Titel
Christian Gude
Kontrollverlust
Der vierte Fall für Kommissar Rünz
Impressum
Personen und Handlung sind, soweit im Nachwort nicht gesondert erwähnt, frei erfunden.
Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen
sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
 
 
 
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© 2010 – Gmeiner-Verlag GmbH
Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch
Telefon 07575/2095-0
Alle Rechte vorbehalten
1. Auflage 2010
Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt
Herstellung/Korrekturen: Julia Franze / Doreen Fröhlich,
Susanne Tachlinski
Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart
unter Verwendung des Fotos » cartridge« von: © ann triling / fotolia.de
ISBN 978-3-8392-3528-7
Einleitung
»Sie wollen Männer dazu bringen, Ihre Romane zu lesen? Dann vergessen Sie die Liebe. Schreiben Sie über Flugzeuge, Autos, Kriege und Waffen!«
 
Bertrand Beaujolais, ›Malmener un Auteur‹
Éditions Fontainebleau, 1972
 
 
 
 
»The Gatling gun changed everything.«
 
Julia Keller, ›Mr. Gatling’s terrible Marvel‹
Viking, 2008
Prolog
Ein kleiner, schmuckloser Raum mit großen Sicherheitsfenstern am Ende eines kahlen Ganges. Trist und deprimierend trotz der weißen Wände, mit Schrammen an Türrahmen und Wänden. Ein Blechspind, ein Bett, ein Nachttisch alle fest mit Stahlwinkeln im Betonboden verankert. An der Wand die grauen Umrisse eines Kleiderschrankes, vier herausgebrochene Dübellöcher, die handtellergroßen Krater im Mauerwerk mit grauer Spachtelmasse provisorisch verschlossen. Er hat versucht, die Tür mit dem Holzmöbel einzuwerfen. So hatte es jedenfalls der Pfleger erzählt. ›Sie sind sicher, dass Sie alleine mit ihm reden wollen?‹ Mehrmals kam die Frage auf dem Weg durch die Korridore des Elisabethenstiftes in der Landgraf-Georg-Straße. Als hätte Rünz beschlossen, das Löwengehege im Frankfurter Zoo zu betreten. Er hatte keine Angst davor, von Brecker angegriffen zu werden, ihm machte etwas anderes Sorgen. Wenn er anfängt zu heulen oder hysterisch wird, dann haue ich sofort ab, dachte Rünz. Greinende Frauen waren ja schon schwer erträglich, aber wenn Männer ihre Schleusen öffneten, geriet sein Weltbild ins Wanken.
Brecker starrte die grauen Putzplacken auf der blanken Wand an, völlig in sich versunken. Er walkte mit seiner linken Pratze wie in Trance eine mandarinengroße, plastische graue Masse und spielte mit der Rechten an einer kleinen Messingfigur herum, die vor ihm auf dem Tisch stand. Er wirkte noch mächtiger als früher, die Speckschicht auf seinem Stiernacken warf Falten wie die Haut eines Flusspferdes.
Seit mehreren Minuten saßen sie sich schweigend gegenüber. Verdammt, warum hatten die keine festen Besuchszeiten hier? Nichts wäre Rünz jetzt willkommener gewesen als ein Pfleger, der ihn bäte, zu gehen. Hatte er die moralische Pflicht, sich um Brecker zu kümmern? Gut, er war nicht nur sein Schwager, sondern auch sein bester Freund. Aber zwischenmenschliche Beziehungen waren für Rünz wie ein Schönwetter-Picknick im Grünen, das man am besten zügig abbrach, wenn dunkle Wolken heraufzogen. Vielleicht half es, wenn er das Schweigen mit ein paar unverfänglichen Themen unterbrach.
»Und, wie ist das Essen hier? Die können doch sicher nicht gleichziehen mit unserer Präsidiumskantine, stimmt’s?«
Brecker starrte stoisch an Rünz vorbei und antwortete nicht. Er wirkte nicht mehr depressiv, wie in den Wochen zuvor im Präsidium – er wirkte sediert. Rünz fiel plötzlich ein, dass er drei Jahre zuvor die gleiche Szene schon einmal mit Brecker erlebt hatte, allerdings mit spiegelverkehrter Rollenverteilung. Er hatte nach der Schießerei auf dem Knell-Gelände mit einer Gehirnerschütterung in der Intensivstation der Darmstädter Kliniken gelegen, und Brecker hatte versucht, ihn mit Zoten über die Schwestern aufzumuntern.
»Geben sie dir Medikamente?«, fragte Rünz.
»Nur abends, zum Einschlafen«, nuschelte Brecker abwesend.
Rünz atmete auf. Wenigstens konnte sein Schwager noch sprechen. Eine Stunde schweigend hier abzusitzen – das war für Rünz eine Horrorvorstellung. »Was ist das für ein Zeug, auf dem du dauernd rumdrückst? Knetmasse?«, fragte er.
»Ton«, antwortete Brecker phlegmatisch. »Wir töpfern hier.«
Rünz war einen Moment lang völlig verdutzt und brach dann lauthals in Gelächter aus, aber es klang gekünstelt und unecht, als versuchte er um jeden Preis, die entspannte und ausgelassene Atmosphäre ihrer gemeinsamen Mittagessen in der Präsidiumskantine wiederherzustellen.
»Ist das dein Ernst? Klaus Brecker, der Schrecken der Darmstädter Halbwelt, der Aufräumer vom Dienst, die Planierraupe der hessischen Schutzpolizei – töpfert? Mensch, erzähl das bloß nicht den Kollegen, die geben dir sonst ihre Poesiealben, damit du Gedichte reinschreibst.«
Rünz wusste es freilich besser. Die Kollegen hätten Brecker gelyncht, wenn sie ihn in die Finger bekommen hätten.
Brecker verzog keine Miene. Rünz schaute sich die Metallfigur in der rechten Hand seines Schwagers genauer an. Sie stellte einen Cowboy dar. Mit breitkrempigem Hut, die Hand an der Kurbel eines automatischen Maschinengewehrs, das auf einer kleinen fahrbaren Lafette stand. Vielleicht eine Gatling, dachte Rünz. Die konvexen Außenflächen der Messingoberfläche waren von den Berührungen wie blank poliert, in den Vertiefungen schimmerte Grünspan. Wieso hatten sie ihm dieses Metallspielzeug nicht weggenommen, wenn er so unberechenbar war?
Brecker drehte unentwegt an der Kurbel, der Arm der Miniaturfigur folgte der Bewegung, in der Trommel schlug ein einfacher Hammermechanismus gegen einen Feuerstein, sodass bei jeder Rotation kleine Funken aus der Mündung schlugen.
»Hat ja schon ganz schön Patina angesetzt, dein Little Joe. Vom Flohmarkt?«
Brecker brauchte zwei quälend lange Minuten, bevor er antwortete, als wären die Signalwege zum Gehirn mit einem radikalen Tempolimit eingebremst worden.
»Erbstück«, sagte er schließlich, ganz langsam, als kostete ihn das Sprechen große Anstrengung. »Von meinem Urgroßvater.«
»Na, dann kannst du’s ja bald an deinen Kleinen weitergeben, wenn du hier rauskommst«, versuchte Rünz, ihn aufzumuntern. »Der wird sich freuen!«
Rünz glaubte selbst nicht so ganz an das, was er da verkündete. Welchen Acht- oder Neunjährigen interessierte schon eine kleine alte Messingstatue, die einen Cowboy an einer Gatling Gun darstellte? Heute war der Nachwuchs scharf auf Bionicles, Transformers und Egoshooter, so ein antiquierter Plunder lockte niemanden mehr hinter dem Ofen hervor.
Brecker starrte Rünz an, legte den Tonklumpen auf die Tischplatte und hörte auf, an der Metallkurbel zu drehen. »Ich komme hier nicht mehr raus«, sagte er.
1
Richard Jordan Gatling war ein Mann der Tat – Tüftler, Erfinder, Ingenieur und Entwickler in Personalunion. Was ihn aus der Masse der begabten Techniker und Visionäre des neunzehnten Jahrhunderts hervorhob, war sein Talent, Innovationen nicht nur zu entwickeln, sondern auch zu verkaufen. Als versierter PR-Stratege und begnadeter Marketingexperte in eigener Sache war er zeitgleich Motor und Profiteur der Industrialisierung des nordamerikanischen Kontinents. Und ein Mann mit einem beeindruckenden Portfolio: Er vertrieb neuartige Propeller für Dampfboote, produzierte Säh- und Verarbeitungsmaschinen für die Landwirtschaft, beschäftigte sich mit der Optimierung von Fahrrädern, pneumatischen Antrieben und Toilettensystemen. Er war ein akribischer Beobachter seiner Umwelt, und wo er Möglichkeiten der Verbesserung und Perfektionierung sah, wurde sein ruheloser Geist aktiv. Und so wunderte es nicht, dass sich sein Augenmerk mit dem Ausbruch des Bürgerkrieges im Jahr 1861 auf die Schlachtfelder von den Appalachen bis zur Mündung des Mississippi richtete.
Die Niederlage gegen die Konföderierten bei der Schlacht von Manassas in Virginia hatte die Hoffnung der Unionsregierung um Abraham Lincoln auf eine zügige Bezwingung der Sezessionsbewegung in den Südstaaten schnell zerschlagen. Eine lange, zermürbende und verlustreiche Auseinandersetzung begann, und Gatling verfolgte bestürzt, wie ein viel zu hoher Blutzoll auf beiden Seiten die Nation an den Rand ihrer Existenzfähigkeit zu bringen drohte. Bei der Entwicklung einer Lösung für dieses Problem blieb der Erfinder der ihm eigenen Logik und Maxime treu – eine bessere Welt durch bessere Maschinen. Und die Maschinen, mit denen man Krieg machte, waren Waffen.
Konföderierte und Unionisten beschossen sich auf den Schlachtfeldern in Kentucky und Tennessee, in North Carolina, Missouri und Arkansas mit einer bunten Mischung meist antiquierter, störanfälliger und unpräziser Waffen, Vorder- und Einzelladern, Gewehren und Kurzwaffen aller Größen und Kaliber, Herkünfte und Qualitäten. Nicht selten waren sie vom Gegner erbeutet oder aus der Heimat mitgebracht. In einem Gefecht waren oft Schusswaffen aus zwei Jahrzehnten amerikanischer und europäischer Büchsenmacherkunst im Einsatz.
All diese Waffen hatten eine Gemeinsamkeit – in aller Regel erforderte die Nachladung Minuten. Akustisch muss eine nordamerikanische Bürgerkriegsschlacht im Vergleich mit dem gnadenlosen Stakkato des Sperrfeuers in den Stellungskriegen des Ersten und Zweiten Weltkriegs eine seltsam entschleunigte Geräuschkulisse geboten haben. Und so waren es nicht Schussverletzungen, die die meisten Opfer des Sezessionskriegs forderten, sondern Unterernährung und Krankheit, Folgen auch des wirtschaftlichen Niedergangs durch den landesweiten Mangel an Arbeitskräften. Aus ökonomischer Perspektive betrachtet, wurde auf dem nordamerikanischen Kontinent ein extrem ineffizienter, vorindustrieller Krieg geführt.
Was lag also näher, als den Krieg und seine schrecklichen Folgen mit leistungsfähigeren Schusswaffen schneller zu Ende zu bringen? Denn wenn ein einzelner Mann – so Gatlings Gedankengang – mit der Feuerkraft einer Hundertschaft von Vorderladerschützen ausgestattet war, wo war dann noch die Notwendigkeit, alle arbeitsfähigen jungen Männer von ihren Feldern und Familien weg und in den sicheren Tod zu schicken? Ein Krieg mit leistungsfähigeren Schusswaffen würde schneller und mit weniger Verlusten entschieden. ›Leben retten durch leistungsfähigere Tötungsmaschinen‹ – so lautete also Gatlings Devise, und über 80 Jahre später würde mit Robert Oppenheimer ein Bruder im Geiste die Entwicklung einer nicht minder furchterregenden Waffe vorantreiben.
Gatling war nicht der Erste, der an automatisierten Ladesystemen für Schusswaffen tüftelte. Selbst das System rotierender Laufbündel – sie verhinderten die schnelle Überhitzung eines einzelnen Laufs bei Dauerfeuer – war nicht ganz neu. Was Gatlings Waffe zum Meilenstein der Waffenentwicklung und Jahrzehnte später zur Ikone der Waffengeschichte machte, waren ihre kompakte Bauweise, ihre einfache Bedienung, ihre Präzision und ihre Verlässlichkeit im Fronteinsatz. Schon seine ersten Prototypen erfüllten diese Bedingungen, Gatling hatte also allen Grund, optimistisch und guter Dinge zu sein, was die Vermarktung seines neuen Produktes anging.
So trafen ihn, den erfolgsverwöhnten Unternehmer, die Widerstände gegen seine Wunderwaffe völlig unvorbereitet. Entgegen allen Erwartungen reagierten die politischen und militärischen Entscheidungsebenen der Nordstaaten reserviert auf seine Vorführungen. Er stand vor einer paradoxen Situation, mit einem konkurrenzlosen Produkt im Angebot, einem riesigen potenziellen Markt, aber fehlender Nachfrage. Die Zeit schien nicht reif zu sein für seine Erfindung, ganz so, als hätte ein Lebewesen durch Zufall mehrere Evolutionsstufen übersprungen, für die seine Spezies normalerweise einige 100.000 Jahre brauchte.
Gatlings PR-Genie scheiterte an einer schier unüberwindbaren Hürde – dem soldatischen Ethos. Das Niedermähen der gegnerischen Reihen mit einem Gerät, das einer Kaffeemühle mehr ähnelte als einer Schusswaffe und die Kriegsführung also von einem ehrenhaften Duell zu einem maschinellen Verarbeitungsprozess herabwürdigte, schien weder Militärs noch Politikern akzeptabel.
Vielleicht hatte Gatling dem Produktdesign zu wenig Aufmerksamkeit gewidmet. Eine Aufnahme aus dem Jahr 1893 zeigt den Erfinder in Frack, Bowler und glänzenden Schuhen an der Kurbel einer Bullog-Version seiner Wunderwaffe, einem polierten Messingzylinder mit zehn Zentimetern Durchmesser und 40 Zentimetern Länge, montiert auf einem filigranen Dreifuß, obenauf die blecherne Magazintrommel wie die Kassette einer Filmkamera. Jeder Betrachter musste bei diesem Anblick zuerst an einen Metzger am Fleischwolf oder einen Drehorgelspieler auf dem Jahrmarkt denken, nicht aber an einen heroischen Kämpfer auf dem Feld der Ehre.
Die Gatling Gun war also ein Spätzünder, was ihre Marktdurchdringung anging; gleichwohl stellte sie eine Zäsur in der Geschichte kriegerischer Auseinandersetzungen dar – vom ehrbaren Kampf Mann gegen Mann zur industriell organsierten Massentötung. Es bedurfte einfach einer Anpassungsphase, bis die Akteure bewaffneter Konflikte sich so weit von ihrem soldatischen Ehrenkodex gelöst hatten, dass sie Gatlings Erfindung ohne Skrupel einsetzen konnten.
Die Gatling Gun entwickelte sich zu dem, was man im Computerzeitalter eine Killer-Applikation nannte, und in der Mischung aus Faszination, Ehrfurcht und Angst, die ihr Anblick in späteren, größeren Versionen bei den Menschen erzeugte, glich sie einer Atombombe des ausgehenden neunzehnten Jahrhunderts. Sie war erst nach dem Ende des Bürgerkrieges zur Ikone geworden, zur stählernen Metapher für Donner und Blut und Tod.
Und wenn es lange nach dem Ende des Bürgerkrieges noch eines Testimonials bedurft hätte, eines prominenten Fürsprechers, um den stählernen Feuerspucker in der ganzen Welt bekannt zu machen, hatte Richard Jordan Gatling ihn gefunden – mit William F. Cody alias Buffalo Bill.
2
Rünz’ Hände schwebten einige Sekunden regungslos über der Tastatur, dann ließ er sie hinuntersausen wie ein Pianist beim Fortissimo und legte los:
 
 
AMOK
von Raoul Rockwell
 
Prolog
 
Der Killer senkte den chromglänzenden Stahl des Skalpells mit kalter Präzision in die alabasterfarbene, zarte Bauchhaut der Jungfrau – knapp über der Grenze des zarten blonden Flaums, der ihren Venushügel bedeckte. Sein Opfer wimmerte und zerrte in Todesangst an den Lederfesseln, die sich tief in die grazilen Hand- und Fußgelenke eingruben. Doch er hatte keinen Trost zu spenden. Sein höhnisches Lachen füllte das Verlies tief unter dem Hochzeitsturm, brach sich an den Wänden, vereinte sich mit dem vielfachen Echo zu einem Chor des Schreckens. Er öffnete seine Hose …
 
Rünz grunzte zufrieden. Fantastisch. Sex, Crime, Blut, Schmerz und Unschuld – alles drin, auf den ersten zehn Zeilen. Ein fulminanter Einstieg. Er ließ sich in die Lehne zurückfallen, köpfte ein Pfungstädter Märzen und trank die halbe Flasche in einem Zug. Das hatte er sich verdient. Und der Cliffhanger mit der offenen Hose am Ende der Szene! Wer konnte da schon mittendrin aufhören? Ein echter Pageturner. Es lohnte immer, an die niedrigsten Instinkte zu appellieren.
›Raoul Rockwell‹ – der Kommissar freute sich immer noch wie ein Kind über sein Autoren-Pseudonym, er hatte es bereits so verinnerlicht, dass er sich manchmal im Präsidium am Telefon mit ›Rockwell‹ meldete. Tatkräftig rieb er sich die Hände und beugte sich wieder über die Tastatur. Nach der Einführung des Bösewichts brauchte er einen harten Schnitt auf seinen Helden.
 
Vince Stark, Special Agent der Counter Terrorism Unit Südhessen, wagte nicht, die Augen zu öffnen. Kotzübel war ihm bei der Vorstellung, Licht könnte seine Sehnerven treffen. Na ja, eigentlich war ihm auch so schon kotzübel. Er fühlte sich wie ein alter, angefahrener Fuchs, der bei Starkregen auf der A5 seine Eingeweide hinter sich herschleppte. Die Sonne warf durch das Fenster auf der Westseite einen Fächer Licht ins Zimmer, er spürte sie auf der Haut. Später Nachmittag – er hatte den ganzen Tag verschlafen. Was schnarchte da neben ihm? Er drehte den Kopf, so weit der kleine Typ mit dem Presslufthammer hinter seiner Stirn es zuließ, und blinzelte durch die Lider. Das Wesen auf der anderen Seite der Matratze schien nur aus wasserstoffblonder, zerzauster Dauerwelle, verschmiertem Lippenstift, verlaufener Wimperntusche, Titten, Beinen und Alkoholdunst zu bestehen. Und diese eingetrocknete Kruste an ihrer Unterlippe, war das vielleicht …? Vince versuchte, sich zu erinnern. Er hatte die Schlampe im Capones in der Frankfurter Straße kennengelernt. Sie hatten einige Mojitos zusammen versenkt, und weil sie so nett war, über seine angestaubten Gags zu lachen, als würde er die Daily Show moderieren, hatte er noch ein paar Sidecars und Wallbangers auffahren lassen. Die Quittung für den Exzess, die er gerade erhielt, war fürchterlich. Wenn er den Rest des Tages irgendwie überstehen wollte, brauchte er unbedingt einen Drink. Und zwar sofort.
 
Yeah, Baby. So richtig ›hard boiled‹ klang das. Mit Vince Stark als literarischem Alter Ego konnte Rünz hemmungslos aufdrehen. Das war der Stoff, aus dem Bestseller gemacht wurden. Eichinger würde ihn mit Geld zuwerfen, um die Filmrechte abzugreifen. Den Special Agent konnte man vielleicht ein wenig gegen den Strich besetzen – zum Beispiel mit Hansi Hinterseer. Und wenn man schon mal die Zuschauererwartungen geschickt unterlief, warum nicht gleich Erol Sander als paranoider Schlitzer?
Dass der Thriller im eher unspektakulären südhessischen Darmstadt spielte, war natürlich ein minimaler Schönheitsfehler. Aber was war schon perfekt auf dieser Welt? Außerdem konnte man den einen oder anderen Schauplatz etwas aufsexen, er konnte sich jederzeit auf die Freiheit der Künste berufen. Also gleich noch mal ran an die Tasten, ein kleiner Zeitsprung nach dem Katerfrühstück würde die Spannung auf dem Siedepunkt halten.
 
Der eisige und feuchte Herbstwind pfiff durch die Häuserschluchten, packte ihn im Nacken wie die kalte Faust eines riesigen Zuhälters. Vince Stark schnippte seinen Zigarettenstummel auf den nassen Asphalt, die Glut verlosch zischend. Er schlug sich den Mantelkragen hoch. Fast allein war er auf dieser gottverlassenen Rheinstraße, zu dieser gottverdammten Uhrzeit. Die Neonlichter der Bordelle und Spielcasinos spiegelten sich in den Pfützen, und die wenigen Nutten, die sich in den Hauseingängen in ihren Netzstrümpfen die Ärsche abfroren, waren dritte Wahl. Zwei schwarze Crackdealer cruisten den Boulevard auf und ab, in einem aufgepimpten 67er Mercury Cougar.
 
Rünz zögerte. Er hatte die Rheinstraße literarisch irgendwo zwischen Las Vegas Strip, 18th Street in Los Angeles und Reeperbahn angesiedelt; der eine oder andere Darmstädter würde den Unterschied zur Realität sicherlich bemerken. Aber auf solche provinziellen und kleinkarierten Spießer konnte er keine Rücksicht nehmen. Er war mit seinem Thriller-Einstieg mehr als zufrieden.
Gerade als er Vince Stark zu Recherchezwecken in ein fiktives Bordell gleich neben dem Alnatura-Biomarkt schicken wollte, klingelte es an der Wohnungstür. Verdammt, wer konnte das sein? Er schaute auf die Uhr – 17:30. Seine Frau? Unmöglich, sie kam frühestens in anderthalb Stunden von ihrem Pilateskurs zurück. Vielleicht sein Schwager Klaus mit einer neuen Geschäftsidee, die unter keinen Umständen bis zum nächsten Morgen warten konnte. Oder aber … – Rünz stand auf, schlich leise auf den Socken zur Tür und spähte durch den Spion. Tatsächlich. Der kleine Oskar vom ersten Stock. Also das, was sein Chef Sven Hoven ein ›worst case scenario‹ nennen würde. Wann schritt endlich das Jugendamt ein und steckte den Rotzlöffel in ein geschlossenes Heim? Oskar klingelte noch einmal.
»Ist keiner zu Hause«, rief Rünz, und schlug sich sofort zur Selbstbestrafung für diese dämlichste aller möglichen Reaktionen mehrmals mit der Faust gegen die Stirn. Jetzt gab es kein Zurück mehr, um einen Rest an Glaubwürdigkeit zu bewahren, musste er die Tür öffnen und mit der Keimschleuder direkt kommunizieren.
»Lass mich raten!«, sagte Rünz durch den Türspalt, bevor der Kleine zu Wort kommen konnte. »Deine Mutter hat mit meiner Frau vereinbart, dass meine Frau zwei Stunden auf dich aufpasst, damit deine Mutter entspannt eine Runde um die Ludwigshöhe drehen kann, mit ihren bescheuerten Nordic Walking-Stöcken.«
Oskar umklammerte eine riesige ausgestopfte Stoffschildkröte und starrte Rünz schweigend an. Seine Füße steckten in viel zu großen Filzpantoffeln, er sah aus, als stünde er in Schlauchbooten.
»Geh wieder runter zu Mutti und sag ihr, dass die Frau Rünz heute Abend nicht da ist und deswegen nicht auf dich aufpassen kann. Tschüss, Oskar! Tschüss, Schildkrötilein!« Rünz zwang sich ein Lächeln ab und winkte der Kröte zu, dann schloss er die Tür, lehnte sich mit dem Rücken ans Türblatt und atmete erleichtert auf.
»Mama ist schon weggefahren«, hörte er Oskar nach wenigen Sekunden im Treppenhaus rufen.
›DANN KLINGEL DOCH BEI DER HEXE GEGENÜBER‹, hätte Rünz gerne geschrien. Er spähte wieder durch den Spion, die Hexe von gegenüber hatte ihre Tür einen Spalt geöffnet, um die Szene optimal beobachten zu können. Na prima, die würde sicher gleich die RTL Explosiv-Redaktion anrufen – ›Südhessischer Polizeihauptkommissar lässt Achtjährigen in Treppenhaus erfrieren‹ – so was ließen die von den Privaten sich nicht entgehen. Es half also nichts – Tür auf, freundlich die Nachbarin grüßen, Keimschleuder rein, Tür zu. Oskar stand verloren im Flur herum. Rünz überlegte fieberhaft, wo er den Knaben kontaminationsfrei zwischenlagern konnte, bis seine Frau kam und sich um ihn kümmerte. Diese Tröpfchen- und Schmierinfektionen waren ja nicht zu unterschätzen. Schlagartig hatte er eine Idee. Er ging in die Küche, schnitt einige frische Mülltüten auf und breitete sie im Wohnzimmer auf der rechten Hälfte der Couch aus. Er bat Oskar, auf den Folien Platz zu nehmen, und setzte sich selbst mit maximalem Sicherheitsabstand in die linke Ecke des Sofas. Eigentlich hätte er gerne an seinem Manuskript weitergearbeitet, aber so hatte er Oskar besser unter Kontrolle. Eine Weile saßen beide schweigend da und starrten in den Raum, dann nahm Rünz eines seiner Waffenmagazine vom Couchtisch und war nach wenigen Minuten völlig versunken in einen Testbericht über das neue Zeiss Victory Diarange Zielfernrohr mit Rapid-Z-Weitschussabsehen. Das einzige Geräusch, das die Stille ab und an störte, war das Knistern der Plastikfolie, wenn sich der Kleine bewegte.
»Darf ich Fernsehen gucken?«, fragte Oskar schließlich.
»Von mir aus …«, grunzte Rünz. »Kika oder DVD?«
»Kika ist Kinderkram«, sagte Oskar. »Lieber Spielfilm.«
Rünz legte die aktuelle ›Caliber‹ zur Seite, stand auf, schlurfte zum DVD-Regal und ging die Titel durch. Da er ausschließlich Filme konsumierte, in denen zwischenmenschliche Konflikte mit Gewalt gelöst wurden, war seine Auswahl an jugendfreien und pädagogisch wertvollen Streifen übersichtlich. Vielleicht konnte er dem Kleinen einen seiner Trash-Horrorstreifen von Roger Corman und Jack Arnold aus den Fünfzigern und Sechzigern vorführen, ›Angriff der Riesenspinne‹ oder ›Der Schrecken vom Amazonas‹. Da konnte er zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen: Einerseits würde so ein Film Oskar ausreichend Angst einjagen, um von weiteren Besuchen bei ihm und seiner Frau abzusehen, andererseits waren sie einfach zu lächerlich, um Vorwürfen von Oskars Mutter eine Grundlage zu bieten. Allerdings brauchte seine Frau keine stichhaltigen Gründe, um ihm wochenlang wegen seelischer Kindesmisshandlung Vorhaltungen zu machen. Also verwarf er die Idee mit der Abschreckung und ging weiter die Titel auf der Suche nach kinderfreundlichem Material durch – vielleicht fand sich doch noch etwas harmloseres – und blieb bei einem Mitschnitt hängen, den er einige Wochen zuvor von einer Robert Altman-Retrospektive auf ARTE gemacht hatte. Normalerweise scheute er dieses ganze ARTE-Cineasten-Arthouse-Gewese wie der Teufel das Weihwasser, aber ein Filmtitel wie ›Buffalo Bill und die Indianer‹ gab doch zu den schönsten Hoffnungen Anlass. Und Cowboys und Indianer – existierte für einen Achtjährigen eine reizvollere Einführung in die Ästhetik des bewaffneten Konfliktmanagements? Kurz überlegte der Kommissar, ob er Oskar vor dem Fernseher alleine lassen und sich wieder seinem Vince-Stark-Plot widmen sollte, entschied dann aber, ihm Gesellschaft zu leisten, weil er den Film selbst noch nicht angeschaut hatte.
Die Aufzeichnung begann einige Minuten vor dem Vorspann, der französische Moderator, der durch den Themenabend führte, erzählte mit deutscher Synchronstimme etwas über Altman, alles klang furchtbar nach Kultur, Anspruch und Bedeutung. Rünz drückte den schnellen Vorlauf.
Die ersten Filmminuten verwirrten den Kommissar, und der kleine Oskar war so aufgeregt, dass er nervös auf dem Ärmel seines Schlafanzuges herumbiss. Eine Gruppe von Rothäuten griff ein Dorf weißer Siedler mitten in der Prärie an, einige Hütten brannten, einige Schüsse fielen, Frauen schrien, Kinder liefen kreischend durcheinander – aber alles wirkte so lächerlich unrealistisch und billig inszeniert wie Jack Arnolds schreckliche Amazonas-Monster. Und plötzlich, auf das lautstarke Kommando eines Mannes außerhalb des Bildausschnittes hin, erloschen die Feuer auf den Dächern der Hütten. Indianer und Siedler stellten die Kämpfe ein und Freund und Feind versammelten sich friedlich um einen Herrenreiter auf einem stattlichen Schimmel, im edlen Wildleder-Ornat, mit breitkrempigem Hut, perfekt onduliertem, grauem Haupthaar und präzise getrimmtem Victor-Emanuel-Bart. Sie nahmen seine Regieanweisungen entgegen.
»Hey, das ist doch Paul Newman«, rief Rünz.
Oskar schaute ihn verständnislos an.
»Na, der Typ auf dem Schimmel, der den Buffalo Bill spielt«, ergänzte Rünz. »›Der Unbeugsame‹, ›Man nannte ihn Hombre‹, ›Flammendes Inferno‹, klingelt es jetzt bei dir?«
Bei Oskar schien immer noch kein Groschen zu fallen. Rünz musste sich eingestehen, dass er den Altersunterschied zwischen ihm und dem Kleinen vielleicht doch unterschätzt hatte. Jede Generation hatte wohl ihre eigenen Helden, Oskars hießen wahrscheinlich Sponge Bob, GI Joe, Bart Simpson und Kim Possible.
Der Film, so stellte sich allmählich heraus, drehte sich um eine Wild-West-Show, mit der William F. Cody alias Buffalo Bill nach seiner aktiven Zeit als Büffel- und Indianerjäger in Nordamerika auf Tournee gegangen war, um seine Pensionskasse aufzubessern. Altman bot eine Montage aus Nummern der Show und dem Geschehen hinter der Bühne – das Einstudieren neuer Showelemente, Querelen, Intrigen und Eifersüchteleien im Ensemble, Besetzungsprobleme, der Ärger über schlechte Pressekritiken und über die Probleme beim Engagement der Indianer.
Dieser Cody nötigte Rünz Respekt ab – hatte der doch tatsächlich zu Lebzeiten seine eigene Legende vermarktet! Ein Mann ganz nach Hovens Geschmack, vielleicht würde Rünz seinem Vorgesetzten die DVD mal ausleihen.
Der Knabe amüsierte sich ein Loch in den Bauch über die Showtruppe, er nahm zum Lachen sogar ab und zu den Ärmel aus dem Mund. Klopfte jemand aus Bills Showtruppe einen lustigen Spruch, prustete und wieherte Oskar so heftig, dass sein kleiner Körper aufbebte.
Codys Wild-West-Show folgte – sofern man Altmans filmische Bearbeitung für glaubwürdig halten mochte – einer geschickt komponierten Dramaturgie mit stetig ansteigender Spannungskurve. Zur Einführung zeigten Lassokünstler ihre Fertigkeiten, dann folgten Kunstreiter, die stehend auf den Rücken ihrer Pferde durch die Arena fegten. Eine Bisonherde, die quer über den Platz getrieben den Boden zum Beben brachte, riss die Zuschauer auf den Holztribünen im Film und Oskar in Rünz’ Wohnzimmer zum ersten Mal von den Sitzen. Und als die legendäre Scharfschützin Annie Oakley, gespielt von Geraldine Chaplin, mit ihrem Compagnon loslegte, schien Oskar die Spannung kaum auszuhalten, hielt sich die Hände vors Gesicht und blinzelte gebannt mit offenem Mund durch die Fingerchen auf die Mattscheibe. Oakley durchschoss rücklings mit Hilfe eines Spiegels Spielkarten, die ihr Partner hinter ihr hochhielt, und Oskar war wie paralysiert, hatte die Augen weit aufgerissen, sogar der Lidreflex schien vor Anspannung zu versagen, sodass ihm bald Tränen die Wangen herunterliefen.
Kinder waren doch leicht zu beeindrucken. Rünz überlegte, wann er zum letzten Mal solche Begeisterung gespürt hatte, so vorbehaltlose und selbstvergessene Hingabe, ohne jede innere Distanz, ohne den Schutz von kühler Rationalisierung und ironischer Brechung. Hatte er sie jemals gespürt? Er konnte sich nicht daran erinnern.
Rünz beobachtete den Kleinen und versuchte, sich alle Stellen auf der Couch und den Kissen einzuprägen, die Oskar mit seinen speichelnassen Fingern jenseits der Mülltüten berührte – er würde sie später mit dem Sagrotanspray bearbeiten müssen.
Zum großen Filmfinale trat die Truppe vor dem US-Präsidenten auf, mit einer Inszenierung der legendären Schlacht am Little Bighorn. Der Showdown war großes Feuerwerk, mit Unmengen von Platzpatronen, Pulverdampf, Soldaten, Indianern, Pferden und brennenden Wagen. Und inmitten des Kampfgetümmels General Custer, gespielt von Cody, im Zweikampf mit Sitting Bull, beide dekorativ ausgestellt auf einem Kunstfelsen im Zentrum der Arena.
Die Kamera fuhr an die beiden heran zum Close-up, der Kampflärm um sie herum ebbte ab, als hätten sich die verfeindeten Parteien wortlos darauf geeinigt, die Auseinandersetzung von ihren Anführern austragen zu lassen. Sitting Bull hatte die Klinge seines Messers an Custers Kehle, ein Aufschrei ging durch die Zuschauerränge auf dem Bildschirm, Oskar hielt den Atem an, die Niederlage des 7. US-Kavallerieregiments schien unabwendbar. In der Sekunde größter Not für General Custer und seine Berittenen zog die Kamera zurück in die Totale, die Tücher, die eine Querseite der Arena abschlossen, öffneten sich. Was war zu erwarten? Mehr Indianer, um – der historischen Wahrheit folgend – Custers Truppe endgültig den Garaus zu machen? Oder Geschichtsklitterung im Sinne William F. Codys, also Verstärkung für die Soldaten, um den Gerechten nachträglich zu ihrem verdienten Sieg gegen die Wilden zu verhelfen?
Der kleine Oskar, fast überfordert von der Dramatik des Films, rutschte auf der Couch zu Rünz hinüber, ohne den Blick vom Bildschirm zu wenden, und umklammerte Rünz’ Hand. Der Kommissar war geschockt. Seit drei Jahren wohnte Oskar hier im Haus, und Rünz hatte aus Angst vor Ansteckung bis dato jeden Körperkontakt erfolgreich vermieden – und jetzt das! Aber er wagte nicht, seine Hand wegzuziehen, um Oskars Begeisterung für die wilde Schießerei auf dem Bildschirm nicht zu gefährden. Was Rünz hier betrieb, war schließlich aktive und engagierte Nachwuchsförderung für den Polizeischützenverein Südhessen.