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Wahre Verbrechen meisterhaft erzählt

Claudia Puhlfürst, die bekannte Zwickauer Krimiautorin, erzählt in ihrem neuen Buch wahre Geschichten von Verbrechen und Mord. Nach umfangreichen Recherchen und Gesprächen mit Ermittlern und Betroffenen dokumentiert die Autorin solch Aufsehen erregende und aufwühlende Fälle wie das erbrechen an der kleinen Michelle aus Leipzig, den Vierfach-Mord von Eislingen oder die grausame Tat, der Ayla zum Opfer fiel.

Meisterhaft, mit vielen leisen Tönen und psychologischem Gespür breitet Puhlfürst die damaligen Geschehnisse vor den Lesern aus und stellt vor allem die Frage nach den Tatmotiven in den Mittelpunkt. Seismografisch nimmt sie Personen und Orte ins Visier und liefert genaue und lesenswerte Reportagen.

 

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Claudia Puhlfürst
lebt und arbeitet in Zwickau und ist hauptberuflich Redakteurin und Schulberaterin.
In ihrem Nebenberuf als Schriftstellerin hat sie mittlerweile sechs Kriminalromane veröffentlicht.
Ihr Spezialgebiet ist die Humanethologie (menschliches Verhalten).

Claudia Puhlfürst

Dem Leben entrissen

Aktuelle authentische
Kriminalfälle

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Impressum

   

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Angaben sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

© Militzke Verlag GmbH, Leipzig 2010
Lektorat: Jenny Retke, Franziska Jacob, Julia Lössl
Umschlaggestaltung: Ralf Thielicke
Umschlagfoto: FX-Berlin/Fotolia
eBook Datenkonvertierung: GGP Media GmbH, Pößneck

 

978-3-86189-794-1

Der Fall Andreas H.
und Frederik B.

(Vierfachmord in Eislingen)

Vorzeigefamilie

Der 9. April 2009 ist Gründonnerstag. Ostern steht vor der Tür. Warme Tage ohne Regen mit Höchsttemperaturen bis zu 24 Grad sind angekündigt, die Sonne scheint jetzt schon fast zwölf Stunden.

Eislingen ist eine Stadt im Filstal in Baden-Württemberg mit 20000 Einwohnern, fünf Kilometer von Göppingen und knapp 50 Kilometer von Stuttgart entfernt. Auf ihrer Homepage präsentiert sich die Stadt mit den Worten: »Unser Eislingen … – nicht ganz ohne Stolz kommt vielen Bürgerinnen und Bürgern dieser Satz über die Lippen. […] Alle Generationen leben gern in ›ihrem‹ Eislingen.«

Auch Familie H. lebt hier. Es scheint die ideale Vorzeigefamilie zu sein: Vater, Mutter, drei wohlgeratene Kinder.

Sie wohnen in einem dreistöckigen Haus mit spitzem Dach in der Friedhofstraße, vorn ist das Grundstück durch einen bejahrten Jägerzaun und einen schmalen Streifen Wiese zur Straße hin abgegrenzt. Die Gegend ist vorstädtisch geprägt, es gibt viele Einfamilien- oder Reihenhäuser, die Straßen sind verkehrsberuhigt. Das Haus von Familie H. ist zartgelb gestrichen, die dunklen Fensterläden heben sich vom hellen Putz ab. Im rückwärtigen Bereich gibt es einen Garten.

Hansjürgen H., der Vater, ein großer sportlicher Mann, sieht mit seinen kurzen grauen Haaren jünger als 57 aus. Er ist Heilpraktiker und hat einen ausgezeichneten Ruf, auch über Eislingen hinaus. Außer seiner heilpraktischen Tätigkeit ist Hansjürgen H. als Referent tätig, er hält Vorträge über Naturheilverfahren. Der Vater engagiert sich auch in der Gemeinschaft. Seit fast 20 Jahren ist er in der Kirchgemeinde der nahegelegenen Lutherkirche aktiv. Seine Praxis befindet sich im Erdgeschoss des Wohnhauses.

Im dritten Stock hat Familie H. ihre Wohnung; auch die beiden erwachsenen Töchter, Ann-Christin und Annemarie wohnen noch zu Hause. Sie studieren im benachbarten Schwäbisch Gmünd Lehramt und sparen sich so die Miete. Außerdem sind sie gern daheim. Andreas, der einzige Sohn, ist 18 Jahre alt und besucht das Wirtschaftsgymnasium in Göppingen. Die Realschule in Eislingen hat er mit guten Ergebnissen abgeschlossen.

Seine Mutter Else ist Englischlehrerin. Auch sie hat in Schwäbisch Gmünd studiert, genau wie ihre beiden Töchter es nun tun. Die Familie ist beliebt in Eislingen.

Weihnachten 2008 schreibt der Vater wie immer Briefe an Verwandte und Bekannte. Er schreibt von dem wunderbaren Urlaub, den die Familie im Mai 2008 auf Mallorca verbracht hat. Auch Frederik, Andreas’ bester Freund, war mit dabei.

Hansjürgen H. legt dem Brief auch ein Foto bei: Die Familie im Wohnzimmer; Vater und Sohn sitzen auf einer Couch, davor die drei Frauen, an der Wand dahinter hängen Bilder.

Alle fünf machen einen fröhlichen Eindruck. Andreas ist der Einzige, der nicht in die Kamera schaut. Er ist zwar nicht sehr dicht an seinen Vater herangerückt, hat jedoch trotzdem einen Arm um ihn gelegt, blickt ihn an und lächelt. Die 22-jährige Annemarie, »Mimi« genannt, ist vorn rechts auf dem Bild. Sie hat eine karierte Bluse an, die Haare sind streng zurückgekämmt. Ihr Lächeln wirkt offen und sehr freundlich. Else H. sitzt in der Mitte. Sie trägt Rot. Das brünette Haar fällt offen bis auf die Schultern. Auch die Mutter lacht. Ann-Christin – »Chrissi« –, die 24-jährige Schwester von Andreas, wirkt ernster. Nur ihr Mund ist nach oben verzogen, die Augen lächeln nicht mit. Insgesamt ist es ein fast perfektes Foto einer fast perfekten Familie. Der Vater beendet den Weihnachtsbrief mit den Worten: »Mit unseren Kindern sind wir sehr gesegnet. Alle sind gesund und machen uns viel Freude. Ich hoffe, dass alle, die diesen Brief lesen, genauso gesund und zufrieden sind wie wir.«

Nun ist es Frühling geworden, recht zeitig in diesem Jahr 2009, schon im März scheint die Sonne fast jeden Tag und die Tageshöchsttemperaturen klettern manchmal auf warme 15 Grad. Der 29. März, ein Sonntag, ist nicht so frühlingshaft, aber das macht nichts. Andreas geht mit seinen Eltern zum traditionellen Osterschießen der Schützengilde Eislingen. Das Vereinsheim, ein grauweißer Bungalow mit Wellblechdach, die kleinen Fenster sind vergittert, liegt etwas außerhalb inmitten von Wiesen und Feldern.

Der Schützenverein organisiert verschiedene Veranstaltungen wie das alljährliche Osterschießen, aber auch die Teilnahme der Mitglieder an den Kreismeisterschaften. Andreas H. ist nicht der schlechteste Schütze. Bei den Kreismeisterschaften 2009 belegt er den neunten Platz.

Im Oktober 2008 haben Unbekannte im Haus der Schützengilde einen Einbruch verübt. Die Diebe sägen den Tresor mit einer »Flex« auf und stehlen über 20 Schusswaffen – Gewehre, Revolver und Pistolen, dazu mehr als 1000 Schuss Munition. Danach beseitigen sie gekonnt alle Spuren, sodass der Diebstahl erst Tage danach entdeckt wird. Die Tat ist noch immer ungeklärt, aber seitdem wurden die Sicherheitsvorkehrungen verschärft, ein neuer Tresor angeschafft, die Zugänge zum Haus besser gesichert.

Am 29. März 2008 schießen Hansjürgen H. und sein Sohn Andreas gemeinsam auf dem Schießstand. Die Familie hat ein »nettes Verhältnis zueinander«, findet der Vorsitzende des Vereins.

Und nun, nicht einmal zwei Wochen später, steht das Osterfest vor der Tür. Ein paar Tage vorher sitzt Familie H. an einem dieser warmen Märztage im Garten und trinkt Kaffee. Man spricht über die bevorstehenden Feiertage. Am Karfreitag will man gemeinsam brunchen. Auch Andreas’ Freund Frederik könne gern mit vorbei kommen. Am Gründonnerstag wollen die Eltern tanzen gehen. In den Marstall im Schlosspark. Der Marstall nennt sich selbst »Kultur-Spiel-Spasszentrum«, es gibt Musik, Themenabende, Karaoke-Partys, Oldie-Nights und »Italienische Nächte«.

9. April 2009, Gründonnerstag

Das Osterfest ist das höchste Fest der Christen und neben Pfingsten auch das älteste. Seit dem dritten Jahrhundert wurde die Woche vor Ostern, die so genannte Karwoche, als Vorbereitung für die Fastenzeit eingeführt und ab dem vierten Jahrhundert galt die Zeitspanne vom Abend des Gründonnerstags bis zum Morgen des Ostersonntags als die »drei heiligen Tage«, die gleichzeitig der Höhepunkt des Kirchenjahres waren.

Die Christen feiern die Auferstehung Jesu Christi; den Sieg über Verdammnis und Tod und die Erlösung der Menschen von der Erbsünde durch Gottes Sohn. Mit dem Osterfest beginnt die »österliche Freudenzeit«, die 50 Tage bis zum Pfingstfest dauert.

Gründonnerstag ist der fünfte Tag der Karwoche, der Tag vor Karfreitag. Er steht für das Abendmahl, das Jesus Christus mit seinen zwölf Jüngern gefeiert hat. Es ist der Vorabend des Todes Jesu Christi.

Andreas H. hat die Nacht von Mittwoch auf Donnerstag bei seinem Freund Frederik übernachtet. Gegen 14:00 Uhr kommt er nach Hause. Mit seiner Schwester Annemarie soll er die Pergola im Garten reinigen. Die Geschwister borgen sich beim Nachbarn gegenüber einen Hochdruckreiniger.

Gemeinsam isst die Familie Abendbrot – es gibt Käsenudeln. Auch Frederik ist dabei. Gegen 21:00 Uhr verabschieden sich die Eltern von den Kindern und machen sich mit Freunden auf den Weg in den Marstall. Andreas will später nachkommen – er möchte vorher noch einmal mit Frederik zu dessen Wohnung. Die Schwestern Annemarie und Ann-Christin bleiben lieber daheim, sie wollen fernsehen.

Gegen 23:30 Uhr treffen Andreas und Fredrik im Marstall ein. Sie sind fröhlich, essen eine Kleinigkeit, trinken etwas, unterhalten sich mit Andreas’ Eltern. Sie tanzen sogar. Bis Mitternacht.

Zum Schluss wünscht sich Andreas noch ein besonderes Lied: »Knockin’ on Heaven’s Door«. Frederik und er singen laut mit. Dann gehen sie. Noch vor den Eltern. Andreas will bei Frederik übernachten.

Hansjürgen und Else H. machen sich eine halbe Stunde später auch auf den Weg. Sie haben nur noch wenige Minuten zu leben.

10. April 2009, Karfreitag

Das »Kar« der Karwoche leitet sich aus dem Althochdeutschen »chara« oder Mittelhochdeutschen »kar« ab. Es bedeutet »Klagen«, »Trauer« oder »Elend«. Nach biblischer Überlieferung wird Jesus nach dem Abendmahl in der Nacht verhaftet und am Karfreitag ans Kreuz geschlagen. Der Karfreitag ist der Tag der Erinnerung an die Kreuzigung Jesu. Die katholische Kirche begeht ihn in stiller Trauer.

Andreas H. hat bei Frederik übernachtet. Am Morgen holt er frische Brötchen für Frederiks Familie. Gegen 10:00 Uhr machen sich die beiden Freunde in die Friedhofstraße auf, wo Andreas wohnt.

Um 10:42 Uhr geht ein Notruf beim Roten Kreuz ein. Es ist Andreas H. Mit tränenerstickter Stimme meldet er, dass er seine gesamte Familie tot in der Wohnung aufgefunden habe. Sehr schnell wird auch die Polizei alarmiert. Nachbarn sehen kurz darauf, wie Andreas auf die Straße stürmt. Er schreit: »Gestern Abend haben sie noch gelebt!«, wiederholt den Satz mehrfach. Frederik sitzt am Straßenrand, zittert, weint.

Frederiks Eltern werden vom Rettungsdienst alarmiert, sie sollen sofort kommen. Bei Familie H. habe es ein »dramatisches Ereignis« gegeben. Als sie ankommen, bietet sich ihnen ein erschreckendes Bild. Andreas läuft noch immer vor dem Haus hin und her, heult. Sie hören, wie er ruft: »Jetzt sind alle tot! Wenn ich den erwische, der das getan hat!« Frederik sitzt noch immer am Straßenrand, zusammengekauert, schlottert.

Nach einer kurzen Befragung der beiden völlig aufgelösten jungen Männer durch die Polizei nehmen Frederiks Eltern die zwei mit zu sich. Sie können das schreckliche Geschehen noch gar nicht richtig fassen: Frederiks bester Freund hat in dieser Nacht auf einen Schlag seine gesamte Familie verloren.

Die Göppinger Kriminalpolizei nimmt sofort die Ermittlungen auf. Der Tatort wird abgeriegelt, Kriminaltechniker beginnen damit, jeden Zentimeter zu untersuchen.

Die Leiche des Vaters liegt im Flur des Wohnhauses, die seiner Frau im Bad. Die beiden Schwestern werden im Dachgeschoss gefunden, beide in einem Zimmer, der Fernseher läuft noch. Alle vier Familienmitglieder wurden erschossen. Die anderen Mieter des dreigeschossigen Hauses haben nichts gehört. Einbruchsspuren finden die Beamten nicht, es fehlt anscheinend nichts, die Wohnung wurde nicht durchwühlt. Eine Sonderkommission mit 30 Beamten wird gebildet. Aus ermittlungstaktischen Gründen macht die Kripo keine weiteren Angaben, schließt jedoch weder eine Beziehungstat noch ein Kapitalverbrechen mit unbekanntem Täter aus. Die Polizei sucht fieberhaft nach Zeugen, die in der Nacht zum 10. April etwas Verdächtiges bemerkt haben. »Das Motiv ist total unklar. Die Ermittlungen gehen in alle Richtungen«, sagt ein Polizeisprecher der Presse.

Fast alle Zeitungen melden an diesem Karfreitag die Bluttat in dürren Worten:

»Mysteriöse Bluttat

Grausiger Fund nahe Göppingen: Ein 18-Jähriger hat die Leichen seiner Eltern und seiner beiden Schwestern entdeckt. Alle vier Opfer wiesen Schussverletzungen auf. Das Ehepaar und seine zwei erwachsenen Töchter sind am Freitagmorgen tot in ihrer Wohnung in Eislingen […] gefunden worden. Nach der Bluttat […] ermitteln Polizei und Staatsanwaltschaft.«

Erste Nachbarn versammeln sich vor dem Haus, am Nachmittag wird die Zufahrt zu dem Mehrfamilienhaus im Süden Eislingens abgesperrt. Jemand stellt Grablichter auf, Blumen werden vor dem Eingang niedergelegt.

11. April 2009, Ostersamstag

Die Polizei befragt Freunde und Bekannte der Familie, auch den 18jährigen Andreas. »Grundsätzlich sind in diesem Fall alle im Visier, die mit der Familie engeren Kontakt hatten«, erklärt ein Polizeisprecher gegenüber der Presse. Andreas H. ist wortkarg. In der ersten Vernehmung sagt er aus, er habe seine Eltern und die beiden Schwestern am Karfreitag kurz vor Mittag erschossen in der Wohnung gefunden. Er selbst habe bei seinem Freund Frederik übernachtet.

Haus und Wohnung werden unterdessen akribisch durchsucht, aus den Wohnräumen und der Praxis werden Terminkalender, Computer und ein Laptop sichergestellt. Einbruchsspuren finden die Ermittler nicht, auch gestohlen wurde augenscheinlich nichts. »Wir haben noch keine Spuren, dass sich jemand gewaltsam Zutritt zu dem Haus verschafft hat«, so der Polizeisprecher. Die drei anderen Mietparteien, ältere Leute, sagen aus, in der Nacht von Donnerstag auf Freitag weder Schüsse noch Lärm gehört zu haben. Die Tatwaffe wird nicht gefunden, lediglich ein Luftgewehr kann in der Wohnung sichergestellt werden. Auch das Motiv ist nach wie vor unklar.

Die Meldung von dem Vierfachmord breitet sich in Eislingen und Umgebung wie ein Lauffeuer aus. Die Anwohner, deren Wohngegend bisher dem klassischen Kleinstadtidyll glich, sind schockiert. Auf der Straße sind noch die Kreidezeichnungen zu sehen, die Kinder dort gemalt haben, ein paar Straßen entfernt waschen Familienväter ihre Autos. »Unfassbar ist das«, erzählt eine Anwohnerin der Presse, während sie die Spurensicherung in ihren weißen Schutzkitteln beobachtet. Die Familie sei im Ort »sehr verwurzelt gewesen«, habe zum Beispiel seit vielen Jahren im Kirchenchor mitgesungen.

Die Leichen der vier Familienmitglieder werden obduziert. Noch im Laufe des Samstags werden die Ergebnisse bekannt. Vater, Mutter und die beiden Töchter wurden mit einer kleinkalibrigen Waffe getötet. Die Leichen weisen »eine Vielzahl von Einschüssen« auf.

Gegen Abend verdichten sich die Hinweise darauf, dass der oder die Täter aus dem Umfeld der Familie stammen könnten: Aus den fehlenden Einbruchsspuren und der Lage der Toten schließt die Polizei, dass die Familie nicht von Unbekannten überrascht wurde. »Wir haben keine Spuren, dass sich jemand gewaltsam Zutritt zu dem Haus verschafft hat«, erklärt ein Polizeisprecher und fügt hinzu: »Die Gesamtumstände der Tat sprechen dafür, dass es jemand aus dem Umfeld oder der Familie selbst war.«

Andreas H. und sein Freund Frederik werden wieder und wieder vernommen. Die beiden jungen Männer sind zunehmend tatverdächtig. Am Abend des Ostersamstags beantragt die Staatsanwaltschaft Haftbefehl gegen den Sohn und seinen Freund und etwas später kommt der Haftrichter am Landgericht Ulm dem Antrag nach. Andreas H. und Frederik B. kommen in Untersuchungshaft und werden in verschiedene Justizvollzugsanstalten gebracht, einer nach Stuttgart-Stammheim und der andere nach Ulm.

In Eislingen macht sich Ratlosigkeit breit. Kann es sein, dass ein 18-Jähriger gemeinsam mit seinem Freund seine ganze Familie ausrottet? Und wo liegt das Motiv für die grausige Tat?

12. April 2009, Ostersonntag

Die Ermittlungen am Tatort sind abgeschlossen. Die Beamten der 30-köpfigen Sonderkommission »Familie« warten noch auf Details aus dem Obduktionsbericht und auf das Waffengutachten. Das Umfeld der beiden Verdächtigen wird intensiv befragt. Die Nachbarn der Familie H. haben von der Tat nichts bemerkt.

Andreas H. und Frederik B. weisen indessen die Vorwürfe der Ermittler zurück, streiten ab, etwas mit dem Vierfachmord zu tun zu haben. Noch immer behauptet Andreas, dass er seine Eltern und die beiden Schwestern am Karfreitag erschossen in der Wohnung aufgefunden habe. Bis auf die Anmerkungen, sie hätten mit der Tat nichts zu tun, schweigen die beiden mutmaßlichen Täter. Sowohl Andreas H. als auch sein Freund haben inzwischen einen Anwalt. »Sie leugnen die Tat«, kommentiert der Göppinger Polizeisprecher.

Die Polizei stützt sich auf Indizien und sucht nach weiteren Spuren. Der Computer des Sohnes wird ausgewertet, wird auf das Vorhandensein von Gewaltspielen oder –videos überprüft. Andreas war im Schützenverein Eislingen, auch Frederik war eine Zeitlang Mitglied in der Schützengilde. Andreas H. hat im Verein mit Luftgewehren, aber auch mit kleinkalibrigen Waffen – so genannten KK-Gewehren – das Schießen geübt. Waffen sind auf die beiden Verdächtigen nicht eingetragen, aber das muss nichts heißen. Der Waffendiebstahl aus dem Vereinshaus vom letzten Jahr, bei dem klein- und großkalibrige Pistolen und Gewehre gestohlen wurden, ist noch nicht aufgeklärt. Jetzt ermitteln die Beamten, ob dieser Einbruch mit den Morden in Verbindung steht.

»Jetzt sagen wieder alle, es waren die Schusswaffen«, äußert ein Einwohner. Erst im März hat der 17-jährige Tim K. an der Albertville-Realschule im nicht einmal 60 Kilometer entfernten Winnenden einen Amoklauf verübt und dabei 15 Menschen getötet. Die Waffe hatte er seinem Vater, einem Sportschützen, entwendet. Nach diesem Amoklauf beginnt eine Diskussion über das Waffenrecht. Insbesondere wird verlangt, Sportschützen zu untersagen, ihre Waffen zu Hause aufzubewahren. Familie H. hätte dieses Verbot nichts genützt. Am Sonntagvormittag löscht die Schützengilde Eislingen e. V. Bild und Namen von Andreas H. von ihrer Homepage, nimmt ihn aus den Mannschaftsaufstellungen für Luftgewehr und Kleinkaliber. Andreas H. schade dem Ruf des Vereins und dem des Schießsports. Und doch fragt sich so mancher unterdessen, was am Schießen eigentlich »Sport« ist.

Die Polizei versucht inzwischen, den Tatverdacht gegen die beiden jungen Männer zu erhärten. Es ist nicht geklärt, wer geschossen hat, ob es beide waren oder nur einer von ihnen. Noch immer fehlt jede Spur von der Tatwaffe. Auch ein Motiv ist nicht in Sicht. Noch einmal wird das Gebäude des Schützenvereins untersucht.

Die Sonderkommission wertet Computer, Laptop und Terminkalender aus. Von den Rechtsmedizinern wird ein Gutachten über die Verletzungen der Opfer erstellt, in dem es vor allem darum geht, aus welchem Winkel auf die Familienmitglieder geschossen wurde.

In den darauffolgenden Tagen intensivieren die Ermittler die Suche nach der Tatwaffe. Zwei Spürhunde – Anton und Emma – werden eingesetzt. Sie nehmen eine Geruchsprobe von Andreas H.s Bettlaken. Daraufhin führen sie die Polizei zu Frederiks B.s Wohnhaus und von dort aus bis zu einem Industriegebiet in Salach, einer Gemeinde, die direkt an Eislingen grenzt. Danach geht es weiter in ein nahegelegenes Waldstück. Dort verlieren die Hunde die Spur. Die Beamten durchkämmen im Anschluss das gesamte Areal des Baustoffhandels, die angrenzenden Grundstücke und suchen auch noch einmal den Weg vom Tatort in der Friedhofstraße bis zu Frederiks Wohnhaus gründlich ab. In einem Müllcontainer werden Kleidungsstücke gefunden, von denen sich die Beamten Hinweise erhoffen, doch auch diese Spur zerschlägt sich.

Andreas und Frederik werden weiter vernommen. Der Tatverdacht erhärtet sich, insbesondere durch Frederiks Aussagen, doch noch wollen die Ermittler dies nicht publik machen. Details sind ungeklärt, Beweise fehlen.

Beamten durchforsten die Computer und Terminkalender von Andreas und Frederik. Aber auch die Akten aus der Praxis des Vaters werden geprüft. Womöglich war einer von Hansjürgen H.s Patienten verärgert und hat daraufhin die Morde verübt?

»… Der Andi war das niemals …« – Andreas H.

Andreas ist der einzige Sohn, Mamas »Augenstern«. Nachdem sie zuerst zwei Mädchen geboren hat, ist es beim dritten Versuch endlich der ersehnte Stammhalter geworden. Sie nennt ihn ihren »Prinzen«. Nach außen hin scheint alles perfekt.

Der Sohn gilt als »netter Junge«, er beeindruckt die Menschen durch seine rasche Auffassungsgabe, seine Cleverness, man findet ihn »pfiffig«, er findet sich überall schnell zurecht. In der Realschule wird er zum Schulsprecher gewählt, Andreas ist in einigen Vereinen aktiv. Sieben Jahre engagiert er sich bei der DLRG (Deutsche LebensRettungs-Gesellschaft), bringt dort anderen Kindern das Schwimmen bei. Der Vorsitzende der Eislinger Ortsgruppe der DLRG gibt an, dass Andreas ein »sehr umgängliches und freundliches Wesen« gehabt habe und »sehr engagiert« gewesen sei, sodass sie ihn schon sehr bald als Übungsleiter einsetzen konnten. Auch die Schützengilde in Eislingen fand, dass Andreas ein toller Bursche ist. »Wir hätten allesamt die Hand für ihn ins Feuer gelegt«, sagt der Vorsitzende.

Die Herzen der Mädchen fliegen Andreas zu. Die Pfarrerin der Gemeinde sagt über den hübschen Jungen: »Andreas war einer, der umschwärmt ist, der überall beliebt ist.« Drei Jahre engagiert sich der »umschwärmte Junge« in der Kirchgemeinde als Jugendleiter, dann verliert er scheinbar das Interesse, kommt nicht mehr zu den Treffen. Mit Mädchen wird Andreas allerdings nie gesehen. Er hält zu seinem Freund Frederik.

Andreas’ Eltern kümmern sich. Der Vater ist seit 20 Jahren in der Kirche aktiv, die Mutter singt im Kirchenchor. Sie erscheinen bei Elternabenden und Schulfesten. »Die waren alle so nett zueinander«, sagt der Schulleiter des Göppinger Wirtschaftsgymnasiums der Presse. »Das waren anerkannte Familien.« Und über Andreas sagt er, dieser sei ein »unglaublich reflektierter Mensch für seine 18 Jahre, sehr beliebt, mittendrin, ohne sich in den Vordergrund zu spielen«. Er und sein Freund Frederik seien von »Lehrern, Schülern, Jungs und Mädchen« anerkannt gewesen.

Auch die Nachbarn in Eislingen beteuern übereinstimmend, sie kennen keine »harmonischere Familie«.

Der Hüttenwart einer Wanderhütte im Allgäu, in der die Familie regelmäßig zu Gast ist, berichtet später vor Gericht von den einträchtigen Abenden. Musik und Brettspiele, freundlicher Umgang. Auch er gebraucht das Wort von der »Vorzeigefamilie«.

Von innerfamiliären Problemen will auch die Frau des verstorbenen Patenonkels nichts wissen. »Andreas wurde ganz besonders geliebt«, sagt sie in einer Gerichtsverhandlung. Die Familie sei sehr stolz auf ihn gewesen, als er die Abschlussfeier in seiner Realschule moderiert habe. Zwar habe Hansjürgen H. immer das Sagen gehabt, aber das habe die Familienmitglieder nicht gestört.

Und doch hat die heile Welt Risse. Leute, die hinter die Fassade schauen können, bemerken auch andere Seiten an den Familienmitgliedern. Der Vater lebt nicht, was er Kindern und Frau predigt. Er ist herrisch, hat eine sehr bestimmende Art und wird schnell cholerisch, wenn ihm etwas nicht passt. Ab und zu geraten Vater und Sohn aneinander. Dann stellt die Mutter sich hinter ihren Mann. Es sei vorgekommen, so Zeugen, dass der Vater den Sohn anschrie, nur weil er bei einem Brettspiel verloren hatte; dass er sogar handgreiflich wurde oder den Sohn wütend an die Wand presste. Andreas reagiert das eine Mal unterwürfig, ein anderes Mal aggressiv. Else H. ordnet sich unter, nimmt das unnachsichtige Diktat ihres Mannes hin. Sein dogmatisches Verhalten akzeptiert sie ohne Widerspruch. Auch die Schwestern fügen sich.

Als Kind hat Andreas oft das Gefühl, so sagt er, dass er irgendwie nicht dazugehöre. Besonders dann, wenn der Vater wieder einen dieser »Anfälle« bekommt, einen dieser plötzlichen Ausbrüche von Jähzorn, von dem die Familie nicht weiß, woraus er entsteht; dann versteigt sich Andreas in die Phantasie, adoptiert worden zu sein, nur um nichts mit dem Despoten gemein zu haben. Und Zeugen behaupten, der Junge habe schon im Alter von ungefähr zehn Jahren einmal im Beisein seiner Mutter geäußert, er werde irgendwann noch einmal »ausrasten« und dann dem Vater etwas antun.

Der Vater traktiert die Familie mit seltsamen Vorschriften. Jeden Mittwoch muss es das gleiche Essen geben: Salat mit Brottrunk. Süßigkeiten sind nicht erlaubt, Computerspiele auch nicht. Dafür zwingt er seinen Sohn zweimal die Woche ins Fitness-Studio. Andreas’ Anwalt wird im Prozess von »Regeln, Verboten und Demütigungen« sprechen, und dass es ab und zu einen »durchgebrochenen Kochlöffel« gegeben habe.

Der Vater trainiert viel, ist fit, die Familienmitglieder müssen es ihm gleichtun. Im Urlaub wird gewandert; oft weite Strecken, manchmal bis zur absoluten Erschöpfung. Als Andreas noch ein Kind ist, überqueren sie zu Fuß die Alpen. Und auch an den Wochenenden werden stramme Märsche unternommen. Jedes Familienmitglied darf dabei angeblich nur eine Flasche Wasser und einen Apfel mitnehmen. Als die Mutter einmal zusammenbricht, herrscht Hansjürgen H. sie an: »Aufstehen jetzt, weiter geht's.« Andreas’ Tante, eine Schwester von Hansjürgen H., erzählt später vor Gericht, wie der Vater in ihrem Beisein die 14-jährige Ann-Christin an den Haaren über den Tisch gezogen habe.

Der Vater hat zwei Gesichter. Innerhalb der Familie ist er der Despot, nach außen hin gibt er das ehrbare, fromme Familienoberhaupt. Aber Hansjürgen H. hat eine bewegte Vergangenheit.

Vor Gericht wird einer der Verteidiger eine Zeugin fragen, ob sie wisse, welcher Tätigkeit Hansjürgen H. nachging, ehe er Heilpraktiker wurde. Die Zeugin weiß es, doch sie druckst ein wenig herum. Der frühere Beruf des Vaters will nicht so recht zu der »Vorzeigefamilie« passen. »Porno-Hansi« nannte man Hansjürgen H. in Geislingen. Der Vorsitzende Richter unterbindet das Thema. Aus »Pietätsgründen«. Vor Gericht soll nicht thematisiert werden, dass Hansjürgen H., gelernter Bankkaufmann, Inhaber eines Sexshops in Geislingen gewesen ist, bevor er in Eislingen den Ehrenmann und ehrbaren Familienvater gab.

Die Schwestern sind der Stolz des Vaters. Ann-Christin und die zwei Jahre ältere Annemarie schaffen das Abitur mit Leichtigkeit – etwas das ihrem Bruder nicht gelingt. Danach beginnen beide ein Studium; genau wie ihre Mutter wollen sie Lehrerin werden. Doch auch der jüngere Bruder Andreas scheint nach einigen Anlaufschwierigkeiten seinen Weg zu finden. Nach dem Abschluss der Realschule besucht er das Wirtschaftsgymnasium. Nach außen hin ist alles wunderbar und nur wenige bemerken, dass die heile Welt eine Theaterkulisse ist. Ein Nachbar, der sich öfters mit Andreas beschäftigt, sagt später, er habe in dem Kind einen »unsicheren, introvertierten Jungen« gesehen, und auch die Pfarrerin der evangelischen-lutherischen Gemeinde deutet Konflikte in der Familie an und ergänzt, dass die beiden Schwestern den Bruder des Öfteren vor dem Vater in Schutz nehmen mussten. In einer Fernsehsendung nach der Tat sagt sie: »Ich bin mir sicher, dass die ganze Familie unter der Dominanz des Vaters litt.« Später will sie sich zu dem Thema nicht mehr äußern, sie hat anonyme Anrufe und Drohungen bekommen, von Verleumdung der Opfer ist die Rede.

Ein älterer Halbbruder Frederiks und seine Frau halten Andreas gar für einen »Schauspieler«. Beide haben Psychologie studiert und praktizieren. Sie befinden, der Junge habe außergewöhnlich glatt gewirkt, nur darauf geachtet, »was gut ankommt«.

Persönliche Erinnerungen sind keine objektive Angelegenheit. Bei jedem Fall gibt es Zeugen, die den Täter immer »nett« fanden und auch solche, denen »etwas« aufgefallen ist, die es dem Verdächtigen schon lange vorher angemerkt haben wollen, dass da etwas nicht stimmt. Vater und Sohn sind sich wohl ähnlicher, als sie es wahrhaben wollen. Manche Menschen sind angetan von ihrem Charme und ihrer Eloquenz, andere finden das Verhalten beider aufgesetzt, zu glatt, immer daraufhin zielend, einen guten Eindruck zu hinterlassen. Auch Wörter wie »besserwisserisch«, »narzisstisch«, »aufbrausend« oder »aggressiv« fallen. Andreas wird älter. Er leidet angeblich, ohne sich aufzulehnen. Er bindet sich immer stärker an Frederik, seinen einzigen Freund. Frederik fährt mit Familie H. in den Urlaub nach Mallorca.

Im Sommer 2009 wollen Frederik und Andreas nach Rom fahren. Gemeinsam mit einem Freund unternimmt Andreas im Sommer 2008 eine Pilgerreise auf dem Jakobsweg über die Pyrenäen bis nach Santiago de Compostela. Ende Oktober berichten sie über die Reise im Luthergemeindehaus von Eislingen.

Im Herbst 2008 wird Andreas 18. Sein Vater fährt mit ihm zu einem Juwelier, schenkt ihm eine Uhr. Andreas ist überrascht. Mit so viel Großzügigkeit hat er nicht gerechnet. Doch das ist noch nicht alles. Danach fahren Vater und Sohn gemeinsam mit einem Bekannten in ein Bordell nach Esslingen. Der Vater will dem Sohn einen Besuch bei einer Prostituierten »spendieren« und erklärt, dass Ehefrauen höchstens als »Kumpel« taugten. Für spezielle Sachen müsse man eben zahlen. Die Damen in dem Etablissement scheinen Hansjürgen H. zu kennen, anscheinend ist der nicht das erste Mal dort.

Andreas ist entsetzt. Sind seine Eltern etwa nicht glücklich miteinander verheiratet? Was ist mit der Zuneigung zwischen Partnern in der Ehe? Wie kann der Vater derart abfällig über die Mutter sprechen? Das »Geschenk« widert ihn an. Vater und Sohn fahren wieder nach Hause.

Kurz darauf erfährt Andreas von seiner Mutter, dass die Eltern ein geheimes Konto in der Schweiz haben, 256000 Euro befänden sich dort. Er erhält – genau wie die beiden Schwestern nach ihrem 18. Geburtstag – eine Vollmacht, die er jedoch nur gemeinsam mit ihnen einlösen kann.

In der Vorweihnachtszeit reist die Familie erneut ins Allgäu. Auch Frederik fährt mit. Bergwanderungen sind an der Tagesordnung. Bei einer dieser Wanderungen kommt es zu einem Zwischenfall, dem später eine folgenschwere Bedeutung zugewiesen werden soll.

Die Familie marschiert, der Vater vorneweg. Es schneit. Nebelschwaden verhindern eine klare Sicht, das Laufen wird zunehmend schwieriger. Der Vater wählt eine vermeintliche Abkürzung, es geht durch tiefen Schnee, alle sind durchnässt, die Kälte beißt bis auf die Knochen. Hansjürgen H. verliert in der anbrechenden Dunkelheit die Orientierung, Andreas begehrt auf, schreit, dies sei hier kein Abenteuer, aber der Vater wisse ja immer alles besser. Stunden vergehen, endlich erreicht die Familie die Berghütte. Andreas ist noch immer erbost, macht dem Vater noch beim Abendessen Vorhaltungen, doch dieser will davon nichts hören. Mutter und Schwestern stellen sich auf Seiten des Vaters; alles könne so schön sein, wenn sie sich nicht immer Andreas’ Gezeter anhören müssten. Andreas stürzt hinaus, während die Familie sich in der Gaststube darüber unterhält, dass der Jüngste wohl nie erwachsen werde.

Frederik findet seinen Freund schließlich im kalten Treppenhaus, Andreas heult, ist aufgelöst, voller Zorn. Am liebsten würde er den Vater umbringen, äußert er. Das scheint ein bedeutsamer Augenblick gewesen zu sein, zumindest nimmt es Frederik so wahr.

Andreas kommt nun zunehmend später nach Hause, trinkt Alkohol, hängt mit Bekannten herum. Der Vater ist enttäuscht, hält ihm die Schwestern als Vorbild vor. Der Sohn will nun auch nicht mehr zu Hause wohnen, er möchte ausziehen, schließlich ist er volljährig. Doch ihm fehlt dafür das Geld und so muss er fürs Erste daheim bleiben.

Können Probleme mit einem dominanten Vater der Grund für den Mord an den Familienmitgliedern sein? Doch welche Familie hat keine Probleme mit heranwachsenden Kindern?

»Für mich war er einer der nettesten Menschen,
die ich je kennengelernt habe« – Frederik B.

Frederik ist ein ängstliches Kind. So sagen es zumindest später seine Eltern. Er verbringt viel Zeit zu Hause, spielt am liebsten mit seinem Bruder, liest viel. Einen unglücklichen Eindruck macht der Junge auf die Eltern dennoch nicht. Sie wenden all ihre Aufmerksamkeit dem jüngeren Bruder zu, das Kind scheint schwieriger als Frederik, der sich stets unauffällig verhält. Ja, manche aus seinem Umfeld finden ihn sogar nicht nur verschlossen, sondern fast autistisch. Das Kind sei »starr und verschlossen wie ein Opferstock« gewesen, sagen die Leute im Ort über ihn.

In der Schule gilt Frederik als schüchtern. Freundinnen hat er keine. Mitschüler beschreiben ihn als »unscheinbar«, ein Anhängsel von Andreas. Seine Kleidung finden sie »uncool«. Manchmal verhält der Junge sich auch völlig unangemessen, fällt aus der Rolle. Einen Mitschüler, der ihn mit einem Schneeball bewirft, schlägt er unvermittelt ins Gesicht; als ihm ein Stift fehlt, rastet er aus und wirft den Tisch um.

Tim, ein Mitschüler, der mit Frederik zusammen aufgewachsen ist, stellt schnell fest, dass ihre »Entwicklung verschieden verläuft«. Ein wirklich enger Freund sei Frederik nie gewesen. Der Junge wird geduldet, bleibt aber ein Außenseiter. Tim W. sagt vor Gericht: »Wir haben ihn immer mitgeschleift.« Nach Beispielen befragt, erzählt er von einem Vorfall, der sich ein paar Jahre zuvor abgespielt hat. Die Gruppe habe zu einer Maifeier gehen wollen. Vor allem die Mädchen seien dagegen gewesen, dass Frederik mitgehe, aber man habe ihn dann trotzdem mitgenommen. Aus heiterem Himmel habe der Junge dann auf der Straße angefangen, Silvesterkracher in offene Zimmer- und Kellerfenster zu werfen. Da sei ihnen wieder klar geworden: »Mit dem kann man sich nicht zusammen sehen lassen.« Tim und seine Freunde sind froh, als sich ihre Wege trennen, weil Frederik aufs Wirtschaftsgymnasium wechselt.

Frederik führt ein einsames Leben. Er ist weder »in« noch beliebt. Sein einziger wirklicher Freund ist Andreas H. Er eröffnet ihm den Zugang zu anderen, er ermöglicht ihm, am Leben mit Gleichaltrigen teilzunehmen. Mit Andreas unternimmt Frederik Reisen, mit ihm und seiner Familie fährt er mehrfach in die Ferien.

Im Italienurlaub 2008 lernt Frederik ein Mädchen kennen – Carolyn. Sie spricht ihn an, weil er da »so alleine rumsaß«. In den nächsten Tagen unternehmen die beiden etwas zusammen, gehen gemeinsam auf Partys.

Carolyn findet, dass Frederik ein »netter, aufmerksamer, zuvorkommender Gesprächspartner« ist. Außer, dass sie sich »mal in den Arm« nehmen, gibt es keine weiteren Zärtlichkeiten zwischen den beiden.

Nachdem Carolyn wieder in ihre luxemburgische Heimat zurückgereist ist, bleiben die zwei in Verbindung. Sie chatten fast täglich, sehen sich über ihre Webcams. Beim Chatten berichtet Frederik dem Mädchen auch von Problemen mit seinen Eltern. Er fühlt sich benachteiligt. Irgendwann hat Carolyn das Gefühl, verliebt zu sein. »Für mich war das der netteste Mensch, den ich je kennengelernt habe. Und ich hätte nie damit gerechnet, was dann passiert ist«, sagt sie später aus. Für Ostern 2009 plant Frederik sogar ein Treffen, doch Carolyn sagt ab. Sie braucht etwas Abstand. Frederik reagiert überschießend, wird wütend.

Ihm bleibt einmal mehr nur sein Freund Andreas.

5142

Andreas H. und Frederik B. führen ein Doppelleben. Der Außenwelt spielen sie den eloquenten jungen Mann und seinen zurückhaltenden Freund vor und fast alle nehmen ihnen die Maskerade ab. Insgeheim jedoch laufen ganz andere Dinge, von denen niemand etwas bemerkt. Die jungen Männer verüben Diebstähle und horten die gestohlenen Dinge.

So brechen sie im Juni 2007 in eine Eislinger Schule ein und stehlen einen Computer und einen Beamer. Als nächstes knacken sie einen Tennisclub und erbeuten hier einen weiteren Computer, Bargeld, Spirituosen und Zigaretten. Einige Monate später wiederholen sie den Fischzug im Tennisclub. Dieses Mal heimsen sie lediglich knapp 100 Euro und eine Flasche griechischen Schnaps ein. Im Herbst 2008 seilen sie sich nachts über einen Lichtschacht im Dach in einen örtlichen Supermarkt ab. Ihre Beute: Parfüm und alkoholische Getränke. Erwischt werden die beiden nie. Sie müssen sich unfehlbar vorkommen. Ihren gemeinsamen Kleiderschrank nennen sie »unser kleines schmutziges Geheimnis«, hier bewahren sie gemeinsame Kleidungsstücke und auch gestohlene Waren auf.

Andreas und Frederik »erproben« ihre emotionale Belastbarkeit durch das Quälen von Tieren. Vor Gericht sagt Frederik später aus, sie haben testen wollen, ob sie die »Emotionsdinger« ausblenden könnten.

Die Katze der Nachbarn trifft es als erstes. Andreas’ Schwestern lieben das zutrauliche Tierchen, füttern es ab und zu. Eines Tages ruft Andreas seinen Freund an, verkündet: »Heute bringen wir die Katze um!« Sie fangen das arglose Tier ein, stecken es in einen Sack. Dann stechen sie abwechselnd mit einem Brieföffner und einem Messer auf das zuckende, wimmernde Bündel ein. Einen lebenden Igel befestigen sie auf dem glühenden Rost eines Grills. Während des Ermittlungsverfahrens taucht ein Video auf. Andreas und Frederik haben es voller Stolz an Gleichaltrige weitergeleitet. Sie posieren mit einer Gans, die sie getötet haben, wirbeln das tote Tier herum, ihre Oberkörper sind entblößt, sie lachen in die Kamera, die Augen strahlen.

Im Oktober 2008 nehmen sich die beiden Freunde das Vereinsheim der Schützengilde vor. Beide kennen das Gebäude genau, wissen wo und wie die Waffen aufbewahrt werden und wie sie unbemerkt in den Bungalow hineingelangen können. Sie stehlen 17 Waffen und 1700 Schuss Munition. Waren die Morde damals schon geplant? Wozu sonst hätten Andreas und Frederik die Pistolen gebraucht?

Andreas H. fühlt sich schon lange nicht mehr wohl in seiner Vorzeigefamilie. Tötungsabsichten äußert er seinem Freund zufolge schon 2008. »Entweder die oder ich« – formuliert Andreas sein »Problem«, wie Frederik vor Gericht aussagt. Dabei muss auch die Absicht in Andreas entstanden sein, den Freund für seine Zwecke einzuspannen. Irgendwann reift der Plan: 5142. Die teuflische Idee, sich mit einem Schlag aller familiärer Sorgen zu entledigen.

Waffen und Munition haben sie schon. Nun informieren sich Andreas und Frederik im Internet, wie man Schalldämpfer baut. Sie kaufen Aluminiumrohre und verwenden zudem Plastikflaschen. Quittungen werden später bei Frederik B. gefunden. 5142 – fünf Familienmitglieder, darunter ein schwarzes Schaf. Vier müssen ausgelöscht werden, von zwei Freunden – 5142 lautet der Geheimcode, den Andreas und Frederik sich für ihr schreckliches Vorhaben ausdenken.

Kaltblütig – Folie-à-deux

Kaltblütig – ist der Titel eines Buches von Truman Capote. Es beschreibt ein wahres Verbrechen von November 1959, die kaltblütige Ermordung der Familie Clutter. Die Täter – Edward Smith und Richard Hickock, zwei junge Männer, vermuten Geld im Haus der Clutters. Sie dringen in das Anwesen ein und terrorisieren die Familie.

Nachdem sie feststellen müssen, dass das Haus gar keinen Safe enthält und Herbert Clutter auch kaum Bargeld bei sich hat, töten sie sämtliche Familienmitglieder. Tochter Nancy und Mutter Bonnie werden in ihren Betten erschossen, Herbert Clutter und sein Sohn Kenyon im Keller. Dem Vater schneiden sie zudem die Kehle durch. Edward Smith und Richard Hickock lassen die wohlsituierte Familie dafür büßen, dass sie selbst im Leben immer zu kurz gekommen sind.

Am Mittwoch, dem 8. April, erfährt Andreas, dass seine Schwestern am Abend des Gründonnerstags allein zu Hause sein werden. Das ist die Gelegenheit! Er testet noch einmal die »Durchschlagskraft« der gestohlenen Waffen, schießt auf Tierschädel. Allein. Vier tote Hasen werden später in einem Versteck im Wald gefunden. Als ihm alles zur Zufriedenheit erscheint, informiert er seinen Freund Frederik, dass es nun soweit sei.

In der Nacht vom 8. auf den 9. April 2009 übernachtet Andreas bei Frederik. An diesem Gründonnerstag kommt er gegen 14:00 Uhr wieder nach Hause. Nachdem er mit Annemarie die Pergola im Garten gereinigt hat, gibt es Abendbrot. Auch Frederik ist vorbeigekommen, speist gemeinsam mit Familie H. Hansjürgen und Else H. wollen in den Marstall. Gegen 21:00 Uhr brechen sie auf. Annemarie und Ann-Christin bleiben zu Hause. Auch Andreas und Frederik machen sich schon bald nach dem Abendbrot auf den Weg. Sie fahren zu Frederik. Frederiks Mutter sagt vor Gericht, sie habe ihren Sohn an jenem Abend mit einem großen Karton das Haus verlassen sehen und dass ihr dies seltsam vorgekommen sei. Auf die Frage, ob sie ihrem Sohn und dessen Freund nachfahren sollten, um herauszufinden, was die beiden da trieben, ist Frederiks Vater dagegen. Ihm ist nichts Besonderes aufgefallen.

Der verdächtige Karton enthält unter anderem – so erfährt man später – einen gestohlenen Computer. Andreas und Frederik wollen ihn loswerden. Sind auch Waffen in dem Paket?

Und wieso eigentlich sind Frederiks Eltern so misstrauisch? Normal ist es wohl nicht, dass Eltern ihrem Sohn nachfahren wollen, wenn er mit einem Karton unter dem Arm aus dem Haus geht.

Andreas deponiert sein Handy hinter einer Bäckerei in Eislingen, lässt es eingeschaltet. Damit will er sich ein Alibi verschaffen, will einen anderen Aufenthaltsort vortäuschen.

Mit ihren Pistolen bewaffnet, kehren sie gegen 22:00 Uhr zurück zum Haus der Familie H. Sie schließen auf, ziehen sich im Keller des Hauses um und gehen dann nach oben, vorbei an der Osterdekoration, die die Mutter liebevoll gestaltet hat, vorbei an den Wohnungen der anderen Mieter, bis ins oberste Stockwerk.

Die beiden Schwestern liegen gemeinsam auf dem Bett, schauen Germanys Next Topmodel. Sie haben schon ihre Schlafkleidung an. Wie Frederik später seinem Anwalt schreibt, sagt Ann-Christin, als sie ihren Bruder und dessen Freund erblickt: »Hey, was soll der Scheiß?«, und Andreas antwortet ihm: »Ja, so ist die: arrogant bis zum Schluss.«

Zehn Schüsse werden auf Ann-Christin abgefeuert, neun auf Annemarie. Ann-Christin versucht, die Kugeln abzuwehren, ihr Arm wird dabei durchschossen. Der tödliche Treffer durchtrennt den dritten Halswirbel, zerstört das Rückenmark, zerreißt alle Nervenbahnen. Annemarie stirbt an mehreren Kugeln. Einige treffen das Herz, andere den Hinterkopf. Angeblich feuert Frederik alle Schüsse auf die Opfer ab, während Andreas nur dabei steht. Ist es dann möglich, dass die eine Schwester seelenruhig auf dem Bett liegenbleibt, während er die andere erschießt?

Niemand hört etwas von der schrecklichen Tat – die Schalldämpfer verhindern dies. Den Fernseher lassen Andreas und Frederik laufen. Dann sammeln sie die Patronenhülsen auf, verschließen die Türen wieder und verstecken Kleidung, Munition, Schalldämpfer und Waffen im Keller, bevor sie sich zum Marstall begeben.

Eine halbe Stunde, nachdem sie Andreas’ Schwestern mit insgesamt 19 Schüssen getötet haben, kommen die beiden jungen Männer in der Gaststätte an. Andreas’ Vater bezahlt ihnen den Eintritt. Sie begrüßen die Anwesenden, trinken etwas, unterhalten sich mit Andreas’ Eltern. Sie tanzen sogar. Niemandem fällt etwas Ungewöhnliches an ihrem Verhalten auf.

Andreas wünscht sich noch ein Lied »Knockin’ on Heaven’s Door«.

… Ma, take these guns away from me.

I can’t shoot them any more.

There’s a long black cloud following me.

Feel like i’m knockin’ on heaven's door. …

Die beiden jungen Männer singen den Text mit. Dann verabschieden sie sich.

Der Freund von Annemarie fährt kurz vor 0:30 Uhr zum Haus in der Friedhofstraße. Vielleicht ist sie noch wach? Alles ist still und niemand öffnet ihm, und so macht er sich auf den Heimweg. Wenige Minuten später werden die Eltern beim Haus eintreffen.

Andreas und Frederik sind unterwegs. Zurück zum Wohnhaus in der Friedhofstraße, wo die beiden toten Schwestern auf dem Bett liegen. Wieder gehen sie in den Keller, erneut wechseln sie die Kleidung, laden ihre Waffen, prüfen die Schalldämpfer und begeben sich nach oben in den dritten Stock.

Frederik behauptet später, auf halber Strecke zu Andreas gesagt zu haben: »Ich hab’ keinen Bock mehr, auch noch deine Eltern zu erschießen.« Der Freund jedoch habe ihn mit den Worten: »Ach komm, das ziehen wir jetzt noch durch« beschwichtigt.

Dieses Mal warten sie im Eingangsbereich. Hansjürgen und Else H. kommen eine halbe Stunde später. Andreas und Frederik erschießen auch sie kaltblütig, den Vater gleich im Eingangsbereich. Zwölf Kugeln werden später in den Eltern gefunden. Der Vater stirbt an inneren Blutungen. Sein Todeskampf dauert lange, man schätzt bis zu einer Stunde. Später wird die Dauer des Sterbens noch eine bizarre Rolle im Erbstreit spielen. Der zuerst Verstorbene vererbt dem anderen nämlich seinen Teil und das gesamte Erbe geht an die Verwandten des zuletzt Verstorbenen. Die Mutter, die die Schüsse hört und daraufhin aus dem Bad hastet, wird im Durchgang vom Flur zum Bad erledigt. Hirndurchschuss.

Eigentlich haben die Täter vor, auch Andreas als vermeintliches Opfer zu präparieren. Dazu soll er einen Schuss in den Oberarm erhalten. Warum die beiden davon abkommen, weiß niemand. Wahrscheinlich fürchten sie sich vor den Schmerzen. Später werden in dem Versteck im Wald, wo sie auch die Waffen deponiert haben, Notizen gefunden, in denen die Mörder die Beseitigung der Leichen erwägen. Säure und das Legen eines Brandes kommen in die engere Wahl, doch nichts davon wird realisiert.

Was in den nächsten drei Stunden geschieht, ist unklar. Eine Zeugin, die ihr krankes Kind in die Notaufnahme bringt und gegen 2:00 Uhr in der Tatnacht am Haus der Familie H. vorbeifährt, will durch ein geöffnetes Fenster eine Gestalt mit entblößtem Oberkörper gesehen haben, die Andreas H. ähnlich sieht. Irgendwann verlassen die beiden Mörder das Haus der Familie H.

Auf dem Weg zu Frederik vergraben sie die Waffen und die aufgesammelten Patronenhülsen im Wald. Bei Frederik angekommen, duschen sie. Lange. Um 3:30 Uhr, das lässt sich später rekonstruieren, wird Frederiks Computer hochgefahren.

Können Andreas und Frederik in jener Nacht schlafen? Angeblich will Frederiks Mutter die beiden gegen 4:30 Uhr im Bett liegen gesehen haben – zusammen.

Am nächsten Morgen – es ist Karfreitag, der Tag, an dem die katholische Kirche des Todes Jesu Christi gedenkt – kommen die Mörder zurück zu Andreas’ Wohnhaus. Vorher haben sie noch gemütlich mit Frederiks Eltern gefrühstückt.

Um 10:42 Uhr geht der Notruf ein. Mit weinerlicher Stimme stammelt Andreas ins Telefon, dass er seine Familie tot aufgefunden hat. Dann rennt er auf die Straße, schreit: »Tot! Oh Gott. Sie sind alle tot!«

Nach der Show fahren die beiden mit Frederiks Eltern zu ihm nach Hause. Im Auto beten sie.

Freitag, 17. April 2009

Eine Woche nach dem Fund der vier getöteten Familienangehörigen geben die Staatsanwaltschaft Ulm und die Polizeidirektion Göppingen eine Pressekonferenz. Vier Männer sitzen an schlichten Tischen, hinter ihnen eine Leinwand. Links sitzt der Leiter der Polizeidirektion, daneben der Leiter der SoKo »Familie«, dann folgt der Leiter der Staatsanwaltschaft Ulm und zuletzt ein Polizeisprecher.

Einer der beiden Tatverdächtigen hat inzwischen gestanden und jetzt geben Polizei und Staatsanwaltschaft Informationen bekannt. Beweise werden präsentiert, der Polizeisprecher hält zwei großformatige Fotos der beiden Tatwaffen – eine Ruger Sportpistole und eine Haemmerli