Nr. 857
Erbe der Aphilie
Alarm im Germyr-Sektor – NATHAN verweigert den Gehorsam
von KURT MAHR
Während die Besatzungsmitglieder des Generationenschiffs SOL nach wie vor mit Verbissenheit und Ausdauer die Suche nach Perry Rhodan, ihrem Kommandanten, betreiben, der inzwischen das Zentrum von BARDIOCS Macht erreicht hat, geschieht Anfang des Jahres 3586 in der Milchstraße folgendes:
Die in der Galaxis verbliebene Menschheit befindet sich gegenwärtig im Aufbruch. Terra, die Urheimat der Menschen, ist zusammen mit Luna nach langem Aufenthalt in den unendlichen Tiefen des Kosmos wieder an den angestammten Platz im System des Muttergestirns Sol zurückgekehrt – und das Unternehmen »Pilgervater« läuft bereits, um die in allen Regionen der Milchstraße verstreuten Terraner auf die praktisch menschenleere Erde zurückzuführen.
Sammlerschiffe steuern viele Planeten der Galaxis an, um alle Menschen, die rückkehrwillig sind, aufzunehmen und auf Terra eine neue Existenz zu ermöglichen.
Während diese Großaktion vonstatten geht, hat Kershyll Vanne, das Konzept, eine Begegnung von kosmischer Bedeutung gehabt. Nach seiner Rückkehr zur Erde erstattet Kershyll Vanne Julian Tifflor Bericht. Das Konzept spricht von einer neuen, gewaltigen Aufgabe, für die ES die Menschheit ausersehen hat.
Tifflor, der Regierende Terras, will davon nichts wissen – noch nicht! Er hat Schwierigkeiten mit dem ERBE DER APHILIE ...
Die Hauptpersonen des Romans
Payne Hamiller – Der neue Wissenschaftsrat trifft eine schwerwiegende Entscheidung.
Boyt Margor – Eine Macht im Dunkel.
Pemmo Kalaainen – Ein junger Mann will sich rehabilitieren.
Resu Redfern – Leiter der Lunar Emergency Operations.
NATHAN – Das Mondgehirn verweigert den Gehorsam.
Raphael – NATHANS »Ableger« taucht wieder auf.
1.
»Special Projects Office, Kalaainen«, meldete sich der junge Mann.
Er warf einen Blick auf den Bildschirm und sah, dass der Anrufende ihm unbekannt war. Es handelte sich um einen Mann in mittleren Jahren, mit einem hageren Gesicht, kurzem eisgrauem Haar und einem spöttischen Glitzern in den Augen.
»Redfern hier«, sagte er. »Ich möchte den Ersten Terraner für Wissenschaft sprechen.«
Kalaainen sah verwundert auf.
»Den Terranischen Rat für Wissenschaften etwa?«, erkundigte er sich.
»Meinetwegen. Hamiller heißt er.«
Pemmo Kalaainen war zwar nur einer der untergeordneten Mitarbeiter des Special Projects Office. Aber er war sich nichtsdestoweniger seiner Würde bewusst, die darin lag, dass das SPO dem Terranischen Rat für Wissenschaften unmittelbar unterstand.
»Sie nehmen nicht etwa an«, fragte er schnippisch, »der Rat sei für jeden und zu jeder Zeit zu sprechen, oder?«
»Dieser Ansicht bin ich nicht«, bekannte der Mann, der sich Redfern nannte. »Ich sehe auch gar nicht ein, was das mit meinem Anruf zu tun haben soll.«
»So? Haben Sie vor kurzem mal auf die Uhr gesehen?«
»Habe ich. Bei euch in Terrania City ist es jetzt halb zwei.«
»Morgens!«, fügte Pemmo betont hinzu.
»Morgens«, bestätigte Redfern. »Ich ersuche darum, den Rat nötigenfalls aus dem Bett zu holen – obwohl ich bezweifle, dass er sich dort befindet.«
Pemmo Kalaainen ließ die Finger über eine kleine Tastatur gleiten. Auf einem seitwärts angebrachten Datenbildschirm erschien die Meldung, dass der Terranische Rat für Wissenschaften sich derzeit in einer Besprechung mit dem Ersten Terraner befinde.
»Da haben Sie recht«, antwortete Pemmo von oben herab. »Aber von da, wo er ist, wird man ihn noch viel weniger herausholen können.«
»Warum nicht?«, wollte Redfern wissen.
»Das geht Sie nichts an!«
Der Mann mit dem eisgrauen Haar lächelte, aber es war ein gefährliches Lächeln.
»Als Erklärung für alles, was in den nächsten Minuten auf Sie zukommt«, sagte er, »möchte ich Sie wissen lassen, dass ich eine akute Abneigung gegen junge Leute habe, die sich aufgrund ihres Amtes etwas einbilden. Ich muss bekennen, es macht mir Spaß, einen aufgeblasenen Schnösel wie Sie in diese Falle hineintappen zu lassen. Aber jetzt haben wir genug Spaß gehabt. Ich sage Ihnen ...«
»Das wird nicht nötig sein«, fiel ihm Pemmo Kalaainen hochmütig ins Wort. »Ich habe keine Lust, mir Ihr Geschwätz weiter anzuhören!«
Damit schaltete er die Verbindung aus. Eine Sekunde später allerdings summte sein Radiokom von neuem.
*
Die Atmosphäre im Raum war voll unruhiger Spannung. Es wurde nicht viel gesprochen. Von den vier Männern waren zwei dabei, mit gesenktem Kopf und auf dem Rücken verschränkten Händen auf- und abzuspazieren. Die beiden übrigen saßen an dem runden Tisch und schienen ebenfalls mit ihren eigenen Gedanken beschäftigt.
Der Raum war ein Konferenzzimmer im obersten Stockwerk des Verwaltungsgebäudes, das die Erdregierung zu ihrem Hauptquartier gemacht hatte. Die vier Männer verkörperten annähernd achtzig Prozent von allem, was auf der neuen Erde Rang und Namen hatte: Julian Tifflor, Roi Danton, Kershyll Vanne und Payne Hamiller. Hamiller war einer der beiden, die am Tisch saßen.
Julian Tifflor unterbrach seinen Spaziergang.
»Das kann doch so lange nicht dauern, Hamiller!«, sagte er. »Sind Sie sicher, dass Ihre Leute auf Draht sind?«
Der junge Wissenschaftler schrak auf, als sei er in Gedanken weit entfernt gewesen. Das kurzgeschnittene braune Haar, der kurzsichtige Blick verliehen ihm einen Ausdruck der Weltfremdheit.
»Natürlich sind sie auf Draht«, antwortete er ein wenig ungehalten, als störe er sich daran, derart unsanft aus seinen tiefsinnigen Überlegungen gerissen zu werden.
»Bitte überzeugen Sie sich«, bat Julian Tifflor, der die Eigenheiten des Wissenschaftlers recht gut kannte. »Es erscheint mir unvorstellbar, dass Lunar Emergency Operations sich noch nicht gemeldet haben sollte.«
Payne Hamiller stand auf und ging zu einem der rund ein Dutzend Radiokomanschlüsse, die an der Peripherie des Raumes installiert waren. Bezeichnenderweise musste er zunächst den Informationsdienst bemühen, um zu erfahren, welchen Rufkode das Special Projects Office hatte. Denn so komfortabel, dass wenigstens den höchsten Regierungsinstanzen ein Ordonnanzrobot zur Verfügung stand, der Verbindungen herstellte, ohne dass man ihm den Rufkode nannte, war Terrania City noch nicht wieder eingerichtet.
Hamiller starrte den jungen Mann, der auf der Bildfläche erschien, recht ungnädig an.
»Wer sind Sie?«, begehrte er zu wissen.
»Pemmo Kalaainen, Sir«, antwortete der junge Mann.
»Gehören Sie zum Special Projects Office?«
»Selbstverständlich, Sir.«
»Ich erwarte ein dringendes Gespräch. Ist eines für mich angekommen?«
»Von wem, Sir?«, erkundigte sich Pemmo Kalaainen.
»Lunar Emergency Operations«, antwortete der Wissenschaftler. »Es hätte ein Mann namens Redfern sein müssen. Er ist ... was haben Sie?!«
Das Gesicht des jungen Mannes war plötzlich blutrot geworden.
»Sofort, Sir!«, würgte er hervor. »Ich beschaffe Ihnen das Gespräch in höchster Eile. Ich ... es scheint ...«
Der Rest war unverständliches Gemurmel. Der Bildschirm wurde dunkel, leuchtete aber wenige Sekunden später wieder auf. Redferns hageres Gesicht erschien. Redfern grinste diabolisch.
»Sie sollten den Notdienst zuverlässigeren Leuten überlassen, Hamiller«, sagte er. »Der falsche Mann am falschen Platz – und schon haben Sie eine erstklassige Panne.«
»Wie?«, machte Hamiller verwirrt. »Ich verstehe nicht.«
Da trat Julian Tifflor herzu.
»Redfern, Ihren Bericht!«, forderte der Erste Terraner.
*
»Die Angelegenheit ist ziemlich undurchsichtig, Sir«, begann Redfern. »Ich möchte vorwegschicken, dass wir Zeit haben, uns in Ruhe darüber zu unterhalten. Es besteht keine Gefahr, andererseits gibt es auch nichts, was wir im Augenblick tun können.«
Der Erste Terraner dankte ihm mit kurzem Nicken. Er wusste es sich zu schätzen, wenn man ihm zu Beginn eines Berichtes das, worauf es wirklich ankam, in wenigen Worten zusammenfasste.
»Die Monitoren haben Alarm geschlagen«, fuhr Redfern fort, »weil die Summe der nachweisbaren Aktivitäten NATHANS nicht mit dem von den Kraftwerken angezeigten Gesamtleistungsverbrauch übereinstimmten.«
»Wurde mehr Leistung verbraucht?«
»So ist es, Sir. Die Monitoren schlossen daraus, dass NATHAN eine neue Tätigkeit aufgenommen hat, von der er uns nichts wissen lassen will. Wir haben uns natürlich sofort erkundigt. Die erste Anfrage an die NATHAN-Exekutive blieb unbeantwortet. Auf die zweite erhielten wir die Auskunft, es gebe zur vorliegenden Frage keine entsprechende Information. Da waren wir ziemlich sicher, dass wir von NATHAN selbst so bald nichts erfahren würden, und machten uns an die Arbeit.«
Er sah von seinen Unterlagen auf.
»Die Ausbeute, Sir, ist mager. Wir wissen, dass NATHAN in einem sublunaren Sektor namens GERMYR eine neue und anscheinend hektische Tätigkeit aufgenommen hat. Das ist alles.«
»Germyr?«, wiederholte Tifflor. »Das ist der Sektor, der angelegt werden sollte, als Terra bereits im Mahlstrom stand.«
»Eben dieser«, bestätigte Resu Redfern.
»Wie bedeutend ist die Aktivität, die NATHAN dort entwickelt?«
»Die Summe aller beobachtbaren Tätigkeiten der Hyperinpotronik entspricht einem Leistungsverbrauch von achtzehn Terawatt. Der tatsächliche Leistungsverbrauch liegt bei sechsundzwanzig.«
Julian Tifflor hatte Mühe, das Gehörte zu verarbeiten. NATHANS Aufgabenumfang war gigantisch. Seitdem Terra und Luna in die heimatliche Milchstraße zurückgekehrt waren, versah er alle Funktionen lücken- und reibungslos – und dazu noch eine Menge anderer, die früher nicht zu seinem Aufgabenbereich gehört hatten, wie zum Beispiel die robotgesteuerten Aufräumarbeiten in den Städten der Erde. Die Leistung, die NATHAN verschlang, war seinem Aufgabenumfang angemessen. Achtzehn Terawatt, oder achtzehn Billionen Watt, entsprachen in etwa dem Gesamtleistungsverbrauch der terranischen Industrie, bevor Terra sich dem Zugriff der Laren durch den Sprung in den Kobold-Transmitter entzog.
Aber damit nicht genug. NATHAN verzehrte weitaus mehr Leistung, als seiner nachweisbaren Tätigkeit entsprach. Das bedeutete, dass die Hyperinpotronik insgeheim eine neue Aufgabe übernommen hatte, die nahezu ein Drittel seines Gesamtleistungsverbrauchs beanspruchte.
»Ich nehme an, Sie verfolgen die Sache weiter«, sagte Tifflor schließlich. »Welche Schritte werden Sie unternehmen?«
»Ich habe einen Stoßtrupp organisiert, der versucht, in den Germyr-Sektor einzudringen«, antwortete Redfern. »Es schien das Nächstliegende zu sein.«
»Sie versprechen sich keinen Erfolg davon?«
»Nein, Sir. Wir hatten ähnliche Situationen in der Vergangenheit. Wenn NATHAN sich etwas in den Kopf gesetzt hat, dann führt er es aus. Und wenn er es vor uns geheim halten will, dann bringt er auch das zuwege.«
»Also gut. Der Stoßtrupp muss erfolglos umkehren. Was dann?«
Redfern machte eine Geste, die seine Ratlosigkeit zum Ausdruck brachte.
»Dann weiß ich nicht weiter, Sir«, bekannte er. »Dann sollte man mir einen schicken, dessen Gehirn von Natur aus dazu veranlagt ist, in verzwickten Lagen geniale Ideen hervorzubringen.«
Tifflor wandte sich um und musterte Hamiller, der der Unterhaltung aufmerksam gefolgt war.
»Ich werde Ihnen jemand schicken«, versprach er.
*
In dieser Nacht kam Payne Hamiller nicht zur Ruhe.
GERMYR, rumorte es in seinem Bewusstsein.
Mit diesem Begriff verband sich etwas Bedrohliches. Er hatte die Information irgendwo im Hintergrund seines Bewusstseins gespeichert, und als er sie jetzt wieder hervorholte, erkannte er, dass sie unvollkommen war.
Er trat in den kleinen Raum, der an seine Unterkunft im Ministerium grenzte. Er hatte ihn eigens für sich herrichten lassen, mit vier verschiedenen Datenendstellen, über die er Zugriff zu sämtlichen Informationsquellen hatte. Er setzte sich an eines der Bildgeräte. Langsam und sorgfältig, wie er es gewöhnt war, tippte er die Worte INFORMATION, PRIVILEGIERT.
Man verlangte von ihm, dass er sich auswies. Er tat es. Mehrere Kennworte wurden geprüft und für richtig befunden. Er wurde gefragt, worüber er informiert sein wolle. Er antwortete GERMYR. Damit konnte der Rechner, an den die Datenendstelle angeschlossen war, nichts anfangen. Er antwortete:
SUBJEKT IN DER HÖCHSTEN SUCHQUALIFIKATION UNBEKANNT. GEBEN SIE EINEN ÜBERGEORDNETEN SUCHBEGRIFF AN!
Verdrossen tippte Payne Hamiller LUNA.
Daraufhin begehrte der Rechner zu wissen, ob er über Luna im allgemeinen oder über ein Subjekt auf Luna informiert sein wolle. Hamiller markierte letzteres. Daraufhin bot ihm der Rechner eine Anzahl untergeordneter Suchkriterien an. Hamiller entschied sich für SUBLUNARE ANLAGEN.
Als der Rechner ihn nach dem nächstniedrigeren Identifizierungsdetail fragte, gab Payne Hamiller SEKTOR GERMYR ein. Dann wartete er.
Und als der Text vor ihm auf den Bildschirm rollte, begann er zu lesen.
*
Eine halbe Stunde später war seine Wissbegierde befriedigt, und Payne Hamiller war ein Mann voller Sorgen.
Der Sektor GERMYR war der umfangreichste sublunare Komplex. Er war ursprünglich, als Perry Rhodan noch das Amt des Ersten Hetrans der Milchstraße innehatte, als abseits gelegene Kraftwerksanlage geplant worden. Er hatte mit Nugas-Schwarzschild-Reaktoren ausgestattet werden sollen, sobald die NSR-Technik den Zustand der Serienreife erreicht hatte.
Später, als die Erde im Mahlstrom trieb, waren die Pläne geändert worden. Germyr sollte zur Werft umgerüstet werden – zu einer Werft, die kleine, aber leistungsfähige Raumschiffe mit völlig neuartigen Antriebssystemen in Massen produzierte. Damals, in den Zeiten der Ploohn-Kriege, hatte man geglaubt, dass man dergleichen brauchen werde.
Dann war die Aphilie gekommen, und Rhodan, der ursprüngliche Germyr-Planer, hatte die Erde verlassen müssen. Von da an wurden die Unterlagen spärlich. Im Jahr 3574 wurde Germyr zum letzten Mal erwähnt. Die Information lautete: ARBEITEN SCHREITEN PLANMÄSSIG FORT. Aber es gab keinen Hinweis darauf, was zu jener Zeit der Plan gewesen sein mochte.
Danach kam nichts mehr. Payne Hamiller versuchte, aus den dürftigen Unterlagen aus der aphilischen Zeit zu ermitteln, wieviel Aufwand insgesamt für den Ausbau von Germyr betrieben worden war. Das Ergebnis war ebenso spärlich wie die Daten, mit denen er gearbeitet hatte. Was den Status des Sektors Germyr anging, so musste man diesen irgendwo in dem weiten Bereich zwischen »kaum angefangen« und »fertig« ansiedeln.
Payne Hamiller nahm hinzu, was er heute erfahren hatte: das NATHAN im Germyr-Sektor aktiv geworden war und dort fast ein Drittel seines gesamten Leistungsaufwands verbrauchte. Da er offensichtlich nicht damit beschäftigt war, den Sektor als solchen herzustellen – das hätten die Seismographen anhand der unvermeidlichen Erschütterungen im Handumdrehen festgestellt –, musste er Germyr als Produktionsstätte in Betrieb genommen haben. Das bedeutete, dass der Sektor bereits völlig ausgebaut und eingerichtet sein musste. Die Aphiliker hatten also nicht das Interesse an dem Projekt verloren, sondern in Wirklichkeit mit höchstem Eifer weitergebaut.
Natürlich wusste man nicht, ob die Aphiliker die ursprünglichen Baupläne Rhodans beibehalten hatten. Sie mochten sie modifiziert oder durch neue ersetzt haben. Niemand hatte eine Ahnung, was der sublunare Sektor Germyr in diesem Augenblick darstellte.
Bedenklich war, dass NATHAN ausgerechnet in diesem Sektor begonnen hatte, seine geheimnisvolle Tätigkeit zu entwickeln. Den Aphilikern hatten NATHANS Dienste fast bis zum Ende ihrer Epoche in vollem Umfang zur Verfügung gestanden. Die aphilische Administration hatte NATHAN Befehle erteilen, neue Programme eingeben und sogar sein Basisprogramm ändern können.