Cover

Titel

Hans-Jürgen Rusch

Neptunopfer

Kriminalroman

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

 

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© 2011–Gmeiner-Verlag GmbH

Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch

Telefon 07575/2095-0

Alle Rechte vorbehalten

1. Auflage 2011

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung/Korrekturen: Julia Franze / Katja Ernst

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: Hans-Jürgen Rusch

ISBN 978-3-8392-3622-2

Reiseroute der MS Rügen

Bremerhaven (06.05.08) – Rotterdam – Helgoland – Esbjerg – Nord-Ostsee-Kanal – Stralsund (2 Tage) – auf See – Stockholm – St. Petersburg – auf See – Kiel (17.05.08)

Die Handlung erstreckt sich auf die Stationen von Helgoland bis Stralsund.

 

 

*

 

 

Decksliste der MS Rügen

Aufgeführt sind die Decks des Kreuzfahrtschiffes von oben nach unten.

 

Deck Nr. 7 Sonnendeck in der Mitte des Schiffes und vorn über der Brücke

Arkona-Deck (Nr. 6) Panoramaklub; Sonnendeck; Fitnessraum; Bordarzt

Mönchgut-Deck (Nr. 5) Balkonsuiten; Bibliothek; Friseur

Wittow-Deck (Nr. 4) Musiksalon; Spielsalon; Boutique; Pool-Deck (außen)

Jasmund-Deck (Nr. 3) Eingang; Restaurant

Vestibül »Treppenhaus«; erstreckt sich über die Decks 3 bis 6

Deck Nr. 2 Start Joggingrunde (außen)

 

 

*

 

Charaktere

Aufgeführt sind die wichtigsten Charaktere mit ihrem Alter zum Zeitpunkt der Handlung im Mai 2008.

 

Ronald Helmers (43) Bauingenieur in der Firma InnoBau in Bremen

Dagmar Sanders (29) Bauzeichnerin; Lebensgefährtin von Ronald Helmers

Corinna Borowski (43) Regisseurin in einem Münchner Filmstudio

Ferdinand Wolpert (43) Forstwirtschaftler; ehemaliger Schulfreund von Helmers

Berit Wolpert (40) Inhaberin eines Reisebüros; Ehefrau von Ferdinand Wolpert

Otto Löffler (63) Hauptkommissar der Kripo Stralsund

Marc Müller (32) Oberkommissar der Bremer Kripo

Renate Tilgner (75) Inhaberin eines Ingenieurbüros

Alwin Tilgner (43) Deutschlehrer; Sohn von Renate Tilgner

Christin Berger (12) Marc Müllers uneheliche Tochter

Sabine Berger (30) Christins Mutter

Harry Gronau (48) Landesbediensteter im Kultusministerium

Gabriele Gronau (45) Ehefrau und Vorgesetzte (Referatsleiterin) von Harry Gronau

Gerd Kaczmarek (41) Vorstandsmitglied des VfBI; Zwillingsbruder von Norbert

Norbert Kaczmarek (41) Barkeeper im Hotel Neptun in Bremen;

Pia Otten (35) Freundin von Norbert

Vadim Utesch (48) Besitzer einer Tauchschule in Stralsund

Holger Olbert (37) Chef der Bremer Reederei TransOzeana

Ludwig Imhoff (30) Leiter Haustechnik der TransOzeana

Undine Jagoda geheimnisvolles Idol von Ronald Helmers

Traude Fischbeck (58) ehemalige Mathematiklehrerin von Marc Müller

Paul Droste (57) Hamburger Immobilienmakler

 

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13. Februar 2008 – Mittwoch

 

»Da hinten, das blond gelockte Mädchen, das ist Christin.« Ich deutete über den Schulhof zu der Zwölfjährigen, die allein in einer Ecke stand und fröstelnd die Arme vor der Brust verschränkte. Meine beiden Begleiter sahen hinüber.

»Ich weiß nicht, Herr Helmers«, erwiderte Harry Gronau, »ich sehe nur ein Kind, das seine Ruhe haben will. Immerhin gehts unter den anderen ziemlich rasant zu.«

Gronaus Teilnahmslosigkeit traf mich tiefer, als ich mir zugestehen mochte. Wie hatte ich ihn angefleht, mit hierher, zu diesem Schulhof in der Bremer Neustadt zu kommen. Sogar Alwin musste ich gestern Abend noch einspannen. Ihm war es schließlich gelungen, Gronau zu überreden. Und jetzt? Jetzt stand Alwin zwei Schritte neben mir, anscheinend ungerührt. Er kannte Christins Los und zog mit uns an einem gemeinsamen Strang. Seine Mutter hatte die Idee zur Gründung der Privatschule geboren – warum schwieg er?

Mein Blick wanderte erneut zu Christin, die steif wie ein Denkmal an ihrem Platz verharrte. Plötzlich horchte sie auf. Eine kleine Gruppe Schüler stand wenige Schritte von ihr entfernt. Die Mädchen und Jungen scherzten und spornten einander in ihren Gesten an. Christin lief hinüber, stellte sich dazu und schien einfach zuzuhören. Auf einmal richtete sich die Aufmerksamkeit der anderen auf sie. Christin sagte etwas, alle lachten und ein Junge schubste sie beiseite.

»Ihr Idioten!«, stieß Christin verzweifelt hervor und schlich mit hängendem Kopf davon.

Mich schmerzte der Anblick. Am liebsten wäre ich hinübergelaufen und hätte die rüden Schulkameraden zur Rede gestellt.

»Haben Sie das arrangiert?«

Gronaus Worte trafen mich wie ein Schlag ins Gesicht. Alwin sandte mir einen mahnenden Blick. Lass dich nicht provozieren, mochte sein Augenzwinkern bedeuten. Ich schluckte meine Wut herunter. »Nein, natürlich nicht.«

Gut so, lobten Alwins Augen.

»Eine solche Behandlung«, ergänzte ich, »erfahren hochbegabte Schüler auf vielen Schulhöfen. Einige Kinder treibt dieses Mobbing sogar in den Tod.«

Gronau fixierte mich mit zusammengekniffenen Lidern. »Denken Sie da an einen speziellen Fall?«

Ja, lag mir die Antwort bereits auf der Zunge; ja, ich denke da an einen speziellen Fall – ich denke an Undine. Aber ich zügelte mich. »Nein, nur so allgemein. Wir sind im Zuge unserer Projektplanung auf einige solcher Schicksale gestoßen.« Mit einem kurzen Nicken pflichtete Alwin mir bei.

»Ach, und an Ihrer neuen Schule sollen Fälle, wie der da hinten«, Gronau deutete in Richtung Schulhof, »unmöglich sein?«

»Ja. Hochbegabte Kinder erfahren bei uns eine besondere Förderung. Das habe ich ja in unserem Konzept ausführlich dargelegt.«

»Ich erinnere mich«, sagte Gronau mit nachdenklicher Miene und schaute auf den Schulhof, der inzwischen verwaist dalag. »Ich betrachtete Ihre Darstellungen bisher eher als … sagen wir mal … als erläuterndes Beiwerk. Ich lese so etwas in jedem Antrag. Sie scheinen es hingegen ernst zu meinen.«

»Sicher«, bekräftigte ich und sah zu Alwin, der mit ungerührtem Gesichtsausdruck zu Gronau blickte.

»Tja«, fuhr dieser fort, »dann frage ich mich, ob Ihre Finanzplanung den Anforderungen entspricht? Ich meine, wenn wir eine Schule in freier Trägerschaft genehmigen, tragen wir eine gewisse Verantwortung; eine hohe Verantwortung für die Kinder, die dem fundierten System unserer staatlichen Bildungseinrichtungen entzogen werden. Deshalb auch der ganze Aufwand mit dem Genehmigungsverfahren. Oder was meinen Sie, warum ich hierher gekommen bin? Ich nehme jeden Antrag ernst.«

Ich hörte kaum mehr hin. In meiner linken Brust spürte ich einen dumpfen Druck, ein Gefühl, als wolle mein Herz schneller schlagen, werde aber daran gehindert.

»Was erwarten Sie von uns?«, nahm Alwin erstmals das Wort.

Gronau schaute erneut auf den verwaisten Schulhof und wandte seinen Blick dann Alwin zu. »Ganz einfach: Um drei Jahre ohne staatliche Unterstützung zu überstehen und um jeden Ihrer Schüler spezifisch zu betreuen, da dürfte ein Etat von fünf Millionen Euro kaum reichen.«

Ich hielt die Luft an.

»Wie viel?«, fragte Alwin trocken, als erkundigte er sich nach der Abfahrtzeit eines Zuges.

»Sieben.«

In meinem Kopf brach eine Welt zusammen, wie ein Schloss aus hunderten von Modellbausteinen, das eine übermütige Kinderhand zertrümmerte. Zwei Millionen mehr! Wer sollte die aufbringen? Mein Blick wanderte zu der Stelle, an der vorhin Christin von ihren Mitschülern ausgestoßen worden war. Für sie käme unsere Schule zu spät; ich müsste sie enttäuschen und würde meinen Schwur an Undine brechen. Der Gedanke trieb mir Tränen in die Augen.

»Wenn wir sieben Millionen vorweisen«, fragte Alwin, »genehmigen Sie unseren Antrag?«

»Ich darf die Genehmigungen nicht direkt aussprechen, das steht lediglich der Referatsleiterin zu – die bisher immer meinen Empfehlungen folgte. Also Herr Tilgner – weisen Sie das Geld nach, dürften Ihrem Projekt keine Hindernisse mehr im Wege stehen.« Gronau schwieg, als hörte er in sich hinein. Schließlich nickte er. »Ja, das kann ich wohl so bestätigen, ohne nochmals die Unterlagen einzusehen.«

»Bis wann?« Alwins Frage klang sachlich.

»Na, sagen wir, bis Ende Mai. Sie wollen Ihre Schule ja pünktlich zum neuen Schuljahr eröffnen. Wenn ich in der Zwischenzeit alles vorbereite, erteilt die Referatsleiterin die Genehmigung in kürzester Zeit.«

Gronaus zur Schau gestelltes Entgegenkommen versetzte uns endgültig den Gnadenschuss.

»Abgemacht.«

Wie aus weiter Ferne drang Alwins Antwort in mein Bewusstsein. Was quatschte der Bursche da? Seine Mutter war mit ihren vier Millionen ans Äußerste des Machbaren gegangen. Unseren Anteil von einer Million würden wir in drei Monaten kaum steigern können. Ich starrte Alwin an. Anstatt einer Erklärung deuteten mir seine Augen: Halt den Mund. Er drehte sich zu Gronau und streckte ihm die Hand entgegen.

»Wir weisen sieben Millionen nach und Sie bewilligen unseren Antrag.«

»Ich reiche das Gesuch dann wohlwollend zur Genehmigung weiter«, korrigierte Gronau und schlug ein.

Was ging hier vor? Was redete Alwin?

»Na sehen Sie, Herr Helmers.« Gronau grinste mich an. »So räumen wir eine Hürde nach der anderen aus dem Weg. Das Lehrerproblem hatten Sie ja auch mit Bravour gelöst. Und wenn Sie verzagen, springt Herr Tilgner ein.« Er wandte sich meinem Auto zu. »Wir sollten unsere Exkursion mit diesem Ergebnis beenden.«

Während wir zu meinem Wagen liefen, zog ich Alwin am Ärmel und blieb mit ihm einige Meter hinter Gronau zurück.

»Was soll das?«, zischelte ich ihm zu. »Woher kommt das zusätzliche Geld? Zahlt das auch deine Mutter?«

»Nein. Ich besorge es.« Er schüttelte seinen Arm los und schloss zu unserem Gast auf.

Wenig später fuhren wir in Richtung Autobahn – Gronaus und Alwins Autos standen dort auf einem Parkplatz. Die Fahrt verlief schweigend. Gronau hing wie ein Walross neben mir auf dem Beifahrersitz; Alwin saß in sich gekehrt rechts hinten. Der mittägliche Verkehr floss ungewohnt spärlich über die Neuenlander Straße und forderte kaum meine Aufmerksamkeit. Woher wollte Alwin das Geld nehmen? Vor allem in dieser kurzen Zeit. Ich schaute in den Rückspiegel. Als kehrten wir übermüdet von einer gemeinsamen Wandertour zurück, lehnte Alwins Stirn an der Seitenscheibe. Seine Augen starrten unbeteiligt hinaus. Bluffte er? Aber welchen Nutzen sollte unser Projekt davon haben?

»Wie gesagt«, begann Gronau auf einmal zu sprechen, »genehmigen muss Ihren Antrag die Referatsleiterin.«

»Die Ihre Ehefrau ist«, antwortete Alwin von hinten.

»Ja, richtig. Das bringt Ihnen jedoch keinen Vorteil. Im Gegenteil. Um Gerede im Amt zu vermeiden, schaut sie bei meinen Vorlagen stets genau hin. Deshalb auch meine Nachforderung hinsichtlich Ihrer Finanzierung. Das verstehen Sie wohl?«

»Worauf wollen Sie hinaus?« Alwin richtete den Oberkörper auf.

»Ich habe da so eine Idee.« Gronau neigte den Kopf nach hinten, als könne er so besser mit Alwin sprechen. »Meine Frau und ich, wir sollten mal wieder in Urlaub fahren. Vielleicht Mitte Mai. Ich könnte sie dabei in entspannter Umgebung mit Ihrem Projekt vertraut machen. Aber nur, wenn Sie das wollen. Ist lediglich ein Gedanke von mir. Muss auch nicht die Welt kosten. Ich meine, wir reden über ein Gesamtprojekt von sieben Millionen.«

Was verlangte dieses Schwein noch von uns?

»Sie meinen«, bemerkte Alwin, »wir sollten einen Beitrag zu Ihrem Urlaub leisten?«

»Nennen wir es mal so: Sie spenden eine Summe, die rein zufällig den Reisekosten entspricht. Die Kontodaten gebe ich Ihnen rechtzeitig.«

»Wohin soll die Reise gehen?« Alwin klang, als diskutiere er mit Gronau die Farbe seines Jacketts. »Wie viel Geld müssen wir einplanen?«

Jetzt drehte sich Gronau zu Alwin um. »Wir wollns ja nicht übertreiben. Auf der Ostsee gibt es sehr schöne Kreuzfahrten, gerade im späten Frühjahr. Eventuell über Pfingsten?«

Ekel und Abscheu drohten mich zu ersticken. Ich brauchte ein Ventil des Abreagierens und schaute in den Rückspiegel. Hinter uns fuhr kein Auto. Mein Fuß trampelte auf die Bremse. Eine unsichtbare Macht schleuderte mich in den Sicherheitsgurt. Gronau, den Blick immer noch rückwärts gerichtet, flog seitlich in den Gurt, der auf seinen Hals drückte. Der Wagen schlingerte. Ich lenkte gegen. Gronau röchelte. Ich presste das Bremspedal mit Gewalt nach unten. Aus den Augenwinkeln verfolgte ich den Kampf meines Beifahrers um Atemluft, bis das Auto endlich stand.

Gronau warf seinen Oberkörper herum und löste den Sicherheitsgurt. »Spinnen Sie?«

Sein Wutausbruch erfüllte mich wie die wohlige Wirkung eines Beruhigungsmittels mit innerer Befriedigung. Der Gegner, vorhin noch übermächtig und unbezwingbar, erschien mir in diesem Augenblick klein und verletzlich.

»Entschuldigen Sie, Herr Gronau – vor uns lief ein Mädchen über die Straße. Sie sah Undine Jagoda ähnlich.«

Gronaus Gesicht schimmerte bleich und hob sich kontrastreich vom dunkelgrauen Himmel des Fahrzeuges ab. Er starrte mich einen Atemzug lang an und öffnete die Seitentür. »Vielen Dank, meine Herren; ich steige hier aus.«

»Bitte warten Sie!«, rief Alwin von hinten und verließ ebenfalls den Wagen.

1

08. Mai 2008 – Donnerstag

 

Irgendwo schlug ein Kirchturm fünf Uhr. Den östlichen Horizont zierte ein breiter hellblauer Streifen; in einer halben Stunde ging die Sonne auf. Dieser Donnerstag vor Pfingsten erwachte im besten Frühsommerwetter. Über die gesamten Feiertage hinweg sollte die sonnige Hochdruckwetterlage halten, wenn man den Meteorologen glauben konnte. Unmut beschlich Vadim Utesch. Er atmete tief durch. Beherrsch dich, mahnte er sich, Ärger im Einsatz führte in eine Katastrophe. Diesen Kerngedanken militärischer Kampfführung hatten ihnen die Ausbilder vom ersten Tag an eingebläut. Utesch war diesem Leitgedanken seither strikt nachgekommen, als Kampfschwimmer in Diensten der Volksmarine und auch später. Selbst heute, wo er mit seiner Tauchschule in Stralsund ein eher unaufgeregtes Leben führte, bestimmten Ruhe und Freundlichkeit sein Gefühlsleben – sie schärften die Sinne und kamen bei den Gästen gut an.

Utesch schaute erneut zum östlichen Himmel. Bei diesem Wetter hätte er über die Feiertage richtig Kasse machen können. Schweren Herzens hatte er all die Anfragen nach Tauchausflügen absagen müssen, nur weil die Nummer 1 der Operation die Tage um Pfingsten verplant hatte. Heute Morgen diese blöde Aktion hier in Bremen. Anschließend musste er von Cuxhaven mit dem gecharterten Motorboot auf die Nordsee raus, um dort pünktlich auf das Kreuzfahrtschiff zu treffen. Der Coup am Sonntag verdarb schließlich die letzte Chance auf irgendein Pfingstgeschäft. Na ja, er würde die Jobs erledigen, um die Nummer 1 endlich loszuwerden. Wenn alles klappte, verschwand die nächste Woche nach Südamerika. Hoffentlich auf Nimmerwiedersehen.

10 nach 5 sollte Utesch anrufen; ihm blieb noch eine Minute. Er steckte eine Klammer auf seine Nase und konzentrierte sich: Er musste unbedingt den immer wieder durchbrechenden sächselnden Dialekt unterdrücken. Schließlich wählte er auf dem Handy die von der Nummer 1 einprogrammierte Kurzwahl. Bereits nach einem Freizeichen meldete sich die Sicherheitsfirma. Der Name des Mannes am anderen Ende ging in dessen Genuschel unter.

»Ludwig Imhoff von der TransOzeana«, nannte Utesch den falschen Namen.

»Ah, Ludwig«, entgegnete der Wachmann in einem Ton, als spreche er zu einem guten Kumpel. »Du klingst aber komisch.«

»Erkältung«, erklärte Utesch lapidar.

»Ja, ja«, gab der Wachmann jovial zurück, »bei dem schönen Wetter muss man höllisch aufpassen. Wir haben halt noch keinen Sommer. Was kann ich für dich tun?«

Der Plauderton des Wachmanns sorgte bei Utesch für Erleichterung – er wusste, wie er den Kerl ansprechen sollte. »Ich muss in die Firma, schalte die Überwachung ab.«

»Was, jetzt noch?«, erklang eine erstaunte Stimme vom anderen Ende der Leitung. »In einer Viertelstunde endet die Schließzeit, dann darfst du sowieso rein.«

Den Widerspruch hatte Utesch erwartet. »Wir haben eine derbe Störung in der EDV. Die soll vor der offiziellen Bürozeit beseitigt werden. Sonst kann kein Mensch arbeiten. Da brauche ich jede Minute.«

»Wie du willst. Gib mir bitte die üblichen Daten.«

Utesch nannte das Geburtsdatum dieses Imhoffs und das Passwort.

»Alles klar, Ludwig«, bestätigte der Wachmann, »ich schalte jetzt ab. Du bleibst bestimmt über das Ende der Schließzeit?«

»Ja, ja und vielen Dank. So long.«

»Tschüss. Und gute Besserung, ich meine deine Erkältung. Über die Feiertage muss man fit sein.«

Utesch bedankte sich für die Genesungswünsche, beendete das Telefonat und zog die Klammer von der Nase. Der erste Teil seines heutigen Jobs wäre erledigt. Er schaute zum Haupteingang der Reederei, der verlassen auf der anderen Straßenseite lag. Wenn die Nummer 1 den Schlüssel besorgt hätte, könnte Utesch jetzt das Unternehmen durchziehen und ungestört in das Großraumbüro einbrechen. Aber nein, die Nummer 1 hatte gerade mal die Daten zum Abschalten der Alarmanlage besorgt. Auslöffeln musste er die Schlamperei und auf die Putzkolonne warten, um mit den Frauen reinzugehen.

Er überquerte die Fahrbahn und zog sich in die Nische eines Hauseingangs nahe der Reederei zurück. Dort streifte er blitzschnell seine Hosen ab und strich den knöchellangen Rock glatt, den er darunter trug. Ein streng gebundenes Kopftuch, flache Pumps und ein schäbiger Damenmantel verwandelten ihn in eine Frau. Seine stümperhafte Verkleidung hätte jeder Vogelscheuche zur Ehre gereicht; aber um zusammen mit den Reinemachefrauen in das Firmengebäude zu gelangen, musste es reichen.

Erneut sah Utesch auf seine Uhr – 22 nach 5. In drei Minuten ging die Putzkolonne rein, um pünktlich halb sechs mit der Arbeit zu beginnen. Er blinzelte um die Ecke. Vor dem Haupteingang der Reederei standen tatsächlich einige Frauen. Wenn er die Luft anhielt, hörte er ihre gedämpfte Unterhaltung.

»Also gut«, erklang kurz darauf eine barsche Männerstimme. »Alle da?« Ein leises Murmeln folgte, als ob der Kerl seine Schäfchen zählen würde. »Elf«, kam prompt das wohl unbefriedigende Ergebnis. »Wer fehlt? Eine der Neuen? Ich kümmere mich nachher darum. Wir müssen anfangen. Und denkt dran: Wir starten im zweiten Obergeschoss.«

Utesch fiel ein Stein vom Herzen. Fing die Putzkolonne oben an, konnte er in Ruhe das Großraumbüro im Erdgeschoss heimsuchen. Nebenan klapperten die Absätze mehrerer Damenschuhe. Utesch hastete die wenigen Schritte bis zur Reederei vor. In sicherem Abstand hinter der letzten Putzfrau schlüpfte er in die Empfangshalle. Der Kerl, der das Regime führte, war verschwunden. Während die Frauen die Treppe hinaufstiegen, eilte Utesch den Korridor entlang und betrat an dessen Ende das Großraumbüro, in das er einbrechen sollte.

Zahlreiche Schreibtische und eine lange Reihe von Büroschränken dienten als einzige Möblierung. Grünpflanzen verwandelten den Raum in einen lichten Dschungel, der für gute Deckung sorgte. Durch die breite Fensterfront drang lediglich die schummrige Morgendämmerung herein. Diese Beleuchtung kam ihm entgegen – er sah genug, konnte andererseits selbst schwer erkannt werden.

Unschlüssig wanderte Utesch zwischen den Schreibtischen umher, zog seine Gummihandschuhe an und überlegte, wie er seinen Auftrag erledigen sollte. ›Sie gehen in das Büro‹, hatte die Nummer 1 befohlen, ›inszenieren einen Einbruch, stehlen aber nichts und richten auch keinen Schaden an. Ihr Eindringen soll bemerkt werden, das Ziel des Anschlags indes im Dunkeln bleiben. Lassen Sie sich etwas einfallen.‹ Instinktiv hatte Utesch nach dem Warum des merkwürdigen Auftrags fragen wollen, seine Neugier jedoch bezähmt; je weniger er wusste, umso besser.

Einer der Schreibtische weckte sein Interesse. Lediglich eine schmale Akte lag exakt ausgerichtet am Rand. Gleich neben dem Monitor stand das Foto eines schätzungsweise fünfjährigen Mädchens, das in die Kamera strahlte. Utesch setzte sich auf den Bürostuhl und versuchte das Abbild der Frau, die hier arbeitete, in seinem Kopf entstehen zu lassen. Bestimmt eine alleinerziehende Mutter, dachte er, ein Bild des Vaters oder gar ein Familienfoto fehlten. Die Frau musste sehr ordnungsliebend sein, fiel Utesch auf. Selbst die papierne Schreibtischunterlage wirkte sauber und ordentlich. Braune Ringe von Kaffeetassen suchte man ebenso vergeblich wie graue Ränder, die von monatelanger Benutzung zeugten. Lediglich rechts oben entdeckte er einige Anmerkungen, fein akkurat hingeschrieben und teilweise durchgestrichen. Eine Notiz hatte die Frau winzig klein geschrieben und so an den Rand gequetscht, als wolle sie sie verstecken. ›Arkona-47Ö1‹ stand da. Ein Passwort? Das Passwort zum PC der Frau. Würde er diesen Rechner hochfahren und sich an die Daten heranmachen, hätte er seinen Auftrag erfüllt. Die Experten mussten den Zugriff anhand der Logdatei bemerken, konnten allerdings nicht feststellen, auf welche Dateien er es abgesehen hatte. Uteschs Blick fiel auf das Foto des Mädchens. Dessen Mutter bekam unweigerlich Ärger, wenn sie das Passwort so offen notierte und damit einen Datenverlust begünstigte. »Mach dir keine Sorgen, Kleine«, sagte Utesch und stand auf. Ein neutrales Ziel musste her.

Er ging zum ersten Büroschrank in der langen Reihe gegenüber der Fensterfront und öffnete dessen Türen. Dahinter verbarg sich ein Rechner, der eingeschaltet war. Utesch bewegte die Maus, der Bildschirm leuchtete auf und das Eingabefeld für ein Passwort erschien. Beinahe zwangsläufig schaute er zu dem Schreibtisch hinüber, an dem er eben noch gesessen hatte. Den PC hier im Schrank benutzten garantiert mehrere Mitarbeiter. Warum versteckte ihn die Reederei? Utesch trieb die Neugier. Er tippte ›Arkona-47Ö1‹ in die Tastatur und drückte Enter. Die Anzeige des Monitors wechselte und zeigte diverse Ordner an. Utesch klickte sie durch; alle enthielten lange Excel-Listen mit Namen, Adressen, Telefonnummern und Rechnungsbeträgen.

»Ludwig?«, erklang ein lauter Ruf auf dem Korridor.

Utesch erschrak. Die Stimme draußen gehörte dem Mann vom Telefonanruf in der Sicherheitsfirma.

»Ludwig? Wo bist du?« Der Wachmann musste direkt auf die halb offene Bürotür zukommen. »Im Großraumbüro?«

Mit einem Tastendruck schaltete Utesch den PC aus, schloss den Schrank und huschte in die Mitte des Büros, um hinter einem der Schreibtische abzutauchen. Keine Sekunde zu spät – im nächsten Moment knarrte die Bürotür.

»Steckst du hier irgendwo im Dunkeln?« Schritte tappten über das Parkett. Hoffentlich verschwand der Wachmann nach einem oberflächlichen Rundblick wieder. Aber Uteschs Wunsch erfüllte sich nicht. Das Licht der Deckenbeleuchtung flammte auf. Die Tritte auf dem Boden klangen jetzt zaghaft, als würde der Wachmann einen sicheren Weg durch ein Moor ertasten.

Uteschs Kopf schaltete auf Routine um, ein Reflex, den er während der Ausbildung erlernt hatte, der ihm wieder und wieder eingebläut worden war, der zu seinem Wesen gehörte und auch heute noch in Gefahrensituationen funktionierte. Er tastete nach seinem Tauchermesser und zog es aus der Scheide.

Die Schritte kamen näher. Utesch spannte seine Muskeln. Genau neben dem Schreibtisch blieb der Wachmann stehen. Ein leises Knirschen der Schuhsohlen verriet seine Körperdrehung. Utesch besann sich, steckte das Messer ein und schoss hervor. Er trat an den Mann heran, der ihm den Rücken zuwandte, und packte fest zu. Kurz darauf fing er den zusammensackenden Körper auf und legte ihn behutsam auf dem Boden ab.

2

»Wo lag der Kerl?«, fragte Oberkommissar Marc Müller. Er rieb sich das Kinn, angelte mit der anderen Hand nach dem Ende seines Zopfes und ließ die Haarspitzen unentwegt durch die Finger gleiten.

»Da hinten«, antwortete Jürgen Adamschik, einer der Kriminaltechniker, die an den Tatort gerufen worden waren. Er zeigte auf die Mitte des Großraumbüros. »Die Rettungssanitäter haben ihn gegen seinen Willen mitgenommen.«

»Ach so?«

»Der Wachmann war wohl bewusstlos gewesen und musste anschließend mit zur Überwachung ins Krankenhaus.«

»Was sollen wir hier?« Marc Müller schüttelte den Kopf. Am frühen Morgen hatte ihn Kriminaldirektor Herzog alarmiert – in den Geschäftsräumen der Kreuzfahrtreederei TransOzeana in der Bremer Innenstadt sei ein schwer verletzter Wachmann aufgefunden worden. »Für Einbrüche gibts Spezialisten im Präsidium.«

Adamschik rückte vertrauensvoll an Marc Müller heran. »Der Reedereichef soll ein Kumpel vom Alten sein. Mein Team und ich, wir ziehen hier unser Ding durch und basta. Aufregen bringt doch nichts.«

Marc Müller gab dem Kriminaltechniker in Gedanken recht. Mit seinen 32 Jahren zählte er eher zu den jüngeren Kommissaren im Präsidium. Doch nach Otto Löfflers unerwartetem Weggang an den Strelasund warf der Chef ein Auge auf ihn. Eine Beschwerde käme da bestimmt schlecht an; noch dazu, wenn der Boss der Reederei ein Freund des Alten war.

»Habt ihr schon eine Idee vom Tatablauf?«, fragte Marc Müller an Adamschik gewandt; womit er sich in sein Schicksal ergab. »Oder von dem, was überhaupt vorgefallen ist?«

»Bisher siehts so aus, als sei der Wachmann einfach umgefallen. Er behauptet allerdings, überfallen worden zu sein. Wir konnten jedenfalls keine Einbruchsspuren oder anderweitige Anhaltspunkte für das Eindringen eines Fremden finden.«

»Arbeitet der Wachmann hier im Haus?«

»Nein, in der Sicherheitsfirma, die die Reederei überwacht. Er hatte den Alarm auf Anforderung des Chefs der Haustechnik abgeschaltet – eine Störung in der EDV müsse vor Arbeitsbeginn behoben werden. Zur Sicherheit war der Überfallene hergekommen, um die Reparaturarbeiten zu kontrollieren.«

»Das klingt aber nach Einbruch. Wurde etwas gestohlen?« Marc Müller schaute in die Runde. Das Großraumbüro vermittelte den Eindruck, als seien die Mitarbeiter aufgestanden, um die Polizei ungestört arbeiten zu lassen.

»Wir überprüfen das gerade.«

»Und was sagt dieser Hausmeister?«

Adamschik sah Marc Müller verwundert an. »Wir kümmern uns um die Spurensicherung.«

»Hätte ja sein können, dass ihr den Mann bereits gesprochen habt«, bedauerte Marc Müller. »Wie heißt der Hausmeister? Treibt er sich hier irgendwo herum?«

»Da hinten.« Adamschik deutete auf einen baumlangen Typ, der die Büroschränke an der Seite untersuchte. »Ludwig Imhoff arbeitet als Leiter der Haustechnik und nicht als Hausmeister – er legt Wert auf den feinen Unterschied.«

Marc Müller dankte Adamschik und lief zu dem Mann hinüber. Hoffentlich erhielt er von dem einen Ansatzpunkt für seine Ermittlungen; bis ein Bericht der Kriminaltechnik vorlag, konnte Marc Müller unmöglich warten. Der Einstieg in neue Fälle fiel ihm noch immer schwer, seit Hauptkommissar Otto Löffler vor gut einem halben Jahr weggegangen war. Unter der Obhut seines väterlichen Kollegen hatte Marc Müller die Ermittlungsarbeiten meistens mit einem Trick begonnen: Seine äußere Erscheinung glich eher einem Halbwüchsigen denn einem Kriminalbeamten; Müller maß gerade 1,65 Meter, hatte ein schmales Gesicht, dünne Lippen und kleine Ohren, flinke graue Augen und lange blonde Haare. Tauchte er früher an einem Tatort auf, hielten ihn die umstehenden Gaffer für einen neugierigen Jugendlichen, dem man ungeniert auf alle Fragen antwortete. Dadurch bekam er Informationen, die ihm als Kommissar verborgen geblieben wären. Diese Quelle dürfte in Zukunft versiegen, vor allem wenn ihn bereits die Absperrposten als Herr Oberkommissar begrüßten.

Ehe Marc Müller an Imhoff herantrat, verhielt er in seinen Schritten und blickte sich um. Das Großraumbüro vermittelte tatsächlich nicht den Eindruck, als hätte hier ein Einbruch stattgefunden: Die zehn Schreibtische standen in Zweierreihen, wie in einem Klassenzimmer, akkurat ausgerichtet hintereinander, die Bürostühle ordentlich davor. Einige Plätze sahen durch herumliegende Papiere und Akten so aus, als wäre der Mitarbeiter nur schnell zum Kaffeeholen gegangen, während andere Tische säuberlich aufgeräumt waren und lediglich ein Familienfoto oder Kaffeegeschirr an den Kollegen erinnerte. In der Luft hing der Geruch von Teppichen und PCs, gemischt mit der Feuchte der Grünpflanzen, die den Raum verzierten. An der langen Wand gegenüber der Fensterfront stand eine ununterbrochene Reihe von Büroschränken, die dieser Imhoff gerade kontrollierte.

Was sollte er den Mann fragen? Marc Müller verspürte eine unangenehme Nervosität. Imhoff war vorerst sein einziger Zeuge, wenn er vom Opfer des Anschlags absah. Imhoffs Aussage musste Hinweise auf die weiteren Ermittlungen liefern.

Ach, wäre Löffler nur hier – Marc würde auch wieder tapfer das Siegel Müller III ertragen. Als er zur Kriminalpolizei versetzt worden war, versahen bereits zwei Kollegen namens Müller ihren Dienst im Präsidium, und so taufte ihn Löffler einfach Müller III. Mit der Bezeichnung hatte Marc erst vertraut werden müssen, sie schließlich aber akzeptiert. Mit Löfflers Weggang war auch das Müller III verschwunden.

Marc holte tief Luft, lief zu den Büroschränken hinüber und sprach den Leiter der Haustechnik an. Imhoff drehte sich langsam herum. Er maß bestimmt zwei Meter, wog jedoch höchstens 80 Kilogramm. Die hagere Gestalt des Mannes erinnerte Marc an einen Storch.

»Ja?«, stieß Imhoff sichtlich genervt zwischen den schmalen Lippen hervor. Seine riesige Nase wippte dabei, als wolle sie Marc aufspießen.

Der nannte Namen und Dienstgrad und fragte nach dem vermeintlichen Telefonat mit der Wachgesellschaft bezüglich der EDV-Störung.

»Ich habe nicht angerufen«, entgegnete Imhoff mit vorwurfsvollem Unterton, als beschuldigte man ihn unberechtigt eines Vergehens. »In unserer EDV-Anlage gabs keine Probleme.«

Marc überlegte. »Heißt das, letztendlich kann jeder bei der Wachgesellschaft anrufen, sich als Ludwig Imhoff ausgeben und die lassen ihn rein?«

»Nein.« Während der Schließzeit des Unternehmens zwischen 20.00 Uhr am Abend und 05.25 Uhr in der Früh werde die Alarmanlage scharf geschaltet. In dieser Zeitspanne könne lediglich einer der Berechtigten den Zugang in die Firma erwirken.

»Wie funktioniert das?«

»Einer der Berechtigten ruft die Wachgesellschaft an, nennt seinen Namen, das Geburtsdatum und das richtige Passwort. Nur die Berechtigten kennen das. Anschließend gibt er denjenigen an, der ins Gebäude will und die Zeit, in der gearbeitet wird.«

»Und dann öffnet die Wachgesellschaft die Türen?«

»Nein. Dann schalten die lediglich die Alarmanlage ab. Einen Schlüssel müssen Sie schon selbst besitzen.«

»Das heißt, der ominöse Anrufer hat eigenständig aufgeschlossen? Wir konnten nämlich keine Einbruchsspuren finden. Wer verfügt alles über einen Schlüssel?«

»Die fünf Berechtigten aus unserer Firma, der Vorarbeiter der Putzkolonne und die Wachgesellschaft.« Imhoff klang gelangweilt, als hätte er die Auskünfte bereits mehrmals erteilt.

»Und diese Berechtigten, wer gehört dazu?«

Vier seiner Chefs und er selbst. Imhoff zählte die Namen auf.

»Sie geben mir nachher bitte eine Liste«, bat Marc. Die Herren musste er gesondert überprüfen. »Die Reinigungsfirma besitzt ebenso einen Schlüssel?«

Ja, die beginne jeden Morgen um halb sechs mit dem Saubermachen. Eine der Putzfrauen habe auch den verletzten Wachmann gefunden.

Marc hörte aufmerksam zu und machte sich Notizen. »Wann war das?«

Imhoff überlegte. Der Vorarbeiter habe ihn so Viertel vor sechs über den Vorfall telefonisch informiert.

»Warum Sie?«

»Ich zeichne im Hause für die Haustechnik verantwortlich; ich kümmere mich um alle externen Dienstleistungen, von den Reinemachefrauen bis zu Tauchereinsätzen bei Schiffshavarien.«

»Wann waren Sie hier?«

»Um 06.02 Uhr – ich habe extra auf die Uhr gesehen. Der Notarztwagen stand da bereits vor der Tür und der Wachmann kam gerade zu sich. Als der von einem Überfall erzählte, habe ich meinen Chef alarmiert.«

»Wohnen Sie in der Nähe?«, fragte Marc. »Ich meine, wenn Sie so schnell vor Ort sind.«

Auf einmal trat Imhoff verlegen von einem Bein auf das andere und schwankte dabei wie ein Baum im Wind. Schließlich verneinte er die Frage. Er sei bereits auf dem Weg hierher gewesen. 20 nach 5 habe ihn der Wachdienst angerufen, ob er die Abschaltung der Alarmanlage beantragt habe.

»Rufen die immer zurück?«

»Nein.« Imhoffs Ton eines genervten Gefängnisaufsehers war dem Habitus eines Sünders gewichen. »Die Wachleute hatte gewundert, dass ich kurz vor dem Ende der Schließzeit das Abschalten der Alarmanlage verlangt haben soll.«

»Wann?«

»10 nach 5. Die Störung in der EDV-Anlage sei schwerwiegend und verlange nach sofortigem Handeln, so meine angebliche Behauptung. So ein Quatsch fällt niemandem aus der Firma ein, deshalb bin ich hergefahren.«

»Könnte einer Ihrer Vorgesetzten in Ihrem Namen bei der Wachgesellschaft angerufen haben?«

»Warum sollte er?«

»Wissen Sie das nicht?«, fragte Marc verwundert.

»Meine Bosse schulden einem Haustechniker keine Rechenschaft«, entgegnete Imhoff mit einem Gesicht, als hätte er in einen sauren Apfel gebissen. »Die blöden Antworten der Chefs erspare ich mir.«

Hinter dem Zweimetermann tauchte Adamschik auf. Marc erinnerte Imhoff an die Liste mit den Berechtigten und wandte sich dem Kriminaltechniker zu.

»Wir ziehen ab«, vermeldete dieser. »Verdächtige Spuren konnten wir keine feststellen. Dafür jede Menge Fingerabdrücke und DNS-Material, wie für Großraumbüros üblich. Wir bereiten die Auswertung lediglich vor. Falls ihr Vergleichsspuren findet, können wir schnell reagieren. In dem Büro hier fehlt nichts – zumindest nach dem gegenwärtigen Stand der Suche. Scheint so, als habe der Wachmann den Täter überrascht.«

Könnte sein, dachte Marc. Andererseits: Langfinger verschonen auch mal die Kronjuwelen aus der Museumsvitrine und begehren stattdessen kleine, unscheinbare Beutestücke. »Einbruchsspuren fehlen gänzlich?«, vergewisserte er sich.

»Auf jeden Fall ist jemand mit einem Schlüssel hier rein. Die Tür haben wir uns ganz genau angesehen.«

Marc nickte, dankte dem Kriminaltechniker und verabschiedete ihn mit der Mahnung, seinen Bericht so schnell wie möglich fertigzustellen. Das sei kein Problem, da kaum etwas drinstehen werde. Adamschik rief seine Männer zusammen und verließ das Büro.

Wieder allein holte Marc sein Notizbuch heraus und überlegte: Der Täter schlug wenige Minuten vor dem Eintreffen der Putzfrauen zu. Warum eigentlich? Warum ging er diese Gefahr des Entdecktwerdens ein?

Imhoff kam mit der Liste und reichte sie Marc. Der bedankte sich und steckte das Blatt ein.

»Dürfen die Angestellten an ihre Schreibtische?«, fragte Imhoff. »Ich meine zum Arbeiten und nicht nur zur Suche nach Gestohlenem.«

»Hm«, überlegte Marc; die Kriminaltechnik war bereits gegangen, also konnten die Kolleginnen an ihre Arbeitsplätze zurückkehren. Er gab die Erlaubnis, bat aber darum, weiterhin nach fehlenden Dingen Ausschau zu halten. Er werde noch ein wenig bleiben.

 

*

 

Missmutig rührte Marc in seinem Kaffee. Er saß auf einem Stuhl in der Ecke des Großraumbüros und beobachtete das geschäftige Treiben. Wie die Frauen sich überhaupt auf ihre Arbeit konzentrieren konnten? Ständig klingelte irgendwo ein Telefon, sprachen die Damen miteinander, liefen sie zwischen Schreibtischen und Wandschränken hin und her oder verließen den Raum. Trennwände zum Abgrenzen der einzelnen Plätze, wie man sie besonders aus amerikanischen Filmen kannte, würden das Arbeitsklima bestimmt verbessern. Aber um das zu analysieren, saß Marc keineswegs hier; er sollte den Überfall auf einen Wachmann aufklären. Inzwischen hatte jede von den Mitarbeiterinnen im Büro ihren Arbeitsplatz samt PC überprüft, allerdings ergebnislos – keiner der Rechner war während des Einbruchs eingeschaltet worden. In den Schreibtischen fehlte ebenso wenig etwas. Gemeinsam mit Imhoff waren die Frauen alle Ordner im langen Aktenschrank durchgegangen und hatten einen vollzähligen Bestand festgestellt. Das Motiv des Einbrechers lag völlig im Dunkeln.

Marc dachte an Adamschiks Bemerkung, der Wachmann habe den Eindringling überrascht und sei deshalb auch angegriffen worden. Er würde das Opfer schnellstmöglich befragen müssen.

Was wollte der Täter hier?, fragte sich Marc. Er tappte völlig im Dunkeln. Ungeachtet dessen würde sein Chef, Kriminaldirektor Herzog, spätestens am Nachmittag Antworten verlangen. Und wenn er die schuldig blieb, konnte er ein Feldbett im Dienstzimmer aufstellen. Mitten in seine Überlegungen hinein klingelte das Handy. ›Christin‹ meldete das Display. Er nahm das Gespräch an. »Hallo, Schatz.«

»Grüß dich, Paps.« Christin klang traurig. Sie könne am Abend nicht kommen.

Marc fuhr der Schreck in die Glieder. Heute war der zweite Donnerstag im Monat, genau der Tag, an dem er nach Feierabend seine Tochter traf. »Was gibts denn so Wichtiges, das dich verhindert?«

Christin berichtete von einer Mathearbeit, die sie morgen schreiben würde, und da habe Mama sie zum Lernen verdonnert. »Zuletzt hatte ich doch eine Vier.«

»Na, dann musst du wohl deine Nase in die Bücher stecken«, erklärte er und blickte sich im Großraumbüro um. Blieb ihm genügend Zeit, um in diesem vertrackten Fall voranzukommen.

Christin klang erleichtert und lud ihren Vater für den folgenden Abend zum Essen ein. »Mama gibt einen aus, im Neptun.«

Schön, freute er sich insgeheim. So sah er seine ehemalige Lebensgefährtin auch mal wieder.

Christin war Marcs zwölfjährige Tochter aus seiner früheren Beziehung. Noch während seiner Ausbildung zum Kommissar hatte er die hübsche Sabine Berger kennengelernt. Schnell waren sie ein Paar geworden und hatten zusammen in einer kleinen Wohnung gelebt. Der Ehrgeiz, ein tüchtiger Polizist zu werden und bei der Kriminalpolizei anfangen zu dürfen, nahmen sein gesamtes Fühlen und Denken in Anspruch. Sabine fraß ihren Ärger zunächst in sich hinein; stellte ihn allerdings eines Tages vor die Wahl: entweder Polizist oder eine Partnerschaft mit ihr. Alle Beschwichtigungsversuche seinerseits nutzten nichts. Sabine blieb unerbittlich und so brach ihre Beziehung auseinander. Marc hatte ihre Hartnäckigkeit überrascht. Erst im vorletzten Jahr erfuhr er den Grund des Ultimatums: Die Nachricht von ihrer Schwangerschaft hatte in Sabine den Horror ausgelöst, als alleinerziehende Mutter mit Trauschein ihr Leben zu fristen. Und so hatte sie ihm eine Entscheidung abgetrotzt.

Als Marc vor anderthalb Jahren zufällig der damals zehnjährigen Christin begegnet war und von seiner Vaterschaft erfuhr, hatte ihn ein Gefühlsgemisch aus Angst, schlechtem Gewissen, Stolz und Vaterliebe in eine Schockstarre versetzt. Aber Christin hatte ihm eine Brücke gebaut und von Anfang an ihre Zuneigung geschenkt; sicherlich auch, weil Sabine all die Zeit ohne Partner gelebt hatte und Christin sich sehnlichst einen Vater wünschte. Marc hatte seither für ihren Unterhalt gesorgt und gleichzeitig eine echte Beziehung zu seiner Tochter aufgebaut. Er liebte zwar seinen Beruf, erübrigte dennoch jede freie Minute für Christin, wann immer sie ihn brauchte und soweit es Sabine erlaubte.

»Also gut«, beendete er das Telefonat, »dann sehen wir uns morgen. Und heute lernst du fleißig. Tschüss.«

Unvermittelt stand Imhoff vor ihm. »Auf der Insel haben wir was gefunden«, sagte der Haustechniker und deutete auf den Schrank, an dem er eben noch gewerkelt hatte.

»Insel?« Marc sprang auf. Die Nachricht verursachte ein Kribbeln in seinem Bauch.

»Ein spezieller Rechner im ersten Aktenschrank. Er besitzt keine Verbindung zum Firmennetz, ist damit halt die Insel. Dort legen wir personenbezogene Kundendaten ab. Beispielsweise die Passagierlisten unserer Kreuzfahrten.«

»Was haben Sie gefunden?«

»Einen zweifelhaften Zugriff.«

»Zeigen Sie.« Marc drängte Imhoff in die Richtung des fraglichen Aktenschranks. »Wer benutzt normalerweise den PC?«

»Na, alle Kolleginnen hier. Je nachdem, wer Unterlagen aufspielen oder ansehen möchte. Der Rechner läuft ununterbrochen, Tag und Nacht. Merkwürdigerweise war er jetzt ausgeschaltet, also habe ich mir die Log-Datei angesehen. Zur Zeit des Einbruchs gabs einen Zugriff.« Imhoff deutete auf die Liste zeitlich geordneter Datensätze auf dem Monitor. »Sehen Sie – um 05:36:47 Uhr hat sich jemand mit dem Passwort eingeloggt und um 05:39:42 Uhr den Rechner einfach über ›Netz aus‹ abgeschaltet.«

»Weil der Einbrecher vom Wachmann überrascht wurde«, stellte Marc fest. Möglicherweise hatte der den Eindringling gesehen. Und erkannt?

»Genau.«

»Wer kennt das Passwort?«

»Alle hier im Büro.«

»Na klasse.« Marc wusste sofort, wie der Einbrecher an den Zugangscode gekommen war. »Ein Passwort, das zehn Frauen kennen, ist kein sicherer Schutz«, dozierte er im Ton eines wütenden Professors, der seine Studenten wegen einer verpatzten Prüfung tadelte.

Imhoff zuckte mit den Achseln.

Das Problem brauchte Marc nicht mit dem Mann zu diskutieren. Zunächst interessierte ihn das Motiv des Einbruchs. »Und auf dem Rechner liegen Passagierlisten?«

»Ja, von allen Schiffen und von allen Reisen der vergangenen 20 Jahre.«

Passagierlisten? Passagierlisten könnten ein lohnendes Ziel für einen Einbrecher sein. Aber wofür? Der Gedanke, endlich ein mögliches Motiv gefunden zu haben, faszinierte Marc. Er schaute auf den Monitor. Beinahe drei Minuten hatte der Eindringling auf den PC zugegriffen. In der Zeit ließ sich einiges kopieren. Und gerade das zeichnete die Logdatei nicht auf.

»Kann ich gehen?«, fragte Imhoff und stand auf.

»Ja, ja, selbstverständlich. Wenn ich allein Ihre Insel untersuchen darf.«