKSAGUNG

Ich danke euch so sehr: Karen Solem, Kara Cesare, Claire Zion, Kara Welsh, Rose Hilliard.

Mein Exekutivausschuss: Sue Grafton, Dr. Jessica Andersen, Betsey Vaughan. Mit euch allen das Internet, die Telefonleitungen und die Wege um den Hutchins and Seneca Park herum zum Kochen zu bringen, hat mir wache Gedanken, die geistige Gesundheit und das Lächeln bewahrt.

In Liebe zu meiner Familie.

Die Autorin

J. R. Ward begann bereits während ihres Studiums mit dem Schreiben. Nach ihrem Hochschulabschluss veröffentlichte sie die BLACK DAGGER-Serie, die in kürzester Zeit die amerikanischen Bestseller-Listen eroberte. Die Autorin lebt mit ihrem Mann und ihrem Golden Retriever in Kentucky und gilt seit dem überragenden Erfolg der Serie als neuer Star der romantischen Mystery.

 

Besuchen Sie J. R. Ward unter: www.jrward.com

1

Darius sah sich im Club um und betrachtete das Gewimmel halbnackter Menschen auf der Tanzfläche. Das Screamer’s war heute Abend gerammelt voll, überall saßen und standen in Leder gekleidete Frauen und Männer, die willentlich so aussahen wie Experten auf dem Gebiet diverser Gewaltverbrechen.

Darius und sein Begleiter passten perfekt hierher.

Nur, dass sie tatsächlich Killer waren.

»Du willst das also wirklich durchziehen?«, fragte Tohrment.

Darius sah dem anderen Vampir über den niedrigen Tisch hinweg in die Augen. »Ja. Will ich.«

Tohrment ließ seinen Scotch im Glas kreisen und verzog den Mund zu einem grimmigen Lächeln. Nur die äußersten Spitzen seiner Eckzähne blitzten dabei hervor. »Du bist verrückt, D.«

»Das wusstest du doch schon vorher.«

Tohrment hob achtungsvoll sein Glas wie zum Toast. »Schon, aber diesmal hängst du die Messlatte wirklich hoch. Du willst die Transition eines unschuldigen Mädchens, das keinen blassen Schimmer hat, worauf zum Teufel es sich einlässt, in die Hände eines Mannes wie Wrath legen. Das ist total kaputt.«

»Er ist nicht schlecht. Auch wenn er so aussieht.« Darius leerte sein Bier. »Außerdem solltest du ihm etwas mehr Respekt entgegen bringen.«

»Ich respektiere ihn wie die Hölle. Aber es ist trotzdem eine schlechte Idee.«

»Ich brauche ihn.«

»Bist du dir da ganz sicher?«

Eine Frau in einem ultrakurzen Minirock, Stiefeln bis zu den Oberschenkeln und einer Korsage aus Münzen schlenderte am Tisch vorbei. Ihre Augen funkelten hinter großzügig aufgetragener Wimperntusche, und sie ließ die Hüften kreisen, als hätte sie ein extra Gelenk darin.

Darius schenkte ihr keine Beachtung. Ihm war heute nicht nach Sex.

»Sie ist meine Tochter, Tohr.«

»Sie ist ein Mischling, D. Und du weißt, was Wrath von Menschen hält.« Tohrment schüttelte den Kopf. »Meine Ur-Urgroßmutter war auch ein Mensch. Und, quatsche ich in seiner Gegenwart darüber? Nein.«

Darius hob die Hand, um die Aufmerksamkeit der Kellnerin zu erregen. Er zeigte auf seine leere Flasche und Tohrments fast leeres Glas. »Ich werde nicht noch eines meiner Kinder sterben lassen. Nicht, wenn eine Chance besteht, sie zu retten. Abgesehen davon kann niemand sagen, ob sie überhaupt jemals die Wandlung vollziehen wird. Sie könnte genauso gut ein glückliches Leben führen, und nie etwas von dem Erbe erfahren, dass ich ihr mitgegeben habe. So was hat es schon gegeben.«

Und er hoffte wirklich inständig, dass seine Tochter verschont bliebe. Denn wenn sie die Transition durchmachen müsste, und wenn sie daraus lebendig und als Vampir hervorginge, würde sie gejagt werden. Wie sie alle.

»Darius, wenn er es überhaupt tut, dann nur, weil er dir was schuldig ist. Nicht, weil er es will.«

»Hauptsache, er macht es.«

»Aber tust du ihr einen Gefallen damit? Der Mann ist ungefähr so fürsorglich wie eine Schrotflinte, und das erste Mal kann wirklich hart sein, selbst wenn man vorbereitet wurde. Was bei ihr nicht der Fall ist.«

»Ich werde vorher mit ihr sprechen.«

»Und wie soll das bitte ablaufen? Willst du einfach zu ihr hingehen und sagen: ›Hey, du hast mich zwar noch nie gesehen, aber ich bin dein Papa. Und übrigens, wo wir uns gerade so nett unterhalten: Du hast im Evolutionslotto gewonnen. Du bist ein Vampir! Bring die Wandlung rasch hinter dich und dann fahren wir zusammen nach Disneyland!‹«

»Das ist nicht komisch.«

Tohrment beugte sich vor, und seine massigen Schultern zeichneten sich unter dem schwarzen Leder ab. »Du weißt, ich stehe hinter dir. Ich finde nur, du solltest es dir noch mal überlegen.« Eine lange Pause entstand. »Vielleicht könnte ich es tun.«

Darius warf ihm einen ironischen Blick zu. »Und wie willst du nach der Sache wieder in dein Haus kommen? Wellsie würde dir einen Pfahl durchs Herz rammen und dich in der Sonne verbrutzeln lassen, mein Freund.«

Tohrment zuckte zusammen. »Da könntest du allerdings recht haben.«

»Und danach würde sie sich mich vorknöpfen.«

Beide Männer schauderten.

»Außerdem …« Darius lehnte sich zurück, als die Kellnerin die Getränke vor ihnen abstellte. Er wartete, bis sie wieder weg war, obwohl sie bei dem dröhnend lauten Hardcore-Rap vermutlich ohnehin kein Wort verstanden hätte. »Außerdem leben wir in gefährlichen Zeiten. Wenn mir etwas zustößt – «

»Dann kümmere ich mich um sie.«

Darius schlug seinem Freund auf die Schulter. »Das weiß ich.«

»Aber Wrath ist besser.« In der Bemerkung lag keinerlei Eifersucht. Es war einfach eine Feststellung.

»Keiner ist wie er.«

»Gott sei Dank«, sagte Tohrment mit einem halben Lächeln.

Ihre Bruderschaft, ein enger Zirkel aufrechter Krieger, die Informationen austauschten und gemeinsam kämpften, war diesbezüglich derselben Meinung. Wenn es um Vergeltung ging, war Wrath nicht zu stoppen, er jagte ihre Feinde mit einer Zielstrebigkeit, die schon an Wahnsinn grenzte. Er war der Letzte seines Geschlechts, der einzig verbliebene reinrassige Vampir des Planeten; und wenngleich seine Rasse ihn als König verehrte, verachtete er selbst seinen Status.

Es war beinahe tragisch, dass ausgerechnet er Darius’ Mischlingstochter die besten Aussichten bot, zu überleben. Wraths Blut – so stark, so unbefleckt – würde ihre Chancen, die Transition zu überstehen, erheblich erhöhen. Doch Tohrment lag völlig richtig: Darius hatte dennoch das Gefühl, Casanova eine Jungfrau anzubieten.

Urplötzlich geriet die Menge in Aufruhr, hektisch schubsten sich die Leute gegenseitig zur Seite. Sie machten Platz für etwas. Oder jemanden.

»Scheiße. Er kommt«, murmelte Tohrment. Er kippte seinen Scotch in einem Schluck hinunter. »Nimm’s mir nicht übel, aber ich verziehe mich. Bei eurem Gespräch habe ich nichts verloren.«

Darius sah zu, wie das Meer von Menschen sich teilte, um einen imposanten dunklen Schatten durchzulassen, der über ihnen allen aufragte. Der Fluchtreflex ist eindeutig einer der vernünftigeren menschlichen Instinkte.

Zwei Meter purer Terror in schwarzem Leder. Das war Wrath. Sein Haar war lang und schwarz und fiel von einem spitz zulaufenden Haaransatz gerade herunter. Eine große, gewölbte Sonnenbrille verbarg seine Augen, die er niemals zeigte. Die Schultern waren doppelt so breit wie die der meisten anderen Männer. Sein Gesicht wirkte aristokratisch und brutal zugleich. Er war ein König per Geburtsrecht, aber das Schicksal hatte ihn zu einem Soldaten gemacht.

Und diese Welle der Bedrohung, die stets vor ihm herflutete, war seine Visitenkarte.

Als der kühle Hass Darius traf, setzte er die neue Bierflasche an und nahm einen langen Zug.

Er hoffte bei Gott, dass er das Richtige tat.

 

Beth Randall sah auf, als ihr Redakteur sich auf ihre Schreibtischkante setzte. Sein Blick wanderte ohne Umwege zum V-Ausschnitt ihres T-Shirts.

»Schon wieder so spät noch im Büro«, murmelte er.

»Hallo Dick.«

Solltest du nicht zu Hause bei deiner Frau und den zwei Kindern sein?, fügte sie im Geist hinzu.

»Was machst du denn da?«

»Ich überarbeite einen Artikel für Tony.«

»Weißt du, es gibt noch andere Wege, mich zu beeindrucken. «

Ach was. Das konnte sie sich lebhaft vorstellen.

»Hast du meine E-Mail gelesen, Dick? Ich war heute Nachmittag auf dem Revier und habe mit José und Ricky gesprochen. Sie sind sich absolut sicher, dass ein Waffenhändler in die Stadt gezogen ist. Sie haben frisierte Magnums bei ein paar Drogendealern gefunden.«

Dick tätschelte ihr die Schulter und strich dann wie zufällig über ihren Arm. »Bleib du mal schön bei deinen Polizeiregistern und überlass den großen Jungs die Gewaltverbrechen. Wir wollen doch nicht, dass deinem hübschen Gesicht was zustößt.«

Er lächelte, und seine Augen bekamen einen träumerischen Ausdruck, als sein Blick an ihren Lippen hängen blieb.

Diese Schmachtnummer war schon vor drei Jahren langweilig gewesen, dachte sie entnervt. Ungefähr seitdem sie angefangen hatte, für ihn zu arbeiten.

Eine Papiertüte. Sie bräuchte eine Papiertüte, um sie sich über den Kopf zu ziehen, wenn sie mit ihm sprach. Vielleicht mit einem Bild von Mrs Dick darauf.

»Soll ich dich nach Hause fahren?«, fragte er.

Nur wenn es Frösche und Kröten regnet, du Schleimbeutel.

»Nein, danke.« Beth wandte sich wieder dem Computerbildschirm zu und hoffte, er würde den Wink mit dem Zaunpfahl verstehen.

Endlich trollte er sich, vermutlich in die Bar gegenüber, die von den meisten Reportern auf dem Heimweg noch aufgesucht wurde. Caldwell, New York, war nicht gerade ein Karrieresprungbrett für Journalisten, doch Dicks große Jungs gaben sich gern den Anschein, als trügen sie eine schwere gesellschaftliche Last auf den Schultern. Genüsslich machten sie es sich an der Theke im Charlie’s bequem und schwelgten in Erinnerungen an die guten alten Zeiten, als sie noch für größere, bedeutendere Zeitungen gearbeitet hatten. Der überwiegende Teil von ihnen war genau wie Dick selbst: mäßig konservative Männer im mittleren Alter, die zwar kompetent, aber nicht wirklich außergewöhnlich in dem waren, was sie taten. Caldwell war immerhin eine Großstadt und nahe genug an New York City, um seinen Anteil am organisierten Verbrechen, an Drogenhandel und Prostitution zu beanspruchen; so hatten sie ausreichend zu tun. Doch das Caldwell Courier Journal war nicht die Times, und sie alle wussten, dass keiner von ihnen jemals den Pulitzerpreis gewinnen würde.

Es war ziemlich traurig.

Aber bitte, schau doch mal in den Spiegel, dachte Beth. Sie war nur eine Lokalreporterin und hatte noch nie für eine überregionale Zeitung gearbeitet. Wenn sich bis dahin nichts änderte, würde sie mit fünfzig die Kleinanzeigen für ein Käseblatt schreiben und an ihre glorreichen Tage beim Caldwell Courier Journal zurückdenken.

Sie griff in die M&Ms-Tüte vor sich. Leer. Schon wieder.

Auf dem Weg aus der Nachrichtenredaktion, einem offenen Großraumbüro mit wackligen grauen Trennwänden zwischen den Schreibtischen, machte sie einen Umweg über das Schokoriegeldepot ihres Kumpels Tony. Tony aß ununterbrochen. Für ihn gab es kein Frühstück, Mittag-und Abendessen: Nahrungsaufnahme war eine Grundkonstante. Solange er wach war, wanderte ununterbrochen etwas in seinen Mund, und um eine kontinuierliche Versorgung zu gewährleisten, stellte sein Schreibtisch eine Schatzkammer von Kalorienlieferanten dar.

Beth nahm sich einen Schokoriegel, wickelte ihn aus und genoss die künstlichen Aromastoffe. Noch während sie kaute, trabte sie die Treppe hinunter zur Trade Street. Draußen baute sich die Julihitze vor ihr auf wie eine Mauer; zwölf drückende, schwüle Blocks lagen zwischen ihr und ihrer Wohnung. Gott sei Dank lag das chinesische Schnellrestaurant auf halber Strecke und verfügte über eine hervorragend funktionierende Klimaanlage. Mit ein bisschen Glück würde dort heute die Hölle los sein, und sie könnte ein Weilchen im Kühlen warten.

Nach dem letzten Bissen Schokoriegel klappte sie das Handy auf, drückte die Kurzwahltaste und bestellte sich eine Portion Rindfleisch mit Brokkoli. Halb unbewusst nahm sie im Weitergehen die vertraute, trostlose Umgebung wahr. Auf diesem Teil der Trade Street gab es nur Nachtclubs, Striplokale und hier und da mal einen Tattooladen. Der Chinese und ein Tex-Mex-Stehimbiss waren die einzigen Restaurants in der Gegend. Die übrigen Gebäude hatten noch in den Zwanzigerjahren Büros beherbergt, als die Innenstadt noch geboomt hatte. Heute standen sie leer. Beth kannte jeden Riss im Asphalt; die Ampelschaltung war ihr in Fleisch und Blut übergegangen. Jedes einzelne Geräusch des vielstimmigen Gemurmels, das aus den offenen Türen und Fenstern drang, hätte sie mitbeten können.

In McGrinder’s Bar lief Blues, aus dem Zero Sum dröhnte Techno durch die Glastüren und im Ruben’s hatte jemand die Karaokeanlage auf volle Lautstärke gedreht. Die meisten Kneipen hier waren einigermaßen anständig, aber es gab ein paar, von denen sie sich prinzipiell fernhielt. Vor allem das Screamer’s bediente eine schauerliche Klientel. Diese Schwelle würde sie definitiv nur mit einer Polizeieskorte überschreiten.

Eine Welle der Erschöpfung überrollte sie. Mein Gott, war das schwül. Die Luft war so schwer, dass es sich anfühlte, als atme sie Wasser ein.

Doch sie wurde das Gefühl nicht los, dass ihre Kraftlosigkeit nicht nur am Wetter lag. Schon seit Wochen war sie vollkommen fertig, ein Anflug von Depression war nicht mehr zu leugnen. Ihr Job hatte keine Zukunft. Die Stadt, in der sie lebte, war ihr gleichgültig. Sie hatte kaum Freunde, keinen Geliebten, noch nicht einmal einen Flirt vorzuweisen. Vor ihrem geistigen Auge sah sie sich selbst in zehn Jahren: Immer noch in Caldwell mit Dick und den großen Jungs, immer noch Tag für Tag in derselben alten Mühle. Aufstehen, zur Arbeit gehen, versuchen etwas zu verändern, scheitern, allein nach Hause gehen.

Vielleicht musste sie einfach mal hier raus. Raus aus Caldwell. Raus aus dem Caldwell Courier Journal. Raus aus ihrer elektronischen Familie, bestehend aus Wecker, Telefon und dem Fernseher, der sie vor ihren Träumen beschützte.

Nichts hielt sie hier außer der Gewohnheit. Mit ihren Pflegeeltern hatte sie seit Jahren nicht mehr gesprochen, die würden sie nicht vermissen. Und die wenigen Freunde, die sie besaß, waren mit ihren eigenen Familien beschäftigt.

Als sie ein Pfeifen hinter sich hörte, verdrehte sie die Augen. Das war das Problem, wenn man in so einer Gegend arbeitete. Manchmal wurde man blöd angemacht.

Einige anzügliche Sprüche folgten und schon kamen zwei Typen im Laufschritt über die Straße und hefteten sich an ihre Fersen. Sie sah sich um. Die Kneipenzone endete hier und vor ihr lag ein langes Stück Straße, das nur von leeren Häusern gesäumt war. Die Nacht war dicht und dunkel, aber wenigstens gab es Straßenlaternen, und ab und zu fuhr ein Auto vorbei.

»Tolle schwarze Haare«, sagte der Größere der beiden, als er sie eingeholt hatte. »Was dagegen, wenn ich sie anfasse? «

Beth war nicht so dumm, stehen zu bleiben. Die beiden sahen zwar aus wie College-Jungs in den Sommerferien, was bedeutete, dass sie vermutlich nur nervig, aber nicht wirklich gefährlich sein würden. Trotzdem wollte sie es nicht darauf ankommen lassen. Außerdem waren es nur noch fünf Blocks bis zu dem chinesischen Restaurant.

Für alle Fälle wühlte sie schon mal in ihrer Handtasche nach dem Pfefferspray.

»Sollen wir dich irgendwo hinfahren?«, fragte der Große. »Mein Auto steht ganz in der Nähe. Im Ernst, wie wär’s, wenn du mitkommst? Wir könnten einen netten kleinen Ausflug machen.«

Er grinste und zwinkerte seinem Kumpel zu, als würde er mit dieser total lässigen Tour auf jeden Fall bei ihr landen. Sein Kumpan lachte, sein dünnes blondes Haar wippte, als er um sie herum hüpfte.

»Besorgen wir’s ihr doch auf der Rückbank!«, schlug der Blonde vor.

Scheiße, wo war das verdammte Spray?

Als der Große die Hand ausstreckte und ihr Haar berührte, sah sie ihn durchdringend an. Mit seinem Polohemd und den Khakishorts sah er auf eine smarte Collegeboy-Art gut aus. Der Traum jeder Schwiegermutter.

Er lächelte sie an, und sie beschleunigte ihre Schritte und konzentrierte sich nur auf das schwache Neonlicht des chinesischen Restaurants. Sie betete, dass jemand vorbeikäme, doch die Hitze hatte jegliche Passanten vertrieben. Es war keine Menschenseele zu sehen.

»Willst du uns nicht deinen Namen sagen?«, fragte der Schwiegermuttertraum.

Ihr Herz klopfte heftig. Das Spray musste in der anderen Handtasche sein.

Noch vier Blocks.

»Oder ich such mir einfach einen Namen für dich aus. Mal überlegen … wie wär’s mit Muschi?«

Der Blonde kicherte.

Beth schluckte und holte ihr Handy heraus, nur für den Fall, dass sie die Polizei rufen müsste.

Ganz ruhig. Reiß dich zusammen.

Sie stellte sich vor, wie angenehm die kühle klimatisierte Luft in dem Restaurant sein würde, wenn sie durch die Tür trat. Vielleicht würde sie sich von dort aus ein Taxi rufen, nur zur Sicherheit.

»Na komm schon, Muschi«, säuselte der Collegeboy. »Ich weiß, dass du mich mögen wirst.«

Noch drei Blocks …

Genau als sie vom Bürgersteig stieg, um die Tenth Street zu überqueren, packte er sie um die Taille. Ihre Füße lösten sich widerstrebend vom Boden und seine schwere Handfläche bedeckte ihren Mund, als er sie rückwärts zog. Sie wehrte sich wie eine Verrückte, trat und zappelte, dann verpasste sie ihm einen Schlag aufs Auge und sein Griff lockerte sich. Blitzschnell entwand sie sich seinem Arm und rannte los, ihre Sohlen schlugen hart aufs Pflaster, der Atem brannte ihr im Hals. Ein Auto fuhr auf der Trade Street vorbei, und sie schrie, als die Scheinwerfer aufblitzten.

Doch da hatte er sie schon wieder eingefangen.

»Du wirst noch darum betteln, du Schlampe«, raunte der Schwiegermuttertraum ihr ins Ohr, während er sie im Würgegriff hielt. Er riss an ihrem Genick, bis sie dachte, es würde brechen, und zog sie weiter in die Häuserschatten. Sie roch seinen Schweiß und sein Studenten-Aftershave, sie hörte das Gelächter seines Freundes.

Eine Seitenstraße. Sie zerrten sie in eine Seitenstraße.

Ihr Magen rebellierte, Galle stieg ihre Kehle hinauf. Wütend versuchte sie, frei zu kommen. Die Angst machte sie stark. Doch er war stärker.

Er schob sie hinter einen Müllcontainer und presste seinen Körper an ihren. Immer noch trat sie um sich, hieb den Ellbogen zwischen seine Rippen.

»Verflucht noch mal, halt ihre Arme fest!«

Sie erwischte den Blonden noch ordentlich mit dem Absatz am Schienbein, bevor er ihre Handgelenke zu fassen bekam und sie über ihrem Kopf festhielt.

»Komm schon, du Schlampe, das wird dir gefallen«, knurrte der Dunkelhaarige, während er versuchte, ihr ein Knie zwischen die Beine zu schieben.

Er drückte Beths Rücken gegen die Backsteinwand, mit der einen Hand hielt er sie am Hals fest. Mit der anderen riss er ihr das T-Shirt herunter; sobald ihr Mund wieder frei war, schrie sie laut auf. Brutal ohrfeigte er sie, sie konnte spüren, wie die Lippe aufplatzte. Das Blut lief ihr über die Zunge, der Schmerz machte sie benommen.

»Mach das noch mal, und ich schneide dir die Zunge raus.« Die Augen des Collegeboys funkelten vor Hass und Lust, als er ihren weißen Spitzen-BH hochschob und ihre Brüste entblößte. »Gute Idee eigentlich. Das mach ich auf jeden Fall.«

»Hey, sind die echt?«, fragte der Blonde, als erwarte er eine Antwort.

Sein Kumpel kniff in eine ihrer Brustwarzen und zog daran. Beth krümmte sich, Tränen verschleierten ihren Blick. Oder vielleicht schwanden ihr auch die Sinne, weil sie hyperventilierte.

Der Große lachte. »Ich glaube, an der ist alles echt. Aber das kannst du ja selbst rausfinden, wenn ich fertig bin.«

Als der Blonde hämisch kicherte, machte es irgendwo in den Tiefen ihres Gehirns Klick. Sie weigerte sich, das hier geschehen zu lassen. Mit aller Gewalt zwang sie sich, den Abwehrreflex zu unterdrücken, und erinnerte sich an ihren Selbstverteidigungskurs. Nur ihr Atem ging noch schwer, der Rest ihres Körpers wurde vollkommen reglos. Ihr Peiniger brauchte eine Minute, um es überhaupt zu bemerken.

»Willst du doch lieber mitspielen?« Er beäugte sie misstrauisch.

Sie nickte langsam.

»Sehr schön.« Er beugte sich so weit zu ihr, dass sie seinen Atem riechen konnte. Sie musste sich zwingen, bei dem Gestank nach Zigaretten und Bier nicht zurückzuzucken. »Aber wenn du noch ein Mal schreist, steche ich dich ab. Klar?«

Sie nickte wieder.

»Lass sie los.«

Der Blonde ließ ihre Handgelenke fallen und kicherte wieder. Dann trat er zurück, wohl um einen besseren Blickwinkel zu haben.

Die Hände des Schwiegermuttertraums fühlten sich auf ihrer Haut rau an, sie konnte den Schokoriegel nur durch reine Willenskraft bei sich behalten, so stark war der Würgereflex in ihrem Hals. Obwohl sie das Gefühl seiner Hände, die ihre Brüste kneteten, kaum ertragen konnte, tastete sie nach dem Reißverschluss seiner Hose. Immer noch hielt er sie am Hals fest, sie bekam kaum Luft, doch sobald sie sein Geschlecht berührte, stöhnte er auf und lockerte den Griff.

Sie legte die Hand um seine Eier. Dann drückte sie zu und drehte sie mit einem Ruck herum; als er vornüber sackte, rammte sie ihm das Knie gegen die Nase. Adrenalin schoss durch ihren Körper und für den Bruchteil einer Sekunde hoffte sie, sein Kumpel würde angreifen, anstatt sie nur dümmlich anzustarren.

»Ihr dreckigen Arschlöcher!«, brüllte sie.

Dann stürzte Beth aus der kleinen Straße. Im Laufen hielt sie ihr T-Shirt zusammen, und sie blieb erst stehen, als sie vor der Tür ihrer Wohnung stand. Ihre Hände zitterten so stark, dass sie kaum den Schlüssel ins Schloss bekam. Erst in ihrem Badezimmer vor dem Spiegel bemerkte sie die Tränen, die ihr über das Gesicht strömten.

 

Butch O’Neal hob den Kopf, als das Funkgerät am Armaturenbrett seines zivilen Dienstwagens loskrächzte. Opfer männlich, schwer verletzt, aber noch am Leben, in einer Nebenstraße ganz in der Nähe.

Butch sah auf die Uhr. Kurz nach zehn, der Spaß ging also gerade erst richtig los. Es war ein Freitagabend Anfang Juli, die Tölpel aus dem College hatten gerade erst Sommerferien bekommen und konnten es wieder mal kaum erwarten, sich an der Idioten-Olympiade zu beteiligen. Entweder war der Kerl überfallen worden oder jemand hatte ihm eine Lektion erteilt.

Butch hoffte, dass Letzteres der Fall wäre.

Er schnappte sich das Funkgerät und teilte der Zentrale mit, dass er den Fall übernehmen würde. Obwohl er eigentlich bei der Mordkommission und kein Streifenpolizist war. Im Moment arbeitete er an zwei Fällen, einer Wasserleiche aus dem Hudson River und einem Unfall mit Fahrerflucht, aber einer mehr oder weniger machte ihm nichts aus. Je weniger er zu Hause war, umso besser. Das schmutzige Geschirr im Spülbecken und die verknitterten Bettlaken würden ihn sicher nicht vermissen.

Er schaltete sein Blaulicht ein und dachte: Na, dann kann die Party ja losgehen.

2

Wrath verzog spöttisch die Mundwinkel, als die Menge im Screamer’s sich gegenseitig auf die Füße trat, um ihm Platz zu machen. Furcht und eine morbide, lustvolle Neugierde atmete aus den Poren der Anwesenden. Er sog den eigenwilligen Geruch genussvoll ein.

Vieh. Sie alle.

Hinter den dunklen Brillengläsern blickten seine Augen angestrengt durch das trübe Licht, und er schloss die Lider. Seine Augen waren so schlecht, dass er sich in absoluter Dunkelheit genauso sicher bewegte wie in dem fahlen Licht des Clubs. Nun nur noch auf seinen Gehörsinn konzentriert, bahnte er sich einen Weg durch die Bar, trennte im Geiste das Rascheln der Füße von den HipHop-Beats und den geflüsterten Worten, vom Geräusch eines zu Boden fallenden Glases. Wenn er gegen etwas stoßen würde, wäre es ihm allerdings auch egal. Ob Stuhl, Tisch, Mensch – er würde einfach über das verdammte Ding hinüber laufen.

Darius erkannte er schlicht und einfach daran, dass er der Einzige im ganzen Raum war, der nicht nach Panik stank.

Wenn auch heute Nacht selbst der Krieger angespannt war.

Wrath öffnete die Augen, als er vor dem anderen Vampir stand. Darius war ein verschwommener Umriss, sein dunkles Gesicht und die schwarzen Klamotten waren die einzige Information, mit der Wraths Gehirn ihn versorgte.

»Wo ist Tohrment?«, fragte er, als er einen Hauch von Scotch aufschnappte.

»Frische Luft schnappen. Danke, dass du gekommen bist.«

Wrath ließ sich auf einem Stuhl nieder. Er blickte starr geradeaus und beobachtete, wie die Menge nach und nach den Durchgang wieder schloss, den sie vorher für ihn gebildet hatte.

Er wartete.

Der harte Beat von Ludacris ging in die frühen Cypress Hill über.

Das hier würde interessant werden. Darius war ein Typ, der normalerweise schnell zur Sache kam, und der wusste, dass Wrath es hasste, wenn ihm jemand die Zeit stahl. Wenn er schwieg, bedeutete das etwas Ernstes.

Darius trank sein Bier in einem Zug aus, dann stieß er vernehmlich die Luft aus. »Herr – «

»Wenn du etwas von mir willst, fang lieber nicht so an«, unterbrach ihn Wrath seelenruhig. Er spürte, dass sich eine Kellnerin näherte. Eine Ahnung von großen Brüsten und ein Streifen nacktes Fleisch zwischen dem engen Shirt und dem kurzen Rock streifte ihn.

»Darf’s was zu trinken sein?«, fragte sie einladend.

Er war kurz in Versuchung, sie auf den Tisch zu legen und sich über ihre Halsschlagader herzumachen. Menschliches Blut hielt bei ihm zwar nicht besonders lange vor, aber es schmeckte verflucht noch mal besser als verdünnter Alkohol.

»Im Moment nicht«, sagte er. Sein schmales Lächeln machte sie gleichzeitig nervös und sandte ihr einen lustvollen Schauer über den Körper. Er atmete ihren Duft tief ein.

Kein Interesse, dachte er.

Die Kellnerin nickte, rührte sich aber nicht vom Fleck. Immer noch starrte sie ihn unverwandt an, das kurze blonde Haar leuchtete in der Dunkelheit wie ein Halo um ihr Gesicht. Wie gebannt schien sie nicht nur ihren Job, sondern auch ihren eigenen Namen vergessen zu haben.

Wie unglaublich nervig.

Darius verlagerte ungeduldig sein Gewicht auf dem Stuhl.

»Das wär’s dann«, murmelte er. »Wir sind wunschlos glücklich.«

Als sie sich in die Menge zurückzog, hörte Wrath wie Darius sich räusperte. »Danke, dass du gekommen bist.«

»Das hast du schon gesagt.«

»Klar. Richtig. Also, du und ich, wir kennen uns schon eine ganze Weile.«

»Stimmt.«

»Wir haben ein paar verdammt gute Kämpfe zusammen ausgetragen. Eine ganze Menge Lesser ausgeschaltet.«

Wrath nickte. Die Bruderschaft der Black Dagger beschützte ihre Rasse seit Generationen vor der Gesellschaft der Lesser. Darius. Tohrment. Die vier anderen. Gegenüber den Lessern – seelenlosen Menschen, die einem bösartigen Meister namens Omega dienten – waren die Brüder deutlich in der Unterzahl. Doch Wrath und seine Krieger schafften es, sich dennoch zu behaupten.

Und weit mehr als das.

Darius räusperte sich erneut. »Nach all den Jahren – «

»D, fass dich kurz. Marissa muss heute Nacht noch etwas erledigen.«

»Willst du wieder dein Zimmer bei mir benutzen? Du weißt, dass ich sonst niemanden da reinlasse.« Darius lachte verlegen. »Ihrem Bruder wäre es bestimmt lieber, wenn du nicht bei ihm auftauchst.«

Wrath verschränkte die Arme vor der Brust und schob den Tisch mit seinem Stiefel etwas weg, um sich mehr Platz zu verschaffen.

Es war ihm scheißegal, ob Marissas Bruder irgendwelche Abneigungen pflegte oder Wraths Art zu leben ablehnte. Havers war ein Snob und ein vollkommen unfähiger Dilettant. Er kapierte einfach nicht, was für Feinde ihre Rasse hatte, und was es bedeutete, die Vampire gegen sie zu verteidigen.

Und nur, weil es diesem Jüngelchen nicht passte, würde Wrath ganz bestimmt nicht tatenlos zusehen, wie Zivilisten abgeschlachtet wurden. Er gehörte aufs Schlachtfeld, zu seinen Kriegern, nicht auf irgendeinen albernen Thron. Havers Ansichten dazu interessierten ihn nicht.

Trotzdem sollte Marissa sich nicht mit den arroganten Anwandlungen ihres Bruders herumschlagen müssen.

»Vielleicht komme ich auf dein Angebot zurück.«

»Gut.«

»Und jetzt spuck’s aus.«

»Ich habe eine Tochter.«

Wrath drehte langsam den Kopf. »Seit wann?«

»Schon eine ganze Weile.«

»Wer ist die Mutter?«

»Kennst du nicht. Und sie … sie ist tot.«

Darius’ Kummer umwölkte ihn, der beißende Geruch von altem Schmerz schnitt durch den Odeur von menschlichem Schweiß, Alkohol und Sex um sie herum.

»Wie alt ist sie?«, wollte Wrath wissen. Er hatte so eine Ahnung, wohin das Gespräch führen würde.

»Fünfundzwanzig.«

Wrath fluchte unterdrückt. »Frag nicht, Darius. Bitte mich nicht darum.«

»Ich muss. Herr, dein Blut ist – «

»Wenn du mich noch einmal so nennst, sorge ich dafür, dass du an dem Wort erstickst.«

»Du verstehst nicht, sie ist – «

Wrath stand langsam auf. Darius’ Hand legte sich auf seinen Unterarm und wurde sofort wieder entfernt.

»Sie ist ein halber Mensch.«

»Herrgott – «

»Deshalb wird sie die Transition vielleicht nicht überleben, wenn es soweit kommen sollte. Aber wenn du ihr hilfst, hat sie eine Chance. Dein Blut ist so stark, dass es ihr durch die Wandlung helfen kann, obwohl sie ein Mischling ist. Ich bitte dich ja gar nicht, sie als Shellan zu nehmen. Oder sie zu beschützen. Das kann ich selbst. Ich versuche doch nur … Bitte. Meine Söhne sind tot. Sie ist vielleicht alles, was eines Tages von mir bleibt. Und ich … Ich habe ihre Mutter geliebt.«

Jedem anderen hätte Wrath daraufhin seine beiden Lieblingsworte entgegengeschleudert: Leck und mich. Soweit es ihn betraf, gab es nur zwei akzeptable Positionen für Menschen. Eine Frau: auf dem Rücken. Ein Mann: mit dem Gesicht nach unten und ohne Herzschlag.

Doch Darius war beinahe ein Freund. Beziehungsweise hätte er einer sein können, wenn Wrath ihn nah genug an sich heran gelassen hätte.

Er schloss die Augen. Hass spülte durch seinen Körper, floss in seiner Brust zusammen. Er verachtete sich selbst dafür, dass er einfach aufstand und ging, doch er war nun mal nicht der Typ Mann, der einem armen Mischlingskind durch eine so schmerzhafte und gefährliche Zeit helfen konnte. Milde und Barmherzigkeit lagen einfach nicht in seinem Wesen.

»Ich kann das nicht tun. Nicht einmal für dich.«

Darius’ Kummer und Enttäuschung trafen ihn frontal, Wrath geriet buchstäblich ins Schwanken unter der Wucht der Emotionen. Er drückte die Schulter des anderen Vampirs.

»Wenn du sie wirklich liebst, tu ihr einen Gefallen. Frag einen anderen.«

Wrath drehte sich um und verließ steif den Club. Auf dem Weg zur Tür löschte er die Erinnerung an sich von der Großhirnrinde jedes der anwesenden Menschen. Die Starken würden glauben, sie hätten nur von ihm geträumt. Die Schwachen würden sich überhaupt nicht an ihn erinnern.

Draußen auf der Straße suchte er sich eine dunkle Ecke, in der er sich dematerialisieren konnte. Er kam an einer Frau vorbei, die im Schatten eines Gebäudes einem Kerl einen blies; an einem Penner, der sich ins Koma gesoffen hatte; an einem Drogendealer, der sich per Handy über den aktuellen Crackpreis stritt.

Sofort spürte er, dass ihm jemand folgte. Und wer das war. Der süßliche Geruch von Talkum war untrüglich.

Wrath lächelte breit, öffnete seine Lederjacke und nahm einen seiner Hira-Shuriken heraus. Der Wurfstern aus Edelstahl lag gut in der Hand. 100 Gramm Tod warteten nur darauf, auf die Reise geschickt zu werden.

Wrath änderte sein Schritttempo nicht, obwohl er am liebsten in den Schatten gerannt wäre. Zur Hölle, nach der Absage an Darius lechzte er nach einem Kampf, und dieser verfluchte Lesser da hinter ihm kam ihm wie gerufen.

Diesen seelenlosen Menschen zu töten, war genau das Richtige, um wieder auf den Boden zu kommen.

Während er den Lesser tiefer in die Dunkelheit lockte, bereitete sich Wraths Körper auf den Kampf vor; sein Herz schlug gleichmäßig, die Muskeln in Armen und Oberschenkeln zuckten erwartungsvoll. Seine Ohren nahmen das Geräusch eines gespannten Abzugshahns auf, und er triangulierte das Ziel der Waffe. Sie zeigte genau auf seinen Hinterkopf.

In einer einzigen fließenden Bewegung wirbelte er in genau dem Augenblick herum, als die Kugel sich explosionsartig aus der Mündung löste. Er duckte sich und warf den Stern; silbern blitzte der Shuriken auf und beschrieb einen tödlichen Bogen. Das Geschoss traf den Lesser genau am Hals und schlitzte ihm die Kehle auf, bevor es seine Reise in die Dunkelheit fortsetzte. Die Pistole des Angreifers fiel zu Boden und rutschte scheppernd über den Asphalt.

Fassungslos griff sich der Lesser an die Kehle und fiel auf die Knie.

Wrath trat seelenruhig an ihn heran und durchwühlte seine Taschen. Brieftasche und Handy nahm er an sich und steckte sie in seine Jacke.

Und dann zog er einen langen Dolch mit schwarzer Klinge aus seinem Brusthalfter. Er war enttäuscht, dass der Kampf nicht länger gedauert hatte, doch dem dunklen, lockigen Haar und relativ ungeschickten Angriff nach zu urteilen, war dieser Lesser ein neuer Rekrut. Mit einer schnellen Bewegung warf er den Lesser auf den Rücken, der Dolch wirbelte hoch in die Luft und landete genau mit dem Schaft in seiner Handfläche. Tief stieß er die Klinge in das Fleisch der Brust, durchschnitt den Knochen und fand das schwarze Loch, an dessen Stelle einst das Herz gewesen war.

Mit einem erstickten Geräusch löste sich der Lesser in einem Lichtblitz in nichts auf.

Wrath wischte den Dolch an seiner Lederhose ab, steckte ihn wieder an seinen Platz und stand auf. Er sah sich um. Und dann dematerialisierte er sich.

 

Darius trank noch ein drittes Bier. Einige HipHop-Schönheiten kamen vorbei und wollten seine düsteren Gedanken vertreiben, doch er schlug ihre Einladungen aus.

Dann verließ er die Bar und ging zu seinem BMW 650i, der in einer dunklen Nebenstraße hinter dem Screamer’s im Parkverbot stand. Wie jeder Vampir konnte er sich jederzeit dematerialisieren und damit große Distanzen überbrücken, doch das war gar nicht so einfach, wenn man etwas Schweres mit sich herumtrug. Und die meisten von ihnen lösten sich nicht gern in der Öffentlichkeit augenscheinlich in Luft auf.

Außerdem war ein schickes Auto zweifellos ein schöner Anblick.

Darius stieg in den BMW und zog die Autotür zu. Aus dem Himmel fielen die ersten, dicken Regentropfen auf die Windschutzscheibe.

Eventuell gab es noch eine andere Möglichkeit. Das Gespräch über Marissas Bruder hatte ihn auf eine Idee gebracht. Havers war Arzt, ein hingebungsvoller Heiler unter den Vampiren. Vielleicht konnte er ihm helfen. Einen Versuch war es sicher wert.

Von seinen Überlegungen abgelenkt, steckte Darius den Zündschlüssel ins Schloss und drehte ihn herum. Der Anlasser stotterte. Noch einmal drehte er den Schlüssel, und plötzlich hatte er eine schreckliche Vorahnung, als er ein rhythmisches Klicken hörte.

Die Bombe, die am Fahrgestell des Autos befestigt und mit der Elektrik verkabelt worden war, ging hoch.

Sein letzter Gedanke, als er durch eine Explosion weißer Glut eingeäschert wurde, galt der Tochter, die ihn nie kennen gelernt hatte. Und es nun auch nie würde.