Stephan Naumann
Das Werk der Bücher
Historischer Roman
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1. Auflage 2011
Lektorat: Claudia Senghaas
Herstellung: Julia Franze
Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart
unter Verwendung des Bildes » Vanitas mit Sonnenuhr«;
Quelle: visipix.com
ISBN 978-3-8392-3644-4
Für meine Eltern
Irmgard und Heinz
Im fünfzehnten Jahrhundert erreichte eines der dunkelsten Kapitel der Kirchenhistorie einen weiteren unrühmlichen Höhepunkt, und das in einer Zeit, in der der Argwohn und die Missgunst bei den Menschen eine wachsende Rolle spielten, sofern sie durch den entsprechenden Stand in der Lage waren, ihre Macht zu Zwecken des Eigennutzes zu gebrauchen.
Auf Betreiben einer großen Zahl von Päpsten und des Theologen Thomas von Aquin wurde die Willkür der Gesetzesauslegung mit der Heiligen Inquisition geltendes Recht. Dieses Werkzeug zur Reinerhaltung des Glaubens diente aber mehr der Bekämpfung unliebsamer politischer Gegner und der Kunde der Erneuerung und Umgestaltung, als der Abgrenzung der christlichen Botschaften von schädlichen Einflüssen. Beim gemeinen Pöbel, dessen begrenzte Gedankenwelt zum überwiegenden Teil von bigotter Teufelsangst und der Unterwürfigkeit gegenüber den Herrschenden bestimmt war, fiel sie auf fruchtbaren Boden.
Keiner der ehedem federführenden Päpste, weder Innozenz III. noch Gregor IX. oder Innozenz IV., hätte in seinem menschenverachtenden und weltfremden Werk erahnen können, dass die gefürchtete höllische Saat des Satans sich dennoch, trotz aller päpstlicher Mühen, ihren Weg bahnen sollte; in Gestalt eines, wie sich noch zeigen wird, einzig und allein dem äußeren Anschein nach unschuldigen Kindes.
Man brauchte hierzu einen Menschen, der sich, überblickt man seine zahllosen Frevel, als derart verschlagen, kaltherzig und grausam herausstellte, dass er für seine spätere Rolle prädestiniert war, und sein Gebieter, der ewige Gegenspieler des zutiefst angeschlagenen Guten, seinem vermaledeiten Ziel der Weltherrschaft näher kommen konnte. Besagter hätte den teuflischen Dämonen schon aufgrund seines durchtriebenen Wesens alle Ehre gemacht, das für ihn bestimmte vernichtende Urteil am Tag des Jüngsten Gerichts stand ohnehin längst fest.
Widersinnigerweise war dieser privilegierte und zugleich vom Volk auf den Tod gefürchtete Mann ein ausgewiesener Fürsprech des Gotteswillens. Zu allem Unglück wirkte er als Richter und zeichnete sich durch ein besonderes Maß an Grausamkeit in der Härte seiner Urteile aus, die den Unmenschlichkeiten des Krieges zwischen England und Frankreich, der mehr als ein Jahrhundert währte, in nichts nachstanden.
Dieser Mann hatte den Namen Clifford Tanner inne. Er war als menschenverachtendes Scheusal in ganz London und über die Stadtgrenzen hinaus verschrien, sodass man ihn, um seine Geringschätzung allerorts zu verdeutlichen, nur den ›Tannerlump‹ rief. Seine letzten Jahre auf Erden und insbesondere das Leben seines auf ewig im Höllenpfuhl schmorenden Balgs sollen hier erzählt werden.
Diese Geschichte handelt aber nicht nur von diesen missratenen Gestalten. Wir, die jüngeren Schwestern einer ihres Glaubens nimmermüden Nonne, die aus dem Königreich auszog, um nichts Geringeres zu bewerkstelligen, als die Christenheit vor ihrem Ende zu bewahren, wollen auch aus unserem Leben erzählen. Die umfassenden Aufzeichnungen, die uns fesselten, uns nicht mehr losließen, uns zugleich Hoffnung und Angst bescherten, offenbarten unsagbar Schreckliches, sodass wir nunmehr nicht länger die Augen vor den irdenen Fehden zwischen Gut und Böse, denen sie zum Opfer fiel, verschließen können. Wer hätte noch zu Lebzeiten ernsthaft in Erwägung gezogen, dass wir, Jane und Beth Fitzgerald, unsere grundgute große Schwester trotz unserer durch das Teufelswerk der Schwindsucht angeschlagenen Gesundheit um Jahrzehnte überleben sollten? Gleichwohl wir viele Vorgehensweisen der Kirche nicht für gut befanden, der Allmächtige vergönnte uns bis ins hohe Alter ein erfülltes Leben. So wahr uns Gott helfe, wir werden nichts von dem, was Gianna Maria uns hinterlassen hat, verschweigen, nichts unerwähnt lassen.
Die Epoche, von der wir nun erzählen, war jedoch auch, wie alle grundlegenden Zeitenumbrüche, geprägt von einem großen Wandel in politischer, geistiger und gesellschaftlicher Hinsicht. Richtungsweisende Staatengefüge traten in den Vordergrund der Geschichte, ebenso überdachte die Menschheit ihr jahrhundertelang gültiges Verständnis von Gott, Kunst und Natur. Der enge Umkreis des vorherrschenden Denkens und Glaubens sowie des Weltbildes wurde durch wegweisende Erfindungen und Entdeckungen um Wissenswelten erweitert.
Unsere Geschichte ist nicht von Reformern beeinflusst, wie dem nach seinem Ableben zum Ketzer erklärten John Wyclif, einem, wie wir glauben, zu Unrecht gescholtenen Landsmann, geschweige denn von Jan Hus, der sich zur Schande der Kurie und zu seinem Unheil auf König Sigismunds Zusage freien Geleits zum Konzil von Konstanz verlassen hatte. Auch nicht von portugiesischen Seefahrern, die den Heiligen Augustinus in dessen Aussage widerlegten, jenseits der heißen Zone Afrikas lebten keine Menschen, da diese nicht von Adam abstammen könnten. Von diesem neuen Weltbild ausgehend, ankern womöglich kommende Seefahrer mit ihren Schiffen schon in Bälde vor den Ufern des goldenen Landes Zipangu. Wer vermag es auszuschließen?
Diese Freigeister und Vordenker treten in ihrem Schaffen unserer Meinung nach allesamt in den Hintergrund angesichts einer weitaus richtungsweisenderen Neuerung. Ebendiese brachten das tradierte Vorrecht des verschwenderischen Klerus, des blaublütigen Hochadels und der barbarischen Königshäuser, die Fähigkeit des Lesens und Schreibens zu erlernen, ins Wanken und rückte damit den freien Wissens- und Bildungszugang für den Pöbel aus Mägden und Knechten, Bauern und Tagedieben, von denen zu dieser Zeit gerade einmal ein verschwindend geringer Prozentsatz des Lesens mächtig war, in erreichbare Nähe.
Es war ein Zeitalter, das Jahrzehnte, nachdem all die genannten klugen Köpfe sich ihren Platz in der Geschichte verdienten, begonnen hatte und unter anderen Umständen, so werden wir darlegen, beinahe ein frühes Ende für alle gottesfürchtigen Menschen auf der gesamten Erdscheibe bedeutet hätte, noch ehe die Schwelle zum 16. Jahrhundert erreicht war. Hätten wir seinerzeit über das Schicksal der Kirche befinden wollen, wir hätten eine überaus düstere Zukunft vorhergesehen.
Richter Clifford Tanner, genannt der Tannerlump, beging zu diesem Zeitpunkt, so lauteten Gerüchte in der Stadt, einen Fehler. Es war der Tag, an dem er den größten Fehltritt seines jämmerlichen Daseins beging. Die untugendliche Tat, so wird sich in Bälde zeigen, zog weitaus schwerwiegendere Folgen nach sich als jede seiner bis dahin begangenen ruchlosen und unbarmherzigen Handlungen an seinen Mitmenschen, die, jede für sich, zu beschreiben nur unnötig auf der Seele lasten würde. Selbst wenn eine solche Lektüre Menschen seines Schlags im Gegensatz zum Normalsterblichen wahrscheinlich großen Spaß bereiten würde. Der erwähnte Zeitpunkt sollte zu einer Wende in der gottlosen Geschichte des 15. Jahrhunderts führen. Genau hier wollen wir beginnen:
Als wollte es eine allumspannende und ungemein bedrückende Stimmung über sämtliche rund hunderttausend Menschenkinder Londons legen, hüllte sich das Himmelszelt am 14. Oktober des Jahres 1441 in tiefstes Grau. In den Häusern der Stadt herrschten Trostlosigkeit und tief empfundene Trauer. Vor den Türen war es derart ungemütlich, dass man in nahezu jeder Stube den mehreren zehntausend Opfern der Pestwellen gedachte, die in den letzten Jahren, Jahrzehnten, ja, im gesamten letzten Jahrhundert in der Stadt gewütet hatten. Ohne Unterlass tröpfelte es vom Morgengrauen bis zur Abenddämmerung oder regnete in Schauern. Es war so trüb, als hätte der Allmächtige im Himmel seine Lider gänzlich verschlossen vor lauter Grausen vor dem, was sich an diesem Tage ereignen sollte.
An diesem düsteren Oktobertag beging der Tannerlump seinen siebenundsechzigsten Geburtstag. Er beglückte sich an seinem Ehrentage selbst und glitt einer jungen, wenn auch wenig anmutigen und, man konnte für ihn von Glück sprechen, von den grassierenden Geschlechtskrankheiten unverseuchten Dirne zwischen die gespreizten Schenkel. Es war der Tag im Leben des ekelerregenden Tannerlumps, der seines Schicksals Ende einläuten sollte und eine Wendung mit sich brachte, von der der Alte besser vorher Kenntnis hätte haben sollen. Sein elendes Dasein entwickelte sich in eine Richtung, die zu vermeiden uns allen Kummer erspart hätte und die seiner fragwürdigen Ehrenhaftigkeit endgültig und für alle Zeit den Garaus machen sollte.
Wie auch immer, der Rausch seines wenige Minuten währenden und in äußerstem Maße einseitigen zwischengeschlechtlichen Einsatzes war schnell verflogen, was wohl daran gelegen haben mochte, dass die Monate später von Tanners niederträchtigen Schergen als Metze verurteilte und daraufhin verbrannte Dirne wenig Entgegenkommen oder gar Anflüge einer tief greifenden Beteiligung, geschweige denn einer wie auch immer gearteten Wollust zeigte.
Noch während die Dirne, auf einem Schemel hantierend, ihre Scham bedeckte, war der Tannerlump keuchend und nach Luft ringend in eine Ecke des Lochs – der Raum verdiente beileibe keine andere Bezeichnung – im Obergeschoss eines schmutzigen und billigen Gasthauses in der Balter’s Lane gesunken. Der Schweiß seiner Anstrengungen rann ihm übers Gesicht, als er mit einem Lumpen unbeholfen über seine fleckige und aufgeraute Haut wischte und es gleichsam vermied, den Blick auf den großen Wandspiegel zu richten, der in der schräg gegenüberliegenden Zimmerecke hing. Zu unangenehm wäre ihm sein eigener Anblick aufgestoßen.
»Wenn du mir den Sohn bescherst, der mir schon lange verwehrt, so versichere ich, dass bei dir der Reichtum einkehrt!«, schrie er mit letzter Kraft, während sein massiger Körper bebte.
Die Dirne wandte sich dem verausgabten und verschwitzten Ekel zu. Die unbeschreibliche Abscheu vor dem, was sie sah, mit dem sie gerade noch vereint gewesen war, verursachte einen Würgereiz, ehe seine Frage ihren unterentwickelten Verstand erreichte.
Kaum einen Spritzer hatte sie in sich gespürt, weshalb sie verächtlich auflachte. »Wenn du mir den König von England schickst, auf dass er mich begehre, dann mein Wort drauf, dass ich dir deinen Sohn beschere!« Freilich dachte sie sich nichts dabei. Was ihr jedoch wirklich im Kopf herumgeisterte, fasste sie nicht in Worte. Stockschläge oder den Galgen hätten ihr ihre Gedanken, wenn ausgesprochen, eingebracht. Ohne jede weitere Regung griff sie sich alsbald die Zuwendung für ihre Dienste, in einem Fall wie diesem vor allem für ihre Unannehmlichkeiten. Sie steckte die Münzen hastig in ihren tiefen Ausschnitt des Kleides und sehnte einen ansehnlichen und wohlhabenden Freier herbei, der ihr mehr bieten könnte, der sie von der Straße mit zu sich in sein Bürgerhaus brächte und ihr jeden Wunsch von den Augen abläse. Ein Traum, ein Unding, ein Luftschloss, das sich niemals auf dieser Erde wiederfände, ermahnte sie sich selbst und resümierte mit mehr Glück als Verstand das Ansinnen des Mannes, der nach wie vor nach Atem rang und sich fortlaufend räusperte.
»Alles Schall und Rauch!«, kicherte sie dümmlich, brachte ihren Unterrock in Ordnung und entschwand, wie sie hoffte, auf Nimmerwiedersehen. »Von dir Ekel krieg ich keinen fetten Bauch!«, flüsterte sie sich selbst beruhigend auf dem Weg zur Tür zu.
Doch wie es in derlei Geschichten der Brauch ist, kam alles ganz anders. So bot sich auch das Ergebnis dieser Zusammenkunft dar, das beinahe auf den Tag genau nach zehn Monaten und damit reichlich später als vorhergesehen das Licht der Welt erblickte. Die Kenntnis dieser Niederkunft, die Tanner im Zeichen des im 15. Jahrhunderts vorherrschenden Standesdünkels von den entrüsteten Eltern der Dirne zugetragen wurde, sollte ihr Todesurteil sein. Ebenso das ihrer bei genauerer Betrachtung wohl eher scheinheiligen und somit wenig bemitleidenswerten Eltern, die ihrer Tochter den Namen des Kindsvaters noch während der Geburt entlockt hatten und bereits seit Langem am Geschäft ihrer Tochter beteiligt gewesen waren. Tanners stumpfsinnige und geistig arme Handlanger taten das Ihre für bares Geld.
Unerwartet aber sollte der Tannerlump vom Tage der Geburt an aufrichtige Zuneigung für das Balg hegen. Man erzählte sich später, er verspürte gar so etwas wie väterliche Gefühle für das Kind – im weitesten Sinne jedenfalls, so sei an dieser Stelle zugunsten der Glaubwürdigkeit unserer Erzählung versichert.
Dank seines stattlichen Vermögens, das letztlich allein den Einfluss des vermeintlich ehrenwerten Richters und sein Überleben sicherte, war es ihm ein Leichtes, den Balg an sich zu ketten und ihn zu verderben. Die Gerüchteküche der englischen Hauptstadt brodelte derweil weiter. Seiner wenig geläuterten Seele nach zu urteilen, wurde dem Tannerlump ein Pakt mit dem Antichristen nachgesagt, der im satanischen Balg Gestalt angenommen hatte. Was die Wenigsten jedoch ernsthaft in Erwägung zogen, war längst zur entsetzlichen Gewissheit geworden: Das Ekel, das zur Schande des Königreiches weiterhin ungehindert seine eigene Rechtsprechung anwandte, hatte seine Seele für einen Nachkommen aus der mehr und mehr versiegenden Flut seines Lendensaftes an den Teufel verkauft. Der Richter des Royal Court of Justice war fortan ein getreuer Diener Luzifers. Der Mann, dessen Berufung es war, für Recht und Ordnung auf den Straßen Londons zu sorgen, gehorchte bis zum Jüngsten Gericht der verheerenden Stimme des Höllenfürsten.
Der Satan aber hatte an die Erfüllung des Wunsches eine Bedingung geknüpft: Der holde strohblonde Knabe mit den stahlblauen Äuglein, der, verborgen hinter seinen engelsgleichen, weichen Zügen, genauer gesagt, hinter seinem linken Ohr, die Zahl sechshundertsechsundsechzig eingebrannt trug, sollte ihm noch einen ganz bestimmten Dienst erweisen. Einen Dienst, der selbst dem verachtenswerten Tannerlump missfallen sollte, wie sich noch zeigen würde.
Ein stiller Moment war es gewesen. Es war eine dieser, um bei der bitteren Wahrheit zu bleiben, sehr raren Stunden, in denen sich beim Tannerlump das kaum vorhandene Gewissen zumindest unterschwellig regte. Er hatte herumgehurt und vergewaltigt. Sich genommen, was er wollte. Nun kamen ihm Gedanken, die sich am ehesten mit einer erbaulichen Besinnung auf seine sehnlichsten Wünsche gleichsetzen ließen.
Seit seinem fünfzigsten Geburtstage herrschte in seinem meist vernebelten Verstand das unstillbare Verlangen nach Fortpflanzung. Doch keine der Dirnen, so oft er sich auch an ihnen verging, wollte ihm den Sohn schenken, der sein Blut in den Adern tragen und mehren sollte, der seine Geschäfte weiterführen sollte, wenn er dereinst bettlägerig und umnachtet den Herrgott um Vergebung seiner Sünden bitten würde, so ihm dies dann überhaupt noch in den Sinn käme. Bis dahin allerdings würde noch sehr viel Wasser die Themse hinabfließen, und kein Pfaff ihn zur Beichte als reuigen Sünder sehen. Ganz sicher nicht. Also schrie er im Suff, als er eines Sonnabends aus dem nächsten Wirtshause auf dem Heimweg war, voller Verzweiflung seinen Verdruss hinaus:
»Kein Kind soll ich haben, kein Gott will mich erhören, des Teufels Gaben werden mir schon bescheren die Gören!« Kaum ausgesprochen, fühlte der Tannerlump eine nie da gewesene eisige Kälte in seinem Herzen. Plötzlich ertönte Geschrei auf den Straßen.
»Der Teufel soll euch holen! Euch dafür, uns zu unterdrücken, den Hosenboden versohlen!«, kreischte es aus zahlreichen Kehlen. Der Tannerlump fuhr herum und sah im Licht des Vollmondes aufständisches Bauerngesindel in seinem Rücken, welches von den städtischen Streitkräften auf dem Weg in den nächsten Kerker geleitet wurde. »Der König häuft ohne Scham unseren Reichtum in seinen Kammern an, und unsereins muss sehen, wie er überleben kann!«, brüllten sie, während sie abgeführt wurden.
Zunächst überrumpelt, besann sich Tanner schnell wieder und spendete den Ordnungshütern Londons Beifall, als die Bauern voller Hass in den Augen an ihm vorbeigingen.
»Mit euch werde ich in Bälde Gericht halten, über eure Verfehlungen jetzt genauso wie über alle alten«, gab er ihnen einen Denkzettel mit auf den Weg in den Kerker, welchen sie, so viel sei hiermit schon im Voraus verraten, eine sehr lange Zeit nicht verlassen würden. Er klatschte so lange in die Hände, bis ihm unwohl zumute wurde bei seinem Tun. Für einen Moment horchte er in sich hinein; eine Handlung, die nicht sehr häufig bei ihm vorkam, denn für gewöhnlich bestimmten Triebe sein Handeln. Diese gründeten nun einmal in seiner Bosheit und Verkommenheit. Jetzt aber verspürte er wieder diese Eiseskälte in sich.
Eine Stimme, verschlagen und Angst einflößend, regte sich nun in ihm. »Du sollst deinen Bastard haben, eine Dirne wird ihn in sich tragen. In der Stunde deines Todes werde ich dir seine Berufung offenbaren, dann, wenn meine Dämonen sich um deinen Geist scharen. Wirst du dennoch wagen, jetzt in den Pakt einzuschlagen?«
Tanner bemühte sich nicht lange, ein Für und Wider abzuwägen. Die Gelegenheit war zu günstig. Er konnte nicht anders, als sie beim Schopfe zu packen. Er würde seinen Nachkommen um jeden Preis bekommen.
»Ja«, blähte sich das Ekel Tannerlump mächtig in seinem Wanst auf. »Für einen Sohn kein Gott kann mich bekehren, so vertraue ich von nun an nur noch deinen Lehren. Lass ihn heraufsteigen aus der Hölle Tiefen, bislang meine Begattungsversuche allesamt erfolglos verliefen.«
Im selben Augenblick war in Camden, zu dieser Zeit eines der verkommensten und stinkendsten Viertel Londons, die Dirne, die den Geburtstag des Tannerlumps zumindest einseitig verschönte, selbst wenn sie sich nicht mehr daran erinnerte, im matten Schimmer eines Kerzenlichtes gerade dabei, die wenig erklecklichen Zuwendungen ihrer in diesen wie in allen Tagen geschätzten Dienste zu zählen. Dabei träumte sie sich in ein anderes Leben. Das einer Gräfin, Herzogin oder Freifrau kam ihr in den Sinn, nach freiem Willen gestaltet und ohne die ständigen Sorgen ums Geld. Ein Leben, in dem man sich und seinen kindlichen Körper nicht mit Beginn des zwölften Lebensjahres verkaufen musste, um sich ernähren und sich ein Dach über dem Kopf leisten zu können in der tagein, tagaus verregneten Stadt, um nicht hinter der nächsten Ecke hinterrücks gemeuchelt, mit Verdächtigungen der Hexerei auf dem Scheiterhaufen verbrannt oder in die Irrenanstalt verbracht zu werden und nur noch dahinzuvegetieren. Unvermittelt begann die Kerze zu flackern.
Die Dirne fühlte sich eben noch wie im schönsten Märchen, da zerrte und zurrte es plötzlich dermaßen in ihrem Unterleib, dass sie einen Schrei nicht unterdrücken konnte. Es fühlte sich an, als erwachte in ihr der Samen des Bösen.
»Aaaargh!«, stöhnte sie hinaus, dass man meinte, sie werde auf einen Schlag gevierteilt und gestreckt. Gleichzeitig blitzte und donnerte es grell über den Dächern Londons und ein gewaltiger Schauer weichte sämtlichen Kot des Stadtviehs auf, der nun zuhauf in den Gassen von Hauswand zu Hauswand getrieben und schließlich in die Themse gespült wurde.
In den Stuben nebenan, unter und über ihr verdrehten die ekelhaftesten und heruntergekommensten Gestalten die Augen, solch einen Schrei, der selbst die markerschütternden Donnerschläge mit Leichtigkeit übertönte, hatten sie nie zuvor vernommen. Eine Alte im Zimmer über ihr schüttete vor lauter Schreck den Inhalt ihres Nachttopfes über ihre Füße, anstatt ihn vom Fenster aus in die Gosse zu entleeren, und fluchte über ihr Missgeschick genauso wie über die arme Dirne unter ihr. Bis hinunter auf die Straßen war die Pein der Unglückseligen zu vernehmen gewesen. Des Weges kommendes Gesindel zuckte zusammen, rempelte einander an, war wie benommen oder sandte lauthals Fürbitten gen Himmel. Am nächsten Tag, so sei hier verraten, verbreiteten sich in Windeseile allerlei Mutmaßungen über die Urheberin des Schreis und die Ursachen ihres Elends in den Gassen und Gemeinden Londons.
Als sie die erste Qual hinter sich hatte, fiel das Augenmerk der Frau auf ihren Bauch. Er quoll regelrecht auf, war rotgeädert und das Bindegewebe voller Risse. Rundherum an Stellen, an denen die Adern unter dem immensen Druck geplatzt sein mussten, schillerte die Haut scharlachrot. »Um Himmels willen, was ist mit mir geschehen? Welcher Bastard betrachtet meinen Leib als sein Lehen? Oh Herr, die Sühne der Sünden will ich stunden, wenn ich nur sofort von der Marter entbunden!«, stammelte sie, der Ohnmacht nah.
Die arme und bemitleidenswerte Dirne begriff nur zögerlich, wie ihr geschah, doch zu spät. Der Anblick versetzte ihr den nächsten Hieb und sie knallte mit dem Hinterkopf an die Wand ihrer Stube.
Nach fünfeinhalb Stunden kehrten ihre Sinne allmählich zurück, ihre Ohnmacht hatte ein schreckliches Ende gefunden. Ein weiterer Schlag ließ sie zusammenzucken. Sie blickte zum Fenster. Die davorgehängte Decke, die die Kälte fernhalten sollte, flatterte im Wind. Noch immer donnerte es und der Regen drosch vom Himmel herab. Allmählich wurde es jedoch heller. Die Nacht war vorüber.
Sie ertastete eine Beule und wohl eine Platzwunde hinter ihrer rechten Ohrmuschel, denn deren blutig austretende Rinnsale zogen sich über ihr gesamtes Antlitz. Dann erinnerte sie sich an ihren Sturz, wagte aus Angst aber nicht, nochmals an sich hinunterzuschauen. Gleichwohl ihr nun langsam bewusst wurde, was mit ihr vor sich ging.
Nachdem der barbarische Tannerlump nach dem Tod der Mutter dem Kind ein Heim gegeben hatte, schien sich dieses fernab jeder mütterlichen Liebe und Fürsorge, die es gar sein Lebtag lang nicht missen sollte, prächtig zu entwickeln. Mit drei Monaten krabbelte der Junge munter durch die Stuben, mit dem fünften Monat konnte er laufen, mit dem neunten sprach er die ersten Worte und mit dem elften verständigte er sich beinahe wie ein akademisch geschulter Geist.
In einem aber hinkte er selbst mit fünf Jahren noch merklich hinterher. Mittlerweile an die zwanzig für ihre Unannehmlichkeiten fürstlich entlohnte Ammen konnten ein Lied davon singen. Er saugte alles, was sie zu bieten hatten, gierig auf. Dabei verbiss er sich derart fest in die Brustwarzen, dass er entstellte, was von der Natur reizvoll gestaltet gewesen war. Es geschah zudem in schöner Regelmäßigkeit, dass der Alte den Balg mitnahm zu seiner keineswegs kindgerechten Arbeitsstelle, was bei so manchem Besucher Mitleid und Fürsorge hervorrief, Tanner allerdings wenig kümmerte. So sah der Junge von Geburt an und somit schon als kleines, vermeintlich hilfloses Bündel in die Abgründe der menschlichen Seele. Mit leuchtenden Augen spähte er vom Richtertisch hinunter, blickte durchtriebenen Raubmördern und verkommenen Serienvergewaltigern genauso in die Augen wie Dieben und Landstreichern. Jede wie auch immer ausgeprägte Art von Furcht war ihm fremd. Im Gegenteil schien es den Zwerg von Anfang an zu belustigen, insbesondere den straffälligen Schwerverbrechern ins Angesicht zu schauen. Mit jedem von seinem Erzeuger verkündeten Urteil schien sich etwas in dem Kleinen zu regen, das fernab jeder Menschlichkeit, jeden Mitleids oder Mitfühlens war. Es war vielmehr ein wüstes Gekicher, das aus ihm herausdrang, fast blechern ertönte es. Zu diesem Zeitpunkt konnte ja niemand in Betracht ziehen, dass die hämischen Regungen und das anfeuernde Geplärre nichts weiter waren als der unverfälschte Frohsinn darüber, was die Schuldigen im Sinne des Gesetzes erwartete.
Kaum zu bändigen war der Junge gar stets dann, wenn, so sollte sich später herausstellen, der unerbittliche Arm des Gesetzes einen gänzlich Unschuldigen traf, Menschen, die reinen Gewissens waren und sich nichts, aber auch gar nichts zuschulden hatten kommen lassen und die der Tannerlump in seiner abscheulichen Launenhaftigkeit häufig wider besseren Wissens mit allen Sühnegrundsätzen des Königreiches strafte, die er auf Gedeih und Verderb in den Tod schickte oder der Folter aussetzte, sie auspeitschen oder entstellen ließ. Nathan erlernte zu dieser Zeit, die dunkle Gabe zu gebrauchen, die ihm mitgegeben worden war, die sich auch bei manch gewöhnlichem Menschen zu einem unangenehmen Wesenszug entwickelte: die Fähigkeit, Menschen zu beeinflussen. Jeder unter uns ist bereits mit solchen Leuten in Berührung gekommen, seien es Gestalten, die schlecht über andere redeten oder solche, die Vertraute grundlos gegeneinander aufbrachten. Bei dem Jungen aber konnte man nicht von einer herkömmlichen Begabung sprechen. Es war vielmehr eine Form der Magie mithilfe übersinnlicher Kräfte, die aus dem Pakt Tanners mit dem Teufel auf ihn übergegangen war. Er drang in die Köpfe derer ein, deren Gedanken er verklären und deren Verhalten er steuern wollte. Wer auch immer sich seinen Zielen in den Weg stellen wollte, den oder die stürzte er erbarmungslos ins Verderben, ein solcher Ausblick sei an dieser Stelle gewährt. Zunächst jedoch machte er sich am Arbeitsplatz Tanners zu schaffen. So besiegelten nicht wenige unschuldig Angeklagte auf Betreiben des Jungen ihr Schicksal und gestanden, ohne sich dessen erwehren zu können, Dinge, die andere auf dem Kerbholz hatten. Fürwahr, Nathans Gabe sollte Zeit seines Lebens für Unfrieden auf Erden sorgen. Manchmal während der Schilderungen der schrecklichsten und menschenverachtendsten Tatabläufe der Gewaltverbrecher, denen eigentlich nur Verachtung beschieden sein sollte, klatschte der Balg – vermeintlich unwillkürlich – seine Hände zusammen. Zu jener Zeit konnte keiner auch nur im Entferntesten erahnen, dass er der Niedertracht und der Böswilligkeit der Straftäter huldigte. Auf diese Idee kam niemand. Sein verdorbenes Wesen zeigte sich also schon von Kindesbeinen an, gleichsam wuchs die Macht seiner zerstörerischen Kräfte von Tag zu Tag. Im Alter von eineinhalb Jahren wandte sich sein Vater ihm mit gesteigertem Interesse zu. Seine väterlichen Gefühle veranlassten ihn wieder einmal dazu, den Zwerg in die Lüfte zu heben, woraufhin der ihm ruckartig den großen Zeh seines linken Fußes mit voller Wucht ins rechte Auge rammte. Aus unsäglicher Pein heraus ließ ihn der Tannerlump zu Boden fallen, ohne dass ein Mucks zu vernehmen gewesen wäre. Er kümmerte sich nicht weiter um das Kind, versorgte sein triefendes Auge notdürftig und bestellte für sich einen Doktor. Doch das Augenlicht war nicht zu retten. Der Junge indes, dem das Ekel den Namen Nathan gegeben hatte, verharrte tagelang an Ort und Stelle. Als der Alte sich seiner erinnerte und nach ihm schaute – mit einem Auge jedenfalls –, da rührte sich der Balg erst lange Zeit nicht. Mit einem Male aber, als der Tannerlump mit nichts Schändlichem mehr rechnete und ihn packte, stemmte sich der Winzling blitzschnell dem verrohten und ungewaschenen Antlitz seines Vaters entgegen, riss die Zähne weit auseinander und zerrte damit unnachgiebig und gierig am rechten Ohr des Alten. Starr vor Schreck, wusste der nicht mehr ein noch aus. Dann allerdings schleuderte er den Balg in hohem Bogen gegen die Wand der Stube, sodass vom Aufprall der Putz von der Decke bröckelte. Mit dem Balg hatte er den Großteil seines rechten Ohres an die Wand geworfen. Er mied das Kind fortan, bis der Junge das sechste Lebensjahr vollendet hatte. Der Vater führte feste Fütterungszeiten ein und ließ dem Kind wie einem bissigen, wilden Tier dreimal am Tag einen Napf vorsetzen. Der Tannerlump hatte seine Lektion gelernt. Der Junge, der die Bezeichnung »der Balg« wahrhaft verdiente, hauste derweil im Büchersaal des Ekels. Dort war er am sichersten verwahrt, befand das Scheusal, dort konnte er tun und lassen, was er wollte, da er selbst den schöngeistigen Ergüssen der Gilde der Schriftsteller längst abgeschworen hatte. Dem materiellen Wert, den seine Bücher darstellten, maß er nur wenig Bedeutung bei. Seine Sammlung diente einzig Vorzeigezwecken, etwa wenn er, was selten genug der Fall war, Räte oder Geistliche zu Gast hatte. Sein Balg, dem er über das geschriebene Wort ein Mindestmaß an Bildung zubilligte, musste zu diesen Anlässen mit dem schimmeligen Kellerraum vorlieb nehmen. Nathan verschlang die Bücher stapelweise, nachdem er sich der Kunst des Lesens innerhalb kürzester Zeit selbst bemächtigt hatte. Ein Privileg, das ihm der Alte ermöglichte, immerhin brauchte ein Schreiber im 15. Jahrhundert nicht weniger als zwei bis drei Jahre zur Vervielfältigung eines Buches. Der Tannerlump leistete sich diesen Prunk über vier eigens zu diesem Zwecke angestellte Schreiberlinge sowie seine undurchsichtigen Nebeneinkommen. Es verwundert jedenfalls nicht, dass dem Balg menschliche Wärme nicht zuletzt auch aufgrund seiner Absonderung von der Welt zur Gänze fremd war. Während dieser Jahre schöpfte er seinen Lebensmut aus den Werken der großen Dichter und Philosophen des Altertums sowie aus zeitgenössischen Quellen.
Der Junge entwickelte eine besondere Affinität für das Heilige Römische Reich Deutscher Nation und alles Erdenkliche, was er darüber finden konnte. Irgendetwas in ihm machte ihm klar, er sollte vorbereitet sein. Er müsste wissen, was ihn in der Welt, über die er fraglos das Verderben bringen würde, erwartete. Sein Wesen, das er im Vergleich zu Gleichaltrigen selbst als außergewöhnlich einstufte, und seine dunkle Gabe ließen für ihn keinen Zweifel daran, dass er berufen war, höheren Mächten zu dienen. So erfuhr er von der Geschichte des fränkischen Großreiches, dem Machtverlust der Merowinger, der Zeit der Karolinger, der Herrschaft der Ottonen, dem Kampf zwischen weltlicher und kirchlicher Macht, den sich anschließenden Kreuzzügen, der Einigung zwischen Kaiser- und Fürstentum und zuletzt der Rückkehr der Habsburger. Als deren Vertreter Albrecht II. den Thron bestieg, sah er sein Reich sogleich an allen Grenzen bedroht. Von Franzosen, Ungarn, Osmanen sowie den böhmischen Aufständischen der Hussiten und den Burgundern. Zudem war das Reich in sich geschwächt durch eine fehlende einheitliche Verwaltung und ein mangelhaftes Steuerwesen. Auch die große Pestwelle Mitte des vierzehnten Jahrhunderts, die rund ein Drittel der europäischen Bevölkerung dahingerafft hatte, steckte noch in den Köpfen der Menschen. Von allen Seiten wurde der Ruf nach Reformen immer lauter, las Nathan in den Büchern des Tannerlumps.
In wirtschaftlicher Hinsicht jedenfalls erlebte das Land, wie ganz Europa seinerzeit, einen großen Aufschwung. Landwirte zogen ihren Nutzen aus verbesserten Arbeitsgeräten, ihre Herstellung von Erzeugnissen über den eigenen Bedarf hinaus kurbelte den Handel und das Handwerk an. Schnelles Stadtwachstum wurde gefördert durch die Abhaltung von großen Märkten und Messen sowie durch vom König oder Kaiser gewährte Privilegien. Auf religiösen Bruderschaften basierende Handwerkszünfte als auch Kaufmannsgilden drängten mehr und mehr in die Stadtpolitik, wogegen sich die alteingesessenen Patrizier, zumeist noch erfolgreich, auflehnten. Die deutsche Hanse unter Führung Lübecks kontrollierte bald den gesamten Ost- und Nordseehandel und gewann als Städtebund rasant an politischem Einfluss, so brachte Nathan weiterhin in Erfahrung. Seine Begeisterung für das geschriebene Wort kannte keine Grenzen. Tagelang und ungeachtet dessen, ob vor den Fenstern Sonnenschein oder Regen, Schneefall oder Hagel aufkam, saß der Junge über den Büchern. Er war völlig vertieft in seinen Lesestoff und lernte seine Zeit gründlich kennen. Er war immer auf der Suche, das Böse darin zu entdecken. Es zog ihn in seinen Bann, ließ ihn nicht mehr los. Es entsprach seiner Natur.