Cover
EVELYNE BINSACK – EXPEDITION ANTARCTICA | 484 Tage bis ans Ende der Welt – Aufgezeichnet von Markus Maeder – WÖRTERSEH
 

Alle Rechte vorbehalten, einschließlich derjenigen des auszugsweisen Abdrucks und der elektronischen Wiedergabe.

Wörterseh-Bestseller als Taschenbuch

Die Originalausgabe erschien im Wörterseh-Verlag

© 2008 Wörterseh, Lachen SZ

Wissenschaftliche Beratung: Sepp Kipfstuhl, AWI
Lektorat: Claudia Bislin
Korrektorat: Andrea Leuthold
Umschlaggestaltung: Thomas Jarzina
Foto Umschlag: Adrian Hayes
Fotos Bildteil: Hervé Le Cunff (gekennzeichnet), alle anderen Privatarchiv Evelyne Binsack
Karten: Sonja Schenk
Layout, Satz und herstellerische Betreuung: Rolf Schöner, Buchherstellung

ISBN 978-3-03763-321-2 (Taschenbuch)
ISBN 978-3-03763-004-4 (Originalausgabe, vergriffen)
ISBN 978-3-03763-517-9 (E-Book)

www.woerterseh.ch

INHALT

Zum Buch

Die Personen hinter dem Buch

DANK AN DIE PARTNER

INTRO

DIE JAHRE DAVOR
2002 bis 2006

EUROPÄISCHER PROLOG
Von Innertkirchen nach Porto
1. September bis 17. Oktober 2006

AUF NACH SÜDEN
Von Salt Lake City nach Peru
7. November 2006 bis 24. Mai 2007

DURCH SÜDAMERIKAS SÜDEN
Von Chile durch Argentinien nach Punta Arenas
25. Mai bis 15. September 2007

PUNTA ARENAS UND AUSZEIT
16. September bis 10. November 2007

TERRA AUSTRALIS INCOGNITA
Eine kurze Abenteuer- und Entdeckungsgeschichte rund um den Südpol

ANTARCTICA
Von Patriot Hills über Hercules Inlet bis zum Südpol
10. November bis 31. Dezember 2007

NACHWORT

ANTARKTISCHES WÖRTERBÜCHLEIN

ZUM BUCH

»Lieber bei der Verwirklichung eines Traumes sterben als kurz vor dessen Verwirklichung scheitern.« Das schrieb Evelyne Binsack am 23. Dezember 2007 in ihr Tagebuch, setzte den Stift ab und kurz darauf nochmals an: »Es ist«, schrieb sie weiter, »als übernähme eine andere Kraft das Zepter.« Kurz vor ihrem großen Ziel fühlte sie sich am Ende ihrer Kräfte. Die letzten nicht enden wollenden Kilometer zu Fuß bei minus vierzig Grad Celsius durch die Stürme der Antarktis hatten ihr zugesetzt. Dass sie am eisig kalten Ende der Welt ankam, verdankte sie ihren mentalen Kräften, ihrer Flexibilität, ihrer Ausdauer und ihrer Demut. Am Ziel der sechzehnmonatigen Reise empfand sie schlicht und einfach Dankbarkeit. Und sie wusste definitiv – sie konnte ihren Instinkten vertrauen.

»Aufbrechen ist immer das Schwierigste – es bedeutet völliges Loslassen von Gewohnheiten, Sicherheit und Komfort.«

Evelyne Binsack

DIE PERSONEN
HINTER DEM BUCH

Evelyne Binsack, geb. 1967, verstand schon früh, dass es für das Überleben in der Steilwand essenziell ist, die Gesetze der Natur zu respektieren und die physischen sowie die mentalen Fähigkeiten unermüdlich zu trainieren. 1991 absolvierte sie als eine der ersten Frauen Europas die Ausbildung zur diplomierten Bergführerin und bestieg zehn Jahre später als erste Schweizerin den Mount Everest. Im September 2006 startete sie vor ihrer Haustür Richtung Süden, war unterwegs mit dem Fahrrad, zu Fuß, mit Skiern und dem Schlitten und kam nach 484 Tagen am Südpol an. Aber erst 2017 erfüllte sich ihr lang gehegter Traum, aus eigener Muskelkraft auch noch zum Nordpol zu gelangen. Über das Erreichen dieser drei Pole sind folgende Bücher erschienen: »Schritte an der Grenze«, »Expedition Antarctica« und »Grenzgängerin«. Evelyne Binsack, die im Berner Oberland lebt, arbeitet als Bergführerin und ist eine gefragte Referentin. In ihren Vorträgen geht es um Themen wie Risikomanagement, Selbstführung und Zielverwirklichung ebenso wie um ihr Leben und ihre Passion. Einen neuen Weg beschreitet sie, indem sie andere Menschen nicht mehr nur als Bergführerin auf Berge, sondern auch als Beraterin und Mentorin begleitet. Mehr dazu unter: binsack.ch

Markus Maeder
© Pia Zanetti

Markus Maeder, , geb. 1945, studierte in Zürich Literatur und Geschichte. Nach Aufenthalten in Afrika, Indien und China arbeitete er als Redaktor beim Zürcher »Tages-Anzeiger« und führte beim Schweizer Fernsehen in zahlreichen Dokumentarfilmen Regie. Als freier Journalist schrieb er für »Die Weltwoche«, »Das Magazin«, die NZZ und »Die Zeit«. 1987 gewann er den Zürcher Journalistenpreis. Er schrieb Hörspiele sowie Beiträge für Sachbücher. Seit über zwanzig Jahren arbeitet er als literarischer Ghostwriter. nightwriter.ch

DANK AN DIE PARTNER

Wer allein unterwegs ist, muss sich auf treue Partner verlassen können. Sie zu finden und vor allem Vertrauen zu fassen, braucht seine Zeit. Als ich startbereit war, fühlte ich mich in einem Netz von Profis aufgehoben.

Xpert.Line, »die Business Software für flexible Ansprüche«, übernahm als Hauptsponsor die Verbreitung meiner Newsletters und die Hälfte der Kosten auf Antarctica. Mit unserem Anspruch, neue Wege zu gehen, Neues zu entdecken und weiter zu gehen, fanden wir eine gemeinsame Grundlage zum Erfolg.

Transa, »die führende Anbieterin für Travel- und Outdoor-Ausrüstung in der Schweiz«, hat mich kompetent beraten und mir die Zelte und andere unerlässliche Teile der Ausrüstung zur Verfügung gestellt.

Mammut versorgte mich mit dem richtigen, alpinistisch bewährten Schlafsack sowie mit Kleidern, mit denen auch Mammut Neuland betrat. Sie hatten sich erstmals in der Antarktis zu bewähren – und taten das mit Bravour.

Sony unterstützte mich mit Kamera und Computer, Solution Provider mit einem namhaften Geldbetrag.

Business4you übernahm ab Salt Lake City spontan und unkompliziert die Administration. Die enthusiastische Begeisterung, die professionelle Abwicklung aller administrativen Aufgaben und ebenso die Dienste als Pressestelle während der Expedition Antarctica bedeuteten für mich das Rückgrat auf dem Weg zum Ziel.

Mein Lebenspartner Sandro und meine Mutter haben in unzähligen Arbeitsstunden Material besorgt, verpackt und für eine reibungslose, logistische Abwicklung gesorgt. Und meine Schwester Jacqueline verstand und versteht es, mich auch in den schwierigsten Situationen immer wieder anzuspornen.

Bei ihnen, meinem Cousin Markus mit Vreni, meiner Cousine Ruth mit Familie und meiner Cousine Liliane und allen, die mir die Daumen gedrückt und zum Gelingen dieser Expedition beigetragen haben, bedanke ich mich an dieser Stelle von Herzen.

Evelyne Binsack

PS: Den unschätzbaren Wert einer unbeschwerten Kindheit und einer Ausbildung, wie ich sie genießen durfte, kann ich erst richtig würdigen, seit ich mich als Botschafterin für SOS-Kinderdorf engagiere. Der Besuch in León, Nicaragua, hat mich begeistert (siehe Seite 67). Die SOS-Familien haben Ihre Spende mehr als verdient (www.sos-kinderdorf.ch).

INTRO

Während fast vier Jahren ging ich mit meiner Idee zu Bett und wachte morgens wieder mit ihr auf. Sie war ein Teil von mir geworden und fühlte sich inzwischen an wie meine eigenen Arme und Beine. Ich schaute mir selber zu und staunte, wie eine simple Idee – ein Konstrukt aus Gedanken – zur Wirklichkeit wurde. Was ein »Nichts« war, wurde auf einmal erlebbar und bestimmte das Handeln.

Meine erste Erkenntnis über die Antarktis war, wie wenig ich darüber wusste. Was südlich von Südafrika, Neuseeland und Südamerika lag, nahm ich als weißen Fleck auf der Karte hin, ohne mir weiter Gedanken zu machen. Erst als meine Absichten handfester wurden, begann ich das Licht und den Schatten, die Farben und Strukturen dieses Weiß aus Schnee und Eis mit wacheren Augen zu betrachten. Auf meiner geistigen Erkundungsfahrt in den südlichen Polarkreis »entdeckte« ich einen Kontinent; ich fand Buchten und Halbinseln und Berge mit Spitzen bis rund 5000 Meter über Meer. Ich lernte, verschiedene Arten von Eis zu unterscheiden, und ich entdeckte, dass dieser unbekannteste aller Kontinente auch der ungewöhnlichste ist. Der kälteste, der trockenste und der windigste Kontinent dieser Erde.

Am Südpol geht die Sonne jedes Jahr nur einmal auf, im September, um ununterbrochen bis im März am Himmel zu stehen. Auf Antarctica lagern über neunzig Prozent des Eises der Erde und siebzig Prozent der Süßwasservorräte. Das Abschmelzen dieser Inlandeiskappe würde den Meeresspiegel um sechzig Meter anheben. Hier fallen weniger Niederschläge als in der Sahara und jeder anderen Wüste der Welt. Im Mittel um die fünf Zentimeter im Jahr. Umso erstaunlicher, dass sich daraus im Laufe der Jahrmillionen Eisschichten von mehreren Tausend Metern gebildet haben.

Je mehr ich mich mit dem Weißen Kontinent von der antarktischen Halbinsel bis zum Weddell-Meer auseinandersetzte, desto klarer wurde mir, wie viele Fragen von der Forschung bis heute unbeantwortet geblieben sind. Nicht einmal die Größe von Antarctica lässt sich eindeutig bestimmen. Was gilt? Die Eisoberfläche oberhalb des Meeresspiegels? Die gesamte Erdoberfläche innerhalb der Küstenlinie oder der Rand des Schelfeises, das sich weit über die Küste ins Meer hinaus ergießt? Alles fließt. Das Inlandeis, das kilometerdick in träger Bewegung vom Herzen des Kontinents wie ein Gletscher Richtung Küste fließt und dort zu Schelfeis wird, das weit draußen im Meer abbricht und zu Eisbergen wird. Und was ist mit dem Packeis – dem gefrorenen Meerwasser rund um den Kontinent –, das im Verlauf des antarktischen Winters, von März bis September, die antarktische Eisfläche auf die doppelte Fläche des Landeises anwachsen lässt?

Ich erfuhr auch, dass Antarctica ohne seine Eisdecke ganz anders aussähe, weil das Gewicht des Inlandeises den Felsuntergrund im Lauf von Millionen von Jahren an manchen Stellen satte 1000 Meter unter die Meereshöhe gedrückt hat. Im sogenannten subglazialen Graben der Westantarktis, 2538 Meter unter dem Meeresspiegel, liegt es über 4500 Meter dick, und auch am Pol auf 2800 Meter über Meer liegt der Fels tiefer als der Meeresspiegel. Nicht weit davon entfernt durchzieht das Transantarktische Gebirge den Kontinent auf einer Länge von 4000 Kilometern, und der Mount Vinson (4892 m) in der Kette der Ellsworth Mountains erhebt sich höher als der höchste Alpengipfel, der Mont Blanc.

Nicht ganz überall reicht die weiße Decke bis an die Küste, und einige kleine Löcher hat sie auch. Drei sogenannte Trockentäler im Transantarktischen Gebirge in der Nähe von McMurdo sind seit Millionen von Jahren eisfrei, und Namen wie Victoria-See und River Onyx – mit dreißig Kilometern der längste Fluss der Antarktis – ließen fast Heimatgefühle wach werden, wenn man nicht wüsste, dass sie nur zwei Monate im Jahr eisfrei sind.

Wenn die Ostantarktis ganz eisfrei wäre, das geht aus entsprechenden Karten hervor, dürfte die übrig bleibende Landmasse der zersplitterten Seenlandschaft Finnlands und Kanadas gleichen. Und immer wieder stoßen die Forscher auf neue Überraschungen: Vor ein paar Jahren wiesen Satellitenaufnahmen in der Nähe der russischen Station Wostok auf einen riesigen See hin, bedeckt von mehr als 3600 Meter dickem Eis.

Je mehr ich erfuhr und erahnte, umso unwiderstehlicher zog mich der Kontinent an, in dem es zur Zeit meiner Vorbereitungen noch keinen Zahnarzt und keinen Linienflug gab. Ja, es ist schon ein besonderer Ort. Da ist bis heute kein Staat zu machen und wird hoffentlich auch nicht so bald einer gemacht. Welch ein Kontinent: ohne Regierung, ohne Flagge. Frei von wirtschaftlicher Ausbeutung und fern von militärischen Konflikten sollte gemäß dem internationalen Antarktisvertrag von 1961 kein Mensch dieser Region seinen Stempel aufdrücken. Niemand besitzt Antarctica. Antarctica ist Niemandsland geblieben. Kein Krieg, kein Aufstand, keine Revolution hat je den Kontinent erschüttert. Die Ureinwohner, die Pinguine, leben nach ihren eigenen Gesetzen zusammen. Ein Meer der Stille. Fast wie auf dem Mond.

Nur an den Rändern und in den wenigen eisfreien Gebieten kann sich etwas Leben entwickeln. Mikroorganismen, Flechten und Moose sowie zwei Blütenpflanzen, die antarktische Schmiele und ein Nelkengewächs. Das größte dauerhaft landlebende Tier ist eine zwölf Millimeter große, flügellose Zuckmückenart. Nichts schimmelt, nichts fault in der aseptischen Welt der küstenfernen Regionen.

Bis heute ist der Homo sapiens hier ein flüchtiger Gast. Einige wenige Tausend sind es im Sommer. Weniger als die Hälfte bleiben über den Winter: weltweite Halbnomaden, die zwischen den Unis der Welt und den rund achtzig antarktischen Forschungsstationen hin und her pendeln. Selbst auf der größten dieser Stationen, der amerikanischen McMurdo-Station auf der Ross-Insel, übersommern kaum mehr als tausend Personen.

Auch in den nächsten Jahren dürfte es niemanden hierhin verschlagen, um sich häuslich niederzulassen und sich Schätze und Reichtum zu holen. Nur wenige sind hier geboren, aber schon viele gestorben. Erfrieren kann man sowieso, aber auch verhungern. Robert Scott ist verdurstet, mitten im größten Trinkwasser-Reservoir dieser Erde. Doch wo ist der Brennstoff, um es zu verflüssigen? Nichts ist hier leicht zu nutzen, weder Erde noch Feuer und auch nicht die Bodenschätze, so reichlich sie vorhanden sein mögen. Was ich auf Antarctica finden sollte, war eine Landschaft »reduced to the max«. Heller, klarer, sonniger und reiner als alles, was ich je erlebt hatte.

Es gibt nur ganz wenige Reize, aber die in schier unerträglichem Ausmaß. Da ist der Himmel, das Eis, der Wind und die Kälte. Nichts sonst. Bis zur Unerträglichkeit. Da locken nur geistige Werte. Der Ruhm vielleicht, die Suche nach wissenschaftlicher Erkenntnis und die Suche nach sich selbst in so viel Einsamkeit, in einer unendlich scheinenden, unberührten Natur – welch schöne Utopie zur Verwirklichung meiner Träume.

DIE JAHRE DAVOR

2002 bis 2006

Ans Ende der Welt – und zurück zu mir selbst

Am Anfang hatte ich die Begehung von drei äußersten Punkten auf dieser Erde geplant: dem höchsten, dem nördlichsten und dem südlichsten. Der Everest, der Nordpol und der Südpol. Mein nächstes Ziel nach meiner Everest-Begehung im Jahr 2001 war der Nordpol. Zum Training flog ich nach Resolute auf Cornwallis Island. Dieser kanadische Vorposten des hohen Nordens in der Baffin Bay, die in der Erforschung der Nordwestpassage Geschichte gemacht hatte, dient heute mit seiner Jet-Landepiste als Ausgangspunkt für viele Reisen in die Arktis. Hier nun erprobte ich meine Kältetauglichkeit und die Tauglichkeit verschiedener Ausrüstungsgegenstände – und lernte meine Grenzen kennen, glücklicherweise ohne dass ich sie praktisch zu erfahren brauchte.

Über Umwege fand ich in einer nahen Wetterstation Zugang zu Wayne Davidson, einem Klimatologen, der mich in die Tücken der Arktis einführte. Er zeigte mir auf Satellitenbildern, wie bei Vollmond im Packeis im Verlauf eines Tages eine über 200 Kilometer lange und 16 Kilometer breite Wasserspalte aufriss. Weil die arktische Polkappe kein Festland aufweist, sondern lediglich aus einer Platte von Packeis besteht, wird sie von Wind, Wetter und unter dem Einfluss der Mondphasen ständig bewegt. Druck und Zug pressen die Eisplatten gegeneinander hoch, reiben sie aneinander oder reißen sie weit auseinander. Wayne fragte, ob ich wisse, was mit einem geschieht, der sein Camp zufällig in dieser Zone aufschlägt. Ohne meine Antwort abzuwarten, sagte er trocken: »You are going to die.« Wer Glück hat, schwimmt mitsamt dem Zelt wie auf einem mächtigen Floß von dannen, mutterseelenallein – oder in Gesellschaft eines Eisbären.

Ein bekannter Sologänger, der daran war, den Nordpol von Russland aus nach Kanada zu überqueren, bestätigte später Waynes Warnung Wort für Wort. Er wagte sich auf junges Eis, das beim Durchzug einer Schlechtwetterfront von der Packeisplatte wegbrach. Die Bilder in den Medien vom einsamen Burschen, der sich von furchtlosen russischen Piloten von der Eisscholle bergen lässt, sehen beeindruckend aus. Die Naturgesetze der Arktis bestrafen menschlichen Ehrgeiz, der sich mit Ungeduld paart. Nur die neuesten Hilfsmittel wie Satellitentelefon und Helikopter haben die Rettung des Sologängers ermöglicht. Wer mit den Verhältnissen vertraut ist, kann das Risiko einschätzen und vermeidet die gefährdeten Stellen. Ich hatte begriffen, dass ich die Lage in den Bergen, aber nicht die in der Arktis beurteilen kann, und beschloss: Ich will festen Boden unter den Füßen haben. Festland wie auf Antarctica.

Auf der Suche nach einem Konzept

Schritt für Schritt hatten sich meine antarktischen Träume der harten Wirklichkeit und meinen begrenzten Möglichkeiten anzunähern. Mein erster Traum war es, die ganze Antarktis zu durchqueren. Von Küste zu Küste. Allein und zu Fuß. Daraus ist nichts geworden, weil ich zu wenig unvernünftig war. Ich informierte mich und versuchte mir vorzustellen, was diese und jene Information in Wirklichkeit für mich, auf mich allein gestellt, bedeuten würde. Ich suchte den kürzesten Weg vom »Rand« des Kontinents, das heißt vom Ronne-Schelf im Weddell-Meer, südlich von Südamerika, zum Pol. Und ich schaute, wohin ich gehen müsste, wenn ich den kürzesten Weg zum »Rand« auf der gegenüberliegenden Seite wählen würde. Nach McMurdo am Ross-Schelf. Selbst unzulängliche Karten machten mir klar, dass sich zwischen dem Pol und McMurdo das Transantarktische Gebirge hinzieht. Eine lange Kette hoher Gipfel, die nicht zu umgehen, aber zu übersteigen sind. Auf etwas genaueren Karten sind Gletscher zu erkennen. Und wo sich Gletscher über Senken und Kreten wälzen, öffnen sich Spalten. Ich konnte einen Übergang über den Beardmore- oder den Shackleton-Gletscher wählen, doch das ist wie die Wahl zwischen Pest und Cholera. Ich bin Bergführerin. Ich habe Freunde in Spalten verloren, ich habe gesehen, wie Leute in Spalten einbrachen. Einige zog ich eigenhändig am Seil wieder raus. Nicht dass ich vor Spalten Angst habe. Aber Respekt. Eine Seilschaft kann sich sichern. Im Alleingang kann mir alles passieren. Es ist nicht mein Traum, in der blau gleißenden Enge einer Spalte zu erfrieren.

Die Idee Südpol begann Form anzunehmen: Anreise ab Innertkirchen aus eigener Kraft bis Punta Arenas im tiefsten Süden Südamerikas und dann allein und ohne fremde Hilfe auf Skis vom Ronne-Schelf bis zum Pol und mit dem Flugzeug wieder zurück. Das musste klappen. An der Grenze der menschlichen Möglichkeiten – aber möglich, wenn ich mich voll darauf konzentrierte, alles gab und die nötigen Vorkehrungen traf, um sicher anzukommen und wieder nach Hause zu finden.

Wie einst Jürg Marmet und Ernst Schmied

Später, während der langen, eintönigen Tage auf dem Fahrrad, begannen Zweifel zu nagen. Warum hatte ich mich in diese Idee mit dem Fahrrad verbissen? In flachem Gelände fahren ist nicht mein Ding. Es zieht mich bergauf. Mit Händen und Füßen. Am liebsten senkrecht nach oben. Warum musste ich jetzt, da mein Ziel der Südpol war, so beschwerlich in Zeitlupe anreisen? War die Antarktis nicht genug? Aber ich hatte meine Gründe, mich bis Punta Arenas auf dem Sattel zu halten.

Zum Projekt gehörte von Anfang an, das Ziel aus eigenen Kräften zu erreichen. Doch die Frage blieb berechtigt. Sie stellte sich mit äußerster Dringlichkeit. Wozu dieser Auftakt, der so viel Zeit und Kraft erforderte? Mutete ich mir damit nicht Unnötiges zu? Doch jetzt, da der Erfolg auf meiner Seite ist, hat sich meine Bergsteigererfahrung bestätigt: Zu hohen Zielen gibt es keine Abkürzung. Kommst du weiter – persönlich weiter, meine ich –, wenn du hier auf dem Airport in die Maschine steigst und einen O-Saft später am anderen Ende der Welt auf den Boden kommst? Erfahrung kommt mit der Zeit und mit dem Weg. Ein Sturz vom Fahrrad gleich zu Beginn der Reise belegte das deutlich genug.

Ja, diese Welterfahrung durch ein Erfahren der Welt gehörte dazu. Vielleicht muss ich etwas weiter ausholen. Ich war noch nicht geboren, als Edmund Hillary und Sherpa Tenzing Norgay 1953 als Erste auf dem Mount Everest standen. Auch noch nicht, als die beiden Berner Jürg Marmet und Ernst Schmied drei Jahre später die Zweitbesteigung schafften. Aber die beiden sollte ich viele Jahre später persönlich kennen lernen.

2001, genau fünfundvierzig Jahre nach ihnen, stand auch ich auf dem höchsten Berg dieser Erde. Das hat sich herumgesprochen hierzulande: »Die Evelyne war auf dem Everest.« Für mich stimmt das aber nur halb. Mein Ziel war der Sagarmatha, »die Stirn des Himmels«, wie die Nepali sagen; oder wie es in Tibet heißt: die Chomolungma, die Muttergöttin der Erde. Das macht einen Unterschied. Der Everest ist wie ein anderer Berg, der äußerlich identisch an der gleichen Stelle steht – und entsprechend den Weltmachtverhältnissen im zwanzigsten Jahrhundert hat sich der westliche Namen durchgesetzt …

Der Everest hat seinen Namen vom britischen Geometer George Everest. Dieser hat im vorletzten Jahrhundert von Indien aus seine Lage vermessen. »Iivrist« soll er seinen Namen ausgesprochen haben. Die Lautverschiebung zum »Everest« machte aus dem Berg nach englisch »ever« »den Ewigsten« daraus. Ein Superlativ mit Salto mortale ins Absurde, bei dessen Besteigung sich messbare Rekorde verwirklichen lassen.

Mir ging es mehr um Erfahrung als um Leistung. Doch hatte auch ich mich von der Gipfelstürmerei anstecken lassen. Auch ich war angereist im Spitzensportlerstil zu einem Spitzensportlerspiel, als wäre das Basislager ein Wettkampfplatz. Auch ich brachte mein Gipfelbild als Beweis und Trophäe nach Hause. So erreichte ich denn mit einem Fuß die Chomolungma und mit dem andern nur den Everest. Ehrgeiz nach äußerem Erfolg beeinträchtigte meine Offenheit für die Erfahrung und Erkenntnis der Muttergöttin und der Stirn des Himmels. Das wurde mir erst allmählich bewusst. Die Offenheit für das Mystische in der Natur sollte in Zukunft mehr Bedeutung erlangen: etwas, das Tibetern und Nepalis vertraut ist, als Erfahrung eines inneren und eines äußeren Raumes.

Mir wurde klar, Schmied und Marmet waren dieser Erfahrung näher gewesen. Sie hatten etwas erlebt, von dem sie fast mehr zu erzählen wussten als von den Augenblicken »jenseits der belebten Welt«. Noch vor dem Jet-Zeitalter waren die beiden mit ihren Koffern und Säcken im Bahnhof Bern in die Eisenbahn gestiegen. Sie reisten auf dem Landweg nach Osten. Wie vor ihnen Marco Polo, Phileas Fogg oder auch die beiden Schweizerinnen Annemarie Schwarzenbach und Ella Maillart. Durch Felder und Wälder, Wüsten und Steppen, durch Länder, in denen damals die Sitten und Gebräuche noch verschiedener waren als heute. Sie erlebten Distanz. Eine Reise mit einem Anfang und einem Schluss. Wie Marmet und Schmied ihre Koffer und Säcke über die alte Seidenstraße aufs Dach der Welt hinaufschleppten, das erst gab ihrem Everest-Abenteuer den soliden Boden, auf dem sich Größe auszeichnet.

Der große Luftsprung direkt an den Startplatz im Süden Chiles kam für mich einfach nicht mehr in Frage. Da war die große Neugier: Was liegt zwischen Innertkirchen und dem Eis im tiefen Süden? Die physische und psychische Erfahrung von Distanz, von Nähe und Ferne und von den Dingen, die sich stoßen im Raum. Diese Freiheit des Unterwegsseins hatte ich bisher noch nicht erfahren. Das Ungewöhnliche hat ja seinen Reiz: Allein mit der eigenen Muskelkraft von nördlichen Breiten bis zum Südpol gelangen. Das hat noch niemand zuvor gemacht. Ja, ganz ohne gesellschaftlichen Ansporn, ganz ohne Lust auf Leistung lässt sich keine neue Erfahrung gewinnen, auch das muss man sehen.

Raus, aber richtig

Den Claim meines Ausstatters Transa habe ich mir zu Herzen genommen. Es hat sich gelohnt. Je besser die Vorbereitungen, umso eher kann eine so große Reise gelingen. Es gibt so viel zu bedenken. Ziele, Zeiten, Routen und Material. Es ist wie beim Malen und Lackieren. Nach der guten Herrichtung des Untergrunds ist der Umgang mit dem Pinsel ein Kinderspiel. So viel wird geredet, so viel behauptet. Manches ist kritisch zu bedenken – und doch ernst zu nehmen. So erklärte mir ein Amerikaner, der am Rand von Mexico City im Luxus seiner Villa schwelgt, eine Fahrt auf dem Rad durch das Land sei für eine Frau tödlich. Riskanter als Gletscherspalten? Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, ich habe Glück gehabt und lebe noch. Die Frau des Amerikaners fährt ausschließlich in ihrer Limousine mit Bodyguard zum Einkaufen. Ob sie sich nicht gerade damit gefährdet?

In England gibt es das Sprichwort: »Nur ein schlechter Handwerker tadelt sein Werkzeug.« Das heißt, man soll die Fehler erst bei sich selber suchen. Das finde ich auch. Anderseits ertragen große Unternehmungen keine Halbheiten. Wer sie sich leistet, lebt nicht lange. Das gilt im Alpinismus wie in der Antarktis. Nicht dass ich irdischen Gütern übermäßig Bedeutung zumesse. Wer mich kennt, weiß, wie bescheiden ich lebe. Zu Miete in einem Drei-Zimmer-Chalet, das gerade mal eine Katze als Mitbewohnerin duldet. Aber bei großen Vorhaben ist taugliches Material die erste Bedingung. Da halte ich auch das Beste nicht für Luxus. Egal, was es kostet. Viel oder wenig. Es kann auch mal das Einfachste, Günstigste sein. Fest steht: Niemand geht barfuß zum Südpol. Niemand ohne Schlafsack und Zelt. Draußen in der Natur, wo es um das »survival of the fittest« geht, bist du allein. Wenn du dich auf jemanden verlassen können musst, dann auf dein Material. Und natürlich auf dich.

Vorerst brauchte ich für die Strecke von Innertkirchen bis Punta Arenas ein Fahrrad. Aber was für eines? Es sollte mindestens 25 000 Kilometer fit bleiben, um nicht vielleicht kurz vor Schluss in der Atacama-Wüste liegen zu bleiben. Ich besuchte einen Mechanikerkurs, um Bremsklötze, Bremskabel, Speichen, Plattfüße, Gangschaltung und Kette nach allen Regeln des Handwerks zu warten und zu reparieren – und lernte dabei, dass es Fahrräder und Fahrräder gibt. Welche Kriterien sollte das meine erfüllen? Preis, Größe, Zuverlässigkeit, Sportlichkeit, Bequemlichkeit … Bis ich mir ganz sicher war, verstrichen anderthalb Jahre. Leicht sollte es sein, also Aluminium. Doch Aluminium ist brüchig und lässt sich nicht so leicht schweißen. Also doch lieber der schwerere Stahl. Um das Gewicht gering zu halten, wählte ich eine für meine Länge etwas zu kleine Größe. 56 Zoll statt 59 Zoll. Für eine angenehme, aufrechte Sitzposition fügte ich einen ziemlich hohen Lenker hinzu. Damit handelte ich mir zwar mehr Luftwiderstand ein, aber Nacken und Handgelenke brauchten nicht so zu leiden.

Beim Sattel griff ich zu Brooks, dem englischen Jahrhundertklassiker. »Weiche das Leder drei viertel Stunden in Seifenwasser ein«, riet mir der Aarios-Fahrradbauer Arnold Ramel, »dann schmiere es gleich tüchtig mit Lederfett ein, pack das Ganze in eine Plastiktüte und geh einen halben Tag fahren.« Klingt wie ein Großmutterrezept, funktioniert aber prima. Mein Sattel passt unter meinen Hintern, perfekt nach Maß. Die Form hat er nicht mehr verloren. Das ist Brooks. Ist er mit dieser Patina nicht schöner als neu?

Bei der Schaltung lernte ich: Ein Rohloff-Getriebe bewährt sich besser als eine Kettenschaltung. Die Kette nützt sich nicht ab, und wenn man die Nabe schön schmiert und stets unbelastet schaltet, läuft es ein Leben lang. Ebenso gut haben sich die Reifen gehalten. Mit ihren Stahleinlagen und ihren fetten Stollen überstanden sie manche Steine, Scherben und Nägel. Der erste Satz hielt von der Grimsel bis Chile. Doch was ich mir da zusammengestellt hatte, war nicht das leichtfüßige Ding, mit dem man zum Picknick ans nächste Waldrändchen fährt oder mit dem Rennfahrer Bergpreise ersprinten. Mein Fahrrad musste schließlich nicht nur mich, sondern auch mein ganzes Gepäck tragen können. Vierzig Kilo wog es mit den sechs Packtaschen an Vorder- und Hinterrad und auf dem Gepäckträger. Zelt, Schlafsack, Kocher, Apotheke, Kleider und Ersatzmaterial. Auf den längsten, durstigsten Strecken kamen noch gut fünfzehn Kilo Wasser und Lebensmittel dazu – und die wachsende Angst an heißen, einsamen Nachmittagen, das Wasser könnte vor der nächsten Quelle ausgehen.

Kältetest

Für Antarctica ist das Material noch wichtiger – und schwierig zu finden. Wo suchen und wem vertrauen? Die Informationen zusammenzutragen und praktische Erfahrungen zu machen, bedeutete für mich eine über vier Jahre verteilte, kostspielige, anstrengende und herausfordernde Arbeit. Suchen, suchen, suchen. Zuerst einmal Beratung. Pol-Abenteurer, die Ratschläge zur Ausrüstung geben können und wollen, kann man an einer Hand abzählen. Die erfahrensten Pol-Abenteurer sind schon tot, und die wenigen zeitgenössischen leben auf dem ganzen Globus verstreut. Der Schweizer Mike Horn war ein Glücksfall für mich. Mike hatte als erster Mensch den Äquator und den nördlichen Polarkreis aus eigener Körperkraft umrundet; und er zählt zu den ganz wenigen, die zu Fuß mit Skis und Schlitten von der Küste bis zum Nordpol gelangten. Seine erfolgreiche Nordpolbegehung, zusammen mit dem Norweger Børge Ousland, geriet jedoch wegen der medienwirksamen Rettungsaktion jenes gescheiterten Sologängers nicht gebührend in den Fokus der Öffentlichkeit. Als weltoffener, positiver und fröhlicher Mensch gab mir Mike gerne einige nützliche Tipps zur Auswahl des Schuhwerks. Dass mir gerade die Schuhe Sorge bereiten sollten, betrachte ich als eine Laune des Schicksals.

Tests in geeignetem Gelände zeigten, dass kaum ein Gegenstand den Anforderungen standhält. Zu schwer, zu zerbrechlich, zu empfindlich … Material, das minus vierzig Grad Celsius ausgesetzt ist, verhält sich anders, brüchiger als Material, das sporadisch bei minus zwanzig Grad eingesetzt wird. Zudem muss das Handling bei so eisiger Kälte einfach sein, weil die Finger innert Kürze abzufrieren drohen, wenn man zum Hantieren die Fäustlinge ausziehen muss. Fast jedes Stück, das ich bei mir hatte, verlangte Anpassungen.

Trittsicher

Die erste Frage lautete: Was brauche ich unbedingt? Ski und Schuhe. Zuallererst Schuhe. Beides ist unverzichtbar zum Laufen, beides kauft man nicht schnell um die Ecke bei einem Bergsportgeschäft. Jedenfalls nicht so, dass es den harten Ansprüchen der Antarktis genügt. Zum Schutz ist ein Zelt unerlässlich, das bei Windstärke elf und zwölf (über 103 beziehungsweise 118 km/h) stehen bleibt. Als Drittes braucht es Kleidung nach Maß. Die muss sitzen, damit der Wind nicht durch die Ritzen um den nackten Körper pfeift und sich die Kälte, dieses lähmende Gift, nicht bis in die Knochen einfrisst.

Kein anderes Land lebt so nah zu einem Pol wie Norwegen. Was sich in Norwegen bewährt, hat den Kältetest schon fast im Voraus bestanden. Die Erfahrung ist in jedem Detail zu erkennen. Und wenn es um Skis geht, hat Norwegen mit seiner Langlauftradition ohnehin das Vertrauen verdient. Meine Madshus liegen in Breite und Länge irgendwo zwischen Langlaufski und Telemarkski. Wanderskis mit Kanten. In den Belag habe ich Felle geklebt und geschraubt. Ich wollte gleiten, ohne zu rutschen. Wie groß oder klein die Felle sein müssen und dürfen, galt es auszuprobieren. Doch was Sastrugis bedeuten, konnte ich im alpinen Testgelände nicht ahnen.

Die Bindung hat Rottefella in Norwegen für Expeditionen gebaut. Sie gleicht einer Langlaufbindung. Zwei kleine Klammern halten eine kleine Achse wie Scharniere an der Spitze des Schuhs und geben ihm auf der ganzen Fläche Bewegungsfreiheit.

Als Pièce de Résistance sollten sich die Schuhe erweisen. Wie rasch sich Schmerzen an den Füßen entwickeln, können die meisten Sankt-Jakobs-Pilger schon nach den ersten Tagen aus eigener Erfahrung berichten. Antarktis-Pilger erwartet unter der stärkeren Belastung auf Skis eine vielfach größere Pein. Die Härte des Klimas potenziert jeden Schmerz. Fragt sich, wie man ihn am besten umgeht. Es gibt zwei Möglichkeiten. Starr oder weich. Ein starrer Schuh belastet die Achillesferse, ein weicher muss hart geschnürt werden und birgt die Gefahr, auf dem Rist die Durchblutung abzudrücken. Das kann innert kurzer Zeit zu Qualen und unter polaren Verhältnissen zu unheilbaren Erfrierungen führen. Am besten kauft man jeden Schuh für die Kälte zwei, drei Nummern zu groß, um Platz für genügend Socken zu haben. Aber das löst die Probleme nicht. Es gibt keine schmalen Frauenmodelle zu kaufen. Um in den klobigen und breiten Männermodellen trotzdem Halt zu finden, muss ich umso satter zuschnüren.

Deswegen entschied ich mich entgegen Mikes Rat für ein starres Modell mit guter Isolation. Sie ist so üppig, dass sich der Innenschuh im starren Gehäuse angenehm abrollen lässt. Weil man stets flach geht, zieht das bei jedem Schritt an der Achillessehne. Versuche, diesen Zug zu verringern, sollten mich über mehrere Breitengrade begleiten. Immerhin habe ich nicht an die Füße gefroren. Meine Mutter hat mir um meine Schuhe von Meindl wärmeisolierende Uberzugsgamaschen genäht, damit meine vom Himalaja kälteempfindlich gebliebenen Zehen möglichst keine weiteren Schäden davontragen müssten.

Den Materialschlitten schließlich hatte ich bei den beiden Polfahrern Paul Landry und Matty McNair gesehen. Leicht sollte er sein und breit genug, um die Unebenheiten des südlichen Polareises durchzustehen. Marke Fjellpulken aus Norwegen. Siebeneinhalb Kilo scheinen nicht schwer, aber über mehr als tausend Kilometer und beladen mit über hundert Kilo Material, fällt jedes Kilo ins Gewicht. Das Verdeck darüber ist leicht – zu leicht vielleicht, und ob der Klettverschluss sich im Schneetreiben bewährt, würde ich sehen. Auch die Zuggurte sind von Fjellpulken. Eigentlich für die Kitesurfer gebaut, habe ich sie für meine Zwecke umgearbeitet, mit einem verstellbaren Karabiner versehen und mit dem Gestell eines Rucksacks verbunden. So konnte ich den Zug auf Hüfte und Schultern beliebig verteilen.

Hemd und Hose

Für lange Jahre galt Goretex bei nassem Wetter als Garant für trockene Haut. In der Antarktis bewähren sich sogenannte Hybridstoffe besser. Sie schützen vor Wind, sind aber nicht wasserdicht, sodass die Körperfeuchtigkeit nach außen besser entweicht. Mammut hat alle meine Erwartungen bestens erfüllt. Um weder zu frieren noch zu schwitzen, setzte ich aufs Zwiebelprinzip. Ich hatte genügend Schichten zum Schälen dabei: Unterziehleibchen, Uberziehleibchen, zwei Pullis, einer über dem andern zu tragen, eine Jacke und eine zweite Jacke über die erste. Für die Pausen muss eine Daunenjacke griffbereit liegen. Man kühlt sehr schnell aus. Zur Jacke gehört unbedingt eine Kapuze mit Pelzrand gegen den Wind. Schafpelz ist untauglich, da der Schnee in der Wolle verklumpt. Das wussten schon Pioniere wie Amundsen, Scott oder Shackleton: Meine Fuchspelzchen sind schon auf den Fotos von damals zu sehen. Die alten Fotos geben auch zu erkennen, dass es damals weder den Reiß- noch den Klettverschluss gab. Und durch Knopflöcher und Ösen fühlst du die Kälte fast wie eine Flüssigkeit in ekligen Bächlein der Haut entlangrieseln.

Auch im Gesicht kommt unter der Kapuze Schicht über Schicht. Zuerst eine Halskrause bis unter den Mund. Darüber eine Balaklava und ein winddichtes Stirnband. Meine Mutter hatte mir gegen Wind und Kälte maßgerecht auch eine Gesichtsmaske geschneidert. Um mich voll zu vermummen, setzte ich eine Sturmbrille darüber. Doch all das sollte die Wangen nicht genügend vor Frostbeulen schützen. Sie kommen heimtückisch, schmerzlos. Erst abends, wenn man sich berührt, erschrickt man über die Gefühllosigkeit.

Und sonst noch? Handschuhe in drei Schichten – und natürlich, wie sich das gehört für eine Frau, das kleine Schwarze … Denkste. Für die ganzen fünfzig Tage Antarktis habe ich mir nur drei paar Unterhosen geleistet. Waschen unmöglich.

My Tent is my Castle

Nicht dass ich gedachte, bei Pfadfinderromantik viel Zeit im Zelt zu verbringen. Wichtig jedoch ist der Schutz vor Wind und Wetter in den kurzen Stunden der Erholung. Hunderte verschiedener Zelte für höchste Ansprüche bieten sich an. Doch hier ist die Auswahl ziemlich einfach. Wer in die Antarktis geht, wählt ein Tunnelzelt. Alles andere disqualifiziert sich von selbst: Kuppelzelte verlangen zum Aufbauen mehr als zwei Hände. Giebelzelte flattern wie Fahnen im Wind.

Unsere »Hillebergs« trotzten sämtlichen Stürmen. Innen- und Außenzelt hängen zusammen und lassen sich in einem Arbeitsgang leicht von zwei Händen aufbauen. Wenn man sie in den Wind stellt, pustet sie der Wind von allein auf. Beim Abbauen bleiben die Stangen drin und kommen in der Mitte zusammengesteckt auf den Schlitten. Um mein Hilleberg Antarktis-tauglich zu machen, nähte meine Mutter »Flaps« an die Unterkante. Mit Schnee beschwert, verbessern sie bei Wind die Standfestigkeit. Sie bewährten sich gleich am ersten Tag: Bei einem einzigen, harmlosen Stangenbruch wetterten sie alles ab, was vom Himmel kam.

Für einen guten, tiefen Schlaf ist der Schlafsack überlebensnotwendig. Daunen bleiben das Maß der Dinge. Sie halten unerreicht warm, sind federleicht und trocknen rasch in der Sonne. In meinem »Mammut« steckt mindestens ein Kilo Daunen. Das reicht mit der entsprechenden Wäsche auch an den kältesten Tagen für wohlige Wärme.

Die kleine Hausapotheke

Zu Material und Verpflegung gehört auch Medizin für alle Fälle. So wenig wie möglich, so viel wie nötig, lautete die Devise für meine Packzettel. Ohne Notapotheke in die Wildnis zu gehen, ist grob fahrlässig. Trotzdem hatte ich nicht viel mehr als Verbandstoff und einige Tabletten dabei. Schmerzmittel, Entzündungshemmer und Antibiotika an erster Stelle, aber auch Schlaftabletten, falls ich nach einem anstrengenden Tag zu zappelig wäre und doch am nächsten Morgen wieder fit sein wollte. Aber da blieb ich vorsichtig. Zu mehr als einer halben Tablette habe ich mich jeweils nicht getraut. Ich will nicht abhängig werden. Von gar nichts. Es reicht schon, dass mich die Bergsteigerei nicht mehr loslässt.

Für schwerere Fälle verlasse ich mich stets auf mein Allerweltsheilmittel »Milan«. Mit Milan bin ich besser bedient als mit einem ganzen Koffer Chemie. Seine Wirkung ist schon in homöopathischen Dosen rasch und nachhaltig. Keine Nebenwirkungen. Uberdosis unmöglich. Dr. Milan Cermak. Unter anderem Professor an der Universität in Straßburg und für die NASA in der Telemedizin tätig. Milan kann ich am Telefon fragen, ob meine Kopfschmerzen ein Symptom für Malaria sind oder wie ich mit einer Frostbeule umgehe, wenn sie partout nicht heilen will. Es ist wunderbar, in Milan einen Freund zu wissen, der auch erklären kann, wie eine Supernova funktioniert oder wie lange es dauert, den Mars zu erreichen. Bei all seinen Titeln ist Milan ein Mensch geblieben, der alle möglichen Fragen ernster nimmt als sich selber. Gibt es ein besseres Sedativum und Antidepressivum als Milan? Den Expeditionsteilnehmern einer Himalaja-Expedition zum Cho Oyo (8188 m) riet er in perfektem Deutsch mit dem Akzent seiner tschechischen Heimat: »Einmal richtig gefurzt ist besser als sieben Ärzte!« Voilà. Mit Milan in der Rückhand kehrte ich noch jedes Mal gesund nach Hause zurück.

Meine Welt sind die Berge

Vor meinem Unternehmen Antarctica hatte ich zweiundzwanzig Jahre lang Alpinismus bis an die Leistungsgrenze betrieben. Die Leistungsgrenze bildet eine äußerst reizvolle Linie in der Innenwelt der menschlichen Erfahrung. An exponierten Stellen eines Bergs ist man bis in die letzte Faser gereizt. In diesen Phasen äußerster körperlicher wie psychischer Sensibilität lernt man viel über sich und den Berg. Man lernt vom Berg über sich.

Man begegnet seinen Stärken und seinen Schwächen, lernt den Ehrgeiz zügeln, wenn er ungesund wird und man vor Ungeduld die Gefahren missachtet. Ich staunte über meine innere Ruhe, wenn ich zu Rettungsaktionen aufgerufen wurde, um Tote zu bergen oder ein Risiko auf mich zu nehmen. Ich lernte, Angst in Wut umzusetzen – Wut über das persönliche Unvermögen – und aus dieser Wut Energie zu schöpfen, um daraus Kraft zum Handeln zu gewinnen. Die Wut erweist sich als unglaublich schöpferische Kraft. Sie befähigt einen zu schier übermenschlichen Leistungen. Sie kann mich die Wände hochtreiben. Beim Klettern wirst du oben mit einem Blick der Götter entschädigt. Das Universum liegt dir zu Füßen.