Wilhelm Schmid

Liebe

Warum sie so schwierig ist

und wie sie dennoch gelingt

Insel Verlag

eBook Insel Verlag Berlin 2011

© Insel Verlag Berlin 2011

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eISBN 978-3-458-76870-8

www.insel-verlag.de

Vorwort

»Kann mir mal jemand die Liebe erklären?« Diese Frage lag mir selbst lange auf den Lippen. Aber ich kannte niemanden, dem ich sie hätte stellen können. Mein Problem war, dass irgendwie immer alles schiefging. Dabei wusste ich doch genau, was Liebe ist: Immer nur innige Umarmung, immer gute Gefühle, nie irgendwelche Trübung. Und immer wieder ist das gescheitert, sobald die Verliebtheit vorbei war, nicht zuletzt, weil ich selbst wieder Distanz brauchte und Ärger machte, ohne es eigentlich zu wollen.

Um all das besser zu verstehen, entschloss ich mich, Philosophie zu studieren. Was läge näher, wenn es um die Liebe geht? Sie ist die Liebe zur Weisheit, ihr traute ich zu, ein Phänomen wie die Liebe gründlich und mit größter Umsicht anzugehen. Das Philosophiestudium hielt allerdings trockenere Stoffe bereit, Logik beispielsweise. Das hilft, geordneter denken zu lernen. Für die Liebe bedurfte es aber weiterer Studien, denen ich mich widmete, dreißig Jahre lang, auf theoretischem und selbstverständlich auf praktischem Gebiet, um mehr Klarheit zu gewinnen, wenigstens aus subjektiver Sicht. Daraus geht dieses kleine Buch hervor, dem ein größeres zugrunde liegt.*

Zu welchen Schlüssen bin ich gekommen? Dass die Liebe etwas ist, dessen Wahrheit wir nie so recht kennen. Zweifellos ist sie eine Art von Zuwendung und Zuneigung, aber was daraus wird, hängt nicht nur davon ab, wem wir begegnen und was wir erfahren, sondern auch davon, was wir uns unter Liebe vorstellen und demzufolge von ihr erwarten, erhoffen und befürchten. Diese Vorstellung oder Deutung ist so wichtig, dass sich sagen lässt: Liebe ist, was als Liebe gedeutet wird. Ist das die Wahrheit? Nein, eine Deutung. Je nach Deutung erscheint die Liebe als angenehmes Gefühl oder bittere Enttäuschung, als nüchternes Kalkül oder verrückte Leidenschaft. Wir wollen sie für eine Nacht oder für ein ganzes Leben, rein körperlich oder auch seelisch, geistig, transzendent, mit einem oder mehreren Anderen.

Die jeweilige Deutung wirkt wiederum auf Begegnungen und Erfahrungen zurück: Wenn ich mir vorstelle, dass Liebe reine Harmonie ist, dann erwarte ich genau das von einer Beziehung – Enttäuschung wird die Folge sein. Stelle ich mir hingegen vor, dass Liebe zwar grundsätzlich Harmonie ist, gelegentlich aber Ärger und Streit, dann halten sich die Enttäuschungen in Grenzen. Warum also nicht die Deutung ändern, wenn die Liebe Probleme macht? Und sollte die Deutung richtig erscheinen: Wäre vielleicht etwas an der Art des Liebens zu ändern?

Kaum zwei Menschen deuten auf dieselbe Weise: Das ist ein Indiz dafür, wie viele Facetten die Wahrheit der Liebe in sich birgt. Viele Menschen beharren allerdings darauf, dass ihre Deutung gar keine Deutung ist, sondern eine Beschreibung, wie es wirklich ist. Sie glauben die Wahrheit der Liebe zu kennen und verteidigen sie mit einer Inbrunst, die sonst nur in Diskussionen über Religion üblich ist. In den Augen derer, für die die Liebe selbst zur Religion wird, erscheint sie als »etwas Absolutes«, nichts an ihr kann in Frage gestellt werden. Im Gegenzug legen Andere auch hier Wert auf ihren Atheismus: Für sie steckt »nichts dahinter«, außer vielleicht ein wenig Biochemie. Auch diese gegensätzlichen Deutungen haben in der unfassbaren Wahrheit der Liebe Platz, allerdings mit unterschiedlichen Konsequenzen: Wer auf der Absolutheit der Liebe besteht, kann an der Praxis leicht verzweifeln, die den allzu hohen Ansprüchen nicht genügt. Wer nur eine Illusion am Werk sieht, verschenkt das kreative Potenzial, das einer schönen Illusion eigen sein kann.

Schwierig war die Liebe schon immer, in jeder Zeit jedoch auf eigene Weise. Einst war klar, dass Gefühle keine Rolle spielen durften, entscheidend war das nüchterne Kalkül, die materielle Absicherung, der soziale Aufstieg, die üppige Fortpflanzung: Kinder waren Pflicht, möglichst viele. In moderner Zeit ist die Liebe schwierig geworden, weil Gefühle eine große Rolle spielen müssen, das Kalkül möglichst keine, an materielle Absicherung und Karriere zu denken, ist unromantisch, und Fortpflanzung ist nicht unbedingt nötig: Kinder sind Kür, eins oder zwei reichen. Was aber ist, wenn die Gefühle aussetzen? Das ist das Problem der romantischen Liebe, die auf Gefühle baut, vor allem auf gute Gefühle, ohne Störung und ohne Alltag. Schon die Erfinder der romantischen Liebe machten die Erfahrung, dass die Liebe, die sich allein auf Gefühle verlässt, nicht gut lebbar ist. Ihre Beziehungen sind teilweise schrecklich gescheitert, und an diesem Problem hat sich seither nichts geändert.

Die romantische Deutung der Liebe fiel nicht vom Himmel, sie hat ihre Geschichte: Junge Menschen, die »Frühromantiker«, wehrten sich in westlichen Ländern am Ende des 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts gegen die Fühllosigkeit der bürgerlichen Liebe in arrangierten Ehen. Fühllosigkeit warfen sie auch der entstehenden modernen Zeit vor, die auf Rationalität, Wissenschaft und Technik baute. Sie befürchteten, nicht ohne Grund, in der Kälte dieser Welt könnte die menschliche Wärme verlorengehen. Mit romantischen Gefühlen, so hofften sie, ließe sich eine Gegenwelt schaffen. Diese Vorstellung hat im Laufe der modernen Zeit immer mehr Anhänger gefunden und gewinnt nun von Neuem an Bedeutung: Je mehr Stress, Ärger und Ungewissheit in der Arbeitswelt erfahren werden, desto mehr soll die heimische Welt eine heile Welt voller Harmonie, Verständnis und Gewissheit sein.

Schwierig ist diese Liebe jedoch, weil ihr der Alltag entgegensteht, in dem die Gefühle schwinden. Schwierig ist sie auch, weil die Ichs ihrer Sehnsucht nach inniger Gemeinsamkeit, in der es keine Einsamkeit mehr gibt, oft selbst im Weg stehen: Sie wollen die Liebe als vertraute, verlässliche Bindung, beharren jedoch zugleich auf ihrer Freiheit und ihrem eigenen Leben. In anderen Zeiten konnten Menschen von Freiheit bestenfalls träumen, in moderner Zeit aber ist eine Errungenschaft daraus geworden, die Menschen ständig in Unruhe versetzt: Wo bleibe ich, wo bleibt meine Freiheit? Wo werde ich zu sehr eingeengt? Wie kann ich mich davon befreien?

Und schwierig ist die Liebe, weil sie viele Möglichkeiten gewonnen hat, etwa in Gestalt vieler Beziehungen, in denen immer neue Anläufe zur Realisierung von Romantik unternommen werden. Jede Verwirklichung nimmt jedoch Kraft und Zeit in Anspruch und braucht den Verzicht auf andere Möglichkeiten, der schmerzlich sein kann.

Wenn all das dennoch kein Grund zur Verzweiflung ist, dann deswegen, weil Romantik nicht die einzig denkbare Deutung von Liebe ist. Eine andere Deutung, die besser lebbar sein könnte, ist die einer atmenden Liebe. Die Liebe erstickt, wenn sie nicht atmen kann. Sie kann nicht atmen, wenn sie immer nur Liebe sein muss, festgelegt auf Liebe in einem bestimmten Sinne, beispielsweise immer gute Gefühle und Leidenschaft, immer kuschelige Nähe zu bieten. Das ist gleichbedeutend damit, immer nur einatmen zu wollen, aber ein Mensch muss auch ausatmen können, ebenso die Liebe.

Atmen kann die Liebe, wenn sie den Gegensätzen, die den romantisch Liebenden so große Probleme bereiten, phasenweise Raum gibt, um nicht nur die gefühlvolle Romantik und die Nähe zu pflegen, die einfach schön sind, sondern auch die nüchterne Pragmatik, die sich im Alltag gut bewährt und die Distanz erlaubt, die der Beziehung guttut. Der gelegentliche Rückzug voneinander ist die Voraussetzung dafür, sich nicht ständig miteinander, sondern immer wieder mit dem je eigenen Ich befassen zu können, auf diese Weise neuen Atem zu schöpfen und sich einander wieder zuzuwenden.