Bernd Franzinger
Familiengrab
Tannenbergs elfter Fall
Personen und Handlung sind frei erfunden.
Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen
sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
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© 2011 – Gmeiner-Verlag GmbH
Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch
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Alle Rechte vorbehalten
1. Auflage 2011
Lektorat: Isabell Michelberger, Meßkirch
Herstellung / Korrekturen: Christoph Neubert / Claudia Senghaas
Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart
unter Verwendung eines Fotos von: carlitos / photocase.com
Druck: Fuldaer Verlagsanstalt, Fulda
Printed in Germany
ISBN 978-3-8392-3734-2
»Dass der Tod nur ist wie ein dunkler Gang,
der zum Lichte sich öffnet, ganz weit,
wo kein erblindetes Kind so bang
sich härmt um des Vaters Geleit.«
J. G. Whittier
November 2011
»Ohne mich wärt ihr doch alle arme Schlucker«, zischte Anton Denzer hinunter ins Moosalbtal.
In sein Tal. Dorthin, wo seine Arbeiter lebten und wo sie gestern eine rauschende Geburtstagsfeier für ihn veranstaltet hatten. In einem tiefen Zug sog er den würzigen Duft ein, den die frisch geschälten Eichenstämme verbreiteten.
»Ja, Kreilinger, du bist zwar ein elender Arschkriecher, aber du hast es in deiner Rede auf den Punkt gebracht.« Mit dem Zeigefinger tippte er sich an die Brust. »Ich bin der König von Köhlerbach. Und ihr seid meine Untertanen, meine Bauern.« Er grunzte und schob höhnisch nach: »Meine Waldbauern.«
Schmunzelnd fischte Toni eine Havanna aus seiner Hirschlederjacke, biss ihr den Kopf ab und spuckte das Tabakstück aus. Dann entzündete er ein Streichholz und schwenkte die Zigarrenspitze über der Flamme. Als sie sich schwärzlich verfärbte, führte er die Montecristo Selection an die Lippen und zog gleichmäßig an ihr.
Wie ein fauchender Drache stieß er Qualm durch die Nasenlöcher. Das Dorf verschwand hinter grauen Rauchschwaden und die Straßenlaternen verwandelten sich in milchige Leuchtkugeln. Toni legte den Kopf ins Genick und paffte genüsslich weiter. Sein Blick schwebte hinüber zum Grat des Krottenbergs, wo die Silhouette der gezackten Baumwipfel mit dem jungen Nachthimmel verschmolz.
»Im 18. Jahrhundert stand hier weit und breit kein einziger Baum mehr. Alle abgeholzt von euren Vorfahren, diesem bescheuerten Köhler-Pack. Und warum? Um die Eisenindustrie mit Holzkohle zu versorgen«, polterte er weiter. Ein hämisches Lachen löste sich aus der Tiefe seines Brustkorbs. »Doch irgendwann benutzten die Hüttenwerke Steinkohle – und die Köhler waren ihren Job los.«
Toni Denzer schüttelte den Kopf und wanderte ein paar Schritte in Richtung des Holzlagerplatzes, auf dem unzählige Paletten mit Eichenholzfriesen auf die Weiterverarbeitung warteten. Bei diesem Anblick wurde ihm immer ganz warm ums Herz.
»Das Lebenswerk meiner Familie«, murmelte er voller Stolz. »Mittlerweile in der 4. Generation. Unsere Firma hat schon einiges durchgemacht. Trotzdem haben sich die Denzers nie unterkriegen lassen, egal wie schwer die Zeiten auch waren. Wir haben es immer wieder geschafft, unsere Probleme selbst zu lösen. Mit eisernem Willen und Disziplin.« Er klopfte sich mit der Faust auf die Brust. »Alles, was ich mir in meinem bisherigen Leben vorgenommen habe, habe ich auch erreicht – alles! Das können nicht viele von sich behaupten«, rief er seinem imaginären Publikum zu.
Denzer senkte das Kinn und strich über seinen angegrauten Rauschebart. Mit den Lippen formte er einen Kreis und presste stoßartig Rauch durch die Mundöffnung. Die weißen Ringe wurden schnell größer und verflüchtigten sich. Schmauchend hing er noch eine Weile seinen Gedanken nach, dann kehrte er in die Sandsteinvilla zurück, die wie eine mittelalterliche Trutzburg über dem Moosalbtal thronte.
Er betrat das Esszimmer, doch niemand schien von ihm Notiz zu nehmen. Für einen König eine regelrechte Provokation! Also klatschte er in die Hände und verschaffte sich die gebührende Aufmerksamkeit.
»Ruhe!«, donnerte er über die Köpfe hinweg. »Dieser Krach ist ja nicht auszuhalten. Ihr seid Gäste in meinem Haus, benehmt euch auch entsprechend.«
Augenblicklich verstummten alle Gespräche. Selbst Tonis lebhafte Enkel brachten keinen Ton mehr heraus und setzten sich brav an den ausladenden Eichenholztisch, an dem nun auch der Patriarch an der Stirnseite Platz nahm. Nacheinander musterte er jeden Einzelnen der Familienmitglieder. Seine drei Söhne und die Enkelkinder wichen dem stechenden Blick aus und schlugen eingeschüchtert die Augen nieder.
»Agnes, wo bleibt das Essen? Es ist gleich 18 Uhr und die Markklößchensuppe steht noch nicht auf dem Tisch!«, brüllte er in Richtung der Küche, in der sich seine Ehefrau und die Schwiegertöchter seit Stunden abrackerten. Dienstpersonal beschäftigte er keines. Das waren nur unnötige Geldausgaben, fand er. Die Hausarbeit war Aufgabe der weiblichen Familienmitglieder – basta!
»Kommt gleich«, tönte es zurück.
»Das will ich auch schwer hoffen«, grummelte Toni und trank einen großen Schluck Riesling. Als er sich mit dem Handrücken die Feuchte von Mund und Schnurrbart wischte, vibrierte sein Handy. »Verfluchte Hacke!«, polterte er ungehalten. »Noch nicht mal beim Abendessen hat man seine Ruhe.« Er drückte die Verbindungstaste und blaffte: »Warte, ich geh raus.«
Anton Denzer klemmte die Zigarre zwischen die Zähne, stapfte hinaus ins Freie und nahm das Handy ans Ohr. Plötzlich hörte er in seinem Rücken ein merkwürdiges, anschwellendes Geräusch. Er riss die Schulter herum und sah etwas, das ihm sofort das Blut in den Adern gefrieren ließ.
»Ach, du Scheiße!«, keuchte er, während die Zigarre aus seinem Mund fiel und mit der glühenden Spitze auf dem rechten Hirschlederschuh landete.
»Hanne, bitte nicht, das ist so nass«, brummelte Wolfram Tannenberg im Halbschlaf. Er drehte sich auf die andere Seite und zog die Bettdecke über den Kopf. Dann tastete er nach seiner Lebensgefährtin. Doch die Hand griff ins Leere. Kein Wunder, denn Johanna von Hoheneck war seit einem Tag in Dresden und nahm dort an einem Historikerkongress teil.
Kurt, der bärenartige Familienhund der Tannenbergs, interpretierte das Klopfen seines Herrchens als Aufforderung, ihm Gesellschaft zu leisten. Ruckzuck hatte er Hannes Betthälfte erobert und seinen massigen Wuschelkopf unter die Bettdecke geschoben. Als Beweis der tiefen Zuneigung klatschte er seine waschlappengroße Zunge auf Tannenbergs Wange und schleckte sie ab.
Der war nun schlagartig wach. »Bäh, Kurt, wie kann man nur so fürchterlich aus dem Maul stinken«, stieß er angewidert aus. Seine Stimme schwoll bedrohlich an. »Sofort raus aus unserem Bett!«
Auf derartige Befehle reagierte Kurt aus Prinzip mit stoischer Gelassenheit.
»Raus!«, brüllte sein genervtes Herrchen.
Doch Kurt bewegte sich auch weiterhin keinen Millimeter.
»Was bist du doch nur für ein sturer Hund«, schimpfte Tannenberg. »Du willst mich bloß wieder erpressen, du hinterhältiges Mistvieh.«
Schmunzelnd trottete er zum Kühlschrank. Als er ein Stück Fleischwurst abschnitt, saß Kurt bereits schmatzend neben ihm und jaulte erwartungsvoll.
»Braver Hund«, lobte sein Herrchen scheinheilig.
Eine Viertelstunde später versuchte Tannenberg, sich an der elterlichen Parterrewohnung vorbeizuschleichen. Doch kaum hatte er die letzte der knarzenden Treppenstufen erreicht, schon öffnete sich die Wohnungstür.
»Guten Morgen, lieber Wolfi«, begrüßte ihn Margot lächelnd. Mit einem Mal verfinsterte sich ihre Miene. »Du hast doch bestimmt noch nicht gefrühstückt, oder?«
»Nein, Mutter, hab ich nicht«, erwiderte Tannenberg wahrheitsgemäß. »Hanne ist ja nicht da und …«
»Und deshalb kommst du jetzt schön rein und frühstückst mit uns«, vollendete Margot.
Ihr Sohn machte eine abwehrende Geste und erklärte: »Nein, nein, Mutter, das geht nicht. Ich hab leider keine Zeit.«
Die alte Dame stellte sich ihm in den Weg und sagte in einem Ton, der keinerlei Widerspruch duldete: »Nichts da, Wolfi, bei deinem anstrengenden Beruf brauchst du morgens eine anständige Unterlage. Wie heißt es so schön?«
Tannenberg wusste natürlich, was seine Mutter nun von ihm erwartete. Also spielte er brav den ihm zugedachten Part und antwortete: »Ein leerer Sack kann nicht stehen.«
»So ist es«, freute sich Margot. Sie legte dem Leiter der Kaiserslauterer Mordkommission die Hand auf die Schulter und schob ihn sanft in den Flur hinein.
»Hm, was riecht denn hier so unheimlich gut?«, wollte ihr Sohn wissen. Schnüffelnd folgte er der Duftspur, die eindeutig aus der Küche kam.
»Frag deinen Vater, der hat sie sich nämlich gestern gewünscht«, ertönte es in seinem Rücken.
»Was hast du dir gewünscht?«, sagte Tannenberg zu Jacob, der, wie stets um diese Uhrzeit, am Küchentisch saß und in seiner Zeitung schmökerte.
»Wünsche du erst einmal deinem alten Vater einen guten Morgen, du Stoffel«, rüffelte der Senior, ohne seine Lektüre zu unterbrechen. Grunzend schüttelte er den Kopf, während er seine dichten grauen Haare mit den Fingern durchfurchte. Dann musterte er seinen Sohn über die Lesebrille hinweg mit einem abschätzigen Blick. »Was musst du nur für eine schlechte Kinderstube gehabt haben.«
Tannenberg grinste über alle Backen. »Das stimmt allerdings«, pflichtete er seinem biologischen Erzeuger bei. »Also gut, von mir aus. Dann jetzt so, wie es im Knigge steht: Guten Morgen, lieber Vater. Recht so?«
»Jo, schon besser«, ertönte ein knurrendes Echo.
»Würdest du deinen unerzogenen Sohn nun freundlicherweise darüber aufklären, was Mutter Feines für dich gebacken hat?«
»Neujahrsbrezeln«, kam es postwendend zurück.
»Neujahrsbrezeln – Anfang November?«, prustete Tannenberg los.
»Ja und?«, knurrte Jacob. »Wenn schon im Hochsommer Spekulatius, Dominosteine und Christstollen in den Supermarkt-Regalen herumstehen, kann ich doch wohl auch im November eine Neujahrsbrezel essen, oder?«
Diesem Argument konnte Wolfram Tannenberg nun wirklich nichts Vernünftiges entgegenhalten.
»Liebe geht eben durch den Magen«, säuselte Margot und streichelte ihrem Mann über den Kopf. »Gell, mein Lieber?«
So als ob gerade ein Blitz hinter ihm eingeschlagen hätte, duckte sich Jacob und entzog sich so der zärtlichen Berührung. »Was’n los mit dir?«, fragte er mit einem spitzbübischen Lächeln. »Hast du ’nen Senioren-Eisprung oder was?«
Margot reagierte blitzschnell und klatschte ihrem vorwitzigen Ehemann das feuchte Geschirrhandtuch ins Genick.
»Au, das hat wehgetan«, jammerte der Senior.
»Sollte es auch.«
Tannenberg machte eine beschwichtigende Geste. »Mutter, hör doch einfach nicht hin. Du kannst dieses polternde Trampeltier eh nicht mehr ändern.«
Die alte Dame winkte ab. »Ach, Wolfi, die Sprüche deines Vaters ärgern mich schon lange nicht mehr. Außerdem bekommt er ja immer gleich seine Strafe ab.« Urplötzlich verfinsterte sich ihre Miene und sie schluckte hart.
Ihr Sohn bezog diese Veränderung auf seinen knorrigen Vater. Er stellte sich hinter Margot und flüsterte in einfühlsamem Ton: »Geht dir der Kerl doch mehr auf den Wecker, als du zugeben willst? Soll ich mir den alten Knaben mal anständig zur Brust nehmen?«
»Nein, nein, Wolfi, wir kommen gut miteinander aus. Ich musste nur gerade an dieses fürchterliche Unglück in Köhlerbach denken«, erwiderte sie schniefend. Sie nahm ein Stück Küchenrolle und tupfte sich die Augenwinkel trocken.
»Unglück in Köhlerbach?«, fragte ihr Sohn verwundert, während er an dem gedeckten Frühstückstisch Platz nahm.
»Noch nichts davon gehört, du Schnarchnasen-Kommissar?«, frotzelte Jacob und zog geräuschvoll die Nase hoch.
»Nee, was ist denn passiert?«
»Und so einer ist bei der Polizei«, spottete sein Gegenüber. »Früher haben die Schutzleute alles gewusst, was in ihrer Heimat los ist. Die hatten eh viel mehr Mumm in den Knochen als ihr heute, ihr Schlappschwänze.«
»Jacob, du sollst Wolfi nicht immer ärgern.«
»Aber es ist doch wahr. Früher war noch Zucht und Ordnung. Aber heute hat keiner mehr Respekt, sondern …«
»Los, sag mir jetzt endlich, was in Köhlerbach passiert ist«, drängte sich Tannenberg dazwischen.
»Ach, so ungeduldig auf einmal? Vorhin hattest du angeblich noch nicht mal zehn Minuten Zeit, um gemeinsam mit deinen Eltern eine Neujahrsbrezel zu essen. Und jetzt hast du urplötzlich Zeit, he?«
»Vater, bitte.«
»Also gut«, erbarmte sich der Senior. »Gestern hat der Denzer Toni seinen 65. Geburtstag gefeiert.«
»Im engsten Familienkreis, haben die im Radio gesagt«, ergänzte seine Gattin, die ihrem Sohn gerade Kaffee einschenkte.
»Zum Glück, sonst hätte es bestimmt noch viel mehr Tote gegeben«, meinte ihr Mann.
»Tote?«
»Ja, Wolfi«, seufzte Margot ergriffen. »Bis jetzt sind drei Tote zu beklagen: Denzers Ehefrau und seine beiden Schwiegertöchter.« Um ihre wild zuckenden Mundwinkel zu verdecken, legte sie ihre Hand vor den Mund. »Der arme Mann.« Sie schluchzte auf. »Und seine armen kleinen Enkel. Die haben nun keine Mütter mehr.«
»Mach dir mal keine Gedanken um den Denzer, diesen alten Speckjäger. Der hat bestimmt schon ’ne neue Frau auf Lager«, kommentierte Jacob in gewohnt sensibler Manier.
»Du bist wirklich unmöglich, Jacob«, zeterte Margot. »Seine arme Frau ist noch nicht unter der Erde und du machst dir schon Gedanken über ihre Nachfolgerin.«
»Ich?«, zischte der Senior und schlug sich feixend auf die Schenkel. »Nee, ich doch nicht. Der alte Denzer macht das. Der hat garantiert eine in Reserve, mindestens eine. Das hat er doch bei seiner ersten Frau auch so gemacht. Während die todkrank in der Klinik lag, hat er bereits die Neue gebumst.«
»Vater!«, empörte sich Tannenberg in scharfem Ton. »Erzählt mir lieber endlich mal, was überhaupt passiert ist.«
Jacob zupfte an seinem schlohweißen Schnurrbart herum. »Von mir aus, dann werde ich unseren lieben Herrn Hauptkommissar nun mal auf den neuesten Informationsstand bringen«, verkündete er großzügig. Er sprach nun absichtlich betont langsam und bedächtig. »Gestern Abend hat sich hoch oben im Berg ein großer Felsbrocken gelöst. Der ist dann mit Karacho den Hang hinuntergerauscht und hat Denzers Villa wie ein Geschoss durchschlagen. Du guckst gerade ganz schön neugierig aus der Wäsche, Junior«, bemerkte Jacob, der seinen Wissensvorsprung genussvoll auskostete. Er stemmte sich in die Höhe und formte mit den Händen eine übermannshohe Kugel. »Der Felsen muss ein Riesenkaventsmann gewesen sein. 2,50 Meter Durchmesser und tonnenschwer. Diese Kanonenkugel ist vorne durch die Wand in die Küche rein, hat die drei Frauen plattgemacht und ist dann durchs Wohnzimmer und über die Terrasse wieder raus. Und liegt nun irgendwo unten in Köhlerbach.«
»Hoffentlich hat der Felsen im Dorf nicht noch mehr Schaden angerichtet«, wisperte Margot.
Jacob zuckte mit den Schultern. »Davon hab ich noch nichts mitgekriegt.«
»Wieso bist du eigentlich schon wieder so unglaublich gut informiert?«, fragte der Kriminalbeamte verblüfft.
Jacob wedelte mit seiner BILD. »Da steht alles drin – sogar mit Skizze.« Er nahm wieder Platz und breitete die Zeitung aus. »Diese Zeichnung ist so anschaulich, dass sie selbst ein begriffsstutziger Provinzbulle wie du verstehen dürfte.«
»Jacob, du sollst den armen Wolfi nicht provozieren. Er hat es schwer genug mit seiner Arbeit«, schimpfte Margot. Sie trocknete sich an ihrer karierten Kittelschürze die Hände ab und setzte sich anschließend zu ihren beiden Männern.
Jacob nahm seinen jüngsten Sohn mit einem spöttischen Blick ins Visier. »Wieso weißt du denn eigentlich nichts davon?«
Tannenberg verdrehte genervt die Augen. »Weil ich heute Nacht keine Bereitschaft hatte und weil es sich dem Anschein nach ausnahmsweise mal nicht um Mord oder Totschlag handelt, sondern um einen tragischen Unglücksfall.«
»Und das weißt du jetzt schon so sicher? Obwohl du hier in der Beethovenstraße am Frühstückstisch sitzt? Das nennt man wohl ›kriminalpolizeiliche Ferndiagnostik‹, he?«
»Quatsch«, fauchte Tannenberg wie ein feuerspeiender Drachen, »aber bislang gibt es nicht den kleinsten Hinweis auf irgendein Fremdverschulden, sonst hätten mich meine Kollegen sicherlich schon längst darüber informiert.« Er nickte mit dem Kinn zu seinem Vater hin, der sich gerade ein Stück der Neujahrsbrezel in den Mund schob. »Woher kennst du eigentlich diesen Herrn Denzer? Und wieso weißt du über seine Familienverhältnisse beziehungsweise Liebschaften so gut Bescheid?«
Schmunzelnd befreite der Senior seine falschen Zähne von Hefeteigresten. »Da staunst du mal wieder, gell?«
»Aus’m Tchibo natürlich«, mischte sich Margot ein.
»So ist es«, erklärte ihr Ehemann. »Im Tchibo steht einer am Nebentisch, der hat sich 40 Jahre lang in der Parkettfabrik dieses Menschenschinders krumm und bucklig geschuftet. Und das für einen Hungerlohn«, erwiderte Jacob schmatzend. Er schnippte einen Krümel von seiner braunen Weste und schob nach: »Ich könnte ja nachher im Tchibo bei meinen Kumpels ein paar wichtige Informationen für dich besorgen.«
Wolfram Tannenberg blies die Backen auf und ließ den aufgestauten Atem knatternd über die Lippen streifen. »Oh je, der berühmte Sherlock Holmes aus der Beethovenstraße schaltet sich wieder in die Ermittlungsarbeit ein.«
Wie ein Florettfechter stach Jacob mit dem Zeigefinger auf seinen Sohn ein. »Mach du dich nur lustig über meine Informanten. Da stehe ich locker drüber. Denn eins steht fest …« Er reckte den Zeigefinger. »Und zwar felsenfest«, verkündete er unter Betonung der beiden ersten Silben. »Ohne meine wertvollen Informationen wärst du in der Vergangenheit schon öfter ganz gewaltig aufgeschmissen gewesen. Oder stimmt das etwa nicht?«
Tannenberg nickte mit zusammengekniffenen Lippen. »Okay, mein lieber Holmes, da ist ja durchaus etwas Wahres dran.«
Strahlend rieb sich der Senior die Hände. »Das freut mich natürlich zu hören, Junior.« Jacob senkte die Stimme und sagte in verschwörerischem Tonfall: »Ich finde bestimmt etwas Interessantes über diesen Kotzbrocken und seine miesen Geschäfte heraus. Da bin ich mir ganz sicher. Und meine Infos verkaufe ich dir dann wieder. Abgemacht?«, fragte er und streckte seinem Sohn die Hand entgegen.
Der packte die faltige Männerpranke und drückte sie. »Von mir aus, Vater, abgemacht. Aber nach allem, was ich bis jetzt von dir erfahren habe, dürfte dieser Herr Denzer wohl eher potentielles Opfer als Täter sein«, sagte der Kriminalbeamte.
»Vordergründig schon, aber …«, meinte Jacob vieldeutig. »Jedenfalls hat der Kerl hundertprozentig Dreck am Stecken. Darauf kannst du schon mal getrost einen fahren lassen.«
Petra Flockerzie, die gute Seele des K1, war völlig auf ihren Taschenrechner fixiert und bemerkte Tannenberg zunächst nicht. »Nein, so ein Mist: 240 mehr«, stöhnte sie verzweifelt. Anschließend vergrub sie ihr Gesicht in den Händen und weinte bitterlich.
Ein herzzerreißender Anblick, den ihr Vorgesetzter kaum ertragen konnte. »Was ist denn mit dir, Flocke?«, fragte er in einfühlsamem Ton. »Was bedeutet diese Zahl?«
»Ach Gott, Chef, Entschuldigung, ich hab Sie ja gar nicht kommen hören«, erklärte die Sekretärin in einem Ton, als ob man sie gerade in flagranti bei einem Diebstahl erwischt hätte.
Der Kommissariatsleiter holte einen Stuhl und setzte sich an ihren Schreibtisch. Dann nahm er ihre linke Hand und tätschelte sie. »Was hast du denn für ein Problem, Flocke?« Als sie nicht reagierte, sondern ihn nur schniefend mit tränennassen Augen anschaute, ergänzte er: »Dein altes Problem?«
Die Sekretärin schob die Unterlippe vor und räusperte sich verlegen. Dann brach es förmlich aus ihr heraus: »Ich hab mich so gut gehalten, aber gestern hab ich 240 Kalorien zu viel reingeschoben. Ich bin eine disziplinlose Versagerin«, beschimpfte sie sich selbst.
Tannenberg hatte alle Mühe, ein Lächeln zu unterdrücken. »Ich braue uns beiden jetzt erst mal zwei doppelte Espressi. Das Koffein bringt den Kreislauf in Schwung und hellt die Stimmung auf. Du wirst sehen, danach sieht die Welt schon wieder ganz anders aus«, verkündete er und trottete zur Kaffeemaschine. Nun konnte er sich allerdings eines dezenten Schmunzelns nicht mehr erwehren.
»Danke, Chef«, ertönte es in seinem Rücken.
»Mit welcher Diät quälst du dich denn diesmal herum?«, fragte Wolfram Tannenberg über die Schulter hinweg.
Petra Flockerzie schnäuzte sich erst einmal die Nase. »Mit der Hollywood-Diät«, kam es gepresst zurück.
»Hollywood-Diät? Den Namen habe ich schon mal irgendwo gehört. Mehr aber auch nicht«, rief Tannenberg in den Lärm des aufheulenden Mahlwerks hinein.
Die Sekretärin wartete, bis die Maschine bedeutend leiser arbeitete. »Die Hollywood-Diät wurde vor fast einhundert Jahren in Hollywood entwickelt, um die Filmschauspieler schlank und rank zu halten«, dozierte sie. »Man darf täglich nicht mehr als 1000 Kalorien zu sich nehmen.«
»Das ist aber nicht gerade sehr viel«, kommentierte Tannenberg in Gedanken an eine deftige pfälzische Hausmacherplatte, die selbstredend mit mindestens zwei Weizenbier bewässert werden musste.
Petra Flockerzie seufzte leidend. »Nein, Chef, wirklich nicht. Die hat man ganz schnell beisammen.« Sie hielt den Taschenrechner wie ein Ausrufezeichen in die Höhe. »Gestern hab ich 1240 Kalorien reingeschoben.« Ihre Stimme überschlug sich. »Und das waren genau 240 zu viel!«
»Vielleicht hast du ja beim Zusammenzählen einen Fehler gemacht«, gab ihr Vorgesetzter zu bedenken.
»Nein, leider nicht, Chef«, stöhnte die korpulente Sekretärin. »Ich hab’s dreimal durchgerechnet.«
Tannenberg brummte mitfühlend. »Was darf man denn eigentlich bei dieser komischen Hollywood-Diät essen?«
Petra Flockerzie war nun in ihrem Element. Sie richtete sich auf und erklärte wie der Moderator einer Weight-Watchers-Werbeveranstaltung: »Nur mageres Fleisch, Fisch, Eier, Salat und Obst. Kohlenhydrate und Fette sind tabu, also keine Kartoffeln, keine Nudeln, keine Süßigkeiten, keine Soßen und so weiter.«
»Also alles, was gut schmeckt, ist verboten«, kommentierte Tannenberg. »Dazu sag ich nur: Das ist eine Schrott-Diät.«
Der gute Geist des K1 knickte förmlich in sich zusammen und wimmerte: »Stimmt ja, Chef, aber was soll ich denn nur machen gegen meine überflüssigen Pfunde?«
»Diese blöden Reduktionsdiäten bringen dauerhaft eh nichts«, behauptete Tannenberg, »weil der Körper sofort auf geringeren Energieverbrauch umschaltet.« Er stellte ihr den doppelten Espresso hin. »Außerdem bist du doch gar nicht zu dick. Mir gefällst du jedenfalls so, wie du bist.«
»Wirklich, Chef?«
»Ja, Flocke, du bist genau richtig. Also, wenn ich meine Hanne nicht hätte. Bei dir würde ich ganz schnell schwach werden.«
Die Farbe kehrte in Petra Flockerzies Gesicht zurück. »Huch, Chef, jetzt veralbern Sie mich aber.«
Tannenberg grinste breit. »Nein«, sagte er gedehnt. Er fischte eine Plastikbox aus seiner Ledertasche und legte sie auf den Taschenrechner. »Zum Trost hab ich dir etwas mitgebracht.«
»Was ist denn da drin, Chef?«, fragte sie neugierig.
»Etwas ganz Feines. Schau mal nach.«
Sie öffnete den Deckel. »Eine Neujahrsbrezel?«, fragte sie verdutzt. Sie schloss die Augen und schnuffelte intensiv an ihr. »Hm, wie die duftet.«
»Die hat meine Mutter heute Morgen frisch gebacken.«
»Aber eine Neujahrsbrezel Anfang November?«, meinte Petra Flockerzie mit gekrauster Stirn.
»Warum nicht?«
»Stimmt, Chef, warum eigentlich nicht?«, stimmte die rundliche Sekretärin zu. Sie lachte so herzhaft, dass ihr Doppelkinn wie ein Wackelpudding hin- und herschwabbelte.
»So gefällst du mir schon wieder bedeutend besser«, freute sich ihr Vorgesetzter. »Weißt du übrigens, was mein Vater zu dieser Hollywood-Diät sagen würde?«
»Nee, Chef«, erwiderte Petra Flockerzie kauend.
»Blöder Amikram.«
Die Diätexpertin kicherte wie ein pubertierendes Schulmädchen. Dann nippte sie an ihrem doppelten Espresso und tippte sich mit dem manikürten Fingernagel auf die Lippe: »Wie geht es denn eigentlich ihrem alten Herrn?«, wollte sie wissen.
»Gut, Flocke. Seitdem er endlich wieder Sherlock Holmes spielen kann, sogar sehr gut.« Tannenbergs Gesicht nahm einen schelmischen Ausdruck an. »Er hat gerade mit den Ermittlungen im Mordfall Denzer begonnen.«
»Was? Mordfall?«, stieß Petra Flockerzie verwundert aus. Sie verschluckte sich fast und hüstelte hinter vorgehaltener Hand. »Ich dachte, das war ein Unglück.«
»Denken heißt nicht wissen«, philosophierte ihr Chef und verschwand in seinem Büro.
Da bis zur Frühbesprechung noch eine Viertelstunde Zeit blieb, stöberte Tannenberg ein wenig im Internet. Zur Verknüpfung ›Anton+Denzer‹ lieferte die Suchmaschine weit mehr als 8000 Treffer. Denzers Name tauchte meist in Zusammenhang mit seiner Parkettfabrik auf. Wenn der Internetauftritt einer Firma den Besucher mit einer attraktiven Startseite ködern sollte, so bewirkte die Homepage der Denzerschen Parkettfabrik genau das Gegenteil: sie schreckte ab.
Die Startseite mit Anton Denzers zentral platziertem Porträtfoto erinnerte an die peinlichen Selbstdarstellungsshows von Profilneurotikern, wie sie in den sogenannten Communities millionenfach im Internet kursierten. Auch die Navigationsleiste hatte der Egomane auf sich maßschneidern lassen: ›Meine Person‹, ›Meine Erfolgsgeschichte‹, ›Meine Firma‹, ›Meine Produktpalette‹ stand dort zu lesen.
So sieht ein menschgewordener Kotzbrocken aus, kam es Tannenberg in den Sinn. Doch obwohl ihm dieser Mann auf Anhieb total unsympathisch war, zog ihn sein Foto magisch an. Trotz 65 Lebensjahren, graumeliertem Haar und dichtem Vollbart, dicken Tränensäcken und tief eingefrästen Gesichtszügen strotzte Denzers Antlitz geradezu vor Arroganz und Aggressivität. Im Gegensatz zu seinen Altersgefährten war seine Gesichtshaut nicht wachsfarben, sondern rötlichbraun – wettergegerbt, wie die eines Bauern oder Waldarbeiters.
»Che-ef«, quäkte es plötzlich aus der Gegensprechanlage, »ich habe einen Feuerwehrmann aus Köhlerbach in der Leitung. Er möchte Sie dringend sprechen.«
»Gut, Flocke, dann stell ihn mal durch.«
Während Tannenberg sich geduldig anhörte, was ihm der Anrufer mitzuteilen hatte, trudelten nacheinander seine Kollegen ein, bedachten ihn mit einem stummen Nicken und ließen sich am Konferenztisch nieder. Der Kommissariatsleiter legte auf und kratzte sich nachdenklich am Hinterkopf. Mit einem dahingeknurrten »Moin« begrüßte er seinerseits die Mitarbeiter der Kaiserslauterer Mordkommission und verkündete anschließend: »Leute, die Frühbesprechung lassen wir heute ausfallen. Stattdessen fahren wir raus ins schöne Moosalbtal. Und zwar dorthin, wo gestern Abend ein Felsen in ein Haus reingerauscht ist und drei Frauen getötet hat.«
»Du meinst das schreckliche Unglück in Köhlerbach?«, fragte Mertel, seines Zeichens Leiter der kriminaltechnischen Abteilung.
»Ja, genau, mein lieber Karl.«
»Da muss ich nachher eh hin. Die Kollegen haben uns vorhin angefordert. Aber was wollt ihr denn alle dort? Hat die Mordkommission denn nichts Besseres zu tun, als uns bei unserer Arbeit im Weg zu stehen?«, frotzelte der Kriminaltechniker.
»Vielleicht war es gar kein Unglück, sondern ein heimtückischer Mordanschlag.«
»Wie kommst du denn auf so etwas?«, wollte Sabrina Schauß wissen.
»Der Mann, mit dem ich eben telefoniert habe, ist Mitglied der Freiwilligen Feuerwehr Köhlerbach. Er und seine Leute räumen dort gerade auf und sichern das zerstörte Gebäude. Ihm ist etwas aufgefallen, das wir uns unbedingt aus nächster Nähe anschauen sollten.«
Juli 1974
Seit mehreren Wochen bescherte ein stabiles Hochdruckgebiet der Pfalz ein traumhaftes Sommerwetter. Gut gelaunte, kontaktfreudige Menschen bevölkerten die Schwimmbäder, Badeseen und Biergärten. Die ausgelassene Urlaubsstimmung brachte das Karussell der Emotionen richtig in Schwung, und manch ein stiller Verehrer fasste endlich Mut, den entscheidenden Schritt auf seine Herzdame zuzugehen.
Und genau das hatte Rolf Kleemann vor gut einem Monat getan: Er hatte Heike einen Brief geschrieben und ihr darin seine Liebe offenbart. Und wie hatte Heike auf diesen kühnen Vorstoß reagiert? Sie hatte ihn sofort angerufen und sich mit ihm getroffen – und ihm ohne Vorwarnung einen zärtlichen Kuss auf die Lippen gedrückt. Diesen Kuss würde er wohl nie vergessen.
Und jetzt verbrachten sie ihr erstes gemeinsames Wochenende in einem wunderbar engen Zweimannzelt. Er konnte sein Glück noch immer nicht fassen. Aber es war kein Traum. Er lag tatsächlich am Ufer des idyllischen Clausensees und schmuste mit Heike, dem schönsten und süßesten Mädchen weit und breit.
Es war eine milde, klare Sommernacht. Die unbewegte Wasseroberfläche glänzte silbern im fahlen Mondlicht. Nicht der leiseste Windhauch war zu spüren. Rolf schaute hinüber zur Rezeption, wo die Flaggen schlaff an den Masten hingen.
Dann kehrte sein verklärter Blick zurück zu seiner Freundin. Mit dem Finger schob er ihr eine Haarsträhne hinters Ohr und lächelte sie versonnen an.
Heike strahlte übers ganze Gesicht. »Woran denkst du gerade?«, flüsterte sie, während sie ihn mit zärtlichen Blicken streichelte.
»Ich versuche mir vorzustellen, wie unsere Kinder wohl aussehen werden.« Rolf seufzte tief. »Hoffentlich erben sie deine goldigen Lachgrübchen.«
»Und deine tollen blauen Augen«, ergänzte Heike.
»Dann sind wir uns ja einig«, freute sich Rolf. »Komm, wir schwimmen rüber zur Insel.«
»Au ja«, stimmte die dunkelhaarige Schönheit zu.
Hand in Hand rannten die beiden Turteltäubchen hinunter zum See, lösten sich voneinander, hechteten ins pechschwarze Wasser und kraulten los. Beide waren sehr gute Schwimmer und benötigten kaum zwei Minuten, bis sie wieder festen Boden unter den Füßen hatten. Die kleine Insel war dicht mit Buschwerk und Bäumen bewachsen. Rolf und Heike waren schon ein paarmal hier gewesen. Zu ihrem Lieblingsplatz hatten sie eine schiefe Trauerweide auserkoren, deren abgebrochener Stamm wie der Bugspriet eines Segelschiffs in den See hineinragte.
Schweigend saßen sie nebeneinander und ließen die Beine über dem Wasser baumeln. Vom Campingplatz her dröhnte Musik. Sie wurde ab und an vom Gegröle einer Jugendgruppe übertönt, die dort tags zuvor ihre Zelte aufgeschlagen hatte.
Nachdem die zarten Liebesbande zwischen den beiden geknüpft war, hatten sie sich von ihren Freunden weitgehend zurückgezogen. Sie brauchten niemanden mehr zu ihrem Glück, sie hatten endlich gefunden, was sie lange gesucht hatten, und waren sich nun selbst genug.
Sanft streichelte Heike über Rolfs nassen Oberschenkel und schmiegte sich an ihn. »Ich freue mich so unheimlich auf die Zukunft mit dir«, hauchte sie ihm ins Ohr. »Wie viele Kinder möchtest du eigentlich mal haben?«
»Mindestens drei«, schoss es förmlich aus Rolf hervor. Doch plötzlich hatte er Angst, Heike vor den Kopf gestoßen zu haben. Mit seinen kräftigen Händen umklammerte er die Knie, räusperte sich und schob verlegen nach: »Natürlich musst du das entscheiden.« Er machte eine abwiegelnde Geste. »Wenn dir drei zu viel sind, würden mir selbstverständlich auch eins oder zwei reichen.« Seine Miene verdüsterte sich. »Aber …, aber vielleicht willst du ja überhaupt keine Kinder?«, stammelte er verunsichert. »Damit …«
»Nein, drei Kinder sind schon okay«, fiel ihm Heike ins Wort. Sie spielte mit der Kordel, die ihre Bikinihose an der Seite zusammenhielt, und lächelte ihn herausfordernd an. »Das erste hätte ich übrigens gerne so schnell wie möglich.«
Rolf verschlug es die Sprache. Er gaffte seine Freundin mit offenem Mund an. Abwechselnd jagten ihm kalte und heiße Schauer den Rücken hinab.
»Hab ich dich jetzt etwa geschockt?«, fragte Heike kess.
»Nein, nein, ganz und gar nicht. Ich, ähm … Das, das wäre toll.« Rolf schluckte so hart, als steckte ihm etwas Sperriges in der Kehle. Dann nahm er allen Mut zusammen und formulierte die Frage, die er eigentlich erst in ein paar Monaten stellen wollte: »Vielleicht ist es noch ein bisschen früh, aber egal.« Er schniefte, schaute Heike tief in die Augen und säuselte mit belegter Stimme: »Würdest du mich heiraten?«
»Ja«, kam es postwendend zurück.
Heikes Antwort bestand nur aus diesen beiden dahingehauchten Buchstaben. Aber sie reichten völlig aus, um Rolf in einen Freudentaumel zu stürzen.
»Juhu!«, schrie er aus Leibeskräften und hechtete in den See. Er tauchte gleich wieder auf, vollführte eine Saltowende und kraulte zur Trauerweide zurück.
»Jabbadabbaduuuuu.« Wie ein Irrer drosch er mit den flachen Händen auf die Wasseroberfläche ein und drehte sich dabei im Kreis. »Niemand kann uns verbieten zu heiraten, denn wir sind beide volljährig«, prustete er. »Und Geld verdiene ich auch. Zwar nicht sehr viel, aber für eine kleine Wohnung reicht es garantiert.«
Heike sprang in seine ausgebreiteten Arme und presste sich an seinen muskulösen Oberkörper. »Meine Eltern unterstützen uns bestimmt«, keuchte sie ihm ins Ohr. »Die flippen sowieso aus, wenn sie erfahren, dass sie nächstes Jahr Oma und Opa werden.«
»So schnell?«, fragte Rolf. Er schien urplötzlich Angst vor der eigenen Courage zu bekommen. »Bist du dir auch wirklich sicher, dass du dein ganzes Leben ausgerechnet mit dem Waldarbeiter Rolf Kleemann verbringen willst und nicht mit irgendeinem reichen Schnösel aus der Stadt?«
»Ja, dessen bin ich mir sicher, sogar hundertfünfzigprozentig sicher«, erwiderte Heike in feierlichem Ton. »Ich verspreche dir hiermit, dir immer treu zu sein und dich zu lieben, bis dass der Tod uns scheidet.«
Rolf brachte zunächst keinen Ton mehr heraus. Während ihm die Tränen über die Wangen kullerten, schniefte er und schüttelte immerfort den Kopf, so als könne er einfach nicht begreifen, was ihm da gerade widerfuhr. »Wahnsinn, Heike, Wahnsinn!«, wisperte er. »Ich bin so wahnsinnig glücklich, dass du ausgerechnet mich lieb hast.«
»Du bist eben mein absoluter Traummann«, schwärmte Heike und kuschelte sich an ihn. »Komm, lass uns zurückschwimmen und im Zelt …« Den Rest ließ sie unausgesprochen, aber die Signale ihres Körpers waren so eindeutig, dass ihr Freund sie nicht missverstehen konnte.
Rolf war heilfroh, dass niemand am Ufer war, als er aus dem Wasser stieg. Kichernd knotete Heike ein Badelaken um seine Hüften. Die beiden packten ihre Sachen zusammen und schlenderten eng umschlungen in Richtung ihres Zeltes. Dabei passierten sie den Parkplatz, auf dem gut ein Dutzend Autos abgestellt waren.
»Ja, wen haben wir denn da Schönes?«, ertönte in ihrem Rücken plötzlich eine aggressive Männerstimme. »Das super-sexy Fräulein Schmitt und ihren neuen Stecher.«
Heike und Rolf fuhr der Schreck in alle Glieder. Als die beiden sich umwandten und Anton Denzer erblickten, jagten ihnen sofort eiskalte Schauder den Rücken hinunter. Toni saß auf dem Kotflügel seines roten Fiat Spider und grinste herausfordernd. In der linken Hand schwenkte er eine Whiskeyflasche, in der rechten hielt er eine brennende Zigarre. Auf der anderen Seite des Sportwagens stand Albert Winter, Tonis langjähriger Adlatus, der ihm stets wie ein Schatten folgte. Albert war nicht nur der unterwürfige Bewunderer seines Herrn, sondern auch dessen Chauffeur, wenn dieser wieder einmal sturzbetrunken war. Und das kam gerade in letzter Zeit recht häufig vor.
»Was findest du nur an diesem armseligen Holzfäller?«, provozierte Denzer weiter. »Der kann dir süßem Zuckerpüppchen doch überhaupt nichts bieten.«
»Du bist ja betrunken, Toni«, erwiderte Heike, die inzwischen den ersten Schock überwunden hatte.
»Und du bist schuld daran«, giftete Anton Denzer zurück.
»Wieso denn ich?«
»Weil du mit diesem Mistkerl gehst und nicht mit mir.«
»Die Entscheidung musst du wohl Heike überlassen«, mischte sich Rolf ein. Er bebte vor Zorn und presste die Zähne so fest aufeinander, dass sich die Kaumuskeln deutlich unter seiner Wangenhaut abzeichneten.
»Halt’s Maul, du kleiner Waldarbeiter!«, brüllte Denzer mit sich überschlagender Stimme. »Ein Wort von mir und mein Vater schmeißt dich raus.«
Rolf Kleemann konnte seine Wut kaum mehr im Zaum halten. Am liebsten wäre er seinem Widersacher an die Gurgel gegangen und hätte ihn windelweich geschlagen. Aber er musste sich beherrschen. Wie sollte er Frau und Familie ernähren, wenn er seinen Job verlor? Er hatte doch nichts anderes gelernt, als Bäume zu fällen. Wo sollte er denn unterkommen, wenn der alte Denzer ihn auf die Straße setzte? Aus Köhlerbach weggehen? Was wäre dann mit Heike? Würde sie ihre geliebte Heimat und ihre Großfamilie verlassen und mit ihm in eine ungewisse Zukunft ziehen? Nein, er durfte unter keinen Umständen seinen Arbeitsplatz aufs Spiel setzen. Er packte Heikes zitternde Hand und zog sie mit sich.
»Dieser arme Schlucker kann dir das Luxusleben nicht bieten, das du verdient hast«, brüllte Toni hinter dem Pärchen her. »Der ist doch arm wie eine Kirchenmaus. Aber ich kann es.«
»Das ist mir völlig egal, du aufgeblasener Idiot«, erwiderte Heike so leise, dass Denzer es nicht hören konnte. Sie drückte ganz fest die Hand ihres Freundes und ergänzte: »Ich liebe diesen Rolf Kleemann nämlich – und das zählt, nicht deine blöde Kohle. Die kannst du dir sonstwo hinstecken.«
Toni Denzer stieß zwar weitere Flüche und Beschimpfungen aus, aber er und Albert Winter blieben auf dem Parkplatz zurück. Als kurz darauf der Spider mit quietschenden Reifen und aufheulendem Motor in Richtung Waldfischbach lospreschte, atmeten Rolf und Heike erleichtert auf. Doch Denzers Auftritt hatte ihnen die Stimmung gründlich verdorben. Sie bauten ihr Zelt ab und knatterten mit Rolfs Moped zurück nach Köhlerbach. Aus Angst, Toni könnte ihnen irgendwo auflauern, benutzten sie nicht die Landstraße, sondern Schleichwege durch den Wald.
Denn Anton Denzer war alles zuzutrauen, wirklich alles.