Über Martina Andrè

Martina Andrè lebt mit ihrer Familie in Koblenz. Bisher sind als Aufbau Taschenbuch erschienen: »Die Gegenpäpstin« und »Das Rätsel der Templer«. Im Verlag Rütten & Loening veröffentlichte sie zuletzt: »Die Teufelshure«. Alle Bücher sind auch als E-Book erhältlich.

Informationen zum Buch

Der Templer Gero und seine gefährlichste Mission

Hannah Schreyber hat den ehemaliger Templer Gero von Breydenbach geheiratet, den es mittels eines Timeservers aus dem Jahr 1307 in die Gegenwart verschlagen hat. Doch den beiden ist keine Ruhe gegönnt. Wissenschaftler finden heraus, dass die beiden ehemaligen Besitzerinnen des Servers im 12. Jahrhundert in Jerusalem festsitzen. Und dass es Hinweise gibt, dass die Vereinigten Staaten und Europa vor dem Untergang stehen. Gero und seine Templer sollen durch die Zeit reisen, um die jungen Frauen zu retten – und herausfinden, wie man die Apokalypse verhindern kann. Ein Himmelfahrtskommando beginnt ...

Eine rasante Zeitreise – eine hochspannende Templergeschichte.

Mit einer kleinen Templerkunde

ABONNIEREN SIE DEN
NEWSLETTER
DER AUFBAU VERLAGE

Einmal im Monat informieren wir Sie über

Folgen Sie uns auf Facebook, um stets aktuelle Informationen über uns und unsere Autoren zu erhalten:

https://www.facebook.com/aufbau.verlag

Registrieren Sie sich jetzt unter:

http://www.aufbau-verlag.de/newsletter

Unter allen Neu-Anmeldungen verlosen wir

jeden Monat ein Novitäten-Buchpaket!

Martina André

Die Rückkehr der Templer

Roman

Inhaltsübersicht

Über Martina Andrè

Informationen zum Buch

Newsletter

Prolog – Der Kelch von Askalon

Kapitel 1 – Ein letzter Versuch

Kapitel 2 – Assassinen

Kapitel 3 – Khaled

Kapitel 4 – Der Plan

Kapitel 5 – Davidspalast

Kapitel 6 – Die Templer

Kapitel 7 – Kreuzzüge

Kapitel 8 – André de Montbard

Kapitel 9 – Der Fürst der Zeit

Kapitel 10 – Mit Blut bedeckt

Kapitel 11 – Sprung ins Ungewisse

Kapitel 12 – Die unheilige Stadt

Kapitel 13 – Unselige Allianzen

Kapitel 14 – Falsche Versprechungen

Kapitel 15 – Heiliges Land

Kapitel 16 – Und führe mich nicht in Versuchung …

Kapitel 17 – Rattenjagd

Kapitel 18 – Vertrauenssache

Kapitel 19 – Kriegsopfer

Kapitel 20 – Im Namen des Herrn

Kapitel 21 – Unter Wölfen

Kapitel 22 – Totenklage

Kapitel 23 – Die Zehn Gebote

Kapitel 24 – Im Tal der Unendlichkeit

Epilog

Danksagung und Nachwort:

Personenverzeichnis der wichtigsten handelnden Personen:

Die Geschichte zwischen den Zeilen

Anmerkungen

Impressum

Prolog
Der Kelch von Askalon

Erkenne, was dir vor Augen liegt, und was dir verborgen war, das enthüllt sich dir! Denn nichts ist verdeckt, das nicht entdeckt würde, und nichts liegt begraben, das nicht erweckt würde.

(Thomasevangelium, 5)

Juni 2005 – Frankreich – Champagne – Lac d’Orient

Beinahe lautlos schnellten die drei Schlauchboote der amerikanischen Streitkräfte in der hereinbrechenden Dämmerung über den spiegelglatten Lac d’Orient.

Den Badestrand und die Hafenanlage für Segelboote hatten sie längst hinter sich gelassen, als sie wie Nachtreiher auf Beutezug in das menschenleere Vogelschutzreservat vorstießen. Kühle Nebelschwaden waberten über der Wasseroberfläche, die Luft war durchzogen mit dem Geruch von Fisch und Moder. Nach Einbruch der Dunkelheit hallten nur noch die Schreie der Käuzchen über die glatte Oberfläche des Sees. Vereinzelte Bäume, die an den unmöglichsten Stellen aus dem Wasser ragten, ließen erahnen, dass an diesem Ort – weit vor der Überflutung im Jahre 1966 – ein von Teichen und Tümpeln durchsetztes Waldgebiet existiert hatte.

Den wenigsten Touristen war bekannt, dass diese Gegend im Mittelalter unter dem Namen »Forêt d’Orient« dem Orden der Templer gehört und als todbringendes Versteck deren Schätze bewahrt hatte. Und als ob eine unsichtbare Magie diesen Ort belegte, war es auch in der Gegenwart nicht erlaubt, in diesem Abschnitt zu schwimmen, zu fischen, und erst recht nicht, die ungestörte Natur mit einem Motorboot zu entweihen.

Es sei denn, man besaß – wie die Spezialtaucher des US-Marines-Corps, die sich nun mit einem Team von wissenschaftlichen Mitarbeitern der National Security Agency, kurz NSA, einer bestimmten Stelle des Sees näherten – eine Ausnahmegenehmigung der allerhöchsten Regierungskreise.

Die Top-Secret-Angelegenheit war als routinemäßige Nato-Übung eingestuft worden, mit dem Makel, dass man noch nicht einmal die Franzosen selbst in die genauen Abläufe der Operation »Seeungeheuer« eingeweiht hatte, geschweige denn andere Nationen hinzugezogen hätte. Offiziell hieß es, man suche nach einem verschollenen Flugzeugwrack, einem amerikanischen Kampfflieger, der im Zweiten Weltkrieg in dieser Gegend von den Deutschen abgeschossen worden war. Und nun habe man einen Hinweis auf den möglichen Verbleib der Leiche des Piloten bekommen. Als Hintergrund musste irgendeine heroische Geschichte herhalten – mit dem Tenor: Amerika bringt seine Soldaten nach Hause, ganz gleich, wie lange sie in welchem Teil der Erde vor sich hin gemodert hatten.

Der Oberbefehlshaber der französischen Streitkräfte, der im Verteidigungsministerium in Paris für die Genehmigung dieser nach außen hin unspektakulären Aktion gegengezeichnet hatte, handelte auf Geheiß seines zuständigen Ministers – und wie in französischen Hierarchien üblich hatte er dessen Befehl nicht hinterfragt.

Die Entscheidung seines Chefs, den Amerikanern in dieser Sache entgegenzukommen, war anlässlich einer Abendeinladung des amerikanischen Präsidenten gefallen, der zu einem kleinen, aber feinen Dinner in der amerikanischen Botschaft in Paris geladen hatte. Ein bekannter französischer Sternekoch hatte die wichtigsten Vertreter des Landes mit ausgesuchten Köstlichkeiten verwöhnt und mit einem 1982er Château Mouton Rothschild 1er Grand Cru Classé Bordeaux, à 1200 Euro die Flasche, dafür gesorgt, dass eine gedeihliche Gesprächsatmosphäre keine lästigen Fragen aufkommen ließ.

In den Tagen danach hatten Schlauchboote mit technischen Spezialisten an Bord – als Ornithologen getarnt – und entsprechendem elektronischem Gerät den Untergrund des relativ flachen Sees vermessen und tatsächlich einen Hohlraum in etwa vier Meter Tiefe, dicht unter dem Schlick ausmachen können. Dessen seitliche Öffnung – ein uraltes Steinportal – schien noch intakt zu sein, und das Sonar ortete mehrere metallische Gegenstände, die jeder Unwissende ohne Argwohn als Kriegsschrott oder Hausmüll der fünfziger Jahre identifiziert hätte.

Unbemerkt hatte man Hebewerkzeug und Absauggerät unter die Wasseroberfläche transportieren lassen und bei ersten Bohrungen tatsächlich ein Labyrinth entdeckt, dessen unterirdische Gänge sich noch ein ganzes Stück unter dem See fortsetzten.

»Dort unten müsste es sein«, bemerkte ein hochbetagter Mann, als die Motoren plötzlich stoppten. Professor Moshe Hertzberg, weltweit anerkannter Historiker und Leiter dieser Untersuchung, trug einen Trenchcoat und einen breitkrempigen Hut, den er die ganze Zeit wegen des Fahrtwindes hatte festhalten müssen. Er saß im hinteren Teil des Bootes und vermittelte den Eindruck, als habe man ihn gegen seinen Willen aus einem Altersheim entführt. Bei näherer Betrachtung jedoch wirkten seine Bewegungen und die Art, wie er sich äußerte, verblüffend jugendlich und agil. Mit der freien Hand hielt er seinem beleibten Nachbarn einen Laptop unter die Nase. Der hochdekorierte Endfünfziger im eng anliegenden Militäroverall, dessen Namensschild ihn als »General Alexander Lafour« auswies, wirkte unbeeindruckt.

»Glauben Sie wirklich, Professor«, wandte der General mit Blick auf die detaillierte Karte des Gebietes um das Jahr 1307 ein, »von all dem Tand ist noch etwas übrig geblieben?«

»Die gesamte Gegend befand sich bis zu jenem verhängnisvollen 13. Oktober 1307 im streng gehüteten Besitz des Templerordens. Nur jemand, der zum inneren Kreis des Ordens gehörte, war in der Lage, in diese Wildnis einzudringen.« Hertzbergs Stimme verriet die unterdrückte Verzückung, die er bei dem Gedanken empfand, zumindest gedanklich in die damalige Geschichte zurückreisen zu dürfen. »Habe ich recht?« Wie um sich zu vergewissern, dass er nichts Falsches sagte, durchdrang sein immer noch geschärfter Blick die Dämmerung und suchte im Lichtkegel einer LED-Leuchte die Zustimmung jener beiden Männer, die es ganz genau wissen mussten.

So unglaublich es klang: Seine beiden verwegen aussehenden Begleiter, die lässig auf dem Bootsrand saßen, waren selbst dabei gewesen, als der Wald im beginnenden 14. Jahrhundert mit seinem undurchdringlichen Dickicht und den gefährlichen Sümpfen jedem Normalsterblichen eine solch höllische Angst eingejagt hatte, dass niemand im Traum daran gedacht hätte, ihn ohne ortskundigen Führer zu durchqueren. Seinerzeit war es nur versierten Fährtensuchern der Templer möglich gewesen, jene trittsicheren Pfade zwischen den todbringenden Sümpfen zu finden.

Einer von ihnen, Gero von Breydenbach, ehemaliger Ordensritter der Templer und Teilnehmer jenes Geleitzuges, der vor knapp siebenhundert Jahren an dieser Stelle den gesamten Besitz der umliegenden Templerkomtureien verborgen hatte, bereitete sich unter Anleitung eines der anwesenden US Marines auf den Tauchgang vor. Niemand sah dem blonden, achtundzwanzigjährigen Hünen mit den auffallend hellblauen Augen an, dass er vor mehr als siebenhundert Jahren im Turmzimmer einer deutschen Lehensburg das Licht der Welt erblickt hatte. Die Geschichte, wie es dazu gekommen war, dass er sich nun – im Juli des Jahres 2005 – gegen seinen Willen in einen hypermodernen Taucheranzug zwängen musste, hätte mühelos jede andere Schlagzeile in der New York Times hinwegfegen können. Doch die Fakten, die dahintersteckten, klangen erstens zu verrückt, um sie einem größeren Publikum als Wahrheit verkaufen zu können, und zweitens zählten sie zu den größten Geheimnissen, die die amerikanische Regierung je gehütet hatte.

Gero von Breydenbach wirkte trotz dieser unglaublichen Tatsache erstaunlich gelassen. Niemand konnte dem dunkelblonden Templer ansehen, dass er sich innerlich verfluchte, weil er den Amis, wie er seine Gastgeber in Gedanken abfällig titulierte, überhaupt einen Hinweis auf dieses Versteck gegeben hatte. Insgeheim hatte er gehofft, dass an dieser Stelle nichts mehr zu finden war oder – falls ihre Peiniger doch etwas fanden – sie sich endlich zufriedengaben und aufhörten, ihn und seine vier Ordensbrüder, die mit ihm in dieser verabscheuungswürdigen Zeit gelandet waren, mit unzähligen weiteren Fragen und endlos erscheinenden Tests zu foltern. Ihn interessierte vor allem die Freiheit, die man ihm und seinen Kameraden bei ihrer unfreiwilligen Ankunft im Herbst 2004 so scheinheilig versprochen hatte. Doch die Wahrheit sah anders aus. Hertzberg und seine Leute hielten sie wie Gefangene, auch wenn das Verlies, in das man sie fortwährend sperrte, verglichen mit früheren Zeiten recht luxuriös war.

Ein Blick auf die dunkle Oberfläche des Sees ließ den ehemaligen Templer ein weiteres Mal erahnen, auf was für einen Wahnsinn er sich hier eingelassen hatte. Das Vorhaben, dort mit solch umständlichem Gerät hinabzutauchen, erschien ihm wie ein Höllenritt. Leider wusste nur er, wie das Labyrinth beschaffen war und wo sich der Schatz vor Hunderten von Jahren befunden hatte. Mit dem nicht unerheblichen Unterschied, dass er damals die engen Gänge zu Fuß bewältigt hatte.

Ein letztes Mal überprüfte sein Tauchlehrer die Atemmasken und gab ihm ein Zeichen. Johan van Elk, sein Freund und Kamerad, zwinkerte ihm aufmunternd zu. Er hatte gut lachen, ihn hatte man nicht auserkoren, den Fisch im Wasser zu spielen. Sein flämischer Bruder würde im Boot auf ihn warten und ein paar Ave-Maria beten, dass er heil vom Grund des Sees zurückkehrte. Todesmutig ließ Gero sich zusammen mit den fünf Agenten der National Security Agency ins nachtschwarze Wasser gleiten. Dann wurde es still.

Der Taucher vor ihm leuchtete den Weg in die Tiefe mit einer Stablampe aus. Schlingpflanzen, Schwebepartikel und aufgescheuchte Fische zogen an Gero vorbei, während er sich darauf konzentrierte, ausreichend Luft in die Lungen zu bekommen. Obwohl er längst wusste, dass nicht Gott ihm die Gabe verlieh, sondern eine moderne Maschine und ein Mundstück, dessen Schlauch zu einem Tank gefüllt mit Sauerstoff auf den Rücken führte, erschien es ihm immer noch wie ein Wunder. Die Geräusche, die er dabei verursachte, erinnerten ihn an einen ledernen Blasebalg zum Anheizen von Holzkohle. Bei jedem Atemzug entwichen unzählige Wasserbläschen, was ihn weit mehr faszinierte als die übrigen Taucher, die ihn wie einen Schutzbefohlenen in ihre Mitte genommen hatten.

Plötzlich bedeutete ihm Agent Jack Tanner, der all ihre Einsätze leitete, dass er an die Spitze des Trupps in ein rechteckiges Loch von einem Quadratmeter Größe tauchen sollte. Wie selbstverständlich drückte Tanner ihm eine dieser modernen Lampen in die Hand.

Die steinerne Einrahmung, die ein Voraustrupp von Schutt und Geröll befreit hatte, war von Fadenalgen bewuchert. Die Furcht, die Gero empfand, als er als Erster hindurchschlüpfte, erinnerte ihn an den Steinmetz des Tempels, der ihn vor siebenhundert Jahren nicht weniger beharrlich dazu aufgefordert hatte, Säcke und Kisten der umliegenden Komtureien von Bar-sur-Aube in das enge, unterirdische Versteck zu tragen.

Geschickt glitt Gero durch die verschlammten Stollen. Dabei versuchte er sich zu konzentrieren, um die Orientierung nicht zu verlieren und vor allem das Atmen nicht zu vergessen. Ein Wink nach links führte die nachfolgende Truppe in eine ehemals mannshohe Vorkammer, die nun so sehr mit Schlamm angefüllt war, dass man noch nicht einmal darin knien konnte.

Drei Männer fanden nebeneinander in der Kammer Platz, die anderen mussten draußen im Stollen bleiben. Im trüben Schein des Lichtkegels hielten sie das Equipment für den Schlammsauger bereit, der oberhalb der Wasseroberfläche per Funk eingeschaltet wurde. Vorsichtig befreiten die Männer um Gero den Grund von jahrhundertealten Ablagerungen. Währenddessen schnitten Gero die abgehackten Stimmen des Funkverkehrs ins Ohr und bezeugten, dass man an der Wasseroberfläche bereits auf erste Ergebnisse wartete. Zu seinem eigenen Erstaunen kamen nach und nach tatsächlich goldglänzende Artefakte zutage. Kreuze, Madonnenfiguren, kostbare Reliquienschreine, übersät mit matt leuchtenden Edelsteinen, deren noch viel kostbarer erscheinender Inhalt aus uralten, geweihten Überresten in Form von Knochen, Haaren und Zähnen angeblicher Heiliger Wasser und Schlamm nicht überdauert hatte. Zudem fand sich eine stattliche Sammlung von Messkelchen.

Die Anspannung unter den Männern schlug in Begeisterung um. Gierig rafften sie alles in ihre mitgeführten Netze, geradeso, als würden sie Pferdeäpfel einsammeln und keine unermesslichen Schätze. Gero beobachtete stumm, wie sie ihre Beute respektlos zusammenbanden. Er verspürte Erleichterung, als Tanner in den Gang deutete und Gero mit einem Nicken aufforderte, allen den Weg nach draußen zu zeigen. Mit einem flauen Gefühl im Magen tauchte er durch die von Einsturz gefährdeten Stollen. Nicht etwa, weil er Angst hatte, am Ende verschüttet zu werden. Vielmehr war es ein harter, unnachgiebiger Schmerz, der ihn immer durchzuckte, wenn ihn etwas an sein früheres Leben erinnerte und ihm aufzeigte, dass diese Zeit auf immer vergangen war. Der Anblick der Burgruine seines Elternhauses oder der verfallenen Abtei von Heisterbach hatten ihn zu Tränen gerührt, weil er das stolze Gebäude noch kannte, als es in mächtiger Größe erstrahlt war. Obwohl das Gefühl von Heimweh seine Brust zu sprengen drohte und eine tiefe Sehnsucht in ihm weckte, eines Tages vielleicht doch wieder nach Hause zurückkehren zu können, würde er mit niemandem darüber sprechen, selbst nicht mit Hannah, die aus der jetzigen Zeit stammte und die er über alles liebte, denn auch sie konnte nichts daran ändern, dass die Verantwortlichen des Center of Accelerated Particles in Universe and Time – kurz C.A.P.U. T. – nicht bereit waren, ihn und seine Gefährten dorthin zurückkehren zu lassen, wo sie hergekommen waren.

Kaum dass sie die Netze mit den Kelchen und Reliquien ins Boot gehievt hatten, inspizierte Hertzberg die heraufgebrachten Gegenstände mit zitternden Fingern. Nicht die Kälte war schuld oder sein nahezu biblisches Alter – vielmehr war es die pure Erregung eines Wissenschaftlers, der etwas ganz Großem auf der Spur zu sein schien. Johan, der als Geros Kampfgenosse und Freund seiner Rückkehr entgegengefiebert hatte, blickte irritiert auf die unglaubliche Menge an Gold und Edelsteinen. Obwohl auch er vor siebenhundert Jahren dabei gewesen war, als man die Schätze in Kisten und Säcken verpackt hierhergebracht hatte, hätte er nicht gedacht, dass sie die lange Zeit nahezu unbeschadet überstanden hatten.

Johan, der wie Gero vor acht Monaten mit einem aufgefundenen Timeserver aus einer noch entfernteren Zukunft in diese Welt transferiert worden war, beobachtete das Treiben des Alten, während der General seinen Männern in den Nachbarbooten eilige Befehle zurief und dabei das Boot gefährlich ins Schwanken brachte.

Das stark vernarbte Gesicht des rothaarigen Ritters, das von einer Verbrennung mit flüssigem Pech herrührte, zeigte im Schein des künstlichen Lichts kaum eine Regung. Dabei interessierte ihn weit weniger die Hektik des Generals als vielmehr die Gier in Hertzbergs braunen Augen. Johan warf seinem deutschen Kameraden einen schrägen Blick zu. Gero fing die Anklage darin auf, nachdem er sich, von seiner Tauchmaske befreit, neben Johan auf den Rand des Schlauchbootes gesetzt hatte. Der Sohn eines flämischen Grafen hatte die ganze Aktion von Beginn an missbilligt. In seinen Augen war Geros Verhalten Verrat. Ganz gleich, wie lange die Besitztümer des Ordens dort unten gelegen hatten, sie gehörten den Templern, und niemand sonst war berechtigt, sich an ihnen zu vergreifen. Diese Ansicht hatte Johan ihm unmissverständlich klargemacht, noch bevor Gero der Einsatz befohlen worden war. Aber auch er sah ein, dass sie weder mit ihrer Lebenserfahrung noch mit ihrer Kampfkraft etwas dagegen hatten ausrichten können. Wohlwollen und Entgegenkommen waren im Moment das Einzige, das ihnen blieb, um darauf zu hoffen, dass Hertzberg und seine Leute endlich ihr Versprechen einlösten und ihnen irgendwo, fernab von jedem wissenschaftlichen Labor, ein freies Leben ermöglichten.

Der General hatte unterdessen befohlen, den Motor anzuwerfen, um so schnell wie möglich zum Ufer zurückzukehren.

Hertzberg konnte es nicht abwarten, an den malerischen Sandstrand zu gelangen, der silbern im Mondlicht schimmerte. Während das Boot beinahe lautlos über die Wasseroberfläche glitt, spülte er einen der vielen Kelche mit Seewasser und betrachtete ihn eingehend im Lichtkegel seiner Forschungsleuchte.

Nach einem Moment des Innehaltens hielt er Gero den Kelch hin und sah ihn auffordernd an. »Hast du eine Ahnung, was das da am Boden bedeuten könnte?«

Gero löste eine Hand von den Stricken, die den Rand des Bootes umgaben und an denen er sich während der Fahrt festhielt. Zögernd nahm er das uralte Artefakt in die Hand, immer noch von Ehrfurcht erfüllt, und schaute hinein.

Am Grund des Kelches schimmerte ein in Gold eingefasster, grünlicher Stein, der von eingravierten, rätselhaften Ornamenten umgeben war.

Plötzlich schwindelte ihn. Hatte er zunächst noch geglaubt, das schwankende Boot trage die Schuld, so musste er bei langsam werdender Fahrt erkennen, dass anscheinend eine höhere Macht von seinem Bewusstsein Besitz ergriff, was ihn offensichtlich in die Lage versetzte, in den willkürlich aufleuchtenden Ornamenten einen Sinn zu erkennen. Bei intensiver Betrachtung formierten sie sich zu einem dreidimensionalen Bild, das frei im Raum stehende griechische Buchstaben sichtbar machte, die eine Inschrift verrieten: »Siehe, dies ist der Kelch Jehudas«, stand dort geschrieben, »finde die Steintafeln des Moses – und die Welt wird Deinen Gesetzen folgen.«

Plötzlich erschienen am Grund des Kelches eine felsige Wüstenlandschaft mit hohen Bergen und ein Kloster auf einem Hügel. Es war heiß, und der Wind fegte den Sand durch die ausgedörrten Schluchten. Gero sah eine Höhle mit seltsamen, eingemeißelten Zeichen und einen schwarz gekleideten Mönch, der ihn am Eingang freundlich empfing. Er folgte dem Mann hin zu einem gewaltigen Licht, das alles an Helligkeit übertraf, was er je zu Gesicht bekommen hatte.

»Hast du etwas gefunden, das von Bedeutung sein könnte?« Hertzbergs krächzende Stimme riss Gero aus seiner Vision. Seine strikte Erziehung zum Krieger verhinderte, dass Hertzberg seine Verblüffung bemerkte. Selbst Johan, der direkt neben ihm saß und auch in den Becher geschaut hatte, schöpfte offenbar keinen Verdacht.

»Darf ich mal sehen?«

Widerwillig gab Gero den Kelch aus der Hand.

Hertzberg betrachtete den Stein am Grunde des Kelchs mit wachsendem Interesse, jedoch ohne abwesend zu wirken. Anscheinend hatte der Kelch auf ihn nicht dieselbe Wirkung wie auf Gero. »Es könnte ein Sphen sein, soweit ich weiß, nennt man ihn auch Stein der Weisheit«, sinnierte er nachdenklich. »Was gewissermaßen zu unserem Timeserver passen würde.« Er lächelte flüchtig, runzelte dann jedoch wieder die Stirn. »Aber soweit ich weiß, wurde das Mineral erst vor rund dreihundert Jahren entdeckt. Was glaubst du?«, fragte Hertzberg weiter, während das Boot mit einem Ruck am Sandstrand zum Stehen kam. »Haben der Stein und die Ornamente, die ihn umgeben, irgendetwas zu bedeuten?«

»Nein«, erwiderte Gero kühn. In seinen blauen Augen lag eine Überzeugung, die jeden Lügendetektor in die Irre geführt hätte. »Mein Komtur war ein leidenschaftlicher Sammler schöner Trinkgefäße. Ich erinnere mich daran, dass er mehrere solcher Kelche aus dem Outremer mitgebracht hat – angeblich veredelt der Stein am Grunde des Gefäßes den Wein, den man hineingibt. Mit der Zeit löst er sich auf. Aber soweit ich weiß, beschwerte Henri d’Our sich immer darüber, dass selbst dieses Prachtexemplar nicht in der Lage war, Fusel in Weihwasser zu verwandeln.« Er lachte kurz und verzog sein Gesicht zu einem amüsierten Schmunzeln. »Das Ding ist eines von vielen, und ich kann mich nicht erinnern, dass Henri d’Our ihm eine besondere Bedeutung beigemessen hätte.«

Sein Blick wanderte zu Johan, und bevor der Flame erstaunt aufblickte, weil die Geschichte mit der Sammlung von Trinkgefäßen an den Haaren herbeigezogen war, hatte Gero sich blitzschnell mit dem Zeigefinger über die Lippe gestrichen, als ob er eine Mücke entfernen wollte. Das geheime Zeichen der Templer für striktes Stillschweigen. Inbrünstig hoffte er, dass Johan mitspielen würde. Die Amerikaner durften keinesfalls erfahren, was es mit diesem Kelch auf sich hatte. Am liebsten hätte Gero ihn an sich genommen und zurück in den See geschleudert. Doch dann hätten Hertzberg und der General erst recht Verdacht geschöpft.

»Und du?«, fragte der Alte und blickte Johan direkt in die Augen. »Hast du eine Ahnung, ob der Kelch über seinen Materialwert hinaus irgendeine Bedeutung hatte?«

»Nein.« Johan schüttelte entschlossen seinen roten Schopf. Sein vernarbtes Gesicht kam ihm zu Hilfe, da es jede Regung verbarg. »Tut mir leid, dich enttäuschen zu müssen, Moshe, aber mein Ordensbruder hat recht, unser Komtur hat Dutzende davon besessen. Die meisten waren verbeult. Vielleicht wollte Henri d’Our wenigstens einen davon unversehrt für den Messwein aufbewahren.«

Hertzberg nickte und schlug den Kelch in ein Tuch ein, bevor er ihn behutsam in eine bereitstehende Styroporkiste legte. Am Strand warteten Soldaten auf sie, die Hertzberg anwies, ihm die Kiste abzunehmen und mit einer elektronischen Plombe zu sichern, so dass kein Unbefugter Zugriff hatte.

Mit einem Zwinkern forderte er Gero und Johan auf, ihm aus dem Boot zu helfen.

Gero atmete auf, als die Kiste mit dem Kelch in einem verdunkelten Van unter einer profanen Militärdecke verschwand.

Blieb zu hoffen, dass das Ding ohne nähere Untersuchung in irgendeinem Tresor der amerikanischen Streitkräfte landete und später allenfalls einem Museum als Ausstellungstück diente – hinter Panzerglas, für alle Zeiten sicher verschlossen.

Er selbst hatte genug gesehen, um zu wissen, worum es in der Vision gegangen war.

Sein Herz schlug so stark, dass er sich fragte, wie er der jungen Ärztin, die sie regelmäßig nach Einsätzen untersuchte, seinen erhöhten Pulsschlag erklären sollte. Zweifellos handelte es sich bei dem Fundstück um den berüchtigten »Kelch von Askalon«. Die Legende besagte, dass die Botschaft in seinem Innern zu einem überirdischen Geheimnis führte, dessen Auflösung sämtliche Glaubensgegensätze der Welt auf ewig miteinander versöhnen werde. Niemals hätte Gero vermutet, dass Henri d’Our diesen Kelch besessen hatte. Ja, dass er sich überhaupt im Besitz des Ordens befand.

Niemand hatte je ein Wort darüber verlauten lassen. Es gab Gerüchte – aber über die Bundeslade zu sprechen oder das, was daraus hervorgegangen sein sollte, war unter den nicht eingeweihten Brüdern ein absolutes Tabu gewesen.

Doch das bedeutete nichts, schließlich hatte Gero auch nicht gewusst, dass die Ordensbrüder des Hohen Rates über das Haupt der Weisheit verfügten. Wobei das Mysterium, das dieser Becher in sich barg, vermutlich tausendmal gewaltiger war, als Toms vermaledeiter Timeserver je hätte sein können. In der Legende hieß es: Wer den Kelch besitzt und das Geheimnis entschlüsselt, wird die Welt in seinem Sinne verändern können und die Rückkehr des einzig wahren Messias einläuten.

Gero überlegte nicht lange. Wenn das Schicksal auf seiner Seite stand und die Zeit reif dafür war, würde er seine Entdeckung zu nutzen wissen.

Kapitel 1
Ein letzter Versuch

2151 November – Illinois – ehemals Amerikanische Föderation

Vielleicht wäre es besser gewesen, dachte Lyn und strich sich hastig eine Strähne ihres glatten, schwarzen Haares zurück, wenn sie wenigstens ein einziges Mal in ihrem Leben selbst jemanden eliminiert hätte. Dann würde sie nun nicht dastehen wie eine Anfängerin, und ihre Hand, die den Fusionslaser hielt, würde nicht so stark zittern, dass sie kaum in der Lage war, ihr Ziel zu fixieren.

Red Collart, Drill-Instructor der Antirevolutionstruppen der Neuen Welt, zuständig für die Ausbildung der Kadetten an den Handfusionswaffen, hatte ihnen bereits im zarten Alter von zehn Jahren beigebracht, wie man damit umging und wie diese Waffe funktionierte. Die unvorstellbare Hitze des Fusionslasers wurde mittels Kavitationsenergie erzeugt, die mit Hilfe natürlich vorkommender Myonen aus der kosmischen Umgebungsstrahlung eine Bläschenfusion erzeugte, die einen pulsierenden Strahl von 5000 Grad Celsius freisetzte. Die ergonomisch angepasste Waffe mit einem 25 Zentimeter langen Lauf bestand aus einer speziell angefertigten Wolfram-Rhenium-Legierung, die dafür sorgte, dass das Material trotz der entstehenden Hitze stabil blieb. Das Ergebnis war beeindruckend. Menschen konnten damit in einer Pikosekunde zu Staub zerblasen werden. Mit einem entsprechend größeren Modell und der richtigen Dosierung des Strahls war es möglich, ganze Hypergleiter verschwinden zu lassen.

Collart hatte bei der Erschießung von Delinquenten gegenüber seinen Zöglingen niemals das geringste Anzeichen von Mitleid gezeigt – im Gegenteil, es schien ihn sogar zu amüsieren, wenn er im Angesicht seiner Rekruten seine uneingeschränkte Macht über Leben und Tod demonstrierte. An manchen Tagen töteten Collarts Schüler auf seine Anweisung hin Hunderte von Verdammten, die alle auf einer sogenannten Abschussliste standen. Entweder weil sie aufgrund genetischer Fehlausstattung als nicht lebenswert beurteilt worden waren oder weil sie im Verdacht standen, zu den National American Rebels zu gehören, einer geheimen Untergrundorganisation, die sich verbotenerweise gegen Regierungsinteressen wandte und die es mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln zu vernichten galt.

Nicht selten schloss Collart mit seinen Rekruten vorher Wetten ab, wie viel Asche wohl von einem der Todgeweihten nach dem Beschuss übrig bleiben würde. Besonders, wenn es sich um ältere Gefangene handelte, die mitunter mehr Körperfülle aufwiesen, weil ihnen im Gegensatz zu den jüngeren Opfern das formstabilisierende Fisch-Gen fehlte.

Im Nachhinein erschien es Lyn als merkwürdig, dass sie lediglich Überraschung empfunden hatte, als sie zum ersten Mal Zeugin einer Hinrichtung wurde, bei der ein Delinquent allein aus Demonstrationsgründen pulverisiert worden war. Im Laufe der Zeit gewöhnte sie sich daran, wenn der allgegenwärtige Sturm die gefriergetrockneten Überreste eines Leichnams über den kalten Marmor des Exerzierplatzes hinweg fegte und der immerwährende Regen die kläglichen Reste menschlichen Lebens von den schwarzen Platten wusch. Manchmal dachte sie des Nachts an die Erstarrung in den Pupillen der Opfer kurz vor der Tötung, aber der Chip in ihrem Hirn unterdrückte sofort jegliche emotionale Sensibilität, die zaghaft aus ihrem Inneren emporzusteigen drohte.

Erst viel später, nachdem Lion Ho Chang, der Anführer der National Rebels, sie aus dem Lager befreit und ihr den Chip entfernt hatte, begriff Lyn das ganze Ausmaß von Collarts menschenverachtendem Vorgehen. Regelmäßig dachte er sich während der Schießlektionen kleine Spiele aus. Eines nannte er »Russisch Roulette«, wobei er den Laser in einer Weise auflud, dass nicht jeder Schuss automatisch scharfgemacht wurde. Danach konnte keiner seiner jugendlichen Kadetten wissen, ob der nächste Treffer den Delinquenten eliminierte oder nicht. Lyn hingegen verfügte selbst unter Einflussnahme des Chips über nahezu hellseherische Fähigkeiten. Stets hatte sie den Laser an einen der Jungs weitergereicht, wenn er eine tödliche Bedrohung für die Opfer darstellte. Collart hatte Punkte an jene Rekruten vergeben, die sich freiwillig als Schützen gemeldet hatten und bei denen der Laser auslöste. Wem es auf diese Weise gelang, die meisten Delinquenten zu eliminieren, der durfte Collart nach Hause begleiten. Was immer das auch bedeutete, war ein Geheimnis, und jene, welche in den Genuss kamen, mühten sich, diese Auszeichnung wieder und wieder zu erlangen. Lyn war nicht erpicht darauf, Collarts Gunst zu gewinnen. Ihr Instinkt und seine abweisende Haltung sagten ihr, dass es besser war, ihm nicht zu nahe zu kommen. Ihrer Schwester Rona war es anscheinend ähnlich ergangen, deshalb hatte sie stets auf Lyns Reaktionen geachtet und den Laser nur angenommen, wenn sie ihr mit einem kaum merklichen Zwinkern versichert hatte, dass er nicht schussbereit war. Ganz im Gegensatz zu Mako, ihrem gleichaltrigen Bruder, der aus derselben Brutserie stammte wie sie selbst und der ganz wild darauf war, endlich in den Fokus seines Meisters zu gelangen, was er jedoch bis zum Tag ihrer Befreiung niemals geschafft hatte. Wie durch ein Wunder hatten weder Mako noch Collart bemerkt, dass die beiden jungen Frauen sich davor drückten, den Henker zu spielen. Doch selbst wenn es Mako aufgefallen wäre, hätte er wohl nichts darüber gesagt. Gefühle zu zeigen konnte leicht den eigenen Tod bedeuten oder zog eine neuerliche Hirnoperation nach sich, die ihre Persönlichkeit noch weiter eingeschränkt hätte.

Erst an dem Tag, als Lion und seine Leute unerwartet ins Camp eingedrungen waren und Lyn und ihre beiden Geschwister aus den Klauen der Neuen Welt befreit hatten, war ihnen klargeworden, wie unglaublich stark menschliche Emotionen sein mussten, wenn man sie nicht mit biotechnischen Mitteln unter Kontrolle behielt. Der Hass in Lions braunen Augen, als er bei seinem furiosen Abgang aus dem Camp höchstpersönlich seinen Fusionslaser auf Collart richtete, abdrückte und im Anschluss daran den kläglichen Überrest ihres ehemaligen Drill-Instructors mit den Worten »Asche zu Asche« kommentierte, hatte sie zunächst verwirrt und im höchsten Maß irritiert. Erst recht, als Lions braune Augen sich mit Tränen füllten, weil es ihm nicht gelungen war, noch mehr ihrer Brüder und Schwestern zu befreien. Ein ungewohnter Anblick. Denn dort, wo Lyn, Rona und Mako ihre Jugend verbracht hatten, weinte man nicht. Es war eine zutiefst verabscheuungswürdige Geste, die einen getreuen Söldner der Neuen Welt von abtrünnigen Rebellen und Spionen unterschied – und diesen nicht selten zum Verhängnis wurde, weil man sie unter der Folter an ihren Gefühlsausbrüchen erkannte. Erst später, nachdem Lion den entführten Rekruten den Chip aus den Hirnen entfernt und sie damit wieder zu empathischen Lebewesen umfunktioniert hatte, erspürte sie seine Gefühle, und das mit geballter Intensität. Ein wunderbarer Zustand, der gleichzeitig unbeschreibliche Schmerzen mit sich brachte, wenn er in Trauer, Angst und Entsetzen umschlug.

Ein Grund, warum Lyn im Augenblick ihre wiedergewonnenen emotionalen Fähigkeiten verfluchte. Sie blinzelte kurz, um ihre genetisch manipulierten Nachtsichtlinsen zu befeuchten, die auch die finsterste Umgebung in gestochen scharfen Graugrünabstufungen erscheinen ließ.

»Du musst ihn beim ersten Schuss treffen«, zischte eine dunkle Stimme unter ihr.

Es war Mako, ihr männliches Ebenbild. Sein Kopf mit den schulterlangen schwarzen Haaren und dem feingeschnittenen asiatischen Gesicht streckte sich an ihr vorbei. Dabei zwängte er seinen schlanken, langen Körper durch den engen Kanalschacht. Offenbar interessierte ihn, warum es nicht wie geplant voranging. Schließlich stand er leicht geduckt hinter ihr und fixierte ihr Opfer mit seinen schmalen, bernsteinfarbenen Katzenaugen, als ob er ein Raubtier auf Beutezug wäre. Weiter unten auf der nicht enden wollenden Titanleiter, die in einen einhundert Meter tiefen Schacht mündete, stand Rona und gab ihnen Deckung, dabei blinzelte sie ungeduldig zu ihnen herauf. Seit Lion sie wieder zu einem echten Menschen umfunktioniert hatte, wurde sie manchmal von aggressiven Emotionen überflutet, die Lyn als ausgesprochen lästig empfand. Nicht zum ersten Mal stellte sie sich die Frage, warum Lion neben Mako ausgerechnet Rona für diese Mission ausgesucht hatte. Sie war mitunter ziemlich aufbrausend, aber möglicherweise schätzte Lion gerade ihre Aggressivität und den damit verbundenen Kampfeswillen.

Rona machte ihrem Ruf alle Ehre, indem sie ungebeten nach oben kletterte und Mako wieder nach unten zerrte. Sie war stärker als er und zwang ihn damit, ihre Position zu übernehmen. Nachdem er einen leisen Fluch über ihr rücksichtsloses Verhalten ausgestoßen hatte, konzentrierte sich Lyn erneut auf das vor ihr liegende Einsatzgebiet.

Rona tauchte neben ihr auf und sondierte die Lage. »Sei vorsichtig«, riet sie ihrer Schwester. »Wenn sie uns entdecken, sind wir erledigt.«

Lyn ließ sich von Ronas Warnungen nicht irritieren. Sie wusste längst, dass sie den Schachtdeckel nur einen Spaltbreit anheben durfte, um von dem patrouillierenden Wachmann nicht bemerkt zu werden.

Über ihnen erstreckte sich eine riesige Halle mit einem beweglichen Glaskuppeldach. In etwa fünfzig Meter Entfernung stand der Hypergleiter, auf den sie es abgesehen hatten, mutterseelenallein im Hangar. Ein silbern glitzernder, länglicher Vogel aus einer Titanlegierung, in dem mindestens sechs Menschen Platz fanden und der schneller war als jede Regierungsmaschine. ONOGEN 11, der Name eines pharmazeutischen Großkonzerns, der mit Wissen der Neuen Welt im illegalen Drogenhandel operierte, stand darauf sowie die Nummer des Gleiters. Offiziell vertrieb man bei ONOGEN alle Sorten von erlaubten neuronalen Nachbrennern, die den Menschen halfen, ihre Arbeitsleistung zu steigern, damit ihre Ausbeutung durch die kapitalfeudalen Machthaber noch effizienter verlief.

In den Containertürmen neben der Halle befanden sich unzählige Depots mit den gängigsten Nanodrogen, wie die Aufschrift verriet und die offensichtlich auf ihren Abtransport warteten. EXO 23 zur Gedächtnisauffrischung bei Hirninfarkt, PED 04 als Trainingsdroge zur Steigerung der Lernfähigkeit, LEX 77 zur Verhinderung vorzeitiger Alterungsprozesse und SN 303, ein Stoff, der exotische Träume versprach, selbst wenn man über ein Hirnimplantat verfügte, das im Normalzustand sämtliche Gefühle unterdrückte. Bis auf die letzte Sorte, die meist in den verbotenen Spelunken verhökert wurde, handelte es sich um legalen Stoff, der in der Regel gestreckt war, aber zu denselben Preisen verkauft wurde wie das kaum zu unterscheidende Original.

Der Vorstand des Konzerns setzte sich überwiegend aus korrupten Regierungsmitgliedern der Neuen Welt zusammen, die seit ihrer Machtübernahme vor gut fünfzig Jahren gegenüber der nichtsahnenden Erdbevölkerung ein doppeltes Spiel trieben. Vordergründig unterwarfen sie sich den strengen moralischen Regeln der Behörden – inoffiziell strichen sie horrende illegale Gewinne ein und teilten sie mit den Mächtigsten.

»Das war schon so, als ich noch ein Kind war«, hatte Lion mit einer wegwerfenden Handbewegung erklärt, als Lyn ihn einmal gefragt hatte, ob diese Zustände erst nach der neuen Kapital-Revolution aufgetreten seien. »Korruption hat in der menschlichen Gesellschaft eine lange Tradition, auch wenn immer halbherzig versucht wurde, sie zu bekämpfen.«

Lion kannte alle Tricks seiner Gegner und hatte es sich zum Ziel gesetzt, die Welt zum Besseren zu verändern. Dass Lyn und ihre Geschwister nun Teil dieses Plans wurden, hatte sie mit Stolz erfüllt, auch wenn ihnen immer noch nicht ganz klar war, wie sie diese Veränderung zustande bringen konnten und wie diese letztendlich aussehen würde.

Dass der zuvor beschlossene Plan nicht einfach durchzuführen war, lag in der Natur der Sache. Lion befand sich ständig auf der Flucht. Schließlich gehörte er zu den meistgesuchten Terroristen der Neuen Welt. Er lebte mal hier. mal dort und verkroch sich an den unwirtlichsten Orten, falls er nicht gerade seine schärfsten Widersacher bekämpfte. Lyn und ihre Geschwister fristeten ihr Dasein derweil unerkannt in den Armutsghettos im mittleren Westen der ehemaligen amerikanischen Föderation.

Lion besaß einen selbstkonstruierten Hypergleiter, der eine außerordentliche Geschwindigkeit erreichte und natürlich nicht der staatlichen Flugüberwachung gemeldet war. Allerdings verfügte er wegen des hohen Energieverbrauchs über eine auffällige Quantensignatur, die ihn bei längerfristigem Einsatz zu einer leichten Beute für die Häscher der Neuen Welt machte. Daher lautete der Auftrag für Lyn, Rona und Mako, zunächst einen Hypergleiter von ONOGEN zu stehlen, um damit unabhängig von Lion zu einem zuvor vereinbarten Treffpunkt zu gelangen, dessen Umgebung durch die dort vorherrschenden Stürme genug Materie-Turbulenzen verursachte, um eine Magnetfeldortung zu erschweren.

Lion selbst durfte es aus Gründen der Tarnung nicht riskieren, sie in ihrem Versteck abzuholen. Hinzu kam, dass die Hypergleiter von ONOGEN wegen der illegalen Geschäfte, zu denen sie genutzt wurden, ebenfalls nicht der staatlichen Flugüberwachung gemeldet waren. Im Falle eines Verdachts würden seine Vorsichtsmaßnahmen bei den in Frage kommenden Verfolgern genug Verwirrung stiften, um ihnen einen ausreichenden Vorsprung für die Durchführung ihres Plans zu sichern.

Nach Lions Berechnungen würden sie auf diese Weise die 8000 Meilen zum Zielort unbehelligt überwinden können.

»Dieser Bande von korrupten Verbrechern wird es nicht wehtun, wenn sie zukünftig auf einen Firmengleiter verzichten müssen«, hatte Lion bei einer geheimen Hypervisionskonferenz augenzwinkernd bemerkt, als Rona ihn danach fragte, ob es nicht zu riskant sei, ausgerechnet dort einen Gleiter zu stehlen.

Ob es ONOGEN auch nichts ausmachte, in Zukunft auf einen oder mehrere Mitarbeiter zu verzichten, durfte bezweifelt werden. Lyn zog unwillkürlich die Stirn in Falten bei dem Gedanken, den in unmittelbarer Entfernung stehenden, stämmigen Aufpasser zu Staub zu zerblasen. Dass sie ihn nicht am Leben lassen konnte, stand außer Frage. Schließlich nannte er eine verhältnismäßig riesige Fusionskanone sein Eigen, die er lässig um die Schulter gegürtet trug. Mit dieser Waffe wäre er durchaus in der Lage, einen ganzen Gleiter mitsamt seiner Besatzung zu eliminieren. Normalerweise waren solche Waffen allein den Sicherheitskräften der Neuen Welt vorbehalten. Aber wer scherte sich schon darum, wenn der Boss eines solchen Unternehmens regelmäßig Unsummen an Bestechungsgeldern an die höchsten Regierungskreise zahlte?

Der Wachhabende wirkte entsprechend entspannt. Sein Dienst war reine Formsache. Eine der üblichen Machtdemonstrationen für angemeldete Besucher. Offenbar rechnete er nicht mit perfekt geschulten Rebellen, die als ehemalige Agenten der Neuen Welt eher unfreiwillig und überraschend die Seite gewechselt hatten. Der Hangar war bei Nacht zwar elektronisch gesichert, aber mit Lions neu konstruiertem Nano-Decoder war es kein Problem gewesen, einen Virus in die computergenerierten Sicherheitssysteme einzuschleusen, der eine dauerhaft unauffällige Lagebeurteilung in die automatisierten Überwachungszentren implizierte.

Mako drängte sich nun auch weiter nach oben, und Rona machte eine unwirsche Bewegung, weil er ihr den ohnehin knappen Platz nahm und im Notfall den Rückzug versperrte. Mako schnaubte verärgert, als sie ihn so heftig zurückstieß, dass er beinahe das Gleichgewicht verloren hätte und in die Tiefe gestürzt wäre. Dieses Geräusch allein reichte aus, um die Aufmerksamkeit des Wachmanns auf sie zu lenken.

Als der Kerl Lyn entdeckte und sie mit kalten, graublauen Augen anpeilte, musste sie einen Entschluss fassen, ob es ihr gefiel oder nicht. Ein kaum hörbares Zischen begleitete den wabernden Fusionsball. Der Mann erstarrte mit überraschter Miene, als er getroffen wurde. Sein Körper wechselte so schnell die Farbe, dass es für das normale menschliche Auge nicht sichtbar war. Das eben noch lebendige Rosa seiner hellen Haut verwandelte sich schlagartig in ein metallisches Kupferbraun. Seine Waffe blieb davon verschont, weil die Energie des Lasers dafür berechnet war, nichtmenschliche Ressourcen zu verschonen. Scheppernd fiel sie zu Boden. Das Geräusch holte Lyn in die Wirklichkeit zurück. Gleich würden weitere Wachleute auftauchen, inzwischen war der Mann zu einem silbernen Häuflein Asche zerfallen.

»Los, kommt voran«, raunte Lyn ihren Geschwistern zu und kletterte mit einer geschmeidigen Bewegung auf den stählernen Hallenboden. Rona und Mako folgten dicht hinter ihr. Gemeinsam rannten sie zum Hangar, wobei Lyn das Herz vor Aufregung bis zum Hals schlug. Eine ebenso unangenehme wie unnötige Begleiterscheinung, die sie ebenfalls der Entfernung des Chips zu verdanken hatte. Den eigenen Fusionslaser fest umklammert, griff sie sich im Vorbeilaufen die Fusionskanone des Getöteten. Dabei hoffte sie, dass Mako und Rona ihr auf den Fersen blieben. Von weitem hörte sie bereits den heulenden Alarm und hektisches Stimmengwirr. Ohne weiter darüber nachzudenken, berührte sie den quantenmechanischen Türöffner, der die von Lion implantierte energetische Generalcodierung in ihren Fingerspitzen ohne Probleme erkannte und ihr einen direkten Zutritt zur Führungskapsel des Gleiters gewährte. Die Seitentüren unter den Stabilisatoren dematerialisierten sich, indem sie unsichtbar wurden und ihnen somit ungestörten Einlass gewährten. Rona schoss im Sprung an ihr vorbei und ließ sich rückwärts in die Steuerungskabine hineinfallen, die Umgebung des Gleiters immer noch fest im Blick. Mako folgte seiner Schwester in kurzem Abstand und hechtete ebenfalls kopfüber in den Gleiter. Lyn sprang als Letzte in die hochtechnisierte Maschine, nachdem sie ihren Geschwistern Feuerschutz gegeben hatte.

Keine Sekunde zu früh landeten sie auf dem gepolsterten, silbergrauen Boden und zogen instinktiv den Kopf ein. Sie waren entdeckt worden. Mindestens zehn Wachleute tauchten am Ende der riesigen Halle auf.

Während Rona mit einer fließenden, kreisförmigen Handbewegung den leuchtend holographischen Terminal heraufbeschwor und den Gleiter allein kraft ihrer Gedanken startete, gerieten sie unter Beschuss. Lyn war es mit einem weiteren Gedankenbefehl gelungen, den Spiegelreflexschutzschild zu aktivieren, der sie zumindest nach außen hin unsichtbar werden ließ. Mako hatte unterdessen die Fusionskanone mit einem summenden Geräusch hochgefahren und feuerte im Abflug durch die offene Tür auf die am Boden stehenden Wachmannschaften. Er zuckte noch nicht einmal mit einer Wimper, als er auf einen Schlag sechs Männer und zwei gepanzerte Fahrzeuge eliminierte.

»Das Hallendach«, schrie Rona, die erkannt hatte, dass irgendjemand im letzten Augenblick das große Haupttor des Hangars geschlossen hatte.

Mako lehnte sich ungesichert über die Außenkante des Gleiters, und während der Fusionsball eines am Boden schießenden Gegners ihn so dicht streifte, dass ein Teil seiner wehenden Mähne verdampfte, richtete er die Kanone auf das gläserne Kuppeldach.

Ein einziger Schuss reichte aus, um einen regelrechten Ascheregen auszulösen, der ihn zum Husten brachte. Der Gleiter kippte für einen Moment nach rechts, weil Rona weiterem Beschuss vom Boden ausweichen musste. Lyn erwischte in letzter Sekunde Makos Arm, bevor er hinauszustürzen drohte. Beinahe hätte er das Gleichgewicht verloren. Dabei war ihm die Fusionskanone aus den Händen geglitten. Tatenlos musste er mit ansehen, wie sie mehrere hundert Meter zu Boden segelte und kurz darauf mit einer gewaltigen Explosion aufprallte. Die nach oben steigende Hitzeblase drückte den Gleiter unvermittelt in die Höhe. Atemlos krallte er sich an einem Holm im Innern des Gleiters fest. Lyn hatte in aller Eile dafür gesorgt, dass sich die geschlossene Tür materialisierte. Zum einen, um Mako vor einem Absturz zu bewahren, zum anderen, um sie vor weiteren Angriffen vom Boden zu schützen. Mit fahrigen Händen sicherte Mako seine Position, indem er das Magnetfeld in seinem Sitz mit einer leichten Berührung der holographischen Steuerungstafel aktivierte. Die künstlich aufgebaute Schwerkraft hielt ihn automatisch an seinem Platz und verhinderte auch bei starken Schwankungen, dass er durch die Kabine stürzte.

»Das war knapp«, bemerkte er leise und lehnte sich erschöpft zurück. Sein Gesicht war immer noch bleich. Für einen Moment senkte er die Lider und hoffte wohl, dass die Mädchen seinen Anflug von Furcht nicht bemerkt hatten. Lyn setzte sich neben ihn und strich ihm über die Hand, die er ihr sofort mit einem verächtlichen Blick entzog.

Rona erwiderte nichts. Sie blickte stur geradeaus auf den holographischen Steuerbildschirm, der in einer schwebend erleuchteten Abbildung weite Teile des völlig verödeten Südostens Amerikas aufzeigte. Kraft ihrer Gedanken beschleunigte sie den Gleiter und damit auch die Bildabfolge auf dem Schirm.

»Auf nach Corpus Christi«, sagte sie und setzte eine überlegene Miene auf, als sie sich zu ihren Geschwistern umwandte. »Lion erwartet uns in einer Stunde am alten Hafenhangar. Wir dürfen ihn nicht enttäuschen.«