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Bärbel Böcker

Mit 50 hat man noch Träume

Roman

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Impressum

Ausgewählt von

Claudia Senghaas

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

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© 2011 – Gmeiner-Verlag GmbH

Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch

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Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © Murat Subatli - Fotolia.com

ISBN 978-3-8392-3676-5

Widmung

Für Gerd

Zitat

»Der Kopf ist rund, damit das Denken die Richtung wechseln kann.« (Francis Picabia)

1. Kapitel

Normalerweise blickte sie nie zurück, doch heute war das anders. Nachdem Beatrice Knoll mit Nachdruck die schwere Tür hinter sich zugezogen hatte, so, als ob sie sich vergewissern wollte, dass sie auch wirklich geschlossen blieb, drehte sie sich noch einmal um und hielt inne. Hinter dieser Tür hatte sie den Großteil der letzten 15 Jahre verbracht. Hier hatte sie Erfolge gefeiert, Kämpfe geführt, Durchhaltevermögen trainiert. Hier hatte sie gelacht und gestritten. Sie war den Tränen nahe gewesen und hatte Wutanfälle bekämpft. Beatrice Knoll, ihre Freunde nannten sie Bea, seufzte, dann straffte sie sich, kehrte der Tür den Rücken und heftete ihre Augen auf das Treppenhaus. Das vertraute Rot des Sisalteppichs, der die Stufen bekleidete, schien ihr heute blasser als sonst, und sie bemerkte, dass ihre Beine ein wenig schwerer waren als üblich. Sie legte ihre Hand auf das hölzerne Treppengeländer, strich kurz darüber und musste lächeln. Dies war die Geste des Abschieds. Eine kleine Liebkosung, ein letzter Kontakt.

Mit ihren 49 Jahren würde es nicht leicht werden, einen beruflichen Neuanfang zu starten, aber Frank hatte es definitiv auf die Spitze getrieben. Ihr Zug bei Best Promotion war abgefahren, endgültig. Bea warf den Kopf in den Nacken. Als sie die Kündigung eingereicht hatte, war sie unsicher gewesen, aber die Entscheidung war absolut richtig, davon war sie überzeugt. Ihr Chef Frank Flick hatte ihr einen neuen Miteigentümer präsentiert, und zuvor hatte er nicht ein einziges Mal gefragt, ob nicht sie die Anteile kaufen wollte.

15 Jahre hatte sie Werbekampagnen für Sportschuhhersteller, Autohäuser, Babybrei, Shampoos und Rasierseife entwickelt, und sie hatte ihren Job als Kreativ- und Etatdirektorin geliebt. Dabei hatte sie viel zu häufig ihre Tochter Johanna vernachlässigt, die ohne Vater aufgewachsen war. Jetzt fragte sie sich, ob ihre Karriereorientiertheit und ihre Arbeitswut wirklich dafür gestanden hatten, oder ob sie über Jahre hinweg langsam aber sicher die wichtigsten Zeichen übersehen hatte, und ob sie sie vielleicht gar nicht hatte sehen wollen.

Über Beas Gesicht glitt ein schiefes Lächeln. Vermutlich hatte Frank sie übergangen, weil er einen Mitinhaber ins Boot holen wollte, der ihm in wichtigen Firmenangelegenheiten nicht widersprach, seine Entscheidungen mittrug und aller Wahrscheinlichkeit nach weniger anstrengend war als sie es jemals als Mitinhaberin sein würde.

Bea schüttelte den Kopf, wie um ein lästiges Insekt zu verscheuchen. Mit forschen Schritten trat sie hinaus auf den Eifelplatz, benötigte jedoch einen Moment, um sich zu orientieren. Wo hatte sie ihren Wagen abgestellt? Es war eigentlich sowieso ein Ding der Unmöglichkeit, hier einen Parkplatz zu finden, aber heute Morgen hatte sie nicht mit der Bahn fahren und fremden Menschen ihr Gesicht preisgeben wollen.

Unter dem Scheibenwischer ihres Autos steckte ein Strafzettel. Ohne ihn eines weiteren Blickes zu würdigen, zerriss sie ihn und warf die Schnipsel weg. Der heutige Tag, ihr letzter Arbeitstag, war bedeutsam genug, und sie fand, dass nichts anderes als ihr Entschluss, der Agentur ein für allemal Adieu zu sagen, die geringste Beachtung verdiente.

Sie schloss ihr Cabrio auf und schwang sich hinein. Es versprach ein unerwartet schöner Tag zu werden, die Sonne strahlte verlockend. Bea überlegte, ob sie das Verdeck öffnen sollte, und entschied sich nach einem ersten Zögern dafür. Es war zwar noch ziemlich frisch draußen, und je älter sie wurde, desto empfindlicher wurde sie, aber wozu gab es Sitzheizungen und Schals? Sie packte sich warm ein, drückte auf den Knopf und schob eine CD von Leslie Mandoki in den Player. Dann warf sie einen kritischen Blick in den Rückspiegel und war beruhigt, ihre braunen Augen waren klar, nicht die Spur einer verräterischen Röte. Sie fuhr sich mit der schmalgliedrigen Hand durchs halblange dunkelbraune Haar, startete, drehte die Musik laut auf und gab Gas.

Es hatte alles auch etwas Gutes. Sie war frei, endlich wieder frei. Und der Plan, der in ihrem Kopf seit ihrer Kündigung immer mehr Gestalt angenommen hatte, war unglaublich verlockend.

2. Kapitel

Die Tatsache, dass sie die Anzeige in genau jenen Tagen gelesen hatte, in denen sie sich mit dem Gedanken trug, ihren Job bei Best Promotion zu kündigen, sprach für sich.

Bea hatte das Restaurant in Altenahr durch Zufall im letzten Sommer entdeckt, als sie mit ihrer Tochter Johanna einen Ausflug an die Ahr gemacht hatte und nach einem langen Spaziergang auf dem Rotweinwanderweg dort eingekehrt war. Es befand sich gegenüber der Kirche, und es lag direkt am Fluss. Nach hinten hinaus, an der Uferpromenade, gab es einen idyllischen Garten, wo ein paar Tische und Stühle herumstanden, und sie hatten es sich trotz der unübersehbaren Schmuddeligkeit des Betriebs bei einem Glas Wein und einer Schinkenplatte gut gehen lassen. Der Platz war einfach herrlich, und nun suchte das ›Ahrstübchen‹ einen neuen Pächter. Es musste so etwas wie Vorsehung sein.

Bea hatte mit ihren Freundinnen gesprochen, denn Grund genug, etwas Neues zu beginnen, hatte jede von ihnen. Aus der Idee, ihr Leben in Köln hinter sich zu lassen und gemeinsam das Ruder noch einmal herumzureißen und etwas völlig Neues zu planen, war innerhalb weniger Wochen Ernst geworden.

»Wow!«, hatte Bruni voller Verve gerufen, als sie alle zusammen das ›Ahrstübchen‹ besichtigt hatten. »Da kann man was draus machen.« Es war, als habe sie schon lange nur auf den nötigen Impuls zur Veränderung gewartet. Als Dozentin für Philosophie an der Uni Köln musste sie mangels Lehraufträgen hin und wieder von Hartz IV leben, was dazu führte, dass sie sich schon seit Längerem mit dem Gedanken trug, beruflich noch einmal etwas anderes zu versuchen. »Mit 50 sollte jede Frau noch einmal neu durchstarten. Ich freue mich aufs Landleben!«, erklärte sie überschwänglich jedem, dem sie von dem Vorhaben berichtete.

Ulrike, die seit der Geburt ihrer zwei inzwischen erwachsenen Söhne nicht mehr in ihrem Beruf als Hotelfachfrau gearbeitet hatte und im Augenblick von ihnen allen am schlechtesten dran war, weil ihr Mann sie offenbar jahrelang betrogen und belogen hatte, sah im ›Ahrstübchen‹ die Chance, Abstand zu gewinnen. Zu Claus zurückzukehren schien ihr momentan unvorstellbar. Unwillkürlich musste Bea seufzen. Immerhin waren ihre beiden Söhne erwachsen. Ulrike tat ihr unendlich leid.

Sie und die Freundinnen hatten hin und her gerechnet, wie sie das Projekt ›Ahrstübchen‹ finanziell stemmen könnten, und Bea, die über das meiste Geld verfügte, hatte sich bereit erklärt, 50 Prozent der Investitionskosten zu übernehmen. Caro trug 35 Prozent der Kosten und Ulrike 10 Prozent. Sie kündigte einen alten Sparvertrag, von dem ihr Mann nichts wusste, und war heilfroh, ihn vor Jahren ›für den Notfall‹ einmal abgeschlossen zu haben. Bruni stieg mit nur 5% in das Projekt ein, aber da sie von dem wenigen, das sie verdiente, in den Semesterferien immerhin noch Fernreisen nach Asien unternahm, hatte sie nicht allzu viel zurückgelegt. Die anderen störte es nicht. Der Traum, gemeinsam noch einmal neu durchzustarten und auf die Frage Soll das etwa alles gewesen sein?, die so viele Frauen um die 50 beschäftigte, eine einhellige Antwort gefunden zu haben, ließ jedes Ungleichgewicht zur Lappalie werden.

Sie hatten nicht lange um den Pachtzins feilschen müssen und waren sich mit dem Eigentümer, einem wohlhabenden Weinbergbesitzer aus Altenahr, schnell einig geworden. Dann hatten sie ihre Angelegenheiten in Köln geregelt, einen Vertrag mit einer Bierbrauerei aus der Eifel geschlossen, und als alles unter Dach und Fach war, konnten sie damit beginnen, sich um die Einrichtung des ›Ahrstübchens‹ zu kümmern. Mittlerweile kannten sie beinahe jedes Möbelhaus in Köln und in der Eifel, und die schlichten Eichentische und Holzstühle, die sie schließlich für den Gastraum ausgesucht hatten, waren inzwischen bereits geliefert worden.

Und jetzt war es so weit. Der Tag des Umzugs war da. Der Schlüssel vom ›Ahrstübchen‹ baumelte am Rückspiegel von Beas mit Koffern voll beladenem Cabrio im Fahrtwind hin und her, und sie fühlte sich so frei und glücklich wie schon lange nicht mehr. Jeglicher Erkältungsgefahr zum Trotz fuhr sie mit offenem Verdeck die B 257 entlang und genoss die Aussicht. Der Geruch von Kuhmist stieg ihr in die Nase. Sie war immer schon der Meinung gewesen, dass es mit zu den schönsten Dingen im Leben zählte, beim Cabriofahren die Welt zu riechen. Bea sog die Luft tief in ihre Lungenspitzen. Während die Eifellandschaft an ihr vorbeizog, kamen ihr Bilder aus Köln in den Sinn.

Der Abschied war keiner von ihnen allzu schwer gefallen. Außerdem waren 65 Kilometer keine unüberwindbare Entfernung, und wenn sie vom Landleben zwischendurch genug haben sollten, waren sie mit dem Auto in einer Stunde in Köln.

Sie dachte an ihre Tochter Johanna, der sie die Tiefkühltruhe noch bis unter den Rand gefüllt hatte. Sie wohnte jetzt allein in ihrem Bungalow im Rodenkirchener Malerviertel, und obwohl Johanna gerne aß, kochte sie nur ungern. Die Uni und ihre vielen Freunde nahmen sie voll in Anspruch. Bea lächelte. Sollte sie ihre Jugend nur genießen. Ein bisschen beneidete sie sie darum, vor allem um die Unbeschwertheit und die Neugier, mit der sie dem Leben begegnete.

Ihre Gedanken wanderten von ihrer Tochter zu Bruni. Sie hatte es von den Freundinnen wohl am leichtesten gehabt, sich zu verabschieden. Von jeher ungebunden und kinderlos, brauchte sie für ihre 2-Zimmer-Mietwohnung in Ehrenfeld nur einen Untermieter zu suchen, und das hatte sich schnell erledigt. Eine Kollegin von der Uni war bei ihr eingezogen, ebenfalls Dozentin, und so hatte Bruni die wichtigsten Schriften über feministische Philosophie gesammelt, kistenweise Bücher gepackt und ganz zum Schluss einen kleinen Koffer mit Klamotten zusammengestellt, dessen Inhalt sie nicht sehr interessierte. Sie legte wenig Wert auf Kleidung, und noch weniger Wert legte sie auf Männer, die sie mit hoch geschlossenen Rollis und schlabberigen Sweatshirts auf Abstand hielt. Praktisch musste ihre Kleidung sein, ebenso praktisch die Haare, die sie ausschließlich aus diesem Grunde igelkurz trug. Ihrer Mischlingshündin Sappho allerdings hatte sie für jeden Abend ein ausschweifendes Leben auf dem Land versprochen, und Bea fragte sich gerade, was das für Bruni wohl bedeuten mochte. Soweit sie wusste, betrachtete sie ihr gemeinsames Projekt als Experiment und stellte sich vor, dass das schlichte Leben sie zu geistigen Höhenflügen und neuen Artikeln inspirieren würde.

Caro war da ganz anders als Bruni. Bei dem Gedanken an die Freundin, die sie schon seit der Schulzeit kannte, wurde Bea warm ums Herz. Sie sah sie mit ihrem blonden, halblangen Haar und ihren stahlblauen Augen vor sich, sie, die mit 50 die Blicke der Männer immer noch auf sich zog.

Bea nahm kurz die Hand vom Lenkrad, um sich eine Haarsträhne hinters Ohr zu klemmen. Caro war eindeutig die Selbstbewussteste von ihnen allen, und auch die Spontanste. Sie verdiente ihren Lebensunterhalt als selbständige Physiotherapeutin und hatte sich von ihren Fußballern vom 1. FC Köln mit einem lachenden und einem weinenden Auge verabschiedet. Sich und den Freundinnen hatte sie eine einjährige sexuelle Abstinenz geschworen. Bea musste lächeln. Sie bezweifelte, dass Caro das durchhielt. Normalerweise war sie nie länger als zwei Wochen solo. Vielleicht sollte sie mit ihr eine Wette abschließen. Allerdings, Caro hatte gesagt, dass Männer sie in letzter Zeit beunruhigend wenig interessierten und sie hatten sich gefragt, warum. Schließlich waren sie übereingekommen, dass es eine Folge der Hormonumstellung sein musste, die sich langsam bei ihnen bemerkbar machte. Bis auf die Fußballer und ihre 23-jährige Tochter hatte sich Caro, soweit Bea wusste, in Köln von niemandem persönlich verabschiedet, was typisch für sie war. Sie wollte sich nie zu eng binden, keine Verpflichtungen eingehen, nicht abhängig sein, und als bewiese sich ihre Unabhängigkeit darin, meldete sie sich manchmal bei ihren Freunden wochenlang nicht. Bea hatte selbst schon ihre Erfahrungen damit gemacht. Für sie war Caro der Inbegriff des Schmetterlings: bunt schillernd und einfach nicht zu halten.

Sie fuhr in Altenahr ein, drosselte die Geschwindigkeit und passierte langsam das Rathaus, das mit seinem grünen Anstrich irgendwie sympathisch wirkte. Jetzt war sie hier, und ein neues Leben lag vor ihr. Unverrückbar. Ein historischer Moment. Ihr Herz machte einen kleinen Sprung. Sie sah sich um und es war, als winke ihr die Zukunft sonnig und unbeschwert aus allen Fenstern zu. Bea fuhr noch langsamer, und schließlich steuerte sie ihr Cabrio geschickt durch die enge Toreinfahrt, die zum ›Ahrstübchen‹ führte, doch als sie auf den Hof kam, schrie niemand ›hurra‹. Stattdessen hockten Bruni und Ulrike vor einem Schutthaufen auf ihren Koffern und blickten ihr schlecht gelaunt entgegen.

3. Kapitel

Bea parkte den Wagen, fingerte den Schlüssel vom Rückspiegel und sprang heraus. »Willkommen im Paradies!«, rief sie.

»Das Paradies ist leider heute dicht«, antwortete Bruni griesgrämig und erhob sich von einer Bücherkiste.

»Warum hockt ihr hier draußen? Was ist los?« Bea deutete auf den Steinberg.

»Der Eigentümer hat mal kurz entschieden, den Hof neu zu pflastern.«

»Ist doch nicht schlecht«, Bea lachte.

»Im Prinzip ja. Nur dass das Paradies bis eben noch die Hölle war. Ein Bagger war da, um neu auszuschachten, und vermutlich werde ich spätestens morgen an einer Staublunge sterben.«

»Und seit mehr als einer Stunde warten wir auf Caro, die hat den anderen Schlüssel«, tönte Ulrike.

»Aber Madame lässt sich nicht blicken, und über Handy ist sie nicht zu kriegen. Dich konnten wir leider auch nicht erreichen.«

Bea dachte daran, dass sie beim Cabriofahren selten das Klingeln hörte, die Fahrgeräusche waren einfach zu laut.

Bruni ging auf Bea zu und gab ihr zur Begrüßung einen Kuss auf die Wange. Sie war mindestens 1,80 Meter groß, ihre Augen blitzten.

Ulrike gab Bea nun auch einen Kuss. Neben Bruni sah sie, obwohl sie weder klein noch schmächtig war, regelrecht zierlich aus.

»Gott sei Dank bist du da, und wir können jetzt rein. Ich komme um vor Durst.«

»Ein Bier wäre die Rettung«, brummte Bruni und schüttelte sich den Staub aus der Kleidung. Bea bemerkte, wie ihr das Wasser im Mund zusammenlief. Sie warf Ulrike einen prüfenden Blick zu und stellte fest, dass sie heute erstaunlich gut aussah. Die Freundin trug Jeans, dazu helle Sneaker und ein dunkelblaues T-Shirt, das ihre Locken noch blonder erschienen ließ, als sie eh schon waren. Bea tippte auf ›L’Oréal Hellblond‹ und hoffte, dass die Zeit der Tränen nun vorbei war. Ulrike hatte genug geweint, fand sie, und im Grunde war jede einzelne Träne, die sie um Claus vergossen hatte, eine zu viel. Sie griff sich einen der Koffer und schloss auf. Im Innern des Restaurants war es dunkel. Sie machte Licht, und Ulrike öffnete sofort die schweren Fensterläden, um frische Luft in den Raum zu lassen, während Bruni ihre Koffer die Stiege nach oben schleppte, wo sich die Privaträume befanden.

»Spinnen gibt es hier in rauen Mengen, ich glaub’, da ist sogar eine Kreuzspinne dabei«, hörten Bea und Ulrike sie rufen. »Ein Prachtexemplar!«

»Eine Kreuzspinne?«, Ulrike wurde blass. »Mach sie platt!«

»Ich doch nicht.« Brunis Gesicht erschien über der Treppe. »Ich töte keine Spinne.«

Sie kam grinsend die Stufen hinunter, in der einen Hand hielt sie einen Bierdeckel, in der anderen ein umgestülptes Glas, darunter saß erstarrt eine dicke Spinne. Bea und Ulrike konnten das aus Punkten zusammengesetzte Kreuz auf ihrem Rücken deutlich erkennen.

»Jede Kreatur hat das Recht auf Leben, oder will mir etwa jemand widersprechen? Und das hier ist eine harmlose Gartenkreuzspinne, die tut nichts. Sie frisst höchstens ihren Mann.« Herausfordernd blickte sie Ulrike an. »Gleich nach erfolgter Paarung.«

Ulrike bewahrte Abstand. »Guck mich nicht so an. Sex und Hopp ist nichts für mich. Beeil dich mit deiner Befreiungsaktion, ja? Hier scheint es ein ganzes Nest zu geben«, stöhnte sie und deutete auf zwei weitere Exemplare, die sie an der Wand entdeckt hatte.

Inzwischen war es dunkel geworden. Die drei Freundinnen hatten mehrere Biere intus, die vom letzten Pächter offensichtlich im Kühlschrank vergessen worden waren, und obwohl das Haltbarkeitsdatum bereits abgelaufen war, war es ihnen so vorgekommen, als gäbe es nichts Köstlicheres als ein Bit. In der Eifel trank man kein Kölsch, sondern mit Vorliebe Bitburger, aber zur Einstimmung war es genau das Richtige. Sie saßen im Restaurant an einem Tisch, die leeren Teller hatten sie von sich geschoben. Auf dem Tisch brannte eine Kerze, die Bea in irgendeiner Ecke aufgestöbert hatte, und sie fühlten sich satt und müde. Ulrike hatte ihnen schnell ein paar Gnocchi in Salbeibutter gebraten. Sie war schon immer eine leidenschaftliche Köchin gewesen.

Bea räumte gerade die Teller ab, als sie auf dem Hof das Geräusch eines einfahrenden Autos hörten. Einen Moment später flog die Tür auf. Im Rahmen stand Caro, das halblange blonde Haar zu einem Pferdeschwanz gebunden, in jeder Hand einen Koffer. Ihre blauen Augen strahlten, und während sie in den Raum stürzte, rief sie außer Atem: »Ich hoffe, ihr habt nicht auf mich gewartet? Sorry, aber es kommt immer anders als man denkt. Manuel kam heute Nachmittag vorbei, und da ist es dann etwas später geworden.«

»Etwas später?« Bruni verdrehte die Augen und warf einen Blick auf ihre überdimensional große Armbanduhr. Wenn sie ärgerlich war, schien sie einen halben Meter zu wachsen und ihre Stimme nahm einen überraschend tiefen Klang an. »Sechs Stunden später!«

»Tut mir leid, aber es ließ sich wirklich nicht ändern. Ich konnte ihn einfach nicht nach Hause schicken.«

»Ach, nein? Normalerweise gehorchen dir die Männer doch aufs Wort.« Bea zwinkerte mit den Augen. »Und welcher Manuel? Manuel Ciguera?«

»Genau der, der Spanier.« Caro ließ sich auf einen Stuhl fallen, griff nach einer Flasche Bier und schenkte sich ein Glas ein. »Er stand plötzlich vor meiner Tür. Ich hatte völlig vergessen, dass ich mit ihm verabredet war.«

»Das kann auch nur dir passieren.« Bea lächelte.

»Er ist wirklich ein Schatz, aber ich bin froh, dass jetzt Ruhe einkehrt. In letzter Zeit wurde er mir ein bisschen zu anstrengend.«

»Wieso?«

»Ich glaube, er hat sich in mich verliebt.«

»Der arme Bub«, sagte Bea.

»Ja, deswegen habe ich ihm auch die neue Adresse nicht gegeben, ich möchte vermeiden, dass er hier noch auftaucht. Er soll sich ruhig mal nach einer Frau umgucken, die in seinem Alter ist.«

»Hättest du uns nicht wenigstens anrufen und Bescheid geben können?«, blaffte Bruni sie an.

»Ja, natürlich, wollte ich auch, aber mein Akku war leer und der Festnetzanschluss ist bereits abgemeldet.«

»Und Manuel, ist der sogar zu jung für ein Handy? Hättest du nicht seins benutzen können?«

»Nun lass doch mal gut sein, Bruni«, mischte Ulrike sich beschwichtigend ein. »Hat ja alles noch gut funktioniert.«

Bruni murmelte ärgerlich etwas Unverständliches vor sich hin.

»Dafür hat sie jetzt schlechte Karten bei der Zimmerwahl«, sagte Bea, und auf ihren Wangen zeichneten sich kleine Grübchen ab.

»O.k., ich hab’s verdient.« Caros Stimme klang weder geknickt noch beleidigt. Im Gegenteil, sie machte nach wie vor einen fröhlichen Eindruck.

Man sah ihr an, dass sie viel Sport trieb, ihr Körper war durchtrainiert und muskulös. Sie trug einen halblangen Rock, den sie etwas hochgeschoben hatte, ihre Beine waren lang und immer noch ansehnlich. Etwas anderes als einen Hauch Puder und hellen Lippenstift benutzte sie selten. Bea seufzte leicht. Wenigstens ließ sie sich einmal im Jahr wie sie selbst die Besenreiser wegspritzen.

»Und du bekommst nicht nur das kleinste, sondern auch das dunkelste und muffigste Zimmer von allen«, versetzte Bruni streng.

Caro grinste. »Dann werde ich der Krachbude gleich mal etwas Leben einhauchen.« Entschlossen griff sie sich ihre Koffer und stiefelte nach oben.

4. Kapitel

Bea schlief schlecht in ihrer ersten Nacht in Altenahr, sie musste sich erst noch an die neue Umgebung gewöhnen. Nachdem sie einige Stunden unruhig geträumt und sich von einer Seite auf die andere geworfen hatte, war sie nun endgültig wach. Ihr Herz raste, sie überlegte einen Moment und tastete dann nach ihrem Puls. Er war zu hoch, 110 Schläge die Minute, normal war ein Wert um die 80. Vielleicht hätte sie doch besser den Rat ihrer Kölner Internistin befolgen und sich Betablocker verschreiben lassen sollen. Wenn sie in Köln geblieben wäre und noch immer bei Best Promotion arbeiten würde, hätte sie das vermutlich getan. Aber so nicht. Das Landleben würde über kurz oder lang seine beruhigende Wirkung entfalten. Bea überlegte, ob die innere Unruhe von dem Alkohol herrühren könnte, den sie gestern getrunken hatte. Vielleicht, dachte sie und überlegte, dass sie in den letzten Jahren immer weniger vertrug. Vielleicht lag es aber auch an der Aufregung, den vielen Dingen, die bedacht werden mussten. Früher hatte sie Stress ganz anders weggesteckt.

Vor dem Zubettgehen hatten sie noch den Arbeitsplan für den nächsten Tag aufgestellt. Die Wiedereröffnung des ›Ahrstübchens‹ sollte am 02. Mai stattfinden, es blieben also nur noch zwei Wochen Zeit, und es gab viel zu tun. Bea setzte sich auf. Als Erstes musste der Geröllhaufen weg, sie würde gleich heute deswegen mit dem Verpächter telefonieren. Es musste so schnell wie möglich neu gepflastert werden und sie hoffte, dass er zuverlässige Handwerker engagiert hatte. Sie mussten streichen, das Haus gründlich putzen, die Speisekarte endgültig festlegen, Terrassenmöbel besorgen, den Kräuter-, Gemüse- und Blumengarten bepflanzen und zu guter Letzt die Lebensmittel kaufen und einige Gerichte vorbereiten. Glücklicherweise war der Handelshof in Rheinbach nur etwa 15 Kilometer entfernt, dort bekamen sie alles, was sie brauchten, selbst frischen Fisch.

Es kam häufiger vor in letzter Zeit, dass sie nachts wach wurde, eine seltsame innere Unruhe hielt sie vom Schlafen ab, aber inzwischen hatte sie sich fast daran gewöhnt. Wenn es gar nicht anders ging, nahm sie eine hohe Dosis Baldrian, 600 bis 900 Milligramm, das wirkte, eine halbe Stunde später schlief sie dann fest. Sie sollte sich unbedingt wieder eine Schachtel besorgen. Bea knipste die kleine Lampe an, die auf dem Nachttisch stand, und sah auf den Wecker. 3:15 Uhr, viel zu früh, um aufzustehen. Kölner Bilder geisterten durch ihren Kopf. Der Rhein, ihr gemütliches, helles Haus. Ihr leer geräumter Schreibtisch bei Best Promotion, Frank Flick. Die Gedanken an ihn wischte sie schnell wieder beiseite, sie wollte ihnen jetzt keinen Raum geben, nicht in diesen Zwischenstunden, dem Übergang der Nacht zum Tag, in denen die Gedanken grau waren und keine Eindeutigkeit mehr besaßen. Sie kannte das: Die Gespenster, die sich um diese Zeit wie unheilvolle Vögel in ihrem Kopf einnisteten und ihre Eier legten, machten ihr Angst, denn sie ließen sich auch am Tag nur schwer vertreiben. Bea seufzte. Auf einmal tauchte das Bild ihrer Gynäkologin vor ihr auf, die sie kurz vor ihrer Abreise aus Köln noch konsultiert hatte. Die Ärztin hatte ihr das Ergebnis ihres Hormonstatus’ mitgeteilt. Im Labor war zwar ein verminderter Östradiolspiegel nachgewiesen worden, aber das hormonelle Ungleichgewicht schien harmlos. Noch. Trotz der Schlafstörungen und der gelegentlichen Hitzewallungen. Bea atmete tief durch. Bei der Vorstellung, vielleicht in naher Zukunft schon unter Schweißausbrüchen zu leiden und unfruchtbar zu sein, schnürte sich ihr die Brust zusammen. Abrupt setzte sie sich auf und fuhr sich schnell mit der Zunge über die Lippen. Es sei eine physische wie psychische Wandlung, die Frauen da durchmachten, hatte die Gynäkologin gesagt, vergleichbar mit der Pubertät. Unbewusst ballte sie die Hände. Vielleicht blieb sie ja auch ganz die Alte, von den Falten einmal abgesehen. Ein schiefes Lächeln glitt über ihr Gesicht, und sie fragte sich, ob sie sich demnächst das Geld für die Antifaltencremes nicht besser sparen sollte. Die Wirkung war sowieso umstritten. Immerhin besaß jeder Mensch ein unverwechselbares Ich, eine Seele, die ihn ausmachte und nicht nur ein Gesicht, das irgendwann den Zauber der Jugend verlor. Wenn sie sich erst einmal an ein Leben ohne Frank Flick und ohne die Werbeagentur gewöhnt hatte, würde sie entspannter sein. Sie freute sich auf ihr zukünftiges Leben, in dem sie Flanellhemden und bequeme Hosen statt eines Kostüms tragen würde, und sie freute sich auf flache Laufschuhe statt Pumps. Sie dachte an Bruni, die ohnehin die Meinung vertrat, dass ein einfaches Leben und ein ausgeglichener Seelenzustand die beste Medizin war. Für alles. Und vermutlich hatte sie recht.

Bea verschränkte die Arme hinter dem Kopf und starrte aus dem Dachfenster hinaus in den Himmel, an dem schräg der Mond hing, umgeben von unendlich vielen Sternen. Im Vergleich zu Köln mussten es Millionen sein.

Wie es Johanna wohl ging? Sie sagte sich, dass Johanna längst alt genug war, um allein zurechtzukommen. Sie hatte nie viel von ihrer Mutter gehabt, das war Bea bewusst, aber sie hatte immer ihr Bestes getan, um Johanna das Gefühl zu geben, behütet aufzuwachsen. Dass ihr Vater sich kaum um sie gekümmert hatte, blieb allerdings ein Stachel, der eine tiefe Wunde in ihrem Herzen hinterlassen hatte. Seit Sven wieder verheiratet war, meldete er sich noch seltener bei ihnen als zuvor.

Bea erwog einen Moment, in ihre Arbeitskleidung zu steigen und mit dem Streichen zu beginnen, verwarf den Gedanken aber wieder, es war noch zu dunkel, und bei elektrischem Licht strich man sowieso nicht ebenmäßig. Vor Jahren, als sie das Haus in Rodenkirchen gekauft hatte, hatte sie es einmal versucht, aber es hatte natürlich überhaupt nicht funktioniert.

Das helle Licht der Sterne blendete sie und sie nahm sich vor, demnächst eine Schlafbrille zu besorgen. Kurz entschlossen schwang sie die Beine aus dem Bett, zog den Bademantel über und öffnete leise die Tür. Im Flur erkannte sie Sappho, deren Augen in der Dunkelheit rot leuchteten, und die schwanzwedelnd angeschlichen kam. Zusammen mit Brunis Hündin schlich sie die Treppe hinunter und hinaus in den Garten, wo sie fröstelnd die Arme um sich schlang. Sie horchte auf das murmelnde Geräusch der Ahr, die vor dem Grundstück floss, und auf die Stimmen von Tieren, die sie nicht kannte. Dann legte sie den Kopf in den Nacken und starrte lange nach oben.

Noch nie war der Himmel so nah.

5. Kapitel

Lao Wang blickte auf den Absender des ungeöffneten Briefes, der neben ihm auf der Arbeitsplatte in der großen Restaurantküche lag. Verbandsgemeindeverwaltung Altenahr. Bislang hatte er von der Gemeinde noch nie Post mit guten Nachrichten erhalten, und so verspürte er auch jetzt keine Eile, den Brief zu öffnen. Das hatte Zeit. An seinen Händen klebten Gemüsereste, und er wollte die Arbeit nicht unterbrechen. Lao Wang presste die Lippen aufeinander. Als vor drei Wochen der letzte Brief von der Gemeinde eingetroffen war, war er dazu aufgefordert worden, die chinesischen Schriftzeichen über dem Lokal zu entfernen. Begründung: Die Zeichen störten das Ortsbild. Um das Erscheinungsbild eines typischen Ahr-Touristenortes nicht zu gefährden, sei es nötig, auf optische Einheitlichkeit und Authentizität zu achten. Zähneknirschend hatten Lao Wang und Wang Yi, sein Erstgeborener, der auch Geschäftsführer ihres Betriebs war, die Anweisung befolgt. Widerstand wäre zwecklos gewesen, denn was der Gemeinderat beschloss, war Gesetz. Lao Wang wusste, seine Familie war so manchem hier ein Dorn im Auge, und das, obwohl sie reichlich Steuern zahlten und sich auch ansonsten nichts zuschulden kommen ließen.

Er schob den Brief mit dem Ellbogen noch ein kleines Stück weiter von sich weg und dachte: Auch der hellste Tag hat seine Schatten.

Einen Moment hielt er inne und betrachtete Wang San, den Drittgeborenen, dem er und seine Frau heute in der Küche zur Hand gingen. Ihr Zweitgeborener war kurz nach seiner Geburt gestorben, und Lao Wang verspürte auch nach so vielen Jahren noch tiefe Trauer, wenn er daran dachte.

Wang San hatte mittlerweile in der Küche das Sagen, und er machte seine Sache gut, denn er war ein ausgezeichneter Koch. Er hatte viel von seinem Vater gelernt.

Lao Wang hatte sich mit seinen 72 Jahren weitestgehend aus dem Betrieb zurückgezogen und widmete sich nun, so oft es ging, seiner Leidenschaft, der Kalligrafie. Wenn allerdings sehr viele Gäste erwartet wurden, legte er den Pinsel beiseite und half Wang San, gemeinsam mit dessen Mutter Zhang Liu, in der Küche.

Jetzt waren sie alle damit beschäftigt, Jiaozi zu formen, kleine Teigtäschchen, in die sie die unterschiedlichsten Füllungen steckten, von gemischtem Gemüse über gehacktes Schweinefleisch bis hin zu Garnelenpüree, gewürzt mit Ingwer. Sie sollten als Vorspeise serviert werden, mehrere 100 Stück davon mussten sie fertigen, und Lao Wang widmete sich wieder ganz der Arbeit. Für ihn verhielt es sich mit Jiaozi wie mit der chinesischen Seele: nach außen einfach, nach innen vielfältig.

Durch die geöffnete Küchentür drang das Gezwitscher seiner Singvögel, die in einem Vogelkäfig an einem Baum leicht im Wind hin und her schaukelten, und während er weiteren Teig ausrollte, lauschte er den hellen Stimmen. Sie wirkten angenehm beruhigend auf ihn.

»Sieh mal, da!«, sagte seine Frau Zhang Liu, die er vor mehr als 50 Jahren geheiratet hatte, aufgeregt in seine Gedanken hinein. Neugierig reckte sie den Kopf, sah aus dem Fenster und deutete auf das Haus gegenüber. »Da sind sie. Die Neuen! Sie scheinen fleißig zu sein.«

Lao Wang nickte, blickte auf und sagte versonnen: »Zhen de hen nuli.« (Wirklich sehr fleißig.)

»Sie machen alles selbst, oder siehst du irgendwo Helfer?«

Lao Wang schüttelte den Kopf.

»Was sie in ihrem Restaurant wohl auftischen?«, stellte Liu als Frage in den Raum. »Als gäbe es nicht schon genug Lokale hier.« Ihre Stimme klang beunruhigt.

»Mach dir keine Sorgen, Mutter. Irgendetwas typisch Deutsches kommt da drüben auf den Tisch.« Wang San, ihr Sohn, rümpfte die Nase und sagte: »Riesige Winzerschnitzel, Hirschbraten mit Rotkohl und Kroketten und Pommes frites, Entenkeulen mit Rosenkohl … für uns ist das bestimmt keine Konkurrenz.«

Liu lächelte süß. Nein, sicher nicht, Wang San hatte recht. Niemand hier im Ort konnte ihnen auch nur ansatzweise das Wasser reichen. Außerdem bestand der Großteil ihrer Kundschaft sowieso aus Chinesen, und die mochten es eben chinesisch. Die deutsche Küche empfanden sie als barbarisch. Es war einfach abstoßend zu sehen, welch riesige Fleischlappen da auf die Teller kamen und wie viel davon die Deutschen gierig in sich hineinstopften als gäbe es kein Morgen. Und sie aßen Käse, was nichts anderes war als verdorbene Milch! Zhang Liu schüttelte sich. Ihren Landsleuten hatten sie ihren enormen Umsatz zu verdanken, niemand anderem. Zwar freute sich die Familie auch über jeden deutschen Touristen und jeden Einheimischen, der sich in ihr Lokal verirrte, und begrüßte ihn überschwänglich, aber dank der genialen Idee ihres Erstgeborenen, Wang Yi, waren sie auf deutsche Gäste glücklicherweise nicht angewiesen. Nicht mehr. Zhang Liu lächelte stolz. Vor drei Jahren hatte ihre Tochter Mei Ling dann dafür gesorgt, dass in den Prospekten eines chinesischen Reiseunternehmens, zu dem sie freundschaftliche Beziehungen pflegten, Altenahr als typisch deutsches Städtchen angepriesen wurde. Seither florierte das Geschäft. Den Gebäudekomplex, in dem sich ihr Restaurant samt Hotel befand, hatten sie im letzten Jahr vom Eigentümer gekauft. Sie hatten viel dafür bezahlt, aber die Investition würde sich rechnen, denn die Pacht war hoch gewesen. Zhang Liu überlegte, dass sich die Geldausgabe in fünf Jahren schon amortisiert haben könnte. Fast täglich trafen Reisebusse voller Chinesen ein, die mittags und oft auch abends bei ihnen aßen, nämlich dann, wenn sie hier übernachteten.

Im Grunde genommen waren ihre Kapazitäten noch zu knapp, überlegte sie. Ihre Landsleute liebten Altenahr, den romantischen Flusslauf, das alte Fachwerk der Häuser, die Burg Are und natürlich den Wein, den sie in großen Mengen bei der Winzergenossenschaft einkauften. Sie dachte, dass die Gemeinde ihrer Familie eigentlich zu großem Dank verpflichtet war. Davon war aber leider nichts zu spüren. Bekümmert schüttelte sie den Kopf. Schließlich hatten die Wangs und niemand anderes dafür gesorgt, dass Altenahr neben dem Münchner Hofbräuhaus, dem Brandenburger Tor und dem Kölner Dom mit zur festen Reiseroute eines chinesischen Veranstalters gehörte. Sie selbst war jedenfalls sehr dankbar. Zhang Liu lächelte vor sich hin. Ihre Kasse klingelte jeden Tag. Morgen würde sie wieder zur Bank gehen, um die Einnahmen der letzten Tage einzuzahlen. Ihr Sohn lieferte das eingenommene Geld jeden Abend bei ihr ab.

»Ich habe gegenüber noch keinen einzigen Mann gesehen«, bemerkte sie nun und reckte den Kopf.

Lao Wang blinzelte.

»Haben sie denn keine Ehemänner?« Lao Wangs Frau pürierte noch etwas Fisch. Ihr ehemals tiefschwarzes Haar war inzwischen grau geworden, mittlerweile trug sie es kurz. »Und wo sind die Kinder?«

»Vielleicht sind sie längst erwachsen und gehen ihre eigenen Wege, und vielleicht kommen die Männer ja noch«, mischte Wang San sich ein. Er achtete seine Mutter und seinen Vater, aber es nervte ihn auch, wie sehr sie den alten chinesischen Vorstellungen verhaftet waren. Eine Frau ohne Mann war in ihren Augen mehr als verdächtig. Entweder hatte sie keinen abbekommen, weil sie zu hässlich war, sie war geschieden, oder sie war ein Flittchen. Eins war schlimmer als das andere, in jedem Fall gefährdete eine Frau ohne Mann die Familienehre, es sei denn, sie war hoch betagt und Witwe.

Wang San dachte an seine Schwester Mei Ling, die ebenso wie er selbst nicht im Entferntesten an eine Heirat dachte. Sie waren in Deutschland geboren und aufgewachsen, und nach und nach hatten sie sich von der traditionellen chinesischen Vorstellung von Familienglück distanziert. Zum Leidwesen seiner Eltern, das wusste er. Sie hatten die Hoffnung nicht aufgegeben, dass er irgendwann doch noch, und er war immerhin schon 40 Jahre alt, eine Chinesin heiraten und für Nachwuchs sorgen würde. Unbeirrt hielten sie für ihn und auch für seine Schwester im Köln-Bonner Raum bei befreundeten chinesischen Familien nach geeigneten Ehepartnern Ausschau, und so sahen sie über seine gelegentlichen Treffen mit deutschen Frauen stillschweigend, aber deswegen nicht weniger missbilligend, hinweg.

Wang San reckte nun auch den Kopf und sah aus dem Fenster. Auf der anderen Straßenseite kletterten zwei Frauen mit Farbeimern und Farbrollern auf das Gerüst vor dem ›Ahrstübchen‹ und machten sich daran, die Fassade zu streichen. Beide waren blond. Wang San lächelte. Blondes Haar war für ihn wie für fast alle Chinesen der Inbegriff westlicher Schönheit, und er spürte, wie sein Herz begann, schneller zu schlagen.

6. Kapitel

Die Räder der beiden Einkaufswagen ratterten über den Boden des Baumarktes. Bruni und Caro schoben mühsam die voll beladenen Gefährte vor sich her, während Ulrike und Bea immer wieder in den Gängen zwischen irgendwelchen Regalen verschwanden.

»Was suchen sie denn jetzt noch?« Mit einer ungeduldigen Kopfbewegung wies Bruni in einen Gang, in dem sie Bea und Ulrike vermutete. Ihrer Stimme war anzumerken, dass Shopping im Baumarkt nicht zu ihrer Lieblingsbeschäftigung gehörte.

Caro warf einen Blick in ihren Wagen, in dem sich bereits Bretter, Schrauben, Papiertischdecken, Kerzen und Kerzenhalter, Klebemittel, Sitzkissen, Servietten und Fußabtreter befanden. »Glühbirnen oder Energiesparlampen«, antwortete sie. »Die haben wir noch nicht. Ist dir nicht aufgefallen, dass die Hälfte aller Lampen im ›Ahrstübchen‹ nicht funktioniert?«, fragte sie.

»Mein Leselicht am Bett tut’s.« Bruni blieb stehen und stemmte eine Hand in den Rücken. »Sag mal, hast du auch solche Schmerzen? Ich fühle mich wie 80«, ächzte sie. »Außerdem habe ich einen verspannten Nacken, ich glaube, du musst mich heute Abend mal massieren.«

Caro lachte: »Einverstanden, aber da gewöhnst du dich dran. Wenn du ein paar Wochen lang geräumt, geschrubbt und Wände angestrichen hast, fühlst du dich, als seiest du in einen Jungbrunnen gefallen. Gut für die Muskulatur.«

Bruni bedachte sie mit einem skeptischen Blick.

Ulrike und Bea kamen um die Ecke, in den Händen hielten sie Holzöl für die Terrassenmöbel, die sie im Baumarkt bestellt hatten, sowie diverse Bastkörbe.

»Für Brot«, erklärte Ulrike und ließ die Sachen in Caros Wagen plumpsen. »Fehlen nur noch kleine Deckchen.«

»Windlichter brauchen wir auch noch«, sagte Bea und es dauerte keine zehn Sekunden, da waren sie und Ulrike schon wieder verschwunden.

Bruni verdrehte die Augen. Bei ihr zu Hause in Köln kam das Brot immer ohne Deckchen im Korb auf den Tisch, und ob Windlichter für die Terrasse des ›Ahrstübchens‹ wirklich nötig waren, wagte sie zu bezweifeln. Aber nicht sie und Caro, sondern Ulrike und Bea hatten in Einrichtungsfragen das Sagen, so war es ausgemacht, und deswegen hielt sie es für klüger, sich jeglichen Kommentars zu enthalten. Langsam gingen sie und Caro den beiden hinterher.

»Wie fühlst du dich eigentlich hier?«, fragte Caro. »Angekommen in der Eifel?«

»Na ja, ich hatte mir alles ein bisschen einfacher vorgestellt.« Bruni grinste. »Im Vergleich zu meinem Kölner Leben ist es das absolute Kontrastprogramm. Ich betrachte es ein bisschen auch als Experiment.«

»Wie, du betrachtest uns als Experiment? Und am Schluss gibt’s dann einen Laborbericht für deine feministische Zeitschrift?«, grinste Caro.

»Schöne Idee« erwiderte Bruni. »Aber ich weiß nicht, ob es wirklich Interessenten gibt für Überschriften wie ›Vier Frauen im Baumarkt‹ oder ›Das Café auf dem Kaff‹.«

»Ich würde ja eher ›Kleine Räume – große Träume‹ drüber schreiben.« Caro dachte daran, was sie selbst sich vom ›Ahrstübchen‹ erhoffte, und im Grunde war die Antwort ganz einfach. Nach fast 30-jähriger Tätigkeit als Physiotherapeutin wollte sie sich einer neuen beruflichen Herausforderung stellen, außerdem wollte sie sich endlich den Dingen in ihrem Leben widmen, denen sie bislang zu wenig Platz darin eingeräumt hatte. Und das waren Pflanzen, keine Männer. Freundinnen. Mehr Ruhe. Geteilte Verantwortung. Sie fand, dass sie mit 50 alt genug war, sich diesen Traum vom selbstbestimmten Leben zu erfüllen. Nicht nur mit 17 hat man noch Träume, dachte sie und erinnerte sich an den Schlager von Peggy March, den sie in ihrer Kindheit so gern geträllert hatte.

»Ich schreibe höchstens ein Tagebuch statt jour­nalistischer Artikel«, sagte sie und lachte. »In jedem Fall birgt das ›Ahrstübchen‹ tolle Chancen.«

Bruni nickte etwas abgelenkt. Mit den Augen suchte sie nach Bea und Ulrike. »In jeder Hinsicht, aber hast du nicht auch den Eindruck, dass die Einheimischen einen Bogen um uns machen? Mehr als einen knappen Gruß habe ich bislang noch von niemandem gehört.«

Caro überlegte einen Moment. »Ich auch nicht, aber ich hoffe, das legt sich bald. Am Tag der Eröffnung findet sich sicher der halbe Ort bei uns ein, allein schon aus Neugier.«

»Na klar«, tönte es gut gelaunt von der Seite. »Und sie werden begeistert sein.« Ulrike tauchte neben ihnen auf, und hinter ihr kam Bea zum Vorschein. Beide luden eine Fülle von Artikeln in die Einkaufswägen, Türstopper, doppelseitiges Klebeband, diverse Schrauben.

»Wir brauchen auch noch …«, sagte Bea, aber bevor sie den Satz zu Ende bringen konnte, fiel Bruni ihr ins Wort. »Ihr ladet hier auf, als gäb’s das Zeug geschenkt.«

»Naja, immerhin gibt’s 20 Prozent auf alles …«

»… außer auf schlechte Laune«, ergänzte Ulrike. »Die kommt dich teuer zu stehen, du zahlst gleich den Kaffee, meine Liebe.«

Bruni grinste. »Den Kaffee kauft ihr euch schön selber, aber vielleicht gebe ich ’ne Runde Zucker aus.«