Matthias P. Gibert
Rechtsdruck
Lenz‘ siebter Fall
Personen und Handlung sind frei erfunden.
Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen
sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
Besuchen Sie uns im Internet:
© 2011–Gmeiner-Verlag GmbH
Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch
Telefon 07575/2095-0
Alle Rechte vorbehalten
1. Auflage 2011
Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt
Herstellung/Korrekturen: Julia Franze / Doreen Fröhlich
Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart
unter Verwendung des Fotos »businessman holding case« von:
© Norman Pogson / fotolia.de
ISBN 978-3-8392-3626-0
Demet Bilgin setzte müde einen Fuß vor den anderen.
Die Einkaufstüten, die sie schleppte, gruben tiefe Furchen in die Innenflächen ihrer Hände. Dann hatte die knapp 50-jährige Frau die kleine Schneiderei erreicht und ließ ihre Last erschöpft aus den Händen gleiten.
»Wo warst du so lange?«, fragte ihr Mann, ohne von seiner Lektüre aufzublicken, auf Türkisch. Auch nach mehr als 30 Jahren in Deutschland war es seiner Frau nicht möglich, ein Gespräch auf Deutsch zu führen.
»Der Metzger im Supermarkt hat sich in den Finger geschnitten und musste erst verbunden werden. Deswegen hat es länger gedauert«, antwortete sie nach Luft japsend.
»Dieser Trottel. Ich sage immer, der sollte lieber kein Messer in die Hand nehmen. Das wievielte Mal ist das in diesem Jahr?«
Er winkte ab, ohne den Kopf zu heben. »Das zehnte mindestens. Wenn du dorthin kommst, um etwas einzukaufen, läuft er mit einer verbundenen Hand durch die Gegend. Dieser Mann ist eine Schande für seinen Berufsstand.«
»Sprich doch nicht so böse, Gökhan. Der Metzger hat dir doch gar nichts getan.«
Nun reckte sich Gökhan Bilgin und sah seiner Frau ins Gesicht. »Natürlich hat er mir nichts getan. Aber ich werde doch wohl noch sagen dürfen, dass er ein Trottel ist?«
Bevor seine Frau zu einer Erwiderung ansetzen konnte, wurde die Tür der kleinen Werkstatt aufgeschoben und der jüngste Sohn der beiden stürmte mit einem großen Schulranzen auf dem Rücken herein.
»Hallo, Mama«, rief er auf Deutsch. »Was gibt es zu essen?«
Die Frau sah ihn tadelnd an, legte die Stirn in Falten, und wollte ihm durch die Haare fahren, bevor sie in ihrer Sprache antwortete.
»Wasch dir erstmal die Hände. Wenn du damit fertig bist, ziehst du dich um und fängst mit deinen Hausaufgaben an. Das Essen dauert noch eine halbe Stunde, ich bin gerade erst vom Einkaufen nach Hause gekommen.«
Emre, der 12 Jahre alte Junge, wich zurück und machte einen Schmollmund. »Nicht, du bringst meine ganze Frisur durcheinander.«
Er ließ den Schulranzen fallen und schlurfte langsam Richtung Toilette. »Ich habe einen Bärenhunger und fest damit gerechnet, dass es schon was zu Essen gibt.«
»Ja, ja, womit du immer rechnest«, erwiderte sie. »Ich wünschte, du wärst in der Schule im Rechnen auch so gut.«
»So gut wie du in Deutsch etwa?«, frotzelte er in Anspielung auf eine Vereinbarung, die er etwa ein Jahr zuvor mit seiner Mutter getroffen hatte. Dabei ging es darum, dass sie ihre Deutschkenntnisse vertiefen würde, wenn er seine schlechte Note in Mathematik verbesserte. Seinen Teil hatte er spielend erfüllt, während sie noch keinen Schritt vorwärtsgekommen war. Oder besser, sie hatte einfach keine Anstrengungen unternommen, auch nur ein weiteres Wort der Sprache des Landes zu erlernen, in dem sie lebte.
»Sei nicht frech. Geh, und mach deine Hausaufgaben, in einer halben Stunde essen wir.«
Gökhan Bilgin hörte zwar die Worte in seinem Rücken, doch ihr Sinn drang nicht bis in sein Gehirn vor. Der 50-jährige Mann war schon wieder in seine Lektüre vertieft.
Im September 1974 hatte ihn der Postvorsteher in das blau gestrichene Haus am Rand des kleinen anatolischen Dorfes gerufen, in dem er aufgewachsen war, und ihm den Telefonhörer hingehalten. Am anderen Ende war sein Vater, der seit knapp zwei Jahren als Gastarbeiter in Deutschland lebte. Nach dem kurzen Telefonat war dem Jungen klar, dass er seine Großeltern und den Rest der Familie, seine Freunde, und sein geliebtes Dorf verlassen würde. Er würde mit seiner Mutter und seinen drei Schwestern zu seinem Vater ziehen.
Im ersten halben Jahr dachte er mehr als ein Dutzend Male daran, wegzulaufen. Er verstand die Sprache nicht, hatte keine Freunde, und in der Schule hänselten ihn die deutschen Kinder. Ein Jahr später machte sich sein Vater als erster Türke in Kassel mit einer Änderungsschneiderei selbstständig. Gökhan begann eine Lehre in dem kleinen Betrieb, der im Souterrain des alten Backsteinhauses angesiedelt war, wo er noch heute den immer weniger werdenden Kunden seine Dienste anbot. Im Frühjahr 1978, ein paar Tage nach seinem 19. Geburtstag, nahm ihn sein Vater zur Seite und erklärte ihm, dass er eine Frau für ihn ausgesucht hatte, die auch schon auf dem Weg nach Kassel sei. Der junge Mann war zunächst entsetzt, denn er unterhielt zu diesem Zeitpunkt eine sehr geheime und ebenso lose Verbindung zu einem deutschen Mädchen. Die Basis dieser Liaison beruhte allerdings auf dem hemmungslosen Austausch von Körperflüssigkeiten, nicht mehr.
Nach einer kurzen Phase des Kennenlernens vermählten sich die gerade 18-jährige, überaus schüchterne Demet, die aus einem Nachbardorf der Familie in Anatolien stammte, und der mittlerweile sehr gut deutsch sprechende Gökhan kaum zwei Monate später. Sie bezogen eine Wohnung im gleichen Haus, in dem seine und noch einige andere türkische Familien wohnten, und wurden gute, angesehene Mitglieder der größer und größer werdenden anatolischen Gemeinschaft Kassels. Gökhans ganzer Stolz war ihr Ende 1979 geborener Sohn Kemal, benannt nach seinem Großvater; danach kamen im Abstand von jeweils zwei Jahren drei weitere Kinder, allesamt Mädchen. Die Familie hatte durch die recht gut laufenden Geschäfte in der Schneiderei ihr Auskommen, und als sein Vater im Frühjahr 1995 nach einem leichten Schlaganfall mit seiner Frau zurück in die Türkei wollte, übernahm der Sohn das Geschäft. 1998 wurde Demet überraschend ein fünftes Mal schwanger und gebar im Sommer 1999 Emre, den Nachzügler.
Während all dieser Jahre war Gökhan kein besonders politischer oder religiöser Mensch gewesen. Er war darauf bedacht, nicht aufzufallen, und möglichst mit allen Menschen gut auszukommen, ganz egal ob sie Türkisch mit ihm sprachen oder Deutsch.
Dann kamen der September 2001 und die Anschläge auf das World Trade Center in New York. Gökhan war in seiner Schneiderei und flickte gerade die Jeans einer jungen Frau, als der wie immer im Hintergrund laufende türkische Fernsehsender sein Programm unterbrach und auf die Bilder von CNN schaltete. Der Türke, der mittlerweile auch die deutsche Staatsbürgerschaft besaß, ließ die alte Pfaff-Nähmaschine zum Stillstand kommen und starrte mit weit aufgerissenen Augen auf den Bildschirm, wo in der x-ten Wiederholung ein Flugzeug wie in Zeitlupe in einem der Türme einschlug und ihm damit das Rückgrat brach, was zu diesem Zeitpunkt jedoch noch niemand ahnte. Fassungslos betrachtete der Schneider die Vorgänge und war zutiefst schockiert über das, was ihm live aus New York übertragen wurde. Er sah, wie sich Menschen, die keinen anderen Ausweg sahen, aus den Wolkenkratzern fallen ließen und mehrere hundert Meter zu Boden und in den sicheren Tod stürzten. Und er wurde Augenzeuge der bis dahin größten Katastrophe des neuen Jahrtausends, als die Türme schließlich in sich zusammenfielen.
In diesen Stunden veränderte sich etwas in Gökhan Bilgin. Er dachte zwar an die vielen Menschen, die an diesem Tag in Amerika gestorben waren, doch er konnte kein Mitleid mit ihnen empfinden. Seine Gedanken kreisten vielmehr um die vermeintlichen Hintergründe der Anschläge. Und so stellte er sich wieder und wieder die Frage, was die Amerikaner getan haben mussten, damit ihnen diese überaus böse Bestrafung zuteilwurde. Eine erste Antwort fand er während eines Gespräch mit einem Kunden, der ihm von Gerüchten und Berichten im Internet erzählte, dass die amerikanischen Geheimdienste selbst die Drahtzieher der unglaublichen Ereignisse seien. Natürlich, setzte der Mann mit dem Brustton der Überzeugung hinzu, seien auch die Zionisten, also die Israelis, beteiligt gewesen.
Dieser Gedanke erschien dem Schneider aus der Kasseler Nordstadt zunächst völlig abwegig, doch viele weitere Gespräche und die ersten Moscheebesuche seit mehr als 25 Jahren revidierten seine Ansichten nachhaltig. Und als dann 2003 der Einmarsch der westlichen Alliierten im Irak begann und wenig später die Taliban
in Afghanistan angegriffen wurden, radikalisierte sich seine Haltung mehr und mehr. Der Anatolier, der sich
nie etwas aus dem Koran und der damit verbundenen Lehre gemacht hatte, fing an, sich intensiv mit den
Grundlagen des Islams zu beschäftigen. Beflügelt wurden seine neu gewonnenen Erkenntnisse durch einen Mann, der zu dieser Zeit bundesweit Schlagzeilen machte und als ›Kalif von Köln‹ zu fragwürdiger Berühmtheit gelangte. Dessen Hasspredigten, die er sich auf DVD beschaffte und mehr als gierig in sich aufsog, bestärkten ihn in der Absicht, sein Leben von Grund auf zu überdenken.
Seine Frau und die Kinder, speziell die mittlerweile erwachsenen Mädchen, betrachteten seine Veränderung mit zunehmendem Argwohn. Als er an einem Nachmittag im Sommer 2005 die Familie um sich versammelte und ihr erklärte, dass er ab diesem Tag streng nach den Regeln eines guten Moslems leben wollte, kam es zum Eklat. Die jungen Frauen, von denen zwei mit deutschen Männern zusammen waren, verweigerten sich vehement seinem Anspruch, sich zukünftig nur noch nach islamischen Regeln in der Öffentlichkeit zu bewegen und auch sonst als gute Muslimas zu leben. Nach einem langen, überaus hitzig geführten Disput warf Bilgin die Frauen zusammen mit seinem ältesten Sohn kurzerhand aus der Wohnung, als sie sich nicht überzeugen ließen.
Von heute an, hatte er ihnen wutentbrannt hinterhergeschrien, seid ihr nicht mehr meine Kinder.
*
»Musst du immer deinen Kopf auf den Arm stützen, Emre?«, fragte Demet Bilgin ihren Sohn, der missmutig am Tisch saß und halbherzig seine Suppe löffelte.
»Musst du mich immer kritisieren?«, fragte der Junge aufsässig zurück.
»Emre!«, kam es drohend von der anderen Seite des Tisches. Gökhan Bilgin hatte kurz die Stimme erhoben.
»Ist doch wahr. Immer kritisiert ihr nur an mir rum. Mach dies, lass das, komm hierhin, bring diese Hose weg. Langsam habe ich keine Lust mehr auf diese Anmache. Außerdem muss ich mit euch reden. Wegen der Schule.« Er ließ sich in seinen Stuhl zurückfallen und verschränkte trotzig die Arme vor der Brust.
»Was willst du mit uns besprechen?«, wollte die Mutter nun mit gütigem Unterton in der Stimme wissen. »Hast du Schwierigkeiten in der Schule?«
»Nein, ich habe keine Schwierigkeiten. Ich will nur mit auf die Klassenfahrt. Alle fahren mit, nur ich darf nicht.«
Gökhan Bilgin legte langsam seinen Löffel neben den Teller und hob den Kopf. »Das haben wir ausführlich besprochen, junger Mann. Ich will nicht, dass du diese Reise mitmachst, und basta.«
»Basta, basta. Nur weil du dich in deiner Koranwelt einmauerst, kannst du mir doch nicht alles verbieten, Papa. Ich darf nicht Fußball spielen, ich darf nicht nach der Schule mit den anderen auf den Spielplatz gehen, eigentlich darf ich gar nichts. Das ist doch sch …« Der Junge schaffte es gerade noch, das verpönte Wort herunterzuschlucken.
»Ich will es trotzdem nicht.«
Emre schluckte erneut. Er kämpfte sichtbar mit den Tränen.
»Pah«, schrie er. »Selbst, wenn du wolltest, du könntest es ja gar nicht. Wir sind nämlich pleite. Wir haben kein Geld für die Fahrt, so sieht es doch aus.«
»Aber Emre«, mischte sich die Mutter energisch ein. »So kannst du nicht mit deinem Vater reden.«
Nun rollte die erste Träne über das Gesicht des Jungen.
»Ich kann nicht mit auf die Klassenfahrt«, beklagte er sich, »weil mein Vater keine Zeit mehr hat, zu arbeiten. Weil er die meiste Zeit des Tages mit den anderen Fundis in der Teestube rumhängt oder Koranverse auf dem Handy liest.«
Noch bevor sein Sohn den Satz beendet hatte, war Gökhan Bilgin aufgesprungen und warf sich nach vorne. Der Junge jedoch war um einiges schneller und parierte die Attacke mit ein paar schnellen Bewegungen des Oberkörpers. Dann stand er neben seinem Stuhl, hob die Arme und ballte die Fäuste.
»Emre«, rief seine Mutter laut, »du versündigst dich!«
Gerold Schmitt griff erneut nach seinem Bierglas und trank den Rest des halben Liters mit einem Zug aus. Der Blick seiner glasigen Augen wanderte von einer Seite der Theke zur anderen, doch erkennen konnte er nicht mehr viel.
»Roland«, rief er dem bulligen Mann hinter der Theke zu, »schreibst mein Zeug von heute auf den Deckel, ja?«
Der Wirt nickte widerwillig. »Mach ich. Und du siehst zu, dass du endlich nach Hause kommst. Immerhin hängst du seit heute Morgen um zehn hier rum.«
»Meine Fresse«, erwiderte Schmitt grinsend, »so lange ist das her?«
Damit rutschte der 24-jährige arbeitslose Autolackierer vom Barhocker, taumelte kurz und tastete nach dem Thekenbrett, um sich festzuhalten.
»Ganz schön raue See heute Nacht«, lallte er.
Der Wirt kam um die Theke herum, griff sich seinen rechten Oberarm, und führte ihn zum Ausgang der schummrigen Dorfkneipe.
»Soll dich die Lisa heimbringen?«, fragte er.
»Nein, geht schon. Ich hab nur ein bisschen Schlagseite, weißt du.«
»Wer wüsste das besser als ich?«
Schmitt hob schwankend den Kopf, als sie den Gehsteig erreicht hatten, und warf Roland Schweda einen angedeuteten Handkuss zu.
»Geht schon«, wiederholte er, und trottete im einsetzenden Schneegestöber schlurfend davon.
Sein Heimweg war etwa 800 Meter lang und führte den bulligen, glatzköpfigen Mann über ein Stück unbeleuchteten Feldwegs, weil der Bauernhof, den er zusammen mit seiner Mutter bewohnte, etwas außerhalb des kleinen nordhessischen Dorfes lag. Das Hoflicht, das seine Mutter brennen ließ, wenn ihr Sohn nicht zu Hause war, tauchte diffus im dichter werdenden Schneegestöber auf und wies ihm die letzten 200 Meter. Schwer atmend und noch schwerer torkelnd verließ er den geteerten Feldweg und bog auf das letzte Stück bis zum Haus ein. Er sah nicht, wie sich aus dem Schatten des alten Bauwagens, in dem er im Sommer manchmal nächtigte, mehrere dunkel gekleidete Gestalten lösten und langsam hinter ihm herkamen. In den Händen hielten sie Baseballschläger, und ihre Gesichter hatten sie mit über die Nase gezogenen Halstüchern vermummt.
Der erste Schlag, der ihn mit voller Wucht im Rücken traf, warf ihn nach vorne und sorgte dafür, dass er auf die Knie stürzte. Dann kam einer der Männer, die ihm aufgelauert hatten, langsam um ihn herum, und leuchtete mit einer Taschenlampe direkt in seine Augen.
»Was?«, röchelte Schmitt, doch schon erwischte ihn der nächste Schlag, diesmal mitten im Gesicht. Sein linkes Jochbein platzte wie eine reife Melone.
Stöhnend und mit Sternen vor den Augen fiel der Glatzkopf zur Seite und zog dabei instinktiv die Arme über den Kopf. Seine Peiniger bauten sich im Halbkreis um ihn herum auf und schwangen drohend die Baseballschläger. Der offensichtliche Anführer der Vermummten hob den Arm, machte eine kurze Geste und gab damit vermutlich das Startzeichen. Seine Aluminiumkeule surrte durch die Luft und traf Schmitt am Oberschenkel. Im Anschluss schlug reihum jeder der Männer zu. Einmal, zweimal und immer und immer wieder. Sie zielten nicht auf den Kopf, sondern auf die Arme, die Beine, die Füße und den Rücken. Dann hob der Mann, der zuerst geschlagen hatte, wieder den Arm und deutete mit dem Schläger in Richtung des kleinen Dorfes. Sein Kopfnicken in diesem Moment bedeutete wohl, dass die Aktion zu Ende war.
*
Gerold Schmitt fror erbärmlich. Der wuchtige Mann zitterte am ganzen Körper, und das Blut, das ihm in den Kragen gelaufen war, fühlte sich an wie tiefgefroren. Er versuchte, sich aufzurichten, doch es war unmöglich. Mit ungelenken Bewegungen tastete er seinen Kopf ab, aber bis auf die Delle an der Partie unter dem linken Auge schien dort nichts verletzt zu sein. Trotzdem kam es ihm vor, als sei sein Schädel in zwei Teile gespalten.
Sein Blick blieb an dem diffusen Hoflicht hängen, das er gleich zweimal sehen konnte.
»Scheiße«, fluchte er leise, bevor er sich übergab.
Die nächsten Minuten verbrachte er damit, nur durch die Kraft seiner Unterarme Zentimeter um Zentimeter in Richtung der Lichtquelle zu kriechen, wobei er alle 10 oder 15 Sekunden eine längere Pause einlegen musste. Wieder und wieder übergab er sich, und er hatte dabei Angst, an seiner eigenen Kotze zu ersticken. Der Weg kam ihm endlos vor, und die Schmerzwellen, die in immer kürzeren Abständen durch seinen Körper rasten, hielten ihn ständig an der Grenze zur Bewusstlosigkeit.
Sein in einem merkwürdigen Winkel vom Körper abstehendes rechtes Bein gab beim Nachziehen ein knirschendes Geräusch von sich, das er nicht einordnen konnte.
Gefühlte Stunden später hatte er den gepflasterten Hof erreicht und ließ seinen blutenden Kopf in den frischen Schnee sinken. Dann schaltete jemand, der es offensichtlich gut mit ihm meinte, den Strom in seinem Gehirn ab.
Kassel, ein paar Tage später.
»Wir müssen los, Maria«, rief Hauptkommissar Paul Lenz. »Es ist 11:30 Uhr.«
»Bin gleich so weit. Nur noch ein bisschen Lippenstift, dann bin ich vorzeigbar.« Sie stand vor dem Spiegel im Badezimmer und verzog den Mund in einer Art, wie es nur Frauen und zu dieser Gelegenheit konnten.
»Aber du bist doch immer vorzeigbar«, unternahm er einen hoffnungslosen Versuch, sie aus dem Badezimmer zu lotsen.
»Und du musst dir keine Mühe geben«, erwiderte sie grinsend in seine Richtung, »weil du genau weißt, dass ich erst das Haus verlasse, wenn ich mit mir und meinem Äußeren restlos zufrieden bin.« Sie drehte sich wieder dem Spiegel zu.
»Das nennt man übrigens Eitelkeit.«
Ein paar Sekunden später trat sie mit in die Hüften gestützten Händen auf den Flur und sah ihn herausfordernd an. »Und, zufrieden?«
Er ging auf sie zu und legte seine Hand zärtlich in ihren Nacken. »Mehr als das, und das weißt du auch.«
»Schön. Dann steht unserer Abfahrt ja nichts mehr im Weg.« Sie schmiegte sich an ihn.
»Immerhin ist es unser erster gesellschaftlicher Auftritt als Liebespaar. Da will ich mich einfach wohl fühlen mit mir. Und mit dir natürlich«, fügte sie schnell hinzu.
Eine knappe halbe Stunde später stand das nicht mehr sehr geheime Liebespaar Zeislinger/Lenz am unteren Ende der Rathaustreppe. Beide sahen nach oben und dann jeweils zum anderen.
»Bist du bereit, dem Feind ins Auge zu blicken?«, fragte Maria grinsend.
»Bin ich«, erwiderte Lenz zackig. »Soll ich dich hinauftragen?«
»Untersteh dich. Ich hake mich bei dir unter und los geht’s.« Sie schob ihren linken Arm unter seinen rechten und setzte sich in Bewegung.
»Verdammt, ist das wieder kalt geworden«, stellte sie fest, nachdem sie etwa die Hälfte der Stufen hinter sich gebracht hatten.
»Stimmt. Ich hätte lieber den dicken Mantel anziehen sollen.« Er sah mitleidig in ihre Richtung. »Aber in deinem Fummel möchte ich noch viel weniger stecken.«
»Wer schön sein will, muss leiden«, gab sie ungerührt zurück und beschleunigte ihre Schritte. Hinter den prunkvollen Rathaustüren erkannte sie das Gesicht von Judy Stoddart und winkte aufgeregt. Die Amerikanerin hielt ihnen die Tür auf, drückte zuerst Maria und danach den Kommissar fest an sich und holte dann tief Luft.
»Ich habe schon gedacht, ihr würdet vielleicht doch noch kneifen«, erklärte sie.
»Spinnst du?«, gab Maria mit gespielter Empörung zurück. »Die einmalige Gelegenheit, im Arbeitsbunker meines hoffentlich baldigen Exmannes der Hochzeit meiner besten Freundin beizuwohnen, noch dazu als Trauzeugin, würde ich mir niemals entgehen lassen. Aber das weißt du doch ganz genau.«
Von der Seite näherte sich Judy Stoddarts zukünftiger Gatte Robert Fricker, ein amerikanischer Pilot im Ruhestand. Die beiden hatten sich während Judys letztem Aufenthalt in ihrem Ferienhaus in Maine kennen- und lieben gelernt und waren seitdem unzertrennlich. Fricker hatte danach die meiste Zeit in Kassel verbracht und war richtiggehend angetan von der nordhessischen Metropole, die so ganz anders war als sein bisheriger Lebensmittelpunkt Newark in der Nähe von New York City.
»Und, Robert, bist du so weit?«, fragte Judy auf Englisch.
»Sprich doch endlich deutsch mit mir«, forderte Fricker, der seit seinem ersten Besuch in Kassel ebenso begeistert wie erfolgreich mehrere Sprachkurse belegt hatte, von ihr. »Immer Englisch, Englisch, Englisch«, beschwerte er sich bei Lenz und Maria, die nur mit den Schultern zucken konnten. »Ich will hier in diesem Land leben, also will ich auch die Sprache sprechen können«, fuhr der Amerikaner fast akzentfrei fort.
»Gib ihr noch ein klein bisschen Zeit«, wurde er von Lenz beschwichtigt, der dabei auf seine Uhr sah. »In gut 20 Minuten bist du eh der Boss und kannst einfach festlegen, in welcher Sprache ihr euch unterhalten müsst.«
Maria stieß ihm ihren Ellenbogen in die Seite. »Machoarsch.«
Judy Stoddart hatte glücklicherweise nicht zugehört, weil sie noch einmal die notwendigen Unterlagen durchgesehen hatte.
»Wir hätten doch nach Vegas gehen sollen, Darling«, resümierte sie mit Blick auf den Stapel Papiere in ihrer Hand auf Deutsch.
»Niemals«, widersprach der ehemalige Pilot, der nach einem leichten Herzinfarkt seinen aktiven Dienst als 747-Kapitän hatte quittieren müssen. »Diesen Wahnsinn habe ich einmal mitgemacht, aber nie mehr wieder.«
»Ich glaube, es wird Zeit, nach oben zu gehen«, warf Maria ein. »Nicht, dass ihr euren Termin noch verpasst.«
Das Brautpaar nickte.
20 Minuten und eine nüchterne deutsche Eheschließungszeremonie später standen die vier inmitten einer Menschentraube auf dem Flur des Rathauses und grinsten um die Wette. Obwohl Judy erst für den Abend zu einer offiziellen Feier geladen hatte, waren mindestens 40 Freunde, Bekannte und Arbeitskollegen der Amerikanerin gekommen, die gratulieren und mit ihr und ihrem neuen Ehemann anstoßen wollten. Lenz und Maria traten ein wenig zur Seite, um nicht im Weg zu stehen. Und genau in diesem Augenblick tauchte das dunkelrote Bluthochdruckgesicht von Erich Zeislinger am unteren Ende der Treppe auf, die in den zweiten Stock führte. Der Hauptkommissar drehte sich zur Seite und wollte Maria mit sich ziehen, doch die hatte ihren Noch-Ehegatten ebenfalls gesehen und dabei die Augen zu kleinen, feindselig aussehenden Schlitzen verengt.
»Das glaube ich jetzt nicht!«, zischte sie.
Lenz verstärkte seinen sanften Druck auf ihren Arm, doch sie wollte sich offensichtlich nicht bewegen. Zeislinger marschierte mit breitem Grinsen und schwerfälligem Gang auf die Hochzeitsgesellschaft zu, zwängte sich zwischen den Gästen hindurch, breitete die Arme aus und trat auf Judy Stoddart und Robert Fricker zu.
»Liebes Brautpaar«, setzte er pathetisch und mit immer noch zur Decke weisenden Händen an, doch Judy Stoddarts schlagartig erhobener Arm bremste ihn aus.
»Sie sind leider zu unserer Feier nicht eingeladen, Herr Oberbürgermeister«, erklärte sie dem völlig verdutzt dreinblickenden Zeislinger ebenso freundlich wie bestimmt. Ihr frisch gebackener Ehemann nickte charmant dazu.
»Deshalb bitten wir Sie, sich auf der Stelle zurückzuziehen. Ich bin sicher, Sie haben sehr viele wichtige Dinge zu tun, die keinen Aufschub dulden. Einen schönen Tag noch, Herr Oberbürgermeister.«
Zeislinger wurde innerhalb von Sekunden zuerst puterrrot und danach kreidebleich. »Aber ich wollte doch nur, das müssen Sie mir glauben, nicht…«, stotterte er, doch Judy und ihr Mann hatten sich längst wieder ihren Gästen zugewendet. Der Oberbürgermeister stand wie ein dummer Schuljunge daneben und schluckte.
»Aber …«, machte er einen letzten hoffnungslosen Versuch, bevor er sich in Marias Richtung drehte, die, noch immer bei Lenz untergehakt, etwas abseits stand und die Szene beobachtete. Der Bürgermeister ging einen Schritt auf die beiden zu, hob die rechte Hand und deutete mit dem Zeigefinger auf seine Frau.
»Du«, fauchte er, »das ist ganz allein dein Werk. Dafür werde ich dich …«
Er stoppte. Offenbar wurde ihm klar, dass es sich nicht gut machen würde, seine von ihm getrennt lebende Ehefrau vor den Augen und Ohren so vieler Menschen zu bedrohen oder zu beschimpfen. Er drehte sich erneut, diesmal in die Richtung, aus der er gekommen war, und stapfte davon. Als er um die Ecke verschwunden war, brandete aus der Schar der Hochzeitsgäste spontaner Beifall auf.
Judy Stoddart winkte ab. »Das war das Mindeste, was ich für meine beste Freundin tun konnte«, erklärte sie mit einem augenzwinkernden Blick auf Maria.
*
»Hattest du dich auf den Auftritt von heute Mittag vorbereitet?«, wollte Maria wissen, als die beiden Frauen sich nach dem Abendessen vor der Toilette des Restaurants trafen, in dem die Feier stattfand.
»Ach was. Du weißt, dass ich nie viel von ihm gehalten habe, aber diese Dummheit hätte ich ihm wirklich nicht zugetraut. Robert und ich haben gestern Abend noch einmal über dich und deinen Nochehemann gesprochen. Dabei streiften wir ganz kurz das Thema, wie wir uns verhalten, falls er tatsächlich auftauchen sollte, was ich aber ins Reich der Fabel verwiesen habe. Nun, ich hatte mich geirrt, aber es ist ja gut ausgegangen.«
Sie nahm ihre Freundin in den Arm. »Oder war es dir nicht recht, wie wir es gemacht haben?«
Maria fing an zu lachen. »Natürlich war es gut. Diesen Kerl muss man ausbremsen, bevor er die Menschen auf seine pseudocharmante Art für sich einzunehmen versucht. Er ist und bleibt nun mal ein Politiker.«
»Aber einer von der übelsten Sorte«, konterte Judy. »Und ich frage mich beinahe jeden Tag, wie du es so lange mit ihm aushalten konntest.«
»Das frage ich mich mittlerweile auch«, erwiderte Maria ernst. »Es ist mir absolut schleierhaft, wie ich mir jahrelang das Glück vorenthalten konnte, das ich jetzt erlebe.«
Judy sah sie zufrieden an. »Ja. Du siehst sehr glücklich aus, seit das mit Paul und dir wahr geworden ist.«
Ihre Aussprache von Paul klang wie Poul.
»Und das Zusammenleben in der neuen Wohnung klappt immer noch gut?«
Maria winkte ab. »Klar gibt es hier und da mal was, worüber man reden muss, aber im Großen und Ganzen bin ich sehr, sehr zufrieden.«
Lenz und sie hatten einen Monat zuvor eine elegante, große Altbauwohnung im Stadtteil Wilhelmshöhe bezogen. Der Kommissar hatte ihr bei der Einrichtung völlig freie Hand gelassen und war nur in Erscheinung getreten, wenn etwas in den dritten Stock, in dem sich die Wohnung befand, zu schleppen war, oder Löcher in die Wände gebohrt werden mussten für die vielen Dinge, die Maria aufhängen wollte.
»Ich habe meine Freiheit, Freunde, auf die ich mich verlassen kann, und einen Mann, der mich auf Händen trägt. Was will ich mehr?«
»Vielleicht manchmal ein bisschen weniger zickig sein?«, frotzelte Judy kichernd.
»Vergiss es. Das hat er gewusst, bevor er ja gesagt hat. Außerdem bin ich in den letzten Jahren, was das angeht, doch deutlich ruhiger geworden, oder?«
»Mir gegenüber warst du ja nie so schlimm«, schränkte die Amerikanerin ein, »aber ich glaube, dass Paul, und speziell dein Erich ganz schön unter dir zu leiden hatten.«
»Na«, erwiderte Maria lachend, »dann kann ich aber nicht verstehen, warum dieser mit mir so gestrafte und so furchtbar schlecht Behandelte immer noch versucht, mich zurückzugewinnen.«
»Immer noch? Ich dachte, das sei vorbei?«
»Ach was. Erst letzte Woche kam eine SMS, in der er mich inständig gebeten hat, zu ihm zurückzukehren. Wobei ich mich immer noch frage, woher er eigentlich meine neue Mobilnummer hat.«
»Was du natürlich sofort und ganz ernsthaft in Erwägung gezogen hast«, giggelte Judy.
»Klar«, stimmte Maria in ihr fröhliches Lachen ein.
In diesem Augenblick kam Lenz um die Ecke geschlendert, der offenbar nach seiner Freundin Ausschau hielt. Er sah die beiden bestens gelaunten Frauen und wollte sich schon zurückziehen, um nicht zu stören, doch Maria hatte ihn entdeckt und bedeutete ihm, näher zu kommen.
»Na, Mädels, so fröhlich?«
»Ja«, bestätigte seine Freundin noch immer lachend, »wir sind fröhlich, obwohl wir gerade von dir gesprochen haben.«
Damit warf sie sich in seine Arme und küsste seinen Hals. Lenz warf Judy einen entschuldigenden Blick zu.
»Keinen Alkohol mehr für diese Frau«, forderte er grinsend.
»Dann würde dir aber vielleicht im weiteren Verlauf der Nacht etwas entgehen«, flüsterte Maria ihm ins Ohr.
»Ich lasse euch besser mal allein«, meinte Judy und drückte sich an ihnen vorbei. »Und wegen des Alkoholkonsums musst du dir, glaube ich, keine Sorgen machen«, gab sie Lenz noch mit. »Ich habe Maria nur ein einziges Mal richtig blau erlebt. Danach hat sie so gelitten, dass es vermutlich für den Rest ihres Lebens reicht.«
Damit war sie auch schon aus dem Blickwinkel des Polizisten verschwunden.
»Stimmt das?«, fragte Lenz scheinheilig.
Maria nickte. »Leider, ja.«
»Wann war das?«
Sie schmiegte sich etwas enger an ihn. »Irgendwann.«
»Genauer.«
»Ach, Paul, ich weiß es wirklich nicht mehr. Wir hatten uns gestritten, weil ich mich mal wieder blöd benommen habe. Danach wollte ich mich bei dir entschuldigen, aber du warst einfach nicht zu erreichen. Dann nahm das Schicksal eben seinen Lauf. Mir wird heute noch ganz übel, wenn ich an diesen Ramazotti-Abend
denke.«
Sie sah ihm tief in die Augen. »Obwohl der Morgen danach war viel, viel schlimmer.«
»Und seitdem bist du vorsichtiger geworden mit dem Alkoholgenuss.«
»Absolut«, bestätigte sie.
»Na, dann will ich zufrieden sein. Jetzt komm, lass uns wieder rüber gehen, sonst denken die Leute noch, dass wir es uns auf dem Klo gemütlich gemacht haben.«
Ein paar Stunden später standen der Kommissar und seine große Liebe eng umschlungen auf der improvisierten Tanzfläche im Saal des Restaurants. Aus den Lautsprecherboxen drang gedämpft die Stimme von Eric Clapton, der davon sang, dass ein Mann sich in der Nähe seiner Frau Wonderful Tonight fühlt.
»Lass uns nach Hause fahren«, murmelte Maria. »Ich bin gut angeschickert und mir ist, als bräuchte ich jetzt einen starken Arm unter meinem Kopf und eine sonore Stimme, die mich in den Schlaf redet.«
»Und was ist mit dem, das mir vielleicht im Lauf der Nacht noch entgehen könnte?«, hakte Lenz nach.
»Oh je«, erwiderte Maria kleinlaut, »da habe ich den Mund wohl etwas zu voll genommen. Vielleicht können wir es auf morgen früh verschieben?«
Der Kommissar streichelte zärtlich ihren Nacken. »Ganz gern. Ich glaube nämlich, dass ich in dieser Nacht auch nicht mehr zum großen Caruso tauge.«
Frank Weiler stellte sein elegantes Sportcoupé am äußersten Ende des großen Parkplatzes ab, schaltete den Motor aus, öffnete die Fahrertür, griff nach seinem Mantel, und drückte dann auf einen Knopf des kleinen Senders in seiner Hand. Der Geschäftsmann aus Kassel entfernte sich langsam von dem Fahrzeug und ging auf den Eingang des großen, etwas heruntergekommen wirkenden Baus des Krankenhauses von Ziegenhain zu. An der Information fragte er nach dem Patienten, den er besuchen wollte, und fuhr danach in den dritten Stock. Dort angekommen sah er sich kurz um, fand das Zimmer, das er suchte, und trat ohne anzuklopfen ein.
»Hallo, bitte warten Sie einen Moment draußen, bis ich fertig bin«, wurde er von einer erschrocken dreinblickenden Krankenschwester zurechtgewiesen. »Und das nächste Mal versuchen Sie es mit anklopfen«, schickte sie ihm genervt hinterher.
Weiler schloss die Tür hinter sich und trat wieder auf den Flur, wo er ein paar Minuten warten musste, bis die Schwester auftauchte.
»Cooler Auftritt, eben«, zischte er, als die junge Frau an ihm vorbeiging.
»Notwendigerweise«, gab sie trocken zurück, und war auch schon in einem der anderen Krankenzimmer verschwunden. Weiler stieß einen obszönen Fluch aus, der sie jedoch nicht mehr erreichte, und betrat erneut das Zimmer, aus dem er kurz zuvor weichen musste.
Darin stand ein einzelnes Krankenbett, in dem eine Person mit dick verbundenem Gesicht und Kopf lag. Nur die Augen und der Mund waren durch Öffnungen zu erkennen. Das rechte Bein des Kranken lag erhöht auf einem Schaumstoffkeil, war dick verbunden und steckte zur Hälfte in einer Schiene, das andere wurde von der Bettdecke verborgen. Seine beiden Arme waren ebenfalls verbunden und lagen parallel zum Oberkörper. Gerold Schmitt versuchte, den Kopf zu drehen und in die Richtung seines Besuchers zu blicken, doch es gelang ihm nicht.
»Bleib ganz ruhig, Gerold«, wurde er von dem Mann begrüßt, der sich ein paar Augenblicke später neben dem Bett aufstellte, nach seiner rechten Hand griff, und sie vorsichtig drückte.
»Ja?«, fragte Schmitt irritiert, und zuckte wegen des durch den Händedruck ausgelösten Schmerzes leicht zusammen. »Wer sind Sie? Ich kenne Sie nicht.«
Seine Artikulation war nasal und nur schwer zu verstehen.
»Sicher kennst du mich, Gerald. Nicht persönlich, aber die Kameraden haben bestimmt schon von mir gesprochen.«
Der Verletzte atmete tief und schwer ein, sah seinem Besucher fest ins Gesicht und schüttelte langsam und kaum sichtbar den Kopf. »Nein, ich kenne Sie nicht.«
Nun setzte Frank Weiler sein gewinnenstes Lächeln auf und tätschelte Schmitt die Hand. Dann stellte er sich vor. »Ich bin Frank Weiler. Aus Kassel. Und ich bin davon überzeugt, dass du schon von mir gehört hast.«
Und ob Gerold Schmitt schon von Frank Weiler aus Kassel gehört hatte. Er sah den Mann an seinem Krankenbett bewundernd an. »Sie sind es wirklich?«
Weiler nickte.
»Und was wollen Sie von mir?«
»Mit dir reden. Einfach nur reden.«
»Worüber?«
Der Geschäftsmann deutete auf das Gesicht von Schmitt, dann die Arme, und schließlich das eingegipste Bein. »Darüber natürlich. Über deine Verletzungen, und wer dafür verantwortlich ist.«
Schmitt bewegte wieder langsam den Kopf hin und her. »Ich weiß es nicht«, flüsterte er. »Ich weiß es einfach nicht.«
Weiler hob beschwichtigend die Hand. »Vielleicht weißt du es nur noch nicht, Gerald. Vielleicht sind in deinem Unterbewusstsein Informationen verborgen, die wir nur wieder befreien müssen.«
Wieder bewegte Schmitt mühsam den Kopf. »Nein, nein. Ich habe, schon seit ich wieder bei Bewusstsein bin, nachgedacht, aber es will mir einfach nichts einfallen. Ich kann mich nicht erinnern. An nichts aus dieser Nacht kann ich mich erinnern.«
»Weißt du, dass du vorher in der Kneipe gewesen bist?«
»Das ist das Letzte, an das ich mich erinnern kann. Danach kommt der Filmriss.«
»Du warst auf dem Weg nach Hause.«
»Das hat mir der Polizist, der mich vernommen hat, auch gesagt, aber ich weiß es nicht. Jeder Depp könnte mir was erzählen, und ich müsste es glauben.«
»Also die Kneipe. Wer hat dich dort bedient?«
»Der Roland.«
»Roland?«
»Ja, der Wirt heißt Roland.«
»Und du weißt, wie er aussieht?«
»Klar«, erwiderte Schmitt mit einem Anflug von Widerwillen.
»Du hattest ziemlich getankt.«
»Das glaube ich auch.«
»Wie viel?«
»Eine ganze Menge Bier. Und ein paar Kurze. Aber wie viele genau, weiß ich nicht mehr. Keine Ahnung.«
»Du hattest 17 große Biere und 13 Schnäpse.«
»Woher wissen Sie das?«
»Ich habe dafür gesorgt, dass das alles bezahlt wurde.«
»Mein Deckel ist bezahlt?«
»Ja, alles erledigt.«
»Wow.« Schmitt atmete wieder tief ein und drehte seinen Oberkörper ein wenig nach rechts. Dabei stöhnte er leise auf. »Warum haben Sie das gemacht?«
»Weil wir keinen Kameraden, auch wenn er manchmal nicht so genau weiß, wo er zu Hause ist, im Regen stehen lassen. Wir sind immer für dich da.«
»Wow«, machte der Mann im Bett erneut.
»Du musst dich nicht bedanken. Wenn du versuchst, dich an die Nacht zu erinnern, reicht das schon.«
»Aber …«
»Psst«, bremste der Besucher. »Wir haben Zeit. Und ich bin sicher, dass sich das eine oder andere wiederfindet.«
Er drehte sich um, zog einen Stuhl vom Tisch zu sich heran und setzte sich. »Du warst auf dem Heimweg. Und du warst so betrunken, dass du dich schon allein deswegen vermutlich an nichts mehr erinnern kannst.«
»Vielleicht, ja.«
»Es hat geschneit in dieser Nacht?«
»Ja, das hat mir meine Mutter erzählt. Alles war verschneit und weiß. «
»Bestimmt, ja. Dann bist du bei dem alten Bauwagen angekommen. Was ist dort passiert?«
Das dick vermummte Gesicht bewegte sich wieder hin und her. »Keine Ahnung.«
»Die Kerle, die dich so übel zugerichtet haben, waren stumm? Die haben nichts gesagt? Keinen Ton?«
»Ich kann mich einfach an nichts erinnern.«
Weiler beugte sich nach vorne und kam mit seinem Gesicht ganz nah an den Verletzten heran. »Stimmt es, dass du vor ein paar Monaten Ärger mit ein paar Türken hattest?«
Schmitt dachte kurz nach. »Ja, warum?«
»Ach, nur so.«
»Meinen Sie, die könnten was damit zu tun haben?«
»Wer weiß? Ausgeschlossen ist bei diesem Geschmeiß nichts, würde ich sagen.«
»Aber dass die einem auf dem Nachhauseweg auflauern?«
»Kann doch sein.«
»Und wenn es so wäre, ich kann mich einfach nicht daran erinnern«, stöhnte der Mann auf dem Bett.
»Das macht nichts, Gerold«, wurde er von seinem Besucher beschwichtigt. »Aber ich muss noch einmal auf diese Sache mit den Türken zurückkommen.«
»Das war doch nichts Großes. Die waren einfach scheiße laut, als wir an ihrem Partykeller vorbeigekommen sind, und wir haben die Jungs ein bisschen geklatscht. Wirklich nichts Schlimmes, das können Sie mir
glauben.«
»Die Polizei und die Staatsanwaltschaft sehen das leider ganz anders. Die sagen, du hättest auf ein am Boden liegendes Mädchen eingetreten.«
»Moment«, wollte Schmitt dazwischenrufen, doch eine schnelle Handbewegung Weilers bremste ihn.
»Egal. Mir würde es auch nichts ausmachen, wenn du diese kleine Fotze totgetreten hättest. Hätten wir ein Problem weniger in Deutschland. Bedauerlich ist nur, dass es Zeugen gibt, die es gesehen haben wollen.«
»Diese Wichser«, fluchte Schmitt mit zusammengebissenen Zähnen, »denen glaubt doch hoffentlich keine Sau!«
Wieder eine beschwichtigende Handbewegung Weilers. »Darum kümmern wir uns, wenn es Zeit dafür ist«, erklärte er mit der Andeutung eines Lächelns. »Stimmt es, dass dich, nachdem die Polizei angekommen war, einer der Türken lautstark bedroht hat?«
Der Geschäftsmann zog einen kleinen Zettel aus der Tasche und fing laut an zu lesen. »›Ich ficke deine Mutter‹«, soll er gesagt haben. »Und, dass er dir den Schädel einschlagen will.«
Schmitt nickte. »Solche Sachen hat er, glaube ich, gesagt, ja. Aber das war ein Lutscher, einer von der Sorte, die ich noch vor dem Frühstück auf links mache.«
Der Geschäftsmann aus Kassel betrachtete erneut und sehr ausführlich Schmitts Verletzungen. »Und das gibt dir überhaupt nicht zu denken?«
Nun wurde der Mann mit dem dick verbundenen Gesicht unsicher. »Sie meinen …?«
Weiler nickte. »Wie gesagt, ganz auszuschließen ist das nicht. Ich würde sogar sagen, dass es sehr wahrscheinlich ist, dass es diese Dreckschweine waren. Kennst du den Kerl, der dich beschimpft hat?«
»Ach was, nein. Ich habe den Arsch an diesem Abend zum ersten Mal zu Gesicht gekriegt.« Er sah seinen Besucher irritiert an. »Wieso? Sollte man den kennen?«
»Nein, nicht unbedingt. Er kommt aus Kassel, so viel habe ich bereits in Erfahrung gebracht. Er war an besagtem Abend bei seinen anatolischen Eseltreiberfreunden zu Besuch.«
Schmitt atmete schwer ein. Sein beeindruckender Brustkorb hob sich dabei um ein paar Zentimeter an. »Meinen Sie, dass ich wegen der Geschichte Ärger kriege? Immerhin habe ich noch Bewährung offen wegen der Sache vom See.«
»Ich weiß, Gerold. Aber auch darum kümmern wir uns, wenn die Zeit dafür gekommen ist. Hast du eine Ahnung«, deutete der Geschäftsmann wieder auf die Verletzungen des Mannes im Bett, »wie viele es gewesen sein könnten? Oder einen kleinen, ganz kleinen Verdacht vielleicht, wer es sonst gewesen sein könnte?«
Schmitt drehte verlegen den Kopf Richtung Tür und schloss die kaum zu erkennenden Augen.
»Eigentlich«, begann er nach ein paar Sekunden, »dachte ich, dass es die Kameraden waren.«
Wieder eine längere Pause.
»Weil ich, wie Sie es vorhin ausgedrückt haben, manchmal nicht weiß, wo ich zu Hause bin.«
»Du meinst die Sache mit der Freundin des Kameraden Rattay?«
Schmitt nickte kaum merklich. Offensichtlich war ihm das Thema unangenehm.
»Erzähl«, forderte Weiler ihn ruhig auf.
Eine erneute Pause.
»Das will ich nicht.«
»Ist es dir peinlich, darüber zu sprechen?«
»Das auch. Aber …«
»Was, aber?«
Stille.
»Ja?«
»Es ist mir peinlich und ich schäme mich dafür, dass ich einem Kameraden so etwas angetan habe. Wenn ich nüchtern gewesen wäre …«
Wieder stockte er. Weiler griff sanft nach seinem verbundenen Arm und drückte ihn vorsichtig.
»Lass stecken, Gerold. Wir haben alle schon mal im Suff dummes Zeug gemacht. Das soll deine Aktion nicht unbedingt entschuldigen, aber ich kann verstehen, dass du bei der Kleinen schwach geworden bist. Ich habe sie gestern Abend kennengelernt, die hat es wirklich faustdick hinter den Ohren. Eine saftige Abreibung hättest du dafür ohne Frage verdient gehabt, aber die Kameraden waren es nicht, das weiß ich ganz genau. Also bleiben realistischerweise nur die Kameltreiber übrig, die dir das angetan haben können.«
»Wenn Sie es sagen.«
»Hast du noch eine andere Idee? Oder Ärger mit irgendjemandem?«
Schmitt schüttelte so energisch den Kopf, dass er dabei laut aufstöhnen musste. »Nein, ganz ehrlich. Ich würde es Ihnen sagen, aber da ist nichts mehr. Versprochen.«
»Ich glaube dir.« Weiler drückte wieder sanft seinen Arm. »Aber eine Sache würde mich trotzdem noch interessieren. Es geht dabei noch mal um die Nacht, in der du zusammengeschlagen wurdest.«
Wieder stöhnte Schmitt auf, diesmal mehr genervt. »Aber ich hab Ihnen doch gesagt, dass ich mich an nichts erinnern kann. An rein gar nichts, um es noch mal ganz klar zu sagen.«
»Ich meine nicht den Moment, in dem du so übel zugerichtet wurdest. Ich meine die Zeit vorher. Du bist also schon am Mittag in der Kneipe gewesen, oder?«
»Ja.«
»Und da ist dir nichts Ungewöhnliches aufgefallen? Den ganzen Tag nicht?«
»Nein.«
»Stimmt es nicht, dass am Nachmittag ein Türkenjunge in der Kneipe war, um Geld für den Zigarettenautomaten zu wechseln?«
Schmitt dachte nach. »Stimmt«, bestätigte er. »Da war so ein Türkenlümmel, der sich von Roland Kleingeld besorgt hat für Kippen. Aber das war doch lange vorher.«
»Ich weiß«, bestätigte Weiler. »Aber es ist bestimmt nicht ganz ohne Bedeutung, wenn sich in eine Dorfkneipe in der Schwalm ein völlig fremder Türke verläuft, der Geld gewechselt haben möchte. Ganz und gar nicht ohne Bedeutung ist es allerdings, wenn in der gleichen Nacht ein Kamerad fast zu Tode geprügelt wird.«
Schmitts von Mullbinden zum Teil umschlossene Augen signalisierten so etwas wie Erkenntnis.
»Da könnte was dran sein«, stellte er fest. »Da könnte absolut was dran sein.«
»Und deswegen bin ich hier. Es ist einfach zu offensichtlich, dass die Türken hinter diesem feigen Anschlag stecken.«
Der Verletzte hob den Kopf und sah Weiler unsicher an. »Wie kommt es eigentlich genau, dass Sie sich um mich kümmern? Ich meine, wir kennen uns gar nicht und haben uns auch noch nie gesehen.«
Der Geschäftsmann lehnte sich entspannt zurück. Über sein Gesicht huschte erneut der Anflug eines Lächelns. »Du hast Freunde, Gerold. Einflussreiche Freunde, glaube ich sogar.«
»Ach ja? Wer soll das denn sein?«
»Kannst du dir das nicht denken?«
Schmitt schüttelte wieder den Kopf und zuckte dabei mit den Schultern. »Nein, verdammt noch mal.«
Nun wurde Weiler ernst, und seine nächsten Worte kamen mit gehörigem Pathos. »Der Jurist hält die Hand schützend über dich.«
»Der Jurist? Meine Fresse!«
»Also hast du schon von ihm gehört?«
»Natürlich. Wer hat das nicht?«
»Ja, wer hat das nicht.«
Der Mann mit den Verbänden drehte seinen Körper ungelenk nach rechts. »Kennen Sie ihn persönlich?«, formulierte er leise und mit Hochachtung.
Weiler zeigte keine Regung. »Niemand kennt ihn persönlich, weil niemand weiß, wer er ist, Gerold. Es gibt ihn, das wissen wir alle, aber er will einfach inkognito bleiben. Das müssen wir akzeptieren.«
»Aber irgendwer muss ihn doch kennen.«
»Hör auf, dir so viele Gedanken über seine Identität zu machen. Freu dich lieber darüber, dass er für dich da ist und sich für dich ganz persönlich interessiert.«
Schmitt schluckte. »Aber ich weiß doch gar nicht, woher …«
Der Besucher winkte ab. »Nimm es einfach, wie es ist. Betrachte ihn als deinen persönlichen Schutzengel, und lass es damit gut sein.«
»Wenn Sie es sagen.«
»Ja, so ist es am besten, glaub mir. Allerdings würde er sich bestimmt sehr darüber freuen, wenn er erfahren würde, dass du dich, und sei es auch nur ganz vage, daran erinnern könntest, dass die Jungs, die dich so übel zugerichtet haben, Türkisch gesprochen haben könnten.«
Schmitt brauchte eine Weile, bis er die Worte seines Gastes richtig eingeordnet hatte.
»Ja«, bestätigte er zögernd, »das könnte wirklich sein. Deutsch haben diese Bastarde jedenfalls ganz sicher nicht geredet.«
»Das solltest du gleich morgen zu Protokoll geben. Du kannst dich jetzt also wieder daran erinnern, sagst du, dass die Leute, die dich so übel zugerichtet haben, Türkisch gesprochen haben. Meinst du, das bekommst du hin?«
»Klar kriege ich das hin«, erwiderte Schmitt und sah an seinem zerschundenen Körper abwärts. »Mit Vergnügen sogar.«
»Dann wäre das ja geklärt. Eine Sache müssten wir trotzdem noch besprechen, Gerold.«
»Ja?«
»Wir möchten, dass du dich nach Kassel verlegen lässt.«
Schmitt sah ihn entgeistert an. »Warum denn das?«
»Weil wir der Meinung sind, dass dir dort viel besser geholfen werden kann als hier in diesem Provinzhospital.«
»Aber die Ärzte hier verstehen doch auch …«
»Der Jurist«, wurde der Mann mit dem Kopfverband von seinem Besucher sanft unterbrochen, »möchte es gerne so.«
»Aber«, unternahm Schmitt einen letzten hoffnungslosen Versuch, der erneut von Weiler gestoppt wurde.
»In zwei Stunden kommt der Krankenwagen, der dich überführen wird. Es ist alles vorbereitet. Und du willst den Juristen doch sicher nicht verärgern, oder?«
»Nein, nein, das will ich ganz bestimmt nicht.«