Pierre Emme
Zwanzig/11
Kriminalroman
Personen und Handlung sind frei erfunden.
Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen
sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
Besuchen Sie uns im Internet:
www.gmeiner-verlag.de
© 2015 – Gmeiner-Verlag GmbH
Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch
Telefon 0 75 75 / 20 95 - 0
info@gmeiner-verlag.de
Alle Rechte vorbehalten
Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt
Herstellung: Julia Franze
E-Book: Mirjam Hecht
Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart
unter Verwendung eines Fotos von: © Claireliot - Fotolia.com
ISBN 978-3-8392-3736-6
Pierre Emme verstarb am 8. Juli 2008. Obwohl er eine erstaunliche Weitsicht besaß, was politische und historische Entwicklungen betraf, sei es auf europäischer oder auf globaler Ebene, konnte er beispielsweise den Sieg Barack Obamas bei den internen Ausscheidungswahlkämpfen der Demokraten gegen Hillary Clinton und folglich seinen späteren Einzug ins Weiße Haus, als er den republikanischen Herausforderer John McCain klar hinter sich ließ, kaum vorhersehen.
Der Aktualität der geschilderten Ereignisse sowie dem Lesevergnügen tut dies jedoch keinen Abbruch. Ich bitte daher, Unstimmigkeiten gegenüber den aktuellen, realen Bezügen vor diesem Kontext zu betrachten.
Aus Respekt gegenüber dem Autor und seinem Werk wurde von tiefgreifenden Änderungen im Manuskript abgesehen.
Claudia Senghaas
Lektoratsleitung
Gmeiner-Verlag
Max Petrark war freier Autor mit Wohnsitz in Wien. Er hasste es, Anzug mit Krawatte zu tragen, sein ansehnliches Übergewicht auf einem dieser zierlichen, fragil wirkenden Barocksessel zu balancieren und warten zu müssen.
Heute musste er alle drei Inkommoditäten auf einmal über sich ergehen lassen und war in entsprechender Laune. Im Moment konnte er sich eigentlich nur eine einzige Situation vorstellen, die noch unangenehmer gewesen wäre: Wenn er bei all dem hätte stehen müssen.
Nein, das stimmte nicht ganz. Viel schlimmer wäre es, wenn sich das alles stehend im Freien abgespielt und es dazu noch geregnet hätte.
Eine offensichtlich seit Jahrhunderten gelangweilte Putte lächelte ihn milde von der reich verzierten Decke des riesigen Raumes an. Es sah fast so aus, als ob sich das Gfrast da oben über ihn lustig machte. Missmutig senkte Max wieder den Blick.
Dabei hatte das Jahr 2012 für ihn ganz gut begonnen. Die Ereignisse im Spätherbst davor hatten ihm einen gewissen Bekanntheitsgrad gebracht, der sich derzeit … toi, toi, toi … recht gut auf den Verkauf seiner Bücher auswirkte. Wenn das so weiter ging, konnte er die eine Hypothek auf das Haus doch noch heuer bezahlen.
Wovon sprach der Kerl da vorn eigentlich die ganze Zeit? Der Mann hatte doch keine Ahnung, wie sich die Dinge wirklich abgespielt hatten. Am besten, er sandte ihm eine Ausgabe seines neuen Buches, sobald es erschienen sein würde.
Wenn der Gute bloß bald mit dem Gequatsche aufhörte, damit Max wieder zum Schreiben kam. Das tat er nämlich am liebsten.
Der Anruf hatte Max am Donnerstag, dem 3. November so gegen 16.30 Uhr erreicht. Kurz vor München. Ja, genau, der ICE war eben in den Ostbahnhof eingefahren, als sich sein Handy mit dem üblichen schwachsinnigen Tidelidü Tidelida bemerkbar gemacht hatte.
Es war Anne gewesen, die ihn mit der schlimmen Nachricht konfrontiert hatte. »Die Polizei hat hier angerufen«, hatte sie zögernd begonnen, »nachdem sie sonst niemanden erreichen hatte können. Maurice ist …, hat heute am frühen Morgen auf der Autobahn zwischen Seewalchen und Sankt Georgen einen schweren Unfall gehabt.« Sie hatte gestockt. »Er ist …«
»Ja, gut, und?«, war es Max entfahren. Und dann als erste substanzielle Frage: »Lebt er noch?«
»Ja, ja, er lebt, aber er ist sehr schwer verletzt«, Max konnte hören, wie seine Frau leise weinte. »Entschuldige, die Sache macht mir mehr zu schaffen als ich dachte.«
O Gott, ging es Max durch den Kopf, das war wieder typisch. Da wurden täglich in aller Welt Menschen geschlagen, geschändet und getötet und seine Frau brach schon bei einem simplen Verkehrsunfall in Tränen aus. Gut, das Opfer zählte zu ihrer angeheirateten Verwandschaft, aber trotzdem.
»Und wohin hat man ihn gebracht?«, er ging nicht weiter auf die Befindlichkeit Annes ein. Dazu war jetzt keine Zeit. Schließlich ging auch ihm die Sache an die Nieren, und wie. Hatte er doch nicht die geringste Ahnung, wie er sich jetzt verhalten sollte. Was wurde von einem in so einer Situation erwartet?
»Ich meine, in welchem Krankenhaus liegt Maurice?«
Sein Bruder hieß eigentlich Moritz, der Vorname war ihm aber immer zu bieder gewesen. Max und Moritz, Maurice hatte nie verstanden, was sich die Eltern eigentlich dabei gedacht hatten.
Also hatte sich Moritz Maurice genannt, das hatte etwas, und Max tat ihm seither den Gefallen, ihn so zu nennen. Meistens, wenn er den Kleinen nicht gerade ärgern wollte.
»Im Landeskrankenhaus in Vöcklabruck, auf der Intensivstation.« Max hatte Anne schon wieder schniefen gehört. »Er ist noch immer ohne Bewusstsein.«
»Was ist mit Katharina?«, das war Maurice’ zweite Frau, eine gebürtige Weißrussin, die aber bereits seit mehr als 15 Jahren in Österreich lebte und die Staatsbürgerschaft besaß.
Natürlich hatte Anne ebenso wenig Ahnung über den aktuellen Aufenthaltsort seiner Schwägerin wie er. Zwar war bekannt, dass sie sich mit ihrer Tochter Nadja seit mehr als einer Woche bei Verwandten in Minsk befand. Wie diese Leute hießen und wie man sie erreichen konnte, war allerdings ein großes Geheimnis. Und würde es möglicherweise auch bleiben, denn er konnte sich nicht an Katharinas früheren Namen erinnern. Der klang wie ›Bstralovschinsky‹ oder so ähnlich, war ihm jedoch nicht mit der für Nachforschungen nötigen phonetischen Exaktheit in Erinnerung. Und selbst wenn: Wie transkribierte man das ins Kyrillische?
»Du könntest ja Katharinas Mädchennamen über das Standesamt im 3. Bezirk in Erfahrung bringen«, hatte Max angeregt. Dort hatten die beiden vor etwa zwei Jahren geheiratet. »Außerdem wird sich ihre Handynummer wahrscheinlich in Maurice’ Sachen finden.«
Anne hatte gerade noch gemeint, sich darum kümmern zu wollen, als ein gnädiges Funkloch dem Gespräch brutal ein Ende bereitet hatte.
Max war ganz mulmig im Magen geworden. Ein Verwandter im Krankenhaus, das hatte ihm gerade noch gefehlt. Darüber hinaus einer, um den man sich kümmern musste, wollte man nicht als mieser Charakter dastehen. So ein alter Onkel oder ein entfernter Cousin – dem schickte man Blumen und die besten Genesungswünsche. Aber bei einem Bruder wurde eindeutig mehr erwartet.
Also gut, da musste er durch. Obwohl ihm der Unfall zu dem Zeitpunkt so gar nicht ins Konzept passte. Den Termin morgen Nachmittag mit Eggenbach konnte er mit Sicherheit vergessen. Und den Samstagmittag wahrscheinlich auch. Andererseits wieder, war der Produzent nicht als praktizierender Familienmensch verschrien, dem ein mitfühlender zukünftiger Drehbuchlieferant am Bett des schwerverletzten Bruders sicher gut gefallen würde?
Erschrocken über seine eigenen Gedanken rief sich Max zur Ordnung. Was war los mit ihm, dass er den Unfall des Bruders danach beurteilte, ob er ihm ins Konzept passte oder nicht? Würde ihm ein schwerverletzter Moritz weniger ausmachen, hätte er keine Termine in den nächsten Tagen?
Kurz vor 19 Uhr hatte Max dem Zug in Attnang-Puchheim adieu gesagt und sich von einem Taxi zum Krankenhaus in Vöcklabruck bringen lassen. Dann war es ihm gelungen, eine hartnäckige Oberschwester davon zu überzeugen, ein Verwandter des auf der Intensivstation liegenden Moritz Petrark zu sein. Und damit ein Recht darauf zu haben, den schwer verletzten, Gott sei dank aber nicht mehr in Lebensgefahr befindlichen Patienten zu sehen.
Also stand Max jetzt in einem, neben einem Bett mit technischen Geräten, Bildschirmen und diversen anderen furchteinflössenden Dingen vollgerammelten Raum. Schockiert betrachtete er die trotz ihrer ursprünglich immerhin 1,86 Meter Größe ganz klein und zerbrechlich wirkende Gestalt des Bruders. Der bandagierte Kopf, das leichenblasse Gesicht mit einem deutlichen Bartschatten, ein eigenartiger kleiner Schlauch in der Nase, eine Infusion, die im rechten Arm mündete – es sah schrecklich aus. Immerhin schien der Bewusstlose selbst atmen zu können, denn der Max aus verschiedenen Folgen einschlägiger Fernsehbildung bekannte Beatmungsschlauch fehlte, der Mund war frei.
Während er versuchte, den Schock des dramatischen Anblicks zu verkraften, hatte sich die Türe leise geöffnet und ein etwa 40-jähriger Mann im weißen Kittel betrat das Zimmer.
»Doktor Sommerauer«, stellte sich der Arzt vor. »Wir mussten Ihren Bruder operieren. Der Druck auf das Gehirn wäre sonst zu groß geworden. Jetzt besteht aber keine Gefahr mehr.«
Im Übrigen hatte sich Maurice noch das linke Wadenbein, den linken Arm sowie einige Rippen gebrochen. Dazu jede Menge eher harmloser Schürf-, Riss- und Quetschwunden.
»Sieht schlimmer aus als es ist«, beruhigte der Arzt. »Nichts, was nicht wieder zusammenwachsen würde. Ihr Bruder hatte Glück im Unglück, dass er nicht angeschnallt war. Wäre er nicht vor der eigentlichen Kollision aus dem Wagen geschleudert worden, er hätte bei dem Aufprallwinkel trotz des Airbags wohl keine Chance gehabt.«
»Und wann wird er wieder zu Bewusstsein kommen?«, Max blickte den Arzt direkt an.
»Nun ja«, Sommerauer war die Frage offenbar etwas unangenehm. »Das lässt sich nicht so genau sagen. In den nächsten Stunden, in ein paar Tagen.« Er zuckte unmerklich mit den Achseln.
»Was Sie eigentlich meinen ist, dass Sie es selbst nicht wissen«, brachte Max es auf den Punkt. »Man könnte auch sagen, Sie haben keine Ahnung.« Das hatte unfreundlicher geklungen als er beabsichtigt hatte.
»Tja«, konzidierte der Arzt, »etwas hart formuliert, aber Sie haben recht. Bei einem so schweren Schädel-Hirn-Trauma wird jede Prognose letztlich zur Glaubenssache.«
»Kann ich über Nacht hier bleiben?«, Max hatte plötzlich das ungemein starke Bedürfnis, seinen Bruder jetzt nicht allein zu lassen. Wenn er schon aus seinem bequemen Tagesablauf gerissen wurde und die ganz normalen Annehmlichkeiten missen musste, dann wollte er das richtig auskosten. Mitleiden, eine unvergessliche Erfahrung gewinnen.
»Wir werden sicher irgendwo ein freies Bett für Sie finden«, stimmte Sommerauer zu. »Ich werde gleich eine Schwester bitten, sich darum zu kümmern.«
»Ich will nicht nur im Krankenhaus bleiben, ich will hier bleiben, in diesem Raum, bei meinem Bruder«, insistierte der zu allem entschlossene Max. Mit »Vielleicht wacht er ja auf, dann möchte ich bei ihm sein« hatte er sogar eine plausible Erklärung für sein leicht an Masochismus grenzendes Verlangen.
»Ja, aber …«, Sommerauer blickte sich um, »… hier ist kein Platz für ein weiteres Bett. Sie sehen ja selbst«, er deutete in die beengte Runde.
»Ich brauche auch kein Bett, mir genügt ein Liegestuhl oder ein etwas bequemerer Sessel«, stellte Max fest. »Und eine Decke vielleicht.« Obwohl das fast schon zu viel Komfort war.
Im Blick des Oberarztes lag so etwas wie leise Bewunderung. »Na gut«, meinte er dann. »Ich habe einen Schaukelstuhl im Büro. Wenn Ihnen der recht ist? Und morgen werden wir weiter sehen. Vielleicht können wir Ihren Bruder in den nächsten 24 Stunden ohnehin schon auf Normalstation verlegen. O. K.?«
*
»Lass mich endlich mit deinem Jammern in Ruhe«, herrschte Janina Petrark ihren ältesten Sohn Georg an. »Was kann ich dafür, dass dein Vater …«, sie sprach dieses Wort so aus, als ob es sich dabei um eine unappetitliche, ja obszöne Sache handelte, mit der sie absolut nichts zu tun haben wollte, »… sich jetzt nicht einmal mehr an eure Geburtstage erinnert. Er war schon immer und ist nach wie vor ein Schwein, das nur seine eigenen Angelegenheiten im Kopf hat. Und seit er mit diesem Weib beisammen ist …«, die Art, wie Janina dieses Wort aussprach, ließ noch schlimmere Assoziationen befürchten als ›Vater‹ vorhin, »… ist ihm auch der letzte Rest Hirn in die Hose gerutscht.« Dabei blickte sie selbstzufrieden durch die starken Brillengläser, die ihre Augen ungewöhnlich groß erscheinen ließen.
Ihr konnte Moritz nichts vormachen. Das hatte er nie gekonnt und würde er nie können, dieser Bastard. Aber ihre armen Lieblinge, ihre Buben, die glaubten hin und wieder immer noch, dass ihr Vater nicht der miese Kerl war, der er nun einmal war. Der sich nicht um seine Familie kümmerte, ja nicht einmal die vom Gericht zugesprochenen Alimente für sie und ihre Kinder überwies. Zumindest nicht regelmäßig.
Gut, er hatte ihr und den Kindern zwar das von den Eltern geerbte Haus überlassen. Aber das war ja selbstverständlich gewesen. Das Schlimmste war jedoch: Irgendwie hatte es der Scheißkerl verstanden, allen vorzumachen, dass er kein Geld hatte und sie damit quasi gezwungen, wieder arbeiten zu gehen. Dabei wusste sie ganz genau, dass Moritz irgendwo Geld hatte, auf einem Nummernkonto in der Schweiz oder irgendwo in der Karibik. Oder eine Menge wertvoller Münzen unter der Matratze. Es machte sie verrückt, dass der Kerl nichts rausrückte.
»Ja, aber meinen Geburtstag hat der Papa noch nie vergessen«, so schnell gab sich Georg nicht geschlagen. »Wir haben noch vor vier Tagen miteinander gesprochen.« Bei der Gelegenheit hatte Maurice darauf hingewiesen, sich diese Woche ohnehin noch einmal melden zu wollen.
»Na, vielleicht liegt er wieder mit seiner Hure im Bett und hat nichts anderes im Kopf«, meinte Janina bissig.
»Vielleicht ist ihm aber auch nur etwas dazwischengekommen«, so leicht wie früher war Janinas Ältester nicht mehr zu beeinflussen. »Immerhin ist er diese Woche mit zwei Chinesen und einem österreichischen Geschäftsmann unterwegs. Da kann es doch passieren, dass er einmal keine Zeit hat. Nicht dazu kommt, Privates zu erledigen.«
»Für ein Telefonat ist immer Zeit«, stellte Janina apodiktisch klar und leitete damit das Gesprächsende ein. »Ende der Diskussion, dein Vater ist und bleibt ein verantwortungsloser Mistkerl.«
»Und ich sage, vielleicht ist ihm ja auch etwas passiert. Ausschließen kann man das nicht«, flüsterte Georg vor sich hin. Eines Tages würde er sich die Behandlung seiner Mutter nicht mehr gefallen lassen, dachte er frustriert. Dann würde er ihr ordentlich die Meinung sagen. Aber soweit war der 26-Jährige noch nicht.
*
Max hatte die diensthabende Schwester nach den persönlichen Dingen seines Bruders gefragt. Außer den total verschmutzten und zerrissenenen Kleidungsstücken, die in einem großen Plastiksack aufbewahrt wurden, war nichts vorhanden. »Wahrscheinlich liegen die Papiere Ihres Bruders, sein Handy und seine sonstigen Wertgegenstände«, genau das war es, was ihn besonders interessierte, »noch bei der Polizei.«
»Welche Dienststelle hat den Unfall denn überhaupt aufgenommen?«, wollte Max wissen, doch Schwester Gerlinde zuckte nur mit den Achseln. »Am besten, Sie fragen morgen früh in der Verwaltung, die werden das vielleicht wissen.« Sie überlegte kurz. »Wahrscheinlich die Autobahnpolizei, was weiß ich.«
Auch gut, dachte Max. Dann musste die Verständigung Katharinas, besser, der Versuch, seine Schwägerin irgendwo in Minsk ausfindig zu machen und über den Zustand von Moritz zu informieren, eben noch bis morgen warten. Inzwischen war es ohnehin schon, er blickte auf seine Armbanduhr, fast 23 Uhr geworden und er konnte seine Müdigkeit nicht mehr verleugnen. Nun ja, den ganzen Tag unterwegs – und der Jüngste war er ja schließlich auch nicht mehr.
»Kann ich noch etwas für Sie tun?«, wollte die freundliche Schwester wissen. »Falls Sie später Wünsche haben, ich komme ohnehin immer wieder in das Zimmer nachsehen.«
»Danke, Schwester«, Max machte eine verneinende Geste, »ich werde versuchen, ein wenig zu schlafen. Oder mit Maurice plaudern, das soll ja angeblich helfen, dass er schneller aufwacht.« Er lachte unbeholfen.
Gerlinde nickte eifrig mit dem Kopf. »Unser Doktor Sommerauer glaubt zwar nicht recht daran, dass die vertraute Stimme lieber Menschen auch wirklich zu Komapatienten durchdringt«, erklärte sie. »Ich bin aber überzeugt davon, dass Ihr Bruder Sie hören kann. Also sprechen Sie mit ihm, soviel wie möglich. Je mehr Sie ihm erzählen, desto rascher wird er wieder bei uns sein.«
Dann verließ sie den Raum und überließ Max sich selbst und seinem Bruder.
*
Das hübsche Haus in Oberstanzing, Gartenhauszeile 12, sah nicht nur ziemlich neu aus, sondern war es auch. Anne, Max und die 19-jährige Alma, die jüngste der drei Petrarktöchter waren erst letztes Frühjahr in dieses Wunschdomizil etwa 20 Kilometer nordnordwestlich von Wien übersiedelt. Die große Eigentumswohnung in der Peter-Jordan-Straße hatten sie verkauft und sich dafür ein 48-Quadratmeter-Appartement in der Sommergasse zugelegt. Falls es einmal später werden oder die Großstadt sonstwie locken sollte.
Die 25-jährige Alexandra und die 22-jährige Antonia Petrark verfügten schon länger über ein eigenes Zuhause, eine kleine Gemeindewohnung in Döbling.
Das eigentliche Grundstück war ziemlich klein und erlaubte neben dem Gebäude gerade noch eine einigermaßen großzügig bemessene Terrasse. Da das anschließende Grünland, das bis zu einer den Horizont begrenzenden Baumreihe reichte, aber nur landwirtschaftlich genutzt werden durfte, entstand der faszinierende Eindruck endloser Weite und grenzenloser Freiheit, zumindest auf der Rückseite des Hauses. Und da dieses Grünland ebenfalls Anne gehörte, juristisch gesehen war sie daher auch ›Bäuerin‹, würde sich daran nie etwas ändern. Egal zu welcher Tages- oder Jahreszeit, sie würde diesen Ausblick jedesmal wieder aufs Neue genießen können, ohne Gefahr zu laufen, dass man ihr etwas vor die Nase baute.
So auch jetzt, wo sie mit einem Glas Zweigelt in der Hand in die Dunkelheit der Nacht hinausblickte und versuchte, zur Ruhe zu kommen. Aber das war gar nicht so einfach. Zu viel ging ihr durch den Kopf.
Vorgestern, am Abend vor Max’ Abreise zu seinem Verleger in Süddeutschland, hatte sie mit ihrem Mann wieder eine dieser unsinnigen Diskussionen geführt, die in den letzten Jahren häufiger geworden waren. Dabei ging es eigentlich immer nur um völlig unwichtige Themen, an denen sie sich mit zunehmender Intensität rieben. Bis schließlich einer der beiden zornig vom Schauplatz der sinnlosen Auseinandersetzung floh und den anderen mit dem Gefühl zurückließ, sich wieder einmal besonders kindisch durchgesetzt zu haben. Es war schlimm, das zugeben zu müssen, aber manchmal stellte bereits Max’ schlichte Präsenz eine derartige Provokation dar, auf die sie nicht anders reagieren konnte.
Jetzt hätte sie allerdings weiß Gott was dafür gegeben, wenn ihr Mann dagewesen wäre. Die Andeutungen des Arztes am Telefon, der sie über die Ergebnisse ihrer letzten Untersuchung informiert hatte und dabei in einem Punkt sehr vage geblieben war, hatten ihr richtig Angst gemacht. Näheres sollte sie erst morgen in der Ordination erfahren. Wie gern hätte sie jetzt mit Max gesprochen, in solchen Situationen war er nach wie vor erstaunlich einfühlsam und trotz allem eine Stütze. Und ihre Töchter wollte sie mit ihren trüben Gedanken nicht belasten, die hatten ihre eigenen Sorgen.
Aber was konnte sie groß dagegen sagen, dass Max die Heimfahrt unterbrochen hatte, um seinen offenbar lebensbedrohlich verletzten Bruder aufzusuchen? Nichts.
Inzwischen war es saukalt geworden. Das Schönwetter dieser Tage konnte nicht darüber hinwegtäuschen, dass es bereits November war. Anne stand auf, schloss die Terrassentüre und setzte sich wieder in den komfortablen Fernsehstuhl. Sie wollte jetzt die Spätnachrichten ansehen, das Glas Wein austrinken und danach versuchen, Schlaf zu finden.
Die Schlagzeilen der TVNews wurden wie schon in den letzten Wochen dominiert von den wachsenden sozialen und politischen Spannungen innerhalb der EU und ihrer Institutionen. Anne war zwar kein unpolitischer Mensch, absolut nicht. Dank ihrer beruflichen und privaten Probleme hatte sie sich allerdings zu wenig mit den Details dieser Thematik befasst, die anscheinend zunehmend an zentraler, ja sogar existenzieller Bedeutung gewannen. Max würde ihr das bei nächster Gelegenheit erklären müssen. Ihr Mann regte sich fast täglich über die seiner Meinung nach fatalen Fehlentwicklungen und nationalen Egoismen auf, die einen vernünftigen Progress in seiner weiteren Heimat Europa immer schwieriger machten. Manchmal so sehr, dass er ihr damit schon schrecklich auf die Nerven gegangen war.
Es war schon seltsam, wie manchmal …
*
Nicht nur Anne war eingenickt, sondern knapp 250 Kilometer westlich von ihr auch Max Petrark. Vorher hatte er kurz die Krankenhauskantine besucht, um sich aus den Automaten mit einer einigermaßen betagten Wurstsemmel, einer Tafel Schokolade und einer Flasche Mineralwasser für die Nachtwache zu rüsten. Bei der Gelegenheit hatte er im Fernsehen auch die Meldungen über die neuerlichen, nicht ganz friedlichen Demonstrationen in London, Paris, Rom, Berlin, Bukarest, Sofia und den drei baltischen Hauptstädten mitbekommen. Und wieder einmal waren mehr als hundert Verletzte zu beklagen gewesen. Leider auch etwas mehr als 30 Personen, die es ganz böse erwischt hatte. Darunter einige Polizisten.
Erstaunlich, wie die Gewaltbereitschaft weiter Teile der europäischen Bevölkerung zugenommen und gleichzeitig das Vertrauen in die Problemlösungskompetenz der Politiker in den letzten Jahren abgenommen hatte. Es war schlimm, sehr schlimm. Und es war zu befürchten, dass der Tiefpunkt der gesellschaftlichen Destabilisierung noch lange nicht erreicht war.
Dennoch musste Max plötzlich lachen. Nicht über die Verletzten, auch nicht über die Scheißstimmung, die allerorts herrschte, sondern über seine Assoziation zu der Tafel Schokolade, die er eben angeknabbert hatte. Sie erinnerte ihn an Alma, die sich in letzter Zeit sehr intensiv mit Fragen der gesunden Ernährung befasst hatte. Max mit seinen …, na, also einer ganz schönen Menge überschüssiger Kilos auf den Rippen, war da in Verbindung mit Süßigkeiten natürlich immer wieder Ziel ihrer ständigen, mitunter harschen, letztlich aber liebevoll gemeinten Kritik gewesen.
Zurück im Krankenzimmer hatte er es sich in dem inzwischen eingetroffenen Schaukelstuhl bequem gemacht. Wobei der Ausdruck ›bequem‹ bestenfalls im übertragenen Sinn zu verstehen war. Denn das gute Stück war eigentlich für …, na ja, für etwas zierlichere Menschen gedacht.
Trotz alledem, das leise Hin und Her des Möbels hatte seine Wirkung nicht verfehlt. Offenbar hatte der lange Tag ziemlich rasch seinen Tribut gefordert. Als Max das nächste Mal auf seine Armbanduhr blickte, war es daher bereits kurz nach halb drei.
Sein nächster Blick galt Maurice, der völlig unverändert dalag. Was empfand er eigentlich angesichts dieses … Körpers, dessen Beeinträchtigungen das Bewusstsein seines Inhabers so nachhaltig unterdrückten? Wer war das denn, der da lag? O. K., sein Bruder, aber was bedeutete das eigentlich?
Es war schon eigenartig, Max hatte sich den größten Teil seines Lebens als Einzelkind wahrgenommen. Natürlich hatte er immer gewusst, dass er einen Bruder hatte, aber er hatte es nur selten empfunden.
Das mochte vor allem an den fast neun Jahren Altersunterschied gelegen haben. Die für die Prägung entscheidende Phase hatte Max als alleiniger Mittelpunkt der Familie verbracht. Dabei war er von seiner Mutter und vor allem von der im selben Haushalt lebenden Großmutter nach Strich und Faden verwöhnt worden. Wahrscheinlich war er sogar froh darüber gewesen, dass er endlich Luft zum Atmen bekommen hatte, als Moritz plötzlich gekommen und die geballte Ladung Fürsorge auf den Kleinen übergegangen war.
In den folgenden Jahren war Moritz, nun ja, eben ›da gewesen‹ wie auch ein kleiner lieber Hund ›da gewesen‹ wäre. Der Bruder hatte lediglich den Vorteil, nicht zum Äußerln geführt werden zu müssen. Zunächst kümmerten sich die Frauen im Hause um die Beseitigung seiner Stoffwechselrückstände, ab irgendeinem Zeitpunkt war Moritz dann allein dazu imstande gewesen.
Max war versucht, sich angesichts der regungslos auf dem Bett liegenden Gestalt wegen des wirklich unpassenden Vergleichs mit einem kleinen Hund zu genieren, ließ es jedoch bleiben. Was hatte die Situation jetzt mit der vor 50 oder mehr Jahren zu tun? Vielleicht war es ja geschmacklos, auf jeden Fall war es auf die damalige Situation bezogen absolut zutreffend. Und damit basta.
Ganz leise war Schwester Gerlinde in den Raum gekommen und an das Bett getreten. »Ich hoffe, ich habe Sie nicht geweckt«, meinte sie. »Aber ich muss Ihren Bruder ein wenig umlegen, damit er sich nicht wundliegt.« Sie begann, den schweren Körper zu bewegen.
»Kann ich helfen?«, bot Max an, dem das untätige Danebenstehen irgendwie peinlich war.
»Ich bin schon fast wieder fertig«, wehrte der Engel in Weiß ab. »Aber nett, dass Sie es angeboten haben.« Sie hatte Moritz zur Seite gedreht, die Arme leicht angewinkelt platziert und war dem Patienten abschließend fast liebevoll über die Haare gefahren. »Morgen könnten wir ihn rasieren«, regte sie an. »Glauben Sie, das würde Ihrem Bruder gefallen?«
In seinem doch schon recht langen Leben war Max die seltsamsten Sachen gefragt worden. Aber diese Frage schlug mit deutlichem Abstand alles bisher Dagewesene.
»Sie wollen wissen, ob ich glaube, dass sich Moritz über eine Rasur freuen würde?«, fasste er ungläubig zusammen. Das war sicher so ein Krankenhaus-Insiderschmäh, mit welchem das Personal die Angehörigen auf die Schaufel nahm und sich dann über ihre Reaktionen abhaute. Oder gab es hier sogar so etwas wie die ›Versteckte Kamera‹? Na gut, an ihm sollte es nicht scheitern.
»Moritz hat sich immer schon einmal einen Bart wachsen lassen wollen«, entgegnete er, »soviel ich weiß. Aber nie den Mut dazu gehabt. Ich denke, er würde das für eine gute Gelegenheit halten. Also lassen wir das mit der Rasur erst einmal.«
»Auch gut«, meinte Schwester Gerlinde. Sie blickte dem Bewusstlosen direkt ins Gesicht. »Würde ihm sicher ganz gut passen, so ein Mehrtagesbart. Aber von Zeit zu Zeit ein wenig fassonieren darf ich schon, oder?«
Blitzartig war ihr klar geworden, was sie eben ganz arglos und unbedacht von sich gegeben hatte und korrigierte sofort. »Aber das kann ich ihn ja sicher bald selbst fragen.« Sie lachte und wandte sich zum Gehen. »Soll ich Ihnen einen Kaffee bringen?«
*
Trotz der späten oder wohl zutreffender frühen Stunde war die Bar des Hotels ›Vier Jahreszeiten‹ in der Münchner Maximilianstraße gut besucht. Menschen, vor allem Männer aus allen Teilen der Welt, die in die bayrische Hauptstadt gekommen waren, hockten wie übermüdete Zugvögel auf Überlandleitungen an den Tischen und auf den Hockern. Sie wollten oder konnten nicht schlafen, da es dort, wo sie hergekommen waren, noch immer oder schon wieder keine Schlafenszeit war. Einige extrem nachtaktive Typen, also Vertreter verschiedener europäischer Spezies, die den anderen den Weg durch die Nacht ebneten, rundeten die famose Ansammlung bunter Vögel ab.
An einem der kleinen Tische saßen zwei Asiaten, Japaner, Chinesen, Koreaner oder ähnliches Gesocks. Anton, der rassistische Barkellner, konnte diese Typen einfach nicht auseinanderhalten. Wollte es eigentlich auch nicht. Die Schlitzaugen waren alle gleich. Hielten sich den ganzen Abend lang an einer einzigen Flasche Bier fest. Als Ausgleich für diesen exzessiven Konsum war ihnen der Begriff ›Trinkgeld‹ so gut wie unbekannt. Lediglich der Deutsche, der bei den beiden saß, machte eine rühmliche Ausnahme. Bisher allerdings nur bei der konsumierten Menge. Was den Tip betraf, das würde erst die Zukunft weisen. In diesem Punkt war Anton aber eher skeptisch.
Die drei Männer waren in ein Gespräch vertieft, das in leidlich schlechtem Englisch geführt wurde. Einzelne Absprachen zwischen den beiden Asiaten waren allerdings in ihrer dem Deutschen offensichtlich fremden Muttersprache erfolgt.
»O. K. Dietel, youl ultimate chance is to go back to this place and to make sule, that this man cannot tell anything to anyone anymole.« Der Chinese tätschelte dem Deutschen scheinbar freundlich die Wange. »In case it is necessaly you will do, what has to be done. Will you?« Er blickte den Deutschen ernst an. »Othelwise …«
Der große, kräftige Mann nickte stumm. Er konnte sich nur zu gut vorstellen, was passieren würde, falls er nochmals versagte. Die Chinesen zahlten hervorragend, waren allerdings kompromisslos grausam. Nur, was hatte er davon, falls …?
*
Der Kaffee war vielleicht doch keine sehr gute Idee gewesen. Max hatte dieses typische Kantinengschlotter erwartet, aber Schwester Gerlinde hatte ihn offenbar an ihren privaten Koffeinvorräten teilhaben lassen. Und das, was er erhalten hatte, war ein ganz hervorragender, sehr kräftiger und die Lebensgeister voll anregender Espresso gewesen. Er durfte nicht vergessen, ihr morgen eine angemessene Spende für die Kaffeekasse zukommen zu lassen.
Komisch, wie Moritz so dalag, er selbst in einen Schaukelstuhl gequetscht danebensaß und beobachtete, wie das Dunkel der Nacht ganz, ganz langsam, fast unmerklich dem bleiernen Grau des nahenden Morgens wich.
In diesem Augenblick fühlte sich Max dem Bruder eigenartigerweise so nahe wie schon lange nicht. Wann hatte er den Kleinen eigentlich das erste Mal bewusst als Angehörigen, nein, als lieben Menschen registriert?
»Kannst du dich noch an diese verrückte Silvesterparty erinnern?«, plötzlich wurde Max bewusst, dass er schon die ganze Zeit leise mit dem Bruder sprach.
Warum auch nicht, dachte er, für den Fall, dass es nichts half, so würde es zumindest sicher nicht schaden. Und auch ihm tat es ganz gut, eine Stimme zu hören. Selbst wenn es nur seine eigene war.
»Bei diesem wunderschönen Mädchen, wie hieß sie noch schnell? Lili oder Tilly oder so ähnlich.«
Lilis oder Tillys Vater war Amerikaner gewesen und hatte mit der Produktion einiger preisgekrönter Dokumentarfilme genug Geld verdient, um sich in Wien niederzulassen. In einer Villa mitten in den Weinbergen. Dort, wo man seit Jahrzehnten keine Baugenehmigung mehr bekam. Zumindest nicht auf legalem Wege. Aber dieser Blick über die Stadt konnte einem schon damals einiges wert gewesen sein.
»Du musst 14 Jahre alt gewesen sein«, Max erinnerte sich, sich bis dahin strikt geweigert zu haben, den kleinen Bruder vor Erreichen dieser Altersgrenze auch nur ins Kino mitzunehmen. Geschweige denn auf eine Gesellschaft mit seinen Freunden.
Max war damals mit Angeliki, einer Griechin mit polnischen Wurzeln ›verlobt‹ gewesen, die in Wien Gesang und Architektur studierte. Eine hochinteressante, ja explosive Mischung sowohl der Gene als auch der Interessen.
Diese doch zumindest offiziöse Beziehung hatte ihn nicht daran gehindert, sich nebenbei noch mit Marisa zu befassen, der Cousine eines guten Freundes. Die er allerdings rein zufällig und ohne Zutun seines Freundes Walter einige Tage vorher kennengelernt hatte.
»Das war ein hektischer Silvesterabend«, erinnerte er sich. »Zunächst großes Abendessen mit Angeliki und ihrer Familie, dann diese unerträglichen Kopfschmerzen gegen 23 Uhr, die einfach nicht besser werden wollten.« Max grinste Moritz an. »Obwohl ich bis heute nicht sicher bin, ob mir die Stephanides diese Show abgenommen haben. Eher nein, würde ich meinen. Aber das ist jetzt auch egal. Schließlich Abgang kurz nach 23.30 Uhr, unter großem Bedauern der Gastgeber und ein wenig schlechtem Gewissen meinerseits. Danach Eintreffen auf Lilis oder Tillys Party, gerade rechtzeitig zum Jahreswechsel.«
Wo schon Marisa auf ihn gewartet hatte.
Es war erstaunlich, welchem Stress er sich seinerzeit freiwillig ausgesetzt hatte, nur um mit seinen Hormonen klarzukommen.
Das wahrhaft Verblüffende an jenem Abend war jedoch der kleine Moritz gewesen. Max sah das Bild vor sich, als ob sich das Ganze erst gestern abgespielt hätte. Irgendwann an diesem 1. Jännermorgen hatte er Fritzi Weiler erblickt, die Schwester eines Freundes. Die damals 20-Jährige war halb liegend in einem bequemen Fauteuil gehangen und hatte geschlafen.
Und just dahinter, auf dem Boden an der Rückseite ihres Stuhls, hatte Moritz mit all seinen Pickeln leicht betrunken am Boden gelagert. Der kleine Wichser hatte den über die Lehne ragenden Arm Fritzis fest in seinen beiden Händen gehalten und ihn unentwegt mit heißen Küssen bedeckt. Verzückt die Augen geschlossen, Bussis rauf bis zum Anschlag, dann wieder runter und neuerlich hinauf, soweit es ihm seine kauernde Position erlaubte. Das selige Lächeln im Gesicht des Kleinen würde Max sein Leben lang nicht mehr vergessen.
Ja, das war das erste Mal gewesen, dass er seinen Bruder bewusst wahrgenommen hatte.
Langsam war es hell im Zimmer geworden. Moritz’ Gesicht hatte einen strengen Zug angenommen, ganz so, als ob ihm diese Silvestergeschichte nicht gefallen hätte. Hatte ihn der Bruder möglicherweise gehört?
Max trat ans Fenster und blickte in den erwachenden Morgen. Mit dem Tageslicht war wieder diese Unruhe gekommen. Dieses Gefühl, dass irgendetwas einfach nicht stimmte.
Was er dringend brauchte, waren Antworten auf zwei Fragen:
Warum war das Ein-Mann-Autobusunternehmen mit seinem siebensitzigen Kleinbus am frühen Morgen leer von Linz Richtung Salzburg unterwegs gewesen? Das ergab keinen Sinn. Seit es bei Moritz finanziell so eng zuging, hatte er sich zu einem echten Sparmeister entwickelt. Also wozu die leeren Kilometer?
Und dann war da die Sache mit dem ›Nicht angeschnallt gewesen sein‹. Sein Bruder war immer wie der Teufel hinter einer armen Seele her gewesen, wenn sich einer seiner Fahrgäste oder Mitfahrer nicht anschnallen wollte. Max konnte sich noch sehr gut an die letzte derartige Auseinandersetzung erinnern. Er hatte sich nicht angeschnallt, da die Fahrt eigentlich nur um zwei Blocks gehen sollte. Daraufhin hatte Maurice sich einfach geweigert loszufahren. ›Glaubst du etwa, Unfälle passieren erst nach zehn oder mehr Kilometern‹, hatte er gemeint und damit natürlich recht gehabt.
Im vorliegenden Fall war es allerdings offenbar lebensrettend gewesen, dass sein Bruder auf den Gurt verzichtet hatte. Aber das war nicht Moritz’ Entscheidung gewesen, da war er sich ganz sicher. Oder eine andere Überlegung hatte dahintergesteckt. Nur welche?