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ISBN 978-3-649-60994-0 (eBook)

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Prolog

Er lag auf dem Feldweg, völlig unbeweglich, ein Bein eigenartig vom Körper weggedreht, das Gesicht blutüberströmt. Der Regen hatte seine Kleidung durchnässt und den Boden in eine schlammige Masse verwandelt.

Er atmete flach. Seine Augenlider zuckten, aber er verspürte keine Schmerzen. Noch nicht einmal die beißende Kälte drang zu ihm vor.

Viele Stunden lag er nun schon hier. Starr und unfähig, sich zu bewegen. Am Leben, doch nur noch ein paar Herzschläge vom Tod entfernt.

Ihr Gesicht tauchte vor ihm auf. Sie lächelte. So zärtlich, dass ihm Tränen in die Augen stiegen.

Wie wunderschön sie ist. Und so stark und mutig. Ich liebe sie. Ich liebe sie mehr als mein Leben, dachte er.

Er versuchte, ihren Namen zu rufen. Immer wieder und wieder. Doch es kam kein Laut über seine Lippen.

1.

Da musst du jetzt durch, dachte ich, als ich quer durch die Aula lief und dabei von zahlreichen neugierigen Augenpaaren verfolgt wurde.

Den ganzen Vormittag über ging das schon so. Sie starrten mich an, tuschelten hinter meinem Rücken, kicherten albern oder zeigten mit dem Finger auf mich.

Guck mal da, die Neue

Natürlich war mir klar gewesen, dass der erste Tag an der neuen Schule nicht gerade leicht werden würde, aber dass ich so unter Beobachtung stehen sollte, darauf war ich nicht vorbereitet. Und dann noch dieser nervige Christoph, der sich in der ersten Stunde prompt neben mich gesetzt und mich ohne Unterbrechung mit seinen schwachsinnigen Geschichten zugetextet hatte.

Als ich mich in der Pause auf den Weg zur Bibliothek machte, atmete ich auf. Der Flur dorthin war menschenleer. Anscheinend würde ich wenigstens dort meine Ruhe haben. Es kribbelte leicht in meinem Bauch, als ich die Hand auf die Türklinke legte.

Ich stutzte und rüttelte heftig an der Klinke. Die Tür war verschlossen.

Vor Enttäuschung zog sich mein Magen zusammen. Warum konnte ich dem ganzen Theater nicht wenigstens für ein paar Minuten entfliehen?

Seufzend suchte ich die Tür nach den Öffnungszeiten ab. Schließlich entdeckte ich sie auf einem kleinen weißen Zettel, inmitten von Plakaten über anstehende Sportturniere, Infos zu AGs und Theateraufführungen.

Wenn die Zeiten stimmten, musste die Bibliothek jetzt eigentlich geöffnet sein.

»Und warum ist die Tür dann bitte schön verschlossen?!«, regte ich mich auf.

Erneut griff ich nach der Klinke, um nach längerem wütendem Rütteln letztendlich doch einzusehen, dass die Tür sich nicht öffnen ließ.

»Scheiße!«

Am liebsten hätte ich gegen die Scheibe getreten. Meinen ganzen Frust an der doofen Tür abgelassen. Und vielleicht hätte ich genau das im nächsten Moment getan, wenn ich nicht plötzlich das Gefühl gehabt hätte, dass mich jemand beobachtete.

Ich fuhr herum und blickte direkt in die braunen Augen eines großen dunkelhaarigen Jungen, der kaum älter zu sein schien als ich.

»Geschlossen?«, fragte er.

Ich nickte und machte einen Schritt zur Seite.

»Typisch. Die Kauert ist mal wieder krank. Das geht jetzt schon ’ne halbe Ewigkeit so. Aber bis die sich mal um ’ne Vertretung kümmern … Da lassen sie die Bibliothek lieber wochenlang zu.«

»Aha«, murmelte ich und musterte den Jungen dabei verstohlen. Seine etwas dunklere Hautfarbe und das halblange, leicht gelockte Haar gefielen mir.

»Ich heiße übrigens Jérôme«, sagte er und sah mich an.

Irgendetwas lag in seinem Blick, eine Offenheit und Intensität, die mich völlig unvorbereitet traf.

»Ähm, hi … i-ich bin Anna«, stammelte ich.

Jérôme hob die Hand, als ob er mir zuwinken wollte. »Hi, Anna!« Er grinste. Ein Grübchengrinsen. »Bist du neu an der Schule?«

Ich nickte. »Seit heute.«

»Verstehe«, erklärte er mitfühlend.

Wir schwiegen eine Weile. Er schien darauf zu warten, dass ich noch etwas sagte, aber mir fiel beim besten Willen nicht ein, was ich Kluges oder Witziges von mir geben könnte. Alles, was ich zustande brachte, war ein peinliches Fiepen. »Alle starren mich an. Das nervt.«

Zu allem Überfluss spürte ich, wie mir langsam die Röte den Hals hinauf ins Gesicht stieg, und ich wollte nur noch weg.

Jérôme schien mir meine Verlegenheit nicht anzumerken oder er ignorierte sie einfach. »An welcher Schule warst du vorher?«, fragte er.

Ich holte tief Luft und zwang mich zu einer betont lässigen Körperhaltung. »Auf dem Kippenberg-Gymnasium in Bremen.« Und weil sich das in meinen Ohren wirklich einigermaßen normal angehört hatte, fügte ich schnell hinzu: »Jetzt sind wir aber aufs Land gezogen und deshalb musste ich die Schule wechseln.«

Jérôme grinste. »Echt? Ich bin auch ’ne Weile in Bremen zur Schule gegangen.«

»Ach so.«

Ach so? Geht’s noch? Was für einen Schwachsinn laberst du da eigentlich?

Erneut entstand eine Pause zwischen uns. Ich gab vor, interessiert die Bilder an den Wänden zu betrachten, während Jérôme mit der Spitze seines linken Schuhs einen imaginären Stein hin und her rollte.

Schließlich räusperte er sich, nickte mir kurz zu und sagte: »Dann mach’s mal gut. Vielleicht sieht man sich ja bei Gelegenheit.«

»Ja, vielleicht«, bemühte ich mich, ebenso unverbindlich zu antworten.

Geschafft! In letzter Sekunde erreichte ich den Schulbus. Ich hatte meinen ersten Tag an der neuen Schule hinter mich gebracht. Keuchend kramte ich meine Monatsfahrkarte aus dem Rucksack und zeigte sie dem Busfahrer. Der warf einen kurzen Blick darauf und nickte. Dann schaute er wieder nach vorn, startete den Motor und fuhr los.

Schwankend bahnte ich mir einen Weg durch den schmalen Gang und ließ mich auf den erstbesten freien Platz sinken.

»Puh, das war knapp«, sagte ich zu mir selbst.

»Hi, Anna«, hörte ich plötzlich jemanden neben mir sagen.

Ich wandte erstaunt den Kopf und blickte zum zweiten Mal an diesem Tag in Jérômes grinsendes Gesicht.

»Oh, hi!«, sagte ich und bekam wie auf Kommando feuchte Hände.

Bitte nicht, Anna. Mach dich nicht schon wieder total lächerlich!, beschwor ich mich.

»Wohin musst du?«, fragte Jérôme.

»Mahlhausen.«

»Ach nee«, sagte er und lächelte verschmitzt.

»Was ist?« Irritiert strich ich mir eine lange dunkle Strähne aus dem Gesicht.

»Da wohne ich zurzeit auch«, erklärte Jérôme.

»Wo denn genau?«, fragte ich überrascht. »Ich hab dich bisher noch nie dort gesehen.«

Was einem Wunder nahekommt bei 532 Einwohnern, fügte ich in Gedanken hinzu.

»Richtung Tönisberg. Das letzte Haus vorm Waldrand. Ist so ’n kleiner Hof.«

»Ach, da bin ich mal dran vorbeigeritten. Hab mich schon gefragt, wer dort wohl lebt.«

Schlagartig verdunkelte sich Jérômes Gesicht. So als ob jemand die Vorhänge zugezogen hätte. »Na, jetzt weißt du’s ja«, sagte er knapp.

Was war denn mit dem auf einmal los? Hatte ich was Falsches gesagt?

Na, dann eben nicht, dachte ich und kramte mein Geschichtsbuch hervor. Ich schlug es auf und versuchte, mich auf den Text über das Zeitalter des Imperialismus zu konzentrieren.

»Hausaufgaben?«, hörte ich Jérôme nach einer Weile vorsichtig fragen.

»Sieht ganz so aus«, brummte ich.

»Wenn du Hilfe brauchst … Ich hab in der Zehnten ein Referat darüber gehalten. Das ist noch irgendwo auf meinem Rechner.«

»Schön für dich.« Ich schaute nicht auf. »Aber ich denke, ich schaff’s auch allein.«

Für den Rest der Fahrt herrschte Funkstille zwischen uns. Erst als der Bus in Mahlhausen anhielt, ich hektisch mein Buch in die Tasche warf und vom Sitz aufsprang, unternahm Jérôme einen erneuten Versuch. »Du kannst es dir ja noch mal überlegen.«

Langsam drehte ich mich zu ihm um. »Was?«

»Die Sache mit dem Referat. Mein Angebot steht.«

Einen Moment schaute ich ihn an, bevor ich gleichgültig mit den Schultern zuckte. »Danke«, sagte ich und wandte mich ab.

So schnell wie möglich verließ ich den Bus und drehte mich kein einziges Mal zu Jérôme um.

Als ich das Auto meiner Mutter auf dem Hof entdeckte, atmete ich erleichtert auf. In ein leeres Haus zu kommen, war so ziemlich das Letzte, was ich nach dem Vormittag gebrauchen konnte.

Ich drückte auf den Klingelknopf. Von drinnen erklangen Schritte, dann wurde die Tür geöffnet und das Gesicht meiner Mutter tauchte im Türrahmen auf.

»Hi, mein Schatz. Hast du deinen Schlüssel vergessen?«

»Nö, ich hatte keine Lust, in meiner Tasche zu wühlen«, gab ich zu.

Claudia hob die Augenbrauen und musterte mich skeptisch. »Nicht so gut gelaufen, dein erster Tag, was?«

Ich nickte und kaute auf der Unterlippe herum.

»Das wird schon, Anna. Der erste Tag ist immer irgendwie doof.« Claudias Stimme klang sanft. Sie nahm mich in die Arme und strich mir zärtlich über den Kopf.

So blieben wir eine Weile stehen. Schließlich löste ich mich aus der Umarmung, räusperte mich leise und sagte mit betont heiterer Stimme: »Du hast sicher recht. Und wie war dein Vormittag?«

Meine Mutter seufzte tief. »Kommt ganz darauf an, wie man es betrachtet. Eigentlich wollte ich mindestens ein Kapitel schaffen. Aber dann bin ich in den Stall gegangen und habe Rashun und Maschagar auf die Weide gelassen. Darüber habe ich irgendwie die Zeit vergessen … zum Schreiben bin ich dann gar nicht mehr gekommen.«

Ich konnte mir ein Grinsen nicht verkneifen. »Das wird schon, Claudia.«

Sie knuffte mich in den Oberarm. »Du sollst dich nicht dauernd über deine inkonsequente Mutter lustig machen!«

»Das würde ich doch niemals tun«, erklärte ich noch immer grinsend, »aber es ist schon Wahnsinn, was für ein Aufwand betrieben wurde, damit du endlich ungestört schreiben kannst. Und dann sitzt du bei den Pferden herum und träumst.«

Schlagartig wurde Claudia ernst. »Du bereust den Umzug schon, stimmt’s?«

Ich wusste nicht, was ich darauf antworten sollte. Im Moment kam es mir wirklich wie ein Riesenfehler vor, dass ich den Plänen meiner Eltern zugestimmt hatte.

»Wenn wir in Bremen mehr oder weniger unsere Zelte abbrechen, dann nur, wenn jeder von uns hundertprozentig dahintersteht«, hatte mein Vater erklärt, und ich war mir sicher, dass er es genauso gemeint hatte. Damals hatte ich eingewilligt. Aber da hatte ich mir das Leben auf dem Land auch noch ganz anders vorgestellt. Bevor meine Eltern den Kaufvertrag für den kleinen Resthof unterschrieben hatten, war mir das Ganze hier viel freundlicher und verlockender vorgekommen. Endlich die Pferde am Haus. Nicht mehr jeden Tag mit der Straßenbahn in den fünf Kilometer entfernten Reitstall fahren. Ausreitgelände so weit das Auge reichte … Hier ging es Rashun und Maschagar richtig gut. Besonders Rashun hatte sich in den letzten vier Wochen verändert. Mein sonst so hypernervöser Vollblutaraber war richtig gelassen geworden. Und das lag eindeutig am Ortswechsel. Davon war ich fest überzeugt.

Aber die Dorfbewohner gingen mir schon jetzt gehörig auf den Geist. Neulich hatten drei Nachbarinnen unangekündigt vor unserer Tür gestanden, um sich Claudias Aussteuerwäsche anzugucken. Stühlerücken hatten sie das genannt. Verrückt! Und dann dieses ständige Geglotze. Als ob wir gemeingefährliche Terroristen wären, die ihr Dorf in die Luft sprengen wollten.

Unwillkürlich musste ich an den dicken rothaarigen Besitzer des kleinen Supermarkts denken – ein unangenehmer Typ, der einen mit seinen Blicken geradezu durchlöcherte – und schüttelte mich angewidert.

Aber wollte ich deswegen wirklich wieder zurück nach Bremen? In unsere Stadtwohnung? In mein altes Leben, das zwar völlig okay gewesen war, aber auch nicht gerade besonders aufregend?

In diesem Augenblick fiel mir Jérôme wieder ein. Ich wunderte mich noch immer, warum er auf einmal so abweisend zu mir gewesen war. Aber da war noch mehr, das ich mir einfach nicht erklären konnte. Als ich ihm das erste Mal in die Augen geblickt hatte, war plötzlich so eine beruhigende Wärme in mir aufgestiegen. Irgendwie hatte mich dieser Blick berührt. Und gleichzeitig hatte ich das Gefühl gehabt, den Boden unter den Füßen zu verlieren …

Jérôme passte absolut nicht in dieses schreckliche Kaff mit seinen rechtschaffenen Einwohnern, die jeden Samstag die Straße vor ihrem Haus kehrten und die Fenster putzten. Er schien hier genauso wenig hinzugehören wie ich, Lichtjahre vom eigentlichen Leben entfernt, in einer Welt, in der die Uhren noch ganz anders tickten.

Warum war er bloß hier? Warum war ich hier? Weshalb hatte ich gedacht, es wäre eine gute Idee hierher zu ziehen?

Klar, für meine Eltern war dieses ruhige, beschauliche Dorf sicher ein Segen. Ich konnte gar nicht sagen, wie lange meine Mutter schon davon träumte, aufs Land zu ziehen, um in Ruhe schreiben zu können. Und mein Vater, ein echter Workaholic, war seit dem Umzug auch viel entspannter, obwohl er nun jeden Tag beinah eineinhalb Stunden nach Bremen in seine Kanzlei fahren musste.

»Wenn das so weitergeht, dann machst du’s nicht mehr lange«, hatte meine Mutter immer zu ihm gesagt. »Du musst unbedingt einen Ausgleich zum Job haben. Vielleicht können wir einen Ort finden, an dem du einen Gang runterschalten kannst.«

Na ja, das war Mahlhausen ganz bestimmt. Hier ging wirklich alles viel, viel langsamer. Und vielleicht hatte Claudia ja recht, möglicherweise war es genau das, was für uns im Moment am besten war.

Auch wenn dieser erste Schultag ätzend gewesen war. Morgen sah die Welt sicher ganz anders aus. Ich brauchte nur etwas Zeit. Nach und nach würde ich mich hier schon einleben. Bestimmt.

Und außerdem kannte ich ja ein hundertprozentiges Mittel gegen jede Art von Frust …

Eine halbe Stunde später hatten meine Mutter und ich unsere Pferde gesattelt und wir ritten Richtung Tönisberg in den Wald hinein.

Ich hatte den Weg vorgeschlagen. Vielleicht aus Neugierde, jetzt da ich wusste, wer auf diesem abgelegenen Hof lebte.

»Das ist ja einsam«, riss Claudia mich aus meinen Gedanken. »Wer hier wohl wohnt.«

Ich räusperte mich, weil ich plötzlich befürchtete, meine Stimme könnte versagen. »Ich habe denjenigen heute in der Schule kennengelernt.«

»Echt?« Claudia schaute mich mit großen Augen an. »Ein Lehrer?«

Ich schüttelte den Kopf und bemühte mich um einen möglichst gleichgültigen Gesichtsausdruck. »Nein, ein Schüler. Er heißt Jérôme.«

»Jérôme …«, wiederholte meine Mutter nachdenklich. »Hört sich französisch an.«

Ich zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung. Er spricht auf jeden Fall ohne Akzent. Nur seine Hautfarbe ist ein bisschen dunkler.«

Das Interesse meiner Mutter war geweckt. Schriftstellerkrankheit nannte mein Vater das. Claudia witterte einfach immer und überall eine Story.

»Ein farbiger Junge, der mutterseelenallein auf einem abgelegenen Hof lebt. Wie spannend.« Ihre Augen funkelten vor Aufregung.

Ich stöhnte genervt. »Was du dir schon wieder zusammenreimst. Außerdem ist er nicht richtig dunkelhäutig. Und dass er hier mutterseelenallein lebt, habe ich überhaupt nicht gesagt.«

»Coloured.«

»Was?«

»In Afrika bezeichnet man Mischlinge als Coloureds.«

»Mischlinge. Wie sich das anhört!«, blaffte ich sie an.

»Ich habe doch nur gesagt, dass man in Afrika …«, begann Claudia, sich zu verteidigen.

Doch ich verspürte nicht die geringste Lust, mir noch mehr von diesem Quatsch anzuhören. Ich trieb Rashun mit einem sanften Druck in die Flanken an. Augenblicklich verfiel er in einen kräftigen Galopp.

»Hey, warte!«, rief Claudia mir noch hinterher, aber ich tat so, als hörte ich es nicht.

2.

Jérôme hatte noch nie ein Mädchen getroffen, das ihn so umgehauen hatte wie Anna. Zunächst waren ihm vor allem ihre langen dunklen Haare und die bernsteinfarbenen Augen aufgefallen. Wie Schneewittchen, hatte er gedacht und sich in dem Moment noch nicht mal über diesen lächerlich-romantischen Vergleich gewundert. Ihre Stimme hatte so warm und weich geklungen wie Musik. Und dann dieses Lächeln. Es ging ihm direkt ins Herz, hatte etwas Magisches.

Natürlich war ihm ihre Verlegenheit aufgefallen und es hatte ihn sogar ein kleines bisschen amüsiert. Doch viel mehr hatte er sich darüber gefreut, weil er es als Zeichen deutete, dass es ihr ähnlich erging wie ihm.

Liebe auf den ersten Blick …

Mann, Jérôme, jetzt komm mal wieder runter!

Aber wie sie mich angeschaut hat … das war wie ein plötzlicher Schlag in die Magengrube, so mitten rein. Als würde ich von einer Sekunde auf die andere ins Weltall katapultiert und könnte auf einmal nach den Sternen greifen …

Oh shit, jetzt wurde es wirklich zu viel mit der Gefühlsduselei.

Aber ein kleines bisschen fühlte es sich tatsächlich so an, als ob er nach einem Stern greifen würde. Einem Stern namens Anna. Seit er vor einigen Monaten zu seiner Tante Ella und ihrem Mann Udo gezogen war, hatte es nicht gerade viele Lichtblicke gegeben, vielmehr empfand er alles um sich herum als ein gleichförmig dunkles Grau. Nur zu überstehen, wenn man sich so weit wie möglich von allem abkapselte und sein eigenes Ding durchzog. Und jetzt war da plötzlich dieses Mädchen aufgetaucht …

Jérôme seufzte tief und stieß das breite Hofgatter auf. Flöckchen, Udos sogenannter Wachhund, kam wild bellend auf ihn zugerast. Eigentlich hieß die Altdeutsche Schäferhündin Flora, aber Jérôme nannte sie immer Flöckchen. Er fand, dass der Name viel besser zu ihr passte.

Ellas Kopf erschien am Küchenfenster. Als sie Jérôme entdeckte, hob sie kurz die Hand und war auch schon wieder verschwunden.

»Na, du alte Kläffmaschine«, begrüßte Jérôme die Hündin und versuchte, ihr den Kopf zu tätscheln, was nicht ganz einfach war, weil sie aufgeregt um ihn herumsprang. »Ist ja gut. Nun beruhig dich mal.«

Aber Flöckchen beruhigte sich in der Regel erst, nachdem sie den Grund für ihre Begeisterung mindestens zwanzigmal umrundet hatte.

»Sie freut sich eben. Ist doch schön, wenn ein Lebewesen das so uneingeschränkt kann«, sagte Ella häufig.

Udo sah das allerdings ganz anders. Der Hund sollte sich nicht freuen, er sollte den Hof bewachen.

Tja, schoss es Jérôme bitter durch den Kopf, das war nicht die einzige Sache, bei der sich seine Tante und sein Onkel nicht einig waren.

Die Haustür wurde aufgezogen. »Flora, Schluss jetzt! Ab auf deinen Platz!«, schimpfte Ella. Augenblicklich verstummte Flora und trottete mit hängendem Kopf davon.

Na super, dachte Jérôme. Im Hause Reineke herrschte mal wieder dicke Luft.

»Jérôme, sag bitte Udo Bescheid, dass das Essen auf dem Tisch steht. Er ist hinten im Schweinestall.«

Ellas Tonfall duldete keinen Widerspruch.

Seufzend ließ Jérôme seine Tasche mitten auf dem Hof sinken und ging zum Geräteschuppen hinüber. Von dort aus gelangte man auf einen kleinen Zwischenhof, der früher als Auslauf für die Schweine gedient hatte, aber nun, da sich kein Vieh mehr auf dem Hof befand, ziemlich verwahrlost war. Aus den uneben liegenden Bodenplatten waren mittlerweile richtige Stolperfallen geworden. Moos und Unkraut sprossen aus den Fugen.

Als Jérôme den ehemaligen Auslauf betrat, fühlte er sich fast erdrückt, so beengt war es hier. Mit wenigen Schritten hatte er den Innenhof überquert und öffnete die Seitentür zum alten Schweinestall.

»Udo!«, rief Jérôme, ohne einen Fuß in den Stall zu setzen. »Udo! Bist du hier?«, versuchte er es noch einmal lauter, nachdem er keine Antwort bekommen hatte.

Stille.

Ella musste sich getäuscht haben. Hier war Udo auf keinen Fall. Vielleicht war er weggefahren und hatte ihr mal wieder nichts davon gesagt.

Jérôme schüttelte den Kopf und ging dann über den Innenhof zurück.

»Ich hab Udo nicht gefunden«, erklärte er, als er kurz darauf die Küche betrat.

Ella stand mit dem Rücken zu ihm und rührte in einem Topf auf dem Herd. Schnaufend drehte sie sich zu ihm um. Ihre Augen waren gerötet. Der Mund ein dünner Strich.

»Dann essen wir eben allein«, bestimmte sie und nahm den dritten Teller und das Besteck vom Küchentisch. »Setz dich!«

Nur zögerlich folgte Jérôme ihrer Anweisung. Eigentlich hatte er gar keinen Hunger. Aber Ella sah so überreizt aus, dass er keine Lust verspürte, sich mit ihr anzulegen.

Er hockte sich auf seinen Stuhl und beobachtete schweigend, wie Ella den Teller geräuschvoll zurück in den Schrank räumte, das Besteck in die Schublade knallte und den großen Topf auf den Küchentisch stellte. Dann setzte sie sich und schaute Jérôme mit einer Mischung aus Erwartung und Verärgerung an. »Was ist los, muss ich dir jetzt etwa auch noch auffüllen?«

Jérôme zuckte mit den Schultern. »So richtig Hunger hab ich eigentlich nicht«, gab er zu und wünschte sich im nächsten Moment, er hätte den Mund gehalten.

»Na prima«, legte Ella auch schon los. »Hier macht jeder, was ihm gerade gefällt. Und ich muss springen. Aber wehe, das Essen steht mal nicht pünktlich auf dem Tisch und die Herren schieben Kohldampf …«

Jérôme wollte etwas erwidern. Doch Ella hob abwehrend die Hände. »Nein, spar dir deine müden Ausreden. Dann schütt ich den ganzen Mist eben ins Klo.« Schon war sie aufgesprungen und wollte nach dem Topf greifen.

Jérôme kam ihr zuvor. Fest umklammerte er beide Griffe und rief: »Nun reg dich mal ab! Eine Kleinigkeit werd ich schon essen.«

Einige Sekunden lang starrte Ella Jérôme über den Topf hinweg in die Augen. Dann senkte sie den Blick und ließ sich schwerfällig auf ihren Stuhl zurücksinken. Sie sackte regelrecht in sich zusammen. So als ob man aus einem zu prall aufgeblasenen Ballon alle Luft herausgelassen hätte.

»Was ist denn passiert?«, fragte Jérôme halbherzig, weil er es im Grunde gar nicht wissen wollte, aber andererseits ahnte, dass sie genau diese Frage von ihm erwartete. Solche Gespräche mit seiner Tante hatten noch nie etwas gebracht und dieses hier würde bestimmt keine Ausnahme bilden.

»Udo war wieder die ganze Nacht unterwegs«, sagte Ella.

Jérôme fuhr sich mit den Händen übers Gesicht. »Hast du ihn gefragt, wo er gewesen ist?«

»Natürlich hab ich das«, erklärte sie gereizt. »Aber du weißt doch ganz genau, dass er mir darauf keine Antwort gibt.«

Klar wusste Jérôme das. Die Frage hätte er sich schenken können. Dass Udo regelmäßig abends verschwand und erst in den frühen Morgenstunden wieder auftauchte, war seit Wochen der Grund dafür, dass der Haussegen schiefhing.

Jérôme konnte gar nicht sagen, wie satt er das ständige Theater hatte. Anfangs hatte er noch versucht, zwischen den beiden zu vermitteln. Bis Udo ihm einmal deutlich zu verstehen gegeben hatte, dass diese Art von Einmischung ihm ganz und gar nicht passte. »Halt die Schnauze, Jérôme! Du hast keinen Funken Ahnung von unserem Leben und unseren Problemen. Nicht jeder ist wie du mit einem goldenen Löffel im Mund geboren worden«, hatte er ihn angebrüllt und dabei ausgesehen, als ob er ihm am liebsten an die Gurgel gegangen wäre. Und Ella hatte wortlos danebengesessen.

Seitdem wollte Jérôme mit dem ganzen Mist nichts mehr zu tun haben, der zwischen Ella und Udo ablief.

Eine Sache beschäftigte ihn allerdings schon. Er erinnerte sich daran, dass er vor ein paar Tagen ein Telefonat mitbekommen hatte, das ganz sicher nicht für seine Ohren bestimmt gewesen war. Es hatte eine Theorie in ihm aufgeworfen, die so absurd war, dass er sie selbst nicht glauben konnte. Und das Ganze hatte absolut nichts damit zu tun, dass Udo seine Frau betrog, wovon diese inzwischen fest überzeugt war.

»Was soll denn ein Mann Anfang vierzig sonst treiben, der regelmäßig abends ausgeht, erst am nächsten Morgen wieder zurückkommt und sich dann auch noch weigert, ein Wort darüber zu verlieren?«, hatte Ella erst neulich zu Jérôme gesagt.

Und Jérôme hatte gedacht: Du wärst froh, wenn sich Udo nur wegen einer anderen Frau nachts herumtreiben würde. Den wahren Grund willst du ganz sicher nicht wissen.

Aber gesagt hatte er nichts. Kein Sterbenswörtchen. Die Sache war einfach zu unglaublich.

3.

Die Türglocke läutete schrill, als ich den kleinen Dorfladen betrat. Zielstrebig steuerte ich auf das Regal mit den Konserven zu und nahm eine Dose Hühnersuppe heraus. Die Aufback-Baguettes befanden sich im nächsten Gang. Ich schnappte mir zwei Packungen und eilte dann zur Kasse.

Bloß raus hier, dachte ich und hoffte inständig, dass heute nicht der schmierige Ladenbesitzer da sein würde, sondern seine Mutter. Die alte Frau Aschemann war zwar ebenso neugierig, aber noch einigermaßen erträglich. Was man von ihrem Sohn nicht behaupten konnte.

Umsonst gehofft. Sekunden später kam Aschemann junior höchstpersönlich aus dem Hinterzimmer geeilt. Augenblicklich hüllte mich eine miefige Schweißwolke ein, sodass ich kaum noch zu atmen wagte.

»Ach, hallo!«, rief er mir zu und bedachte mich mit einem fiesen Blick.

Am liebsten hätte ich ihm die Baguettes mitten in sein hässliches puterrotes Gesicht geknallt.

»Ganz schön heiß heute«, redete er weiter. Seine kleinen, eng beieinanderstehenden Augen waren fest auf den oberen Teil meines Trägertops geheftet.

Widerlicher Mistkerl!

Ich bemühte mich, seine Blicke zu ignorieren, legte meine Einkäufe aufs Band und verschränkte die Arme vor der Brust.

Langsam nahm er die Dose vom Band. »Hühnereintopf. Hmm, eine gute Wahl.« Dabei leckte er sich mit der Zungenspitze über die wulstige Oberlippe.

Ruhig, Anna. Lass dich von diesem Vollidioten nicht provozieren.

»Und dazu Baguette. Ob das für den Herrn Vater reicht? Oder kommt er heute etwa gar nicht heim? Sind Mutter und Tochter ganz allein auf dem Hof?«

Jetzt reicht’s aber, dachte ich. Das war eindeutig zu viel. Was bildete sich dieser Typ eigentlich ein?

Ich drückte die Schultern durch, bedachte den Widerling mit einem eiskalten Blick und zischte: »Ich wüsste nicht, was Sie das angeht. Kassieren Sie doch bitte einfach nur ab, ja?«

Schlagartig verging dem Ladeninhaber das schmierige Grinsen. Er schaute mich einen Moment verunsichert an, und ich sah, wie ihm eine dicke Schweißperle von der Stirn rann und auf die Baguettepackung tropfte. Ich schüttelte mich. Schließlich zog er die Lebensmittel über die Scannerfläche, warf einen Blick auf das Kassendisplay und nuschelte: »Das macht vier Euro und siebenundneunzig Cent.« Ich reichte ihm einen Fünf-Euroschein, verstaute die Lebensmittel im Rucksack und nahm die drei Cent Wechselgeld vom Band, die er dort zum Glück ohne ein weiteres Wort hingelegt hatte.

»Kassenzettel brauche ich nicht!«, rief ich ihm im Rausgehen zu.

Vor der Tür atmete ich tief durch.

»Was für ein widerlicher, abartiger, selten blöder Typ«, murmelte ich. Und wem hatte ich diese nette Begegnung mit der Fettbacke zu verdanken? Natürlich meiner Mutter. Nur weil sie es nicht geschafft hatte, in die Stadt zum Einkaufen zu fahren.

Plötzlich hörte ich ein Räuspern hinter mir und fuhr erschrocken herum. Ich blickte in Jérômes Gesicht und lief augenblicklich rot an.

»Oh … ähm … hallo«, stammelte ich und hätte mich im gleichen Moment dafür ohrfeigen können.

Seine tiefbraunen Augen musterten mich interessiert.

Mein Herz verwandelte sich augenblicklich in eine hyperaktive Trommel.

»Aller guten Dinge sind drei«, sagte Jérôme und grinste mich an. Schon wieder dieses sagenhaft süße Grübchengrinsen.

»Sich dreimal am Tag nicht über den Weg zu laufen, ist wohl die größere Kunst in diesem Kaff«, krächzte ich.

Jérôme nickte zustimmend. »Das ist wirklich nicht leicht. Und – bist du mit deinem Referat schon weitergekommen? Wie gesagt, mein Angebot steht.«

»Ähm … ich habe noch gar nicht damit angefangen«, erklärte ich und war ziemlich erleichtert, dass sich meine Stimme schon wieder etwas fester anhörte.

»Aha«, machte Jérôme.

»Brauch ich auch gar nicht.«

»Warum nicht?«

»Weil ich keins halten muss.«

»Aber du hast doch …«

»Du hast von einem Referat geredet«, fiel ich ihm ins Wort. »Ich nicht.«

Jérôme schaute mich verdattert an. »Kein Referat?«

Ich konnte mir das Grinsen nicht länger verkneifen. »Du hast es erfasst.«

»Verstehe«, sagte er und schlug sich mit der Handfläche vor die Stirn. »Ich habe mich also zum kompletten Volldeppen gemacht.«

Ich kicherte albern. »Halb so schlimm. Ich bin ja selbst ganz verwirrt, weil …«

Stopp! Hilfe! Hatte ich das wirklich gerade gesagt? Ich blickte Jérôme erschrocken an. »Weil ich … weil …«

Täuschte ich mich oder wurde Jérôme ein bisschen rot? War er vielleicht genauso unsicher wie ich?

Doch als sich im nächsten Moment eine steile Falte zwischen seinen Augenbrauen bildete, schien es mir eher so, als ob ich gerade im Begriff war, diesen wirklich süßen Typen mit meinem peinlichen Gelaber zu vergraulen.

»Weil …«

Denk nach, Anna, denk nach! Wenn dir nicht in zehn Sekunden irgendetwas Schlaues einfällt, dann hast du’s vergeigt.

»Weil … ich mich schon die ganze Zeit frage, was jemanden wie dich in so ein Kaff verschlagen hat.«

Da entspannten sich Jérômes Gesichtszüge zum Glück wieder. Nachdenklich schüttelte er den Kopf und sah mit einem Mal ganz traurig aus.

Mist! Was hatte ich denn jetzt schon wieder falsch gemacht?

Ich stemmte beide Hände in die Hüften und schaute ihn mit einer Mischung aus Verwunderung und Trotz an. »Ich meine, das geht mich natürlich nichts an«, erklärte ich leicht patzig. »Wobei es mich schon interessieren würde.«

Jérôme nickte und schwieg.

»Du willst es mir also nicht sagen?«

Er lachte. »Gerade eben hast du noch gemeint, es ginge dich nichts an.«

»Tut es auch nicht«, erwiderte ich. »Aber neugierig bin ich trotzdem.«

Er streckte die Hand nach mir aus und berührte kurz mit den Fingerspitzen meinen Unterarm. Mit einem Schlag war ich wie elektrisiert und mein Puls begann zu rasen.

»Ist dir nicht gut?«, fragte Jérôme.

Ich nahm meinen ganzen Mut zusammen und schaute ihm direkt in die Augen. »Nein, ganz im Gegenteil.«

Dazu sagte Jérôme nichts mehr. Und auch mir fiel beim besten Willen nicht ein, was es dem noch hinzuzufügen gab.

Wir standen einen Moment schweigend voreinander, bis ich aus dem Augenwinkel zwei Typen auf der anderen Straßenseite wahrnahm, die langsam auf uns zukamen.

Jérôme hatte die Jungs ebenfalls bemerkt. »Shit«, murmelte er. »Die haben mir gerade noch gefehlt.«

»Warum? Was sind das für Typen?«

Doch ich bekam keine Antwort auf meine Frage. Stattdessen lächelte er mich gequält an und erklärte: »Ich muss weiter. Vielleicht sehen wir uns ja morgen in der Schule.«

Prompt sorgten seine letzten Worte bei mir für aufgeregtes Bauchkribbeln. Ich hätte gern noch etwas darauf erwidert, aber er hatte sich bereits abgewandt und ging davon.

Inzwischen waren die beiden Typen vor dem kleinen Supermarkt angekommen und musterten mich ungeniert von oben bis unten.

»Was ist? Habt ihr noch nie ein Mädchen gesehen?«, blaffte ich sie an.

»Ganz schön schlagfertig, die Stadttussi«, erwiderte der eine, ein Kerl mit strohigem blondem Haar und breitem Pfannkuchengesicht, das von unzähligen Sommersprossen übersät war. Übertrieben lässig lehnte er sich gegen den Zigarettenautomaten und steckte sich eine Kippe zwischen die Lippen.

Der nächste Satz des anderen etwa gleichaltrigen Jungen mit dunklen Stoppelhaaren traf mich wie ein Faustschlag. »Na, is das Opfer schnell abgehauen? Zu seiner Tante gerannt, weil ihm mal wieder der Arsch auf Grundeis geht?«

Wie bitte? Hatten die damit etwa Jérôme gemeint?

»Ich habe keine Ahnung, wovon ihr redet«, versuchte ich, mit fester Stimme zu erwidern.

»Alles klar«, lachte das Pfannkuchengesicht hämisch. »Hat sich das Opfer schön bei dir ausgeheult, was?!«

Ich schnappte wütend nach Luft, sortierte angestrengt meine Worte, die mir bereits auf der Zunge lagen und dem ätzenden Kerl am liebsten ungebremst in sein blödes, breit grinsendes Gesicht springen wollten, und sagte dann so cool wie nur möglich: »Opfer? Ich habe hier kein Opfer gesehen. Nur zwei Vollpfosten.«

Ich machte auf dem Absatz kehrt und wollte abhauen. Doch der dunkelhaarige Typ hielt mich am Unterarm fest und zischte mir böse zu: »Ey, immer locker bleiben, verstanden?! Und gib dich mal lieber nicht mit so ’nem Opferarsch ab, wenn du hier nicht bald verdammt einsam sein willst. Kapito?« Mit einem heftigen Schubs ließ er meinen Arm los, sodass ich ein paar Schritte nach vorn stolperte.

Nun war es mit meiner Beherrschung endgültig vorbei. Ich fuhr zu den beiden Typen herum, funkelte sie böse an und schrie: »Von euch lass ich mir ganz bestimmt nichts vorschreiben!« Dann rannte ich los und hielt nicht eher an, bis ich keuchend vor der grün lackierten Bauerntür des ehemaligen Wichmannshofs stand.

Mit zittrigen Fingern schloss ich die Tür auf, schmiss sie mit voller Wucht hinter mir zu und ließ mich schwer atmend mit dem Rücken dagegensinken.

Der Appetit auf Hühnersuppe und Baguette war mir gründlich vergangen. Ich beschloss, auf die Weide zu gehen. Rashun und Maschagar würden mich bestimmt auf andere Gedanken bringen.

Durch die Nebentür in der Küche gelangte ich in den angrenzenden Pferdestall. Als meine Eltern und ich den Hof vor einem halben Jahr zum ersten Mal besichtigt hatten, war mir diese Verbindungstür sofort aufgefallen. Mit Rashun und Maschagar quasi unter einem Dach leben. Besser geht’s nicht, hatte ich schon damals gedacht.

Ich schlenderte an den leeren Boxen vorbei, nahm mir aus der Futterkiste zwei Möhren und ging durch die Stalltür ins Freie.

Unsere beiden Vollblutaraber standen friedlich grasend auf der Weide, die sich keine zwanzig Meter vom Haupthaus entfernt über eine mit einem weißen Holzzaun eingegrenzte Fläche von knapp anderthalb Hektar erstreckte.

»Rashun! Maschagar!«, rief ich und die Köpfe der beiden schnellten in die Höhe. Während Maschagar nur kurz aufblickte und dann weitergraste, kam Rashun angetrabt.

Ich kletterte zwischen den Holzplanken hindurch und hielt ihm die Möhre hin. Schmatzend zermalmte er sie und ich klopfte ihm dabei sanft den Hals. Auch die zweite Möhre, die eigentlich für Maschagar bestimmt war, schnappte er sich. Doch als er begriff, dass es keine weiteren Leckereien geben würde, wendete er sich ab und trabte zurück.

»Treuloser Kerl!«, rief ich ihm lachend hinterher und ließ mich ins Gras sinken.