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Die Handlung und Figuren dieses Romans sind frei erfunden.
Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen
sind nicht beabsichtigt und wären rein zufällig.
Sündenzeit
Roman
Aus dem Amerikanischen von
Constanze Suhr
MIRA® TASCHENBÜCHER
erscheinen in der Harlequin Enterprises GmbH
Valentinskamp 24, 20354 Hamburg
Geschäftsführer: Thomas Beckmann
Copyright © 2012 by MIRA Taschenbuch
in der Harlequin Enterprises GmbH
Titel der nordamerikanischen Originalausgabe:
Deadly Gift
Copyright © 2008 by Heather Graham Pozzessere
erschienen bei: MIRA Books, Toronto
Published by arrangement with
HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l.
Konzeption/Reihengestaltung: fredebold&partner gmbh, Köln
Umschlaggestaltung: pecher und soiron, Köln
Redaktion: Stefanie Kruschandl
Titelabbildung: pecher und soiron, Köln
Autorenfoto: © by Charles William Bush /
Harlequin Enterprises S.A., Schweiz
Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling
ISBN (eBook, PDF) 978-3-86278-127-0
ISBN (eBook, EPUB) 978-3-86278-126-3
www.mira-taschenbuch.de
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eBook-Herstellung und Auslieferung:
readbox publishing, Dortmund
www.readbox.net
Narragansett Bay, Rhode Island
Die See war wunderschön, und er fühlte sich hier wie im Himmel.
Eddie Ray spürte die frische Luft auf den Wangen, die vom Wind bald gerötet sein würden. Es war Winter, aber hier draußen vor der Küste von Newport in Rhode Island blieb das Wasser trügerisch ruhig. Er liebte das Meer zu dieser Jahreszeit, wenn es so schnell seine Stimmungen wechselte. Dumm war er nicht. Er würde sich nie vorsätzlich in einen gefährlichen Sturm begeben. Aber er hatte sein Boot bereits mehr als einmal durch einen heftigen Nordostwind gebracht, und er liebte die aufgewühlten Wellen, den Wind und selbst die Kälte, die mit dem strömenden Regen kam und sich in alle Knochen fraß.
Aber heute war es so friedlich! Klare, kühle Luft, es herrschte eine Temperatur um die fünf Grad. Eine leichte Brise wehte, gerade genug, um die Segel zu blähen und die „Sea Maiden“ voranzutreiben. Sie streifte durchs Wasser, als würde sie durch die Lüfte segeln. Dies war sein Lieblingsboot. Er hatte sich dessen Namen sogar auf den Arm tätowiert.
Natürlich hätte er die Sea Maiden nicht nehmen müssen. Sie war ein ziemlich großes Schiff. Diese neureichen Jünglinge aus der Stadt, die in Rhode Island gern mit diesem Schmuckstück protzten, hätten es für einen einzigen Passagier sicher nicht ins Wasser gelassen.
Für einen sehr merkwürdigen Passagier.
Eddie saß am Steuer und blickte sich um. Er hatte den Mann um Punkt zwölf an Bord genommen, so wie er es gewünscht hatte. Um halb drei würden sie wieder zurück im Hafen sein, denn sein Partner Sean O’Riley wollte um vier mit seiner Frau nach Irland aufbrechen. Eddie hatte fest vor, rechtzeitig von Bord zu kommen, um sich von ihnen zu verabschieden. Es war alles ziemlich aufregend. Sean hatte sein Geburtsland schon seit Jahren nicht mehr besucht.
Und seit seinen Flitterwochen mit Amanda in der Karibik war er auch nicht mehr gereist.
Seine neue Frau. Die „Trophäe“, wie Kat, Seans Tochter, sie nannte. Nun, wenn ein Mann eine Frau heiratete, die nur halb so alt war wie er, dann musste er schon mit so einer Reaktion rechnen. Andererseits hatte Sean O’Riley ihn immer an einen Piraten erinnert. Kein richtiger Pirat. Eher die Sorte, die man aus Filmen kannte. Captain Blood. Heldenhaft, forsch und entschlossen. Sean würde schon dafür sorgen, dass in seinem Haus Frieden herrschte. Eddie sah ihn förmlich vor sich, wie er sich den Reibereien dort genauso entgegenstellte wie dem Nordwind: beide Beine fest auf dem Boden, immer die Balance haltend, die Hände entschlossen in die Hüften gestemmt.
In letzter Zeit war Kat nicht oft zu Hause, da sie aufgrund ihrer Musikkarriere viel reiste. Sie hatte wirklich Talent, und alle waren unheimlich stolz auf sie. Sean konnte eben einfach nicht allein leben, er brauchte Gesellschaft. Eine Frau, die sich um all die häuslichen Dinge kümmerte, mit denen er sich nicht so gern beschäftigte. Kats Mutter war vor langer Zeit gestorben, und jetzt, wo Kat kaum noch da war, vermisste Sean die familiäre Gemeinschaft. Er brauchte mehr als nur die Gesellschaft von seiner altjüngferlichen Tante, so entzückend Bridey auch sein mochte. Clara und Tom, die sich um das große alte Haus kümmerten, reichten ihm nicht. Marni, die mit Eddies und Seans neuem jungen Geschäftspartner Cal verheiratet war, fungierte immer wieder gern als Gastgeberin für die von ihnen veranstalteten Geschäftsessen, aber Sean hatte eben etwas anderes gebraucht. Deshalb Amanda.
Eddie fand, was immer Sean glücklich machte, war gut. Und wenn Amanda Sean guttat, dann war auch Eddie zufrieden – obwohl allein der Himmel wusste, warum sie Sean so guttat. Eddie konnte sich nur vorstellen, dass sie wohl im Bett abging wie eine Rakete. Denn im Kopf schien sie nicht besonders viel zu haben. Außerdem versuchte sie auch nicht wenigstens ansatzweise, mit Kat klarzukommen. Für Sean blieb seine Tochter jedoch sein Sonnenschein. Sean war nicht nur Eddies Partner, sondern auch sein bester Freund. Sie hatten zusammen die raue See des Lebens durchschifft, in heftigen und friedlichen Zeiten. Sie hatten Gutes wie Schlechtes, Glück und Tragik gemeinsam erlebt. Wenn Sean also Freude an seinem gegenwärtigen Trip hatte, dann konnte Eddie nur zufrieden sein.
Für dieses Weihnachtsfest hatte Eddie sich für seinen Freund etwas ganz Besonderes ausgedacht. Er wollte Sean etwas geben, auf das er schon immer scharf gewesen war.
Sie hatten alle Bücher über die Geschichte der amerikanischen Unabhängigkeitsbewegung und den Revolutionskrieg durchgearbeitet, die sie finden konnten. Sämtliche Seekarten studiert, Internetseiten durchforstet und die historischen Stätten aufgesucht. Das alles neben ihrer alltäglichen Arbeit für das Bootschartergeschäft. Gemeinsam hatten sie die Firma von Anfang an aufgebaut und zum Erfolg geführt. Sean hatte damals noch ziemlich hart arbeiten müssen, um das alte, von seinem Großvater erbaute Haus unterhalten zu können.
Eddie lächelte vor sich hin. Ja, sie waren gute, langjährige Freunde.
Und er freute sich so wahnsinnig, wenn er an dieses Weihnachtsgeschenk für Sean dachte. Das beste Weihnachtsgeschenk, das es überhaupt geben konnte.
Er überließ sich seinen Gedanken daran. In wenigen Wochen wäre es so weit, dann war Weihnachten.
Jetzt wollte er noch diesen Ausflug genießen. Er war ganz froh, diesen Auftrag angenommen zu haben. Obwohl ihm sein Passagier doch etwas mehr als nur ein bisschen merkwürdig vorkam. Er verschwand fast unter seinem dicken Pullover und dem viel zu großen Trenchcoat, den er darüber trug. Als John Alden hatte er sich ohne zu lächeln und absolut wortkarg vorgestellt. Das war ja ein verdammt guter Name für jemanden aus New England. Eddie fragte sich, ob der Mann vielleicht von seinem Namensvetter, dem John Alden von der Mayflower, abstammte. So wie er aussah, hätte man das allerdings kaum vermuten können. Ziemlich klein, mit einem komischen Schnurrbart, einer riesigen Brille mit breitem Rahmen und dieser heiseren Flüsterstimme erinnerte er Eddie irgendwie an einen Terrier. Diese lebhaften kleinen Hunde, die sich ungeachtet ihrer nicht gerade eindrucksvollen Größe auch mit einer Bulldogge anlegen würden. Aber sein Geld war so gut wie das jedes anderen. Alden hatte einen zweistündigen Trip um die kleinen Inseln draußen vor der Meerenge und in die Bucht gewünscht. Kein Problem.
Eddie kannte diese kleinen Inseln wie seine Westentasche.
Wusste von den Geheimnissen um diese Inseln.
Er fragte sich, ob dieser merkwürdige kleine Mann diese Geschichten auch kannte. Ob er von den alten Familiensagen über die wagemutigen Revolutionäre von Rhode Island gehört hatte.
Von Segelschiffen schien er jedenfalls nicht viel zu verstehen. Ein Boot wie die Sea Maiden charterte man, wenn man ein echter Liebhaber dieser schnittig dahingleitenden Augenweide war. Weil man an einem Tag wie heute mit dieser wunderbaren Brise die Segel hissen und dann damit dahinfliegen konnte.
Und was zum Teufel hatte dieser Typ gewollt?
Dass Eddie die Segel einholte und den Motor anstellte.
Na gut. Auf dieser Welt gab es eben diese und jene.
Eddie warf einen Blick auf seine Uhr. Er hatte die Inseln eine ganze Weile in gemächlichem Tempo umrundet, und nun war es Zeit, umzukehren. Er wollte Sean eine gute Reise wünschen und sich ein bisschen auf der Abschiedsparty amüsieren. Kat war bereits zu Hause, um die Weihnachtsfeier mit vorzubereiten. Er stellte sich ihre Freude vor, wenn sie von seinem Weihnachtsgeschenk für Sean erfuhr. Kat würde zur Gitarre greifen und ein altes Weihnachtslied singen, dazu ein paar Songs, die sie selbst komponiert hatte. Sie würden alle mitsingen, er mit seinem eingerosteten Bariton und Sean mit seinem Tenor. Dazu dann Bridey, die trotz ihres hohen Alters einen klaren Sopran aufzuweisen hatte. Sie würden heißen Irish Coffee mit Schlagsahne trinken, und Sean und seine Trophäenfrau Amanda würden alle mit ihren Erlebnissen von der Irlandreise unterhalten.
Aber erst mal kam die große Abschiedsfeier. Deshalb war es Zeit, an Land zu gehen.
Wo war der Typ geblieben? Eddie beschloss, einfach umzukehren. Sein Passagier war offensichtlich nach vorn gegangen, um die Aussicht zu genießen. Das Steuer befand sich achtern. In der Kabine hielt sich der Mann nicht auf, das wusste er. Er selbst hatte nämlich die vordere Luke abgeschlossen. Er war zwar mit der Sea Maiden allein losgefahren, aber ein Idiot war er nicht. In die Kabine ließ er keine Fremden. Da lagen zu viele Geschäftspapiere und persönliche Gegenstände herum. Schließlich war die Sea Maiden das Lieblingsschiff von allen.
„Ich fahre jetzt zurück!“, rief Eddie in der Hoffnung, dass John Alden ihn hörte. „Wie ich Ihnen schon sagte, habe ich heute noch eine Verabredung!“ Er musste vorher noch duschen. Das sollte eine richtige Abschiedsparty werden, und er wollte dieser hochnäsigen Amanda zeigen, dass auch er vorzeigbar sein konnte.
„Hallo! Haben Sie mich verstanden?“
Nichts.
Er kniff die Augen zusammen. Der Himmel färbte sich bereits dunkel. In New England kam die Nacht im Winter sehr früh. Die Schatten sanken schnell und leise über das Land, als würde ein riesiger Vogel unter dem Himmel seine Flügel ausbreiten.
Eddie wollte sich gerade aufrichten, dann sank er in den Sitz zurück und runzelte verständnislos die Stirn.
„Was zum Teufel …?“, murmelte er.
Zuerst war er lediglich überrascht.
Verdammt, der Typ war schon merkwürdig, aber …
„Was …?“ Erneut versuchte er, aufzustehen.
Eddie war nicht klein. Ein Muskelpaket stellte er zwar nicht gerade dar, aber nachdem er sein Leben lang auf See gearbeitet hatte, konnte man ihn nicht unbedingt als Schwächling bezeichnen. Er besaß sogar eine kleine Pistole.
Die er in der Kabine aufbewahrte.
Und nie, wirklich niemals, hätte er so etwas erwartet.
Er hatte den Luftzug von der Bewegung gespürt. Doch ihm blieb nicht einmal der Bruchteil einer Sekunde, um sich gegen den Angriff zu wehren. Kaum hatte er sich ein Stück aufgerichtet, da stürzte er schon wieder.
Das Wasser empfing ihn mit eisiger Kälte, die den stechenden Schmerz betäubte. Er sank, sank in die Dunkelheit des Ozeans. Vor ihm aber stieg etwas nach oben. Etwas Rotes …
Es war sein Blut. Mit einer sonderbaren Gelassenheit stellte er fest, dass der rote Schwall aus seiner Brust schoss wie ein Geysir.
Er fühlte sich benommen, starr vor Kälte und Schock. Doch sein Gehirn funktionierte noch immer. Traurigkeit überkam ihn, als ihm klar wurde, dass er gleich sterben würde.
Was für ein Dummkopf er doch gewesen war. Er hätte es kommen sehen müssen.
Aber so was war ihm nicht in den Sinn gekommen, und nun war es zu spät.
Ja, sein Leben ging zu Ende. Er konnte seine Hände und Füße gar nicht mehr fühlen. Seine Lungen brannten, und noch immer sprudelte das Blut aus ihm heraus, verteilte sich im Wasser und trübte ihm die Sicht. Wahrscheinlich hatte er ein Loch in der Lunge. Nicht dass er sich in Anatomie jemals besonders gut ausgekannt hätte.
Aber das brauchte er auch nicht, um zu kapieren, dass er gerade starb.
Auf dem Wasser zu sein war wie der Himmel auf Erden. War ihm dieser Gedanke nicht gerade vorhin noch durch den Kopf gegangen? Was wartete nun unter Wasser auf ihn? Er konnte nur beten, dass es auch wie im Himmel sein würde, wenn die Dunkelheit und die Taubheit und dieser rote Fluss von Blut ihn ganz verließen.
Ich hatte noch so viel vor, wollte noch so viel sehen in meinem Leben, dachte er. Zu spät.
Was für ein Idiot er doch gewesen war.
Immer weiter umhüllte ihn das schwarze Nichts, vertrieb die letzten lichten Momente, die durch sein Bewusstsein zogen. Und es war seltsam sanft. Der letzte helle Funken erlosch so schnell. Sekunden vergingen, Bruchteile von Sekunden.
Ein Leben. Sein Leben.
Der Tod war Gewissheit. Eddie war stark. Er glaubte auch, dass er ein guter Kerl gewesen war.
Aber er hatte Angst.
Ein merkwürdiges Geräusch schwirrte durch seine Ohren. Ein Ton, der hier in seinem Wasserbett irgendwie fehl am Platz schien. Wie das Peitschen des Windes und Pferde, die über Wind und Wellen jagten. Pferde, schwarz wie die Nacht. Doch sie hoben sich von der noch dichteren Dunkelheit dahinter ab. Etwas Beängstigendes ging von ihnen aus, trotzdem war ihr Anblick so schön … so beruhigend.
Und dann streckte sich ihm in der Dunkelheit eine Hand entgegen …
Dublin, Irland
„Aus dem Weg!“
„Was ist mit ihm? Oh Gott, mein Mann! Lassen Sie mich zu meinem Mann!“
Caer Cavannaugh hörte die Frau hinter dem Vorhang hysterisch lärmen. Sie bekam auch mit, wie die Triageschwester beruhigend auf sie einredete. Sie versuchte die Frau von den Ärzten abzuschirmen, die gerade mit ihren hektischen Rettungsmaßnahmen beschäftigt waren.
Ihr Mann war mit schwer einzuordnenden Symptomen eingeliefert worden. Offenbar hatte alles kurz nach seiner Ankunft in Dublin vor zwölf Stunden begonnen. Laut seiner Krankenakte war er bereits in den Siebzigern und bisher bei guter Gesundheit gewesen. Kurz nachdem er mit seiner Frau im Hotel eingecheckt hatte und zu einer Veranstaltung gegangen war, hatte es angefangen. Plötzlich hatte er über fürchterliche Magenschmerzen geklagt. Dann war er von einem solchen Schwächeanfall überwältigt worden, dass er sich kaum noch bewegen konnte. Und kurz darauf setzten die Herzprobleme ein.
Als er in die Notaufnahme kam, war er bewusstlos. Sein Pulsschlag hatte ausgesetzt, und die Ärzte begannen sofort mit den Wiederbelebungsmaßnahmen.
„Schock!“
Der Kranke bäumte sich auf, dann hörte man einen beruhigenden kräftigen Piepton. Sein Herz schlug wieder. Anordnungen wurden ihr zugerufen. Caer reagierte schnell. Sie war wenige Minuten vor Ankunft des Mannes in die Notaufnahme beordert worden. Wenn sie ihre Aufträge bekam, wusste sie vorher nie genau, wann sie wo sein würde und was sie tun musste. Doch sie hatte gelernt, mit jeder neuen Situation schnell klarzukommen.
Das hier war allerdings auch für sie etwas ungewöhnlich.
Die Herzschlagfrequenz auf dem Bildschirm zeigte in den ersten Sekunden ein paar aufgeregte Hüpfer, dann begann der Puls, einen regelmäßigen Takt zu schlagen. Der Mann blinzelte und öffnete die Augen. Als sein Blick auf sie fiel, zeigte sich ein schwaches Lächeln auf seinem Gesicht. „Ein Engel“, hauchte er. Dann fielen ihm die Lider wieder zu, und er schlief ein. Auf dem Monitor wurden sein Herzschlag und der Blutdruck überwacht, in seinem Arm steckte der intravenöse Schlauch.
Das Team im Behandlungsraum gratulierte sich. Kurz darauf hörte Caer das Schluchzen der Ehefrau hinter dem Vorhang, während ein Arzt ihr erklärte, was gerade vorgefallen war. Obwohl sich niemand erklären konnte, worin die Ursache lag. Der Arzt versuchte die Frau etwas zu beruhigen, damit sie ihnen ein paar Fragen beantworten konnte. Caer hörte genau zu und machte sich ein Bild, während sie auf ein Zeichen wartete, um den Patienten in die Intensivstation zu überführen.
Bei dem Patienten handelte es sich um Sean O’Riley. Seine Frau hieß Amanda und war offensichtlich beträchtlich jünger als er.
Immer wieder erklärte sie, wie wundervoll dieser Tag begonnen habe und wie glücklich Sean gewesen sei. Er war hier in Dublin geboren, lebte aber seit Langem in den Staaten. Normalerweise hatte er keine gesundheitlichen Probleme. Durch seinen Job als Kapitän einer Charterflotte war er kräftig und fit. Man erkundigte sich bei seiner Frau, was er gegessen habe. Sie sagte, dass sie im Flugzeug gefrühstückt und im Hotel zu Mittag gegessen hätten. Sie hatten beide das Gleiche zu sich genommen, und sie selbst fühle sich ausgezeichnet. Doch kurz nach dem Mittag hatten die Symptome bei ihrem Mann eingesetzt.
„Ich muss sofort zu ihm!“, verlangte sie.
Bald könne sie ihn sehen, wurde ihr versichert.
Caer lugte durch den Spalt im Vorhang und musterte die Frau. Sie war ziemlich klein und zierlich, schien gut proportioniert, hatte allerdings auffallend große Brüste. Ihr Haar war blond, die Augen haselnussbraun und eigentlich sehr schön. Allerdings hatte sie einen leicht schlitzohrigen Blick. Ob sie nur hinter seinem Geld her war? Und wenn ja, könnte sie etwas mit dem Zustand ihres Mannes zu tun haben? Aber wäre es dann möglich, einen solch verzweifelten Eindruck zu machen, auch wenn man schauspielerisch begabt war?
Der Arzt schlug vor, ihr ein Beruhigungsmittel zu geben. Amanda nickte zustimmend, und die Schwester verabreichte ihr eine Spritze.
Ein Polizist erschien. Interessant, dachte Caer.
„Cavannaugh.“
Caer zuckte zusammen und wirbelte zu dem Notarztassistenten herum, der sie gerade angesprochen hatte.
„Das ist jetzt Ihr Job. Er soll für die nächsten paar Stunden in die Intensivstation kommen, und Sie bleiben bei ihm.“
„Okay“, sagte sie.
Er musterte sie neugierig, als überlege er, ob er sie kenne.
Nicht ungewöhnlich. Das hier war ein großes Krankenhaus. Es kam häufig vor, dass irgendjemand irgendwann hier als Aushilfe eingesetzt wurde.
Schließlich lächelte er. Er schien zu dem Schluss gekommen zu sein, dass alles in Ordnung war.
„Ich bin für ihn zuständig“, sagte Caer, als sie die beiden Krankenpfleger begrüßte, die ihren Patienten zum Transport vorbereiteten. Auf dem Weg den Flur hinunter von der Notaufnahme zum Fahrstuhl in die Intensivstation überprüften sie ständig seine Infusion und Sauerstoffzufuhr.
Diesen Patienten musste man überwachen. Es schien völlig unverständlich, warum er in diesen lebensbedrohlichen Zustand geraten war. Aber es war passiert, und er musste beschützt werden.
Sein Handy klingelte, als Zach Flynn gerade tief und fest schlief. Der Fall des vermissten Jungen, hinter dem man eine Tragödie vermutet hatte, war glücklicherweise innerhalb weniger Tage mit einem guten Ende aufgeklärt worden. Sam, ein Zehnjähriger, hatte sich vernachlässigt gefühlt und war wütend gewesen. Seine Mutter hatte ein zweites Mal geheiratet und ein Baby bekommen. Diesem Baby wurde gegenwärtig alle Aufmerksamkeit gewidmet. Trotz des offenen Fensters und des Durcheinanders in seinem Zimmer hatte sich herausgestellt, dass er doch nicht gekidnappt worden war. Er hatte das alles so arrangiert und sich dann draußen in der alten Jagdhütte seines Vaters versteckt. Als Zach ihn schließlich aufgespürt hatte – mithilfe der E-Mails, die der Junge an einen Freund in China schrieb –, war er bereits reif für die Heimreise gewesen. Keine Heizung, die Lebensmittel gingen zur Neige – es war nicht halb so lustig gewesen wie erwartet. Alles hatte sich bestens aufgelöst. Sams Mutter und sein Stiefvater waren so erleichtert gewesen, dass sie ihn tränenreich und voller Liebe empfangen hatten. Das überzeugte ihn letztendlich davon, genauso geschätzt zu werden wie das Baby.
Im Augenblick stand also in seinem „richtigen“ Job – der privaten Ermittleragentur, die er mit seinen Brüdern Aidan und Jeremy führte – alles zum Besten. Deshalb hatte er geplant, sich im Dezember wieder ein bisschen mit seinem Nebenjob zu beschäftigen und sich ein paar Musiker in den Bostoner Clubs anzusehen. Vor Jahren hatte er begonnen, in Musikaufnahmestudios zu investieren. Er produzierte einige vielversprechende Nummern auf seinem eigenen Label und freute sich, wenn diese von großen Firmen übernommen wurden. Das war eine wunderbare Abwechslung von seiner Arbeit bei der Metro Polizei in Miami gewesen und immer noch ein guter Ausgleich neben seinem alltäglichen Job.
Er kannte sich sehr gut mit Computern aus. Aufgrund seiner Fähigkeit, sich in die kompliziertesten Systeme einzuhacken, war er der Techniker ihrer Dreimannfirma geworden. Im Umgang mit Menschen konnte er sich ebenfalls auf sein gutes Gespür verlassen, und er empfand sein Leben als erfüllend, auch wenn nicht jeder Fall so glücklich endete wie Sams.
Allerdings gab es auch Fälle, die selbst eine Statue zum Lächeln bringen könnten. So wie damals, als Mrs Mayfield von der Mayfield Oil Group sie für eine riesige Summe beauftragt hatte, Missy zu finden.
Missy war eine Katze.
Missy wurde schließlich zusammen mit sechs kleinen Fellbündeln entdeckt, und die Flynn-Brüder hatten danach nicht nur ihr Honorar, sondern jeder noch ein junges Kätzchen bekommen.
Trotz allem war die Musik Zachs größte Leidenschaft. Musik brachte das Blut in Wallung und konnte einen vollständig mit sich reißen. Ganz zu schweigen davon, wie sie die Seele labte und heilte. Wenn man so viel Hässliches zu Gesicht bekam, wusste man diese Schönheit zu schätzen.
Also hatte er den Dezember für sich selbst veranschlagt – für eine Gelegenheit, in diese andere Welt einzutauchen, in der niemand vermisst oder getötet wurde.
Gestern Nacht, nachdem er in Boston angekommen war, hatte er bereits heftig mit dem Entspannen begonnen. Nicht dass er betrunken gewesen wäre. Er trank nicht exzessiv, denn vor langer Zeit hatte er erkannt, dass dieses kurze Hochgefühl den Verlust von Kontrolle über sich nicht wert war. Aber er hatte sich in einem Pub mit Freunden getroffen und ein paar Bostoner Helle geschluckt. Trotzdem wachte er von dem Klingeln sofort auf und griff automatisch nach dem Handy, um den Anruf entgegenzunehmen. „Flynn.“
„Zach! Ach, Gott sei Dank, dass du drangehst. Eddie ist verschwunden, und jetzt ist Dad auch noch drüben in Irland im Krankenhaus. Ich wollte schon hinfliegen, aber Bridey meint, ich sollte lieber nicht. Dad hat …“
„Kat?“, unterbrach er ihren wirren Wortschwall.
„Ja, ich bin es, Kat. Ach, Zach, es ist alles so schrecklich. Ich brauche deine Hilfe. Wir haben keine Ahnung, was vor sich geht, und mein Vater ist da drüben ganz allein mit ihr. Du musst hinfliegen und nach dem Rechten sehen, Zach. Ich brauche deine Hilfe, und Dad auch!“
„Okay, jetzt beruhige dich erst mal, und dann fang noch mal von vorn an. Was ist mit deinem Vater passiert?“, fragte Zach, der jetzt mit einem Mal vollkommen wach war. Sean O’Riley war einer der besten Freunde seines Vaters gewesen. Für ihn und seine Brüder war er praktisch wie ein Onkel, auch nach dem Tod ihres Vaters, obwohl die Flynns in Florida lebten und er in Rhode Island. Er hatte ihnen jedes Mal wenn nötig seine Hilfe angeboten. Dann hatte Zach mit Kat zu tun gehabt. Keine Liebesbeziehung. Kat besaß eine unglaubliche Stimme, deshalb hatte er ihr beruflich geholfen und eine Band für sie zusammengestellt. Inzwischen war ihr Stern am Steigen. Für ihn stellte sie im Grunde eine weit entfernt lebende kleine Schwester dar.
„Sie hat ihm etwas angetan!“, rief Kat aufgeregt. „Sie ist ein Monster, eine Wölfin im Schafspelz!“ Kat holte tief Luft und schaffte es, sich ein bisschen zu beruhigen. „Bridey meint, du solltest sofort hinfliegen und sehen, was da vor sich geht. Sie hat Angst, dass ich es selbst mache. Du weißt ja, wie sie ist. Macht sich immer Sorgen, dass mir was passieren könnte. Wahrscheinlich fürchtet sie, dass ich im Knast lande, weil ich Amanda umgebracht habe. Zach, bitte. Du musst unbedingt rüberfliegen und Dad sicher nach Hause zurückbringen.“
„Hey, jetzt warte mal! Es gibt in Irland exzellente Krankenhäuser, und ich bin sicher …“
„Er muss hierherkommen. Damit wir ihn bewachen können. Bitte. Ich möchte dich hiermit anheuern. Zach, ich habe Angst. Eddie ist verschwunden, und ich fürchte, er lebt nicht mehr. Und jetzt hat es jemand auf Dad abgesehen, da bin ich mir ganz sicher. Ganz bestimmt steckt sie dahinter. Du weißt ja, dass ich ihr nie über den Weg getraut habe. Ich glaube, sie hat ihm wirklich was angetan!“ Kat hatte sich wieder in Rage geredet und sprach die letzten Worte nur noch schluchzend aus.
„Kat, wenn Sean in Gefahr ist, dann muss ich nicht ‚angeheuert‘ werden. Ich würde alles für ihn tun. Aber du musst dich beruhigen. Und Bridey hat recht, du kannst Amanda nicht einfach so beschuldigen.“
„Aber es stimmt doch!“
„Dafür brauchst du aber Beweise.“
„Mein Vater würde mir nie glauben.“
Zach konnte Kats Gefühle bezüglich ihrer Stiefmutter nachvollziehen. Amanda war kaum älter als Kat. Doch er selbst hatte keinen Anlass zu denken, dass Amanda ihren Mann umbringen wollte. Sicher, sie genoss die Tatsache, dass Sean wohlhabend war, und hätte ihm womöglich sonst keinen zweiten Blick gegönnt. Aber das war noch lange kein Mordmotiv.
Tatsächlich glaubte er nicht mal, dass diese Frau intelligent genug war, um einen Mord zu planen.
Als Kat alles erzählt hatte, wusste er zumindest, dass sie in einem Punkt recht hatte. Sie selbst durfte keinesfalls nach Irland fliegen, sie könnte sonst tatsächlich im Gefängnis landen. Aber er sollte es tun. Eigentlich hätte er sich direkt nach Rhode Island aufmachen müssen, wo man Eddie Ray und sein Schiff vermisste. Aber Sean befand sich in einem Dubliner Krankenhaus, und er musste nach Hause gebracht werden. Kat war zu sehr emotional betroffen, um sich darum zu kümmern. Sie schien fest davon überzeugt, dass ihre Stiefmutter böse war. Sean liebte seine junge Frau, aus welchen Gründen auch immer. Er liebte aber vor allem auch seine Tochter. Und die Zwistigkeiten zwischen den beiden könnten seinem Gesundheitszustand schaden.
Zach nahm seine Armbanduhr vom Nachttisch. Er konnte bis zum nächsten Morgen in Dublin sein. Wann er wieder in die Staaten zurückkäme, hing davon ab, wie gut – oder schlecht – es Sean ging.
„Wie geht es deinem Vater jetzt? Ist er denn transportfähig?“
„Ja, mit einer Krankenschwester oder so als Betreuung. Ich habe nicht alles richtig mitbekommen, nur dass es möglich ist, ihn nach Hause zu holen. Bitte, Zach, bring ihn her. Und wenn er in Sicherheit ist – zumindest in seinem Haus, wo ich diese Frau im Auge behalten kann –, dann könntest du nach Eddie suchen. Ich habe mit Dad telefoniert, er ist der Meinung, dass er lediglich irgendwas Schlechtes gegessen hat. Aber er macht sich große Sorgen um Eddie. Buche einfach einen Flug nach Dublin und ruf mich dann an. Ich kümmere mich um die Einzelheiten. Du hast doch gerade nichts zu tun, oder?“
Auf der anderen Seite des Bettes spürte Zach eine Bewegung und zuckte zusammen. Es war ja nicht so, dass er den Namen der Frau nicht kannte. Er wusste, wie sie hieß. Aber sie hatten nichts weiter miteinander zu tun, als dass sie beide nach einem langen Tag im Polizeirevier gern in dieser spärlich beleuchteten Bar saßen und gute Musik hörten. So war er schließlich mit ihr in ihrem Apartment gelandet.
Tatsächlich bekam er langsam den Eindruck, als wäre es ihm vorherbestimmt, ohne Ziel und rastlos durchs Leben zu wandern und sich nur auf seine Arbeit zu konzentrieren. Aber nie etwas zu finden, das ihn wirklich nach Hause zurückzog.
Im Moment wünschte er, allein aufgewacht zu sein.
„Nein. Ich kann noch heute fliegen, und das werde ich auch tun. Ich werde einen Flug bekommen“, versicherte er Kat. Zach ließ sich durch den Kopf gehen, was sie ihm berichtet hatte, und fragte sich, ob tatsächlich Gefahr bestand oder er sich von Kats Paranoia anstecken ließ.
Er erinnerte sich daran, wie feindselig sie Amanda gegenüber war, auch wenn sie es ihrem Vater zuliebe die meiste Zeit nicht zeigte.
Es bestand immerhin die Möglichkeit, dass Sean einfach krank geworden war. Dass er, wie er selbst meinte, lediglich eine schwere Lebensmittelvergiftung hatte. Was Eddie betraf, nun, das machte ihm tatsächlich Sorgen. Aber vielleicht erlaubte der sich einfach nur einen Scherz.
Nein. Das sah Eddie überhaupt nicht ähnlich. Etwas musste passiert sein. Sobald er aus Irland zurück war, musste er das herausfinden.
Er wollte das Gespräch gerade beenden, als Kat ihn noch zurückhielt.
„Warte, Zach.“
„Was ist?“
„Bitte, ich weiß, es klingt verrückt, aber … Mein Gott, ich spüre es. Es ist wie eine Eiseskälte, die mir durch Mark und Bein geht. Irgendwas … irgendwas Böses geht vor sich. Wie ein dunkler Schatten, der da draußen lauert. Ich mache mir solche Sorgen um Eddie und muss … aufpassen, dass meinem Dad nichts passiert. Das fühle ich.“
„Kat, ich bin so schnell wie möglich bei ihm, und ich bringe ihn nach Hause zurück.“
„Irgendwas Schlimmes passiert, Zach. Ich kann’s mir nicht erklären, aber ich habe echte Angst. Und du weißt, dass ich eigentlich kein Feigling bin.“
„Das weiß ich, Kat. Aber du musst dich jetzt wirklich beruhigen. Ich bringe Sean nach Hause.“
„Und du bleibst bei uns, bis die ganze Sache geklärt ist?“
„Ich bleibe, bis alles geklärt ist“, versprach er. Dann verabschiedete er sich schließlich und unterbrach die Verbindung.
Zach schlüpfte aus dem Bett, duschte und zog sich noch im Bad an. Als er ins Schlafzimmer zurückkam, lag seine Bettgenossin immer noch ausgestreckt im Bett und sah ihn an. Eine gepflegte, geschmeidige Blondine in den Dreißigern.
„Ruf mich an, wenn du wieder in der Nähe bist“, sagte sie heiser.
Er sollte ihr versichern, dass er das tun würde. Das wäre zumindest höflich gewesen.
Aber er wollte ihr nichts vormachen, deshalb schwieg er lieber.
„Du wirst dich nicht mehr melden, was?“
„Nein“, sagte er leise.
Sie musterte ihn einen Moment mit ihren braunen Augen. In ihrem Blick las er, dass sie zumindest die Ehrlichkeit zwischen ihnen zu schätzen wusste. Dann lächelte sie abgeklärt. „War nett mit dir, danke. Viel Glück noch.“
„Dir auch“, erwiderte er. Das meinte er auch so. Die Nacht war nett gewesen, und er wünschte ihr auch alles Gute. Doch irgendwie war für sie beide nicht mehr vorgesehen.
Während Zach die Wohnung verließ, rief er beim Flughafen an. Er fuhr zurück in sein Hotel, um so schnell wie möglich zu packen.
Die Luft war lau und duftete süß nach Blüten. Unter der Sonne glitzerten die Hügel wie von Smaragden besetzt, der Himmel leuchtete blau. Sie spürte die vom Tau feuchten Grashalme unter ihren nackten Füßen. Die leichte, seidige Brise spielte mit ihrem Haar, die Sonne wärmte ihren Nacken, während sie einfach nur das Gefühl genoss, am Leben zu sein.
Deutlich spürte sie auch ihr Herz klopfen, und im Traum rannte sie, wie sie einst in ihrem früheren Leben gerannt war. Sie lachte befreit bei all der Verheißung, die sie umgab, und vor Liebe zu dem Land. Sie war von der Stadt zurück hierhergekommen. So wie sie früher als Kind unbelastet und stark und im festen Glauben an das zukünftige Glück aufs Land gezogen war. Sie wusste, wenn sie den nächsten Hügel erklomm, würde sie das sorgfältig mit Binsen gedeckte Cottage sehen, das dort im Tal wartete. Ein Feuer würde im Herd brennen. Am Abend tranken dann die Männer ihr Helles, spielten ihre Lieder von den Maiden, die sie geliebt und verloren hatten, und redeten von vergangenen Zeiten. Das kleine alte Haus wäre voller von ihr geliebter Menschen. Alles, was sie einst verloren hatte, fände sie dort.
Sie bemerkte, wie sie unwillkürlich schneller rannte. Zuerst beunruhigte es sie. Dann genoss sie einfach diese Kraft, die ihre Glieder erfüllte. Es war wunderbar, so zu rennen. So lebendig und so eins mit der Natur, das Gras unter ihren Füßen, die Luft, die Sonne. Von ferne diese Musik, wie der Gesang von Sirenen, der sie zu sich lockte.
Dann blickte sie zurück – und sie verstand. Sie verstand, warum sie immer schneller lief. Schneller laufen musste.
Da war diese Dunkelheit hinter ihr. Die Dunkelheit der Nacht, der sich blähenden Wolken, der Schatten, die sich vor die Sonne drängten.
Die süße Musik, die sie angelockt hatte, wurde durch ein tiefes Donnergrollen abgelöst. Sie wusste, sie musste schneller rennen, der sich ausbreitenden Dunkelheit entkommen wie einer Flutwelle. Inmitten des Donnergrollens vernahm sie das Schlagen von Pferdehufen. Als sie einen weiteren Blick zurück wagte, brach etwas durch die Wolken und bewegte sich auf sie zu.
Eine Kutsche. Dunkel, massiv und wunderschön, trotzdem Furcht einflößend. Gezogen von riesigen, geschmeidigen schwarzen Pferden mit Flügeln.
Und da wusste sie es. Irgendwie wusste sie, dass diese Kutsche sie abholen würde.
Sie drehte sich wieder um und rannte schneller. Ich bin jung, sagte sie sich. Jung und schön, und die Welt ist mein.
Dort drüben erblickte sie jemanden … da vorn. Sie kannte ihn, da war sie sich sicher, ihr fiel nur nicht mehr ein, woher. Ein trauriges Lächeln lag auf seinem Gesicht, als würde er sie nun in seinem Reich begrüßen. Etwas sagte ihr, dass er nicht dort sein sollte. Sie kannte ihn. Er war ein Freund. Aber ein Freund, der nicht hierher gehörte, nicht in dieses Irland, das sie als Kind gekannt und geliebt hatte. Er winkte ihr zu, und sie wusste nicht, ob das eine Begrüßung oder eine Warnung darstellte.
Es war egal. Sie musste dieser Dunkelheit entkommen, und die einzige Möglichkeit war, immer weiter geradeaus zu rennen.
Das Donnern dieser Hufe! Sie hätte auch nicht sagen können, ob diese riesige Kutsche sie vor der Dunkelheit retten sollte oder ein Teil von ihr war.
Und so rannte sie, wurde immer schneller. Ihr Herz raste, ihre Muskeln schmerzten, und die Lungen brannten. Sie betete im Laufen, dass die Dunkelheit sie nicht einholen solle, dass die Kutsche zu ihrer Rettung käme. Dass sie mit ihr den Weg fortsetzen könne in den wunderschönen smaragdgrünen Tag, in die Wärme und die Liebe, die im Cottage mit diesem Freund und all den anderen auf sie wartete.
Er sagte etwas zu ihr. Obgleich sie die Worte nicht verstand, spürte sie, dass er sie warnen wollte.
„Eddie?“, rief sie, als sie ihn im Näherkommen plötzlich erkannte.
„Es ist gut, Bridey. Mir geht es gut. Ich fühle mich hier wohl. Aber du musst vor den Schatten achtgeben und vor dem heulenden Wind.“
„Eddie, um Gottes willen … was ist passiert?“
„Das weiß ich nicht genau. Aber ich habe den Schatten gesehen.“
Und dann verschwand er aus ihrem Blickfeld, sein Bild verblasste. Die Schatten umgaben ihn nun vollständig. Sie wollte zu ihm.
Also rannte sie weiter …
Trotz ihrer Angst und dieses Gefühls, so lebendig zu sein, so verzweifelt lebendig, rannte sie energisch voran.
Sie spürte wieder deutlich den Tau unter ihren nackten Sohlen. Die Stärke, die in ihrem jungen Körper steckte. Das Herz, die Lungen, ihr Denken – alles war geschärft und kräftig, und einfach nur zu leben war so wunderbar …
Bridey O’Riley erwachte ruckartig.
Sie hatte kaum die Lider aufgeschlagen, als sie wieder die Arthritis in ihren Händen spürte, in ihrem gekrümmten Rückgrat, sogar jetzt, wo sie ausgestreckt in ihrem Bett lag.
Ach, die Träume.
Im Traum konnte eine Frau wieder jung sein. Und schön. Zurück in Irland, dem Land ihrer Jugend, weit entfernt von jenem hektischen Leben der Stadt. Einfach nur ein junges Ding, das auf den Hügeln herumtollte und von der Liebe schwärmte.
Bridey lächelte, als das Tageslicht durch die Fenster ins Zimmer sickerte. Heute würde es keine Rennen über die glitzernden Hügel und durch die samtigen grünen Täler Irlands geben. Ihr Zuhause dort war genauso weit entfernt wie ihre Jugend. Wenn sie aufstand und in den Spiegel blickte, wären da keine glänzenden Augen, kein strahlendes Lächeln und keine Porzellanhaut. Eine alte Frau würde sie sehen, wettergegerbt und faltig, eine, die gelebt hatte, Tragödien ertragen ebenso wie Verzückung gespürt. Und die nun wusste, dass der Tod nicht mehr weit entfernt sein konnte.
Wenn sie aus dem Fenster blickte, würde sie zerklüftete wilde Felsen sehen, die im fahlen Winterlicht grau erschienen, oft auch sehr aufregend. Hier war sie in Amerika, an der Küste von Rhode Island, dem Ort, den sie nun ihr Zuhause nannte.
Ein gutes Zuhause war das. Sean William O’Riley hatte sich und seiner Familie alle Ehre getan. Das Meer war sein Erbe, es lag ihm im Blut. Er war hierher an diese Granitfelsenküste gekommen und hatte sich ein feines Einkommen erwirtschaftet, indem er Ausflüge auf wunderschönen Schiffen organisierte. Elegante Schiffe mit hohen Masten und geblähten Segeln. Sie wohnten in einer prächtigen Villa, und ihnen fehlte es an nichts. Der Respekt, den er ihr zollte, und seine jahrelange Fürsorge für eine alte Verwandte bewiesen ihr, dass er ein guter, liebevoller Mensch war.
Ein guter Geschäftsmann war er außerdem, arbeitete zusammen mit diesem neuen jungen Kollegen Cal und mit Eddie Ray …
Ihr Lächeln verblasste, als sie sich daran erinnerte, Eddie in ihrem Traum gesehen zu haben.
Eddie Ray wurde vermisst.
Einer der besten Kapitäne der Ostküste. Er war mit seinem liebsten Schiff aus der Flotte, der Sea Maiden, hinausgefahren. Seitdem hatte man nichts mehr von ihm gehört. Er war verschwunden.
Aber sie hatte ihn im Traum gesehen, vor dem Cottage, mit dieser warnenden Geste. Und es gab keinen Grund, warum er dort sein sollte, wo er doch schon immer hier in den Staaten gelebt hatte.
Gerade als ihr dieser Gedanke durch den Kopf ging, flog die Tür zu ihrem Zimmer auf. Kat stand einen Moment dort im Türrahmen wie eine königliche Galionsfigur, die sich gegen das Auf und Ab des Meeres behauptete. Katherine Mary O’Riley, ihre Großnichte. Sie war Seans Tochter und so jung und schön, wie Bridey es auch einmal gewesen war.
„Ach, Tante Bridey!“, rief Kat niedergeschlagen.
„Was ist denn, mein Kind?“, fragte Bridey und schob die Kissen zurecht, um sich etwas aufzusetzen.
Kat kam hereingelaufen und warf sich neben Bridey aufs Bett.
„Sie haben die Sea Maiden gefunden, sie trieb vor einer der Inseln.“
Bridey erschauerte. Hatte sie nicht gerade Eddie gesehen, den Kapitän der Sea Maiden, in einem irischen Tal, in das er gar nicht gehörte?
Und hatte er sie nicht gerade vor den Schatten gewarnt?
„Und Eddie?“, erkundigte sie sich leise, während ihre Angst langsam zur Gewissheit wurde.
Kat sah Bridey mit ihren blauen Augen besorgt an. „Kein Anzeichen von ihm“, flüsterte sie den Tränen nahe. Dann setzte sie sich wieder gerade auf.
„Sie steckt dahinter“, sagte sie wütend und starrte Bridey mit zusammengekniffenen Augen an. „Diese Hexe. Ich weiß nicht, wie, aber ich bin sicher, Amanda hat was damit zu tun.“
„Aber, aber, Kindchen. Deine Mutter hätte sicher nichts dagegen gehabt, dass dein Vater noch mal mit einer anderen glücklich wird.“
„Ach, Bridey!“, rief Kat. „Sie ist ein Ekel! Amanda ist kaum fünf Jahre älter als ich, gerade mal einunddreißig. Sie hat Vater wegen seines Geldes geheiratet – das weißt du doch auch! Und jetzt ist Dad im Krankenhaus in Dublin, und das Schiff ist gerade gefunden worden, ohne eine Spur von Eddie. Ich weiß … Ich weiß es einfach, dass sie dahintersteckt!“
„Nun mal langsam, mein Mädchen, wie soll das denn gehen? Dein Dad ist in Irland, und Eddie ist kurz vor der Abschiedsparty verschwunden. Du hast doch selbst gesehen, dass Amanda da noch mit deinem Vater zusammen war“, versuchte Bridey sie zu beruhigen.
„Das ist mir egal. Sie steckt dahinter … irgendwie hat sie es getan. Sie hat meinen Vater vergiftet“, beharrte Kat. „Sie ist böse. Durch und durch böse.“
„Kat!“
Bridey versuchte sich ihre Gefühle nicht anmerken zu lassen, aber die Gedanken rasten durch ihren Kopf. Warum war Sean nur so darauf versessen gewesen, diese junge Blondine zu heiraten … wie hatten sie sie genannt? Strohkopf. Das war es, und es beschrieb Amanda O’Riley nur zu gut.
So etwas konnte sie natürlich nicht in Gegenwart von Kat sagen. Das würde alles nur verschlimmern. Sie strich ihrer Großnichte übers Haar. „Mach dir keine Sorgen. Hast du mir nicht gesagt, du würdest Zach Flynn darum bitten, deinen Vater gesund und sicher nach Hause zu bringen?“
Kat nickte. „Ich habe ihn heute Morgen angerufen, er wird schon unterwegs sein.“ Dann schenkte sie Bridey ein Lächeln. „Und diese Idee stammt von dir.“
„Du hast gut daran getan, dem Folge zu leisten“, entgegnete Bridey. „Er bringt deinen Dad ganz bestimmt sicher nach Hause.“ Sie war froh, dass Kat sich so weit beherrscht und Zach gebeten hatte, ihren Vater zu holen. Amanda war Seans Ehefrau. Wenn er hilflos und krank war, hatte sie das Sagen. Eine wütende Kat, die sie mit Beschuldigungen bombardierte, wäre ihm keine große Hilfe. Nicht allein das. Sollte er sich tatsächlich in Gefahr befinden, dann konnte Zach als professioneller Ermittler am besten mit der Situation umgehen.
„Ich sollte bei meinem Vater sein“, sagte Kat leise.
„Aber du bist bei mir“, erwiderte Bridey und lächelte. „Was mein Glück ist, Kindchen. Zach wird deinen Vater nach Hause bringen, und er wird herausfinden, was hier los ist, da bin ich zuversichtlich.“
Aber eins wusste Bridey schon jetzt. Er würde Eddie nicht finden. Zumindest nicht lebend.
Sie hatte die dunkle Kutsche gesehen, gezogen von den schwarzen geflügelten Pferden.
Eddie war tot.
Und die Todeskutsche donnerte immer weiter auf sie zu.
„Sie sollten es erst mal um Weihnachten sehen“, sagte Sean O’Riley. Trotz seiner geschwächten Konstitution funkelten seine Augen vor Begeisterung. „Wir leben direkt an der Küste, deshalb weiß man nie, ob es schneien wird. Aber es ist immer frisch und kühl, genau mit dem richtigen Wind. Einfach wunderschön.“
Caer lächelte. Die Kraft und Energie des alten Mannes, der hier im Krankenbett lag, beeindruckte sie. Es war angenehm, sich um ihn kümmern zu müssen. Er besaß noch immer einen dichten Haarschopf, der inzwischen silbergrau und weiß geworden war. Und er beobachtete sie mit Augen, die so hellblau waren, wie nur der Himmel über Tara sein konnte. Wenn Sean O’Riley meinte, das Wetter um Weihnachten sei frisch und kühl, dann bedeutete es wahrscheinlich, dass man sich um diese Zeit den Hintern abfror. Sie mochte Sean und hörte ihm gern zu, wenn er von seinem Leben erzählte.
Er war in Dublin geboren, und zwar in genau diesem Krankenhaus, in dem er sich gerade befand. Doch sein Zuhause lag nun auf der anderen Seite des Atlantiks. In einer Stadt namens Newport in Rhode Island, das für seine unberechenbaren Wetterverhältnisse bekannt war, inklusive der lähmenden Nordostwinde. Er war gerade erst kurz zuvor in Irland angekommen, als sie ihn mit dem Rettungswagen ins Krankenhaus gebracht hatten. Doch schon hörte man seinen leichten irischen Akzent heraus, trotz der vielen Jahre, die er außerhalb verbracht hatte.
„Ich bin davon überzeugt, dass Newport fantastisch ist“, versicherte sie ihm.
Er nickte zufrieden, dann zuckte er leicht zusammen. Mit all den Geräten und Kanülen in seinem Arm versuchte er, eine bequeme Lage im Bett zu finden.
Aufgrund seiner guten Konstitution war er sehr schnell von der Intensivstation in ein normales Krankenzimmer gebracht worden. Dr. Morton, der Internist, vermutete, dass es sich um eine Lebensmittelvergiftung handelte. Allerdings hatte Sean dasselbe gegessen wie seine Ehefrau, mit der er die ganze Zeit hier zusammen gewesen war. Bei einer Inspektion des Restaurants, in dem die beiden zu Mittag gegessen hatten, waren keine bakteriellen Verunreinigungen gefunden worden. Amanda O’Riley erfreute sich außerdem bester Gesundheit und befand sich zurzeit im Wellnessbereich des Hotels. Sie bestand darauf, sich nun eine Massage zur Entspannung zu gönnen, nachdem sie wegen Seans Krankheit einen solchen Schock erlitten hatte.
Sean war sechsundsiebzig.
Amanda war einunddreißig.
Das hieß, ihr Magen war fünfundvierzig Jahre jünger als Seans. Vielleicht hatte ihr das geholfen. Doch die Ärzte waren sich noch immer nicht im Klaren darüber, was zu Seans Zustand geführt haben könnte. Sie hatten sein Herz eingehend untersucht – es war vollkommen gesund. Sie hatten ihn durchleuchtet und nichts gefunden. Mit seinem Fortschritt konnten sie zufrieden sein, doch noch war er schwach wie ein Neugeborenes. Die Schmerzen und der körperliche Schock hatten sein Herz außerordentlich belastet, was ihn fast das Leben gekostet hätte. Wodurch dieser physische Schock ausgelöst worden war, konnten sie aber nicht herausfinden.
„Es ist gut, nach Irland zurückzukommen“, sagte er leise. Dann lächelte er, als ihm klar wurde, wie merkwürdig das klingen musste. „Trotz alldem hier …“ Er deutete mit einer schwachen Handbewegung auf die Monitore, an die er angeschlossen war, und das Krankenzimmer. „Wir haben eine wunderbare Inszenierung von Brendan Behans ‚The Hostage‘ im Abbey Theatre gesehen. Es war eine Matinee, glücklicherweise.“
„Sie sind, seitdem Sie in die Staaten gezogen sind, nie mehr hier gewesen? Seit fünfzig Jahren nicht?“, fragte Caer.
Er sah sie an und schüttelte den Kopf, aber sein Blick schien nicht auf sie gerichtet, sondern weit in die Vergangenheit. „Caer“, sagte er dann und sprach den Namen richtig aus, wie „Kyre“. „Es geht so schnell, dass man in den Alltagstrott gerät. Man nimmt sich so viel vor, aber … Na ja, wenigstens habe ich’s jetzt endlich mal geschafft, zurückzukommen.“ Er wedelte mit dem Finger in ihre Richtung. „Sie waren noch nie in den Staaten, junge Dame, oder irre ich mich?“
„Nein, war ich nicht“, sagte sie lächelnd. „Hier ist immer viel zu tun.“
„Krankenschwestern werden überall gebraucht“, sagte er.
„Ja, Krankenschwestern werden überall gebraucht“, bestätigte sie mit einem etwas schlechten Gewissen.
„Wurden, sollte man sagen. Wir hatten eine ganze Menge von irischen Krankenschwestern und Priestern in den Staaten. Aber jetzt heißt es, die Wirtschaft hier hätte sich so gut erholt, dass sie nicht mehr rüberkommen müssen, um Arbeit zu finden.“
„Daran habe ich nie gedacht. Ich hatte hier immer viel zu tun“, sagte sie.
„Nun, irgendwann müssen Sie mal in die Staaten kommen. Aber nicht nur nach New York oder vielleicht Kalifornien. Nehmen Sie Rhode Island, ja, sehen Sie sich Rhode Island an. Wir haben dort eine so reichhaltige Kultur und Geschichte. Ich bin dorthin gereist, weil mein Großvater gestorben ist, aber mein Vater hierbleiben wollte. Ich konnte seine Gefühle nachvollziehen – eigentlich ging es mir genauso, um ehrlich zu sein. Aber mein Großvater hatte sich dort ein prächtiges Haus gebaut und einen Betrieb gegründet. Darum musste man sich kümmern, damit es sich zu einem soliden, profitablen Unternehmen entwickelte. Das habe ich dann getan. Und als ich sah, wo das Haus stand – ganz oben auf den Klippen, hoch über dem Wasser, mit diesem frischen Wind … Nun, ich wusste, dort wollte ich leben. Hier, in Dublin, verändert sich die Welt, das ist auch gut so. Aber in Newport habe ich irgendwie die Vergangenheit gefunden. Wenn ich gerade nicht auf See bin, recherchiere ich und verfolge die Spuren alter Revolutionäre. Haben Sie mal von Nigel Bridgewater gehört?“
„Von wem?“, fragte Caer.