Uwe Klausner
Bernstein-Connection
Tom Sydows dritter Fall
Personen und Handlung sind frei erfunden.
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3. Auflage 2011
Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt
Herstellung/Korrekturen: Julia Franze / Sven Lang
Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart
unter Verwendung eines Bildes von: @ Ralph Crane / Getty Images
ISBN 978-3-8392-3594-2
REALE HAUPTFIGUREN
Katharina II. (1729-1796), genannt die Große, Zarin von Russland
Grigori Grigorjewitsch Orlow (1734-1783), Offizier und ihr Liebhaber
Erich Koch (1896-1986), Gauleiter von Ostpreußen, Reichsverteidigungskommissar und Reichskommissar in der besetzten Ukraine, am 12.11.1986 in polnischer Haft verstorben
Wilhelm Zaisser (1893-1958), Mitglied des Politbüros und des ZK der SED und Minister für Staatssicherheit, im Juli 1953 entlassen und aus der Partei ausgestoßen
Erich Mielke (1907-2000), von 1957 bis 1989 Minister für Staatssicherheit der DDR
Heinrich Himmler (1900-1945), Reichsführer-SS, Reichsinnenminister und Chef der deutschen Polizei, Selbstmord in britischem Gewahrsam
Lawrenti Pawlowitsch Berija (1899-1953), Geheimdienstchef der UdSSR, vermutlich am 26.6.1953 exekutiert
Georgi Maximilianowitsch Malenkow (1902-1988), von 1953 bis 1955 Regierungschef der UdSSR, 1957 endgültig entmachtet und aus dem Politbüro ausgeschlossen
FIKTIVE HAUPTFIGUREN
Tom von Sydow, 40 Jahre, Hauptkommissar der Berliner Kripo
Benjamin Kempa, SS-Sturmbannführer und Bergwerksingenieur
Curt Holländer, Offizier im besonderen Einsatz des Ministeriums für Staatssicherheit
Erna Pommerenke alias ›die Rote Lola‹, Kreuzberger Bordellkönigin
Gregory Boynton Grant, stellvertretender Leiter der CIA
Heribert Peters, Gerichtsmediziner
Waldemar Naujocks, Leiter der Spurensicherung
Luise von Zitzewitz, Toms Tante
Hans-Hinrich von Oertzen, SS-Standartenführer
Eduard Krokowski, Kriminalassistent
Wassili Danilowitsch Slavín, ehemaliger Major des NKWD
Juri Andrejewitsch Kuragin, Oberstleutnant des MGB (Ministerium für Innere Angelegenheiten der UdSSR)
Ole Jensen, SS-Sturmbannführer und Sprengstoffexperte
Annerose Mollig, Sydows Sekretärin
Lea von Oertzen, Ehefrau des SS-Standartenführers
Sankt Petersburg / Russland
(Donnerstag, 21.04.1765 und Freitag, 22.04.1765)
Zarskoje Selo[1], am Morgen des 22. Tages im Monat April
Mein teurer Gemahl!
Um Euch, der Ihr fernab von hier auf unserem Gut bei Rostow weilt, über die Geschehnisse an Ihrer Majestät Hof auf dem Laufenden zu halten, im Folgenden einige Zeilen von mir.
Ich hoffe, Ihr befindet Euch wohl und bei guter Gesundheit, was ich von mir, die ich aufgrund des jüngsten Skandals immer noch zutiefst erschüttert bin, bedauerlicherweise nicht behaupten kann. Kommt mir doch das, was sich am gestrigen Abend in Ihrer Majestät Gegenwart zugetragen hat, so ungeheuerlich vor, dass selbst jetzt, etliche Stunden später, die Feder in meiner Hand ihren Dienst zu versagen droht. Seit ich in Ihrer Majestät Dienste getreten bin, habe ich etwas Derartiges noch nicht erlebt, und ich bin mir sicher, dass mir die hochwohlgeborenen Damen und Herren, die Zeuge jener höchst unglückseligen Vorkommnisse gewesen sind, darin beipflichten werden.
Doch der Reihe nach. Zunächst hatte es den Anschein, dass der Abend, über den ich Euch berichten möchte, den gewohnten Verlauf nehmen würde. Nach dem Gottesdienst und dem anschließenden Souper, bei dem sich Ihre Majestät mir gegenüber höchst gnädig zeigte, bat uns die Zarin ins Bernsteinkabinett, um den Abend bei Zigeunermusik, Tokaier und einer Partie Whist[2], ihrem erklärten Lieblingsspiel, ausklingen zu lassen. Mit von der Partie waren unter anderem Grigori Grigorjewitsch Orlow, von dessen Liaison mit unserer gnädigen Herrin allerlei gemunkelt wird, und – Gott sei’s geklagt! – Vater Dmitri, ein hergelaufener sibirischer Starez[3], über den in Sankt Petersburg die wildesten Gerüchte kursieren und der bereits mehrere handfeste Skandale verursacht hat. Zu meinem und dem Leidwesen des erlauchten Kreises, welcher sich im Bernsteinzimmer zusammenfand, war dies auch am gestrigen Abend der Fall. Allein der Geruch, den jener Wandermönch aus den Gefilden jenseits des Uralgebirges verströmte, hätte ausgereicht, uns alle in die Flucht zu schlagen, und als sei dies immer noch nicht genug, überhäufte er Jekaterina Alexejewna[4] mit Flüchen und benahm sich derart ungebührlich, dass die anwesenden Kavaliere ihre ganze Selbstbeherrschung aufbieten mussten, damit es nicht zu einem neuerlichen Eklat kam. Allein Ihrer Majestät Selbstbeherrschung war es zu verdanken, dass jener der Gosse entstiegene Schweinehirt ungeschoren davonkam, wenngleich sie sich, wie deutlich zu erkennen war, in nicht geringem Maße echauffierte.
Man stelle sich vor, was jener Scharlatan, der sich Priester nennt, unserer über alles geliebten Herrscherin zu weissagen erdreistete! Die Herrschaft der Zaren, so die Worte jenes impertinentesten unter den Kretins, werde in nicht allzu ferner Zukunft zu Ende gehen und der Letzte vom Stamme der Romanows ein Schicksal erleiden, welches an Grausamkeit nicht zu überbieten sei. Genau das waren seine Worte – Ihr habt Euch nicht verlesen, mein teurer Gemahl. Doch damit nicht genug. Aus dem Aschehaufen, den die Romanows hinterlassen würden – Aschehaufen, welch ungeheurer Frevel! –, werde ein Tyrann emporsteigen, wie ihn sich Ihre Majestät, die Anwesenden und das gesamte russische Volk nicht vorzustellen imstande wären. Dieser Tyrann, so Dmitri, werde Russland unter seine Knute zwingen, ohne Rücksicht auf Millionen von Menschen, die seiner Herrschaft zum Opfer fallen würden. Doch damit immer noch nicht genug. Nur wenige Jahre später werde neues Unheil über Mütterchen Russland kommen, aus dem Westen, von wo aus es sich wie eine Flut über unser Land ergießen würde. Schlimmer als die Tataren würden wilde Heerscharen über unsere Heimaterde hinwegfegen, sengend, mordend, plündernd und raubend. Nicht einmal das Bernsteinkabinett Ihrer Majestät, dies unvergleichliche, an Schönheit nicht zu überbietende Juwel, werde der Raffgier dieser Berserker entgehen und als Kriegsbeute außer Landes transportiert werden, um für immer vom Angesicht der Erde zu verschwinden. Und so frage ich Euch, mein über alles geliebter Gemahl: Hat man je etwas Absurderes, Frevelhafteres und Lästerlicheres gehört als das wirre Geschwätz dieses hergelaufenen Wanderpredigers, der sich Dmitri Michailowitsch Kapotkin nennt? Hat man je etwas Irrwitzigeres, Abwegigeres und Törichteres gehört als die Behauptung, das Bernsteinkabinett werde in die Hände ausländischer, mit den Mächten des Bösen in Verbindung stehender Invasoren fallen? Verzeiht mir, lieber Gemahl, wenn ich mich derart echauffiere, geht doch das, was mir gestern Abend zu Ohren kam, völlig über meinen und – wie ich annehme – auch über Euren Horizont. Was meine Herrin betraf, nahm sie es mit der ihr eigenen Gelassenheit, ließ diesen Schmutzfink gewähren und zog sich in Begleitung von Orlow alsbald in ihre Gemächer zurück. Als ihre Hofdame tat ich es der Zarin gleich, wenngleich ich gestehen muss, dass ich nach dem Zubettgehen kein Auge zugetan habe.
Soweit mein Bericht, teuerster Gemahl. Falls möglich, lasst bald von Euch hören, damit mir wenigstens ein bisschen Trost zuteilwerden möge.
Irina, Eure Euch in Liebe zugetane Gemahlin
›Am 21., das heißt am Tage des festlichen Feiertages Ihrer Majestät Geburt, geschah in Zarskoje Selo das Folgende: Aus der Kirche geruhte Ihre Majestät in das Bernsteinzimmer hinüberzugehen und erwies den oben beschriebenen Personen [Kavalieren und Hofdamen] ihre Gunst.‹
Aus dem Zeremonialjournal Katharinas II.,
21. April 1765
Katharinenpalais in Zarskoje Selo nahe Sankt Petersburg | kurz vor Sonnenuntergang
»Fluch über dich, Herrscherin aller Reußen!«, schleuderte der verwahrloste Wandermönch seiner Widersacherin ins Gesicht. »Fluch über dich, Ehebrecherin, Mörderin und Hure!«
Im Saal wurde es totenstill, und die Blicke der Anwesenden, überwiegend Damen von Stand, Kavaliere und Gardeoffiziere, wandten sich dem Eingang zu. Der Hüne unter dem Türsturz, vor dem die livrierten Lakaien instinktiv zurückwichen, ließ sich jedoch nicht beirren. Er strahlte etwas aus, das den gepuderten Hofschranzen Furcht einflößte, von seinem Wuchs, durch den er sämtliche Anwesende um Haupteslänge überragte, gar nicht zu reden.
»Fluch über dich!«, wiederholte der bärtige, breitschultrige und vor Schmutz nur so starrende Mönch, bevor er zum entscheidenden Schlag ausholte. »Sei verflucht, Deutsche, der du Mütterchen Russland zugrunde richten wirst!«
Die attraktive, mit einem Dreispitz und der rot-grünen Uniform der Preobraschenskij-Garde bekleidete Herrin über nahezu ein Siebtel der Erdoberfläche verzog keine Miene, selbst dann nicht, als sich der Hüne mit dem fettglänzenden, schulterlangen Haar eine Gasse durch die Reihen der Höflinge bahnte und hocherhobenen Hauptes auf sie zusteuerte.
»Sie sind an der Reihe, Grigori Grigorjewitsch«, forderte sie stattdessen den stattlichen Offizier rechts von ihr auf, nicht der erste und auch nicht der letzte Liebhaber in ihrem Leben. Beim Whist, ihrem Lieblingsspiel, ließ sie sich nur ungern stören, und das wussten Orlow und die beiden anderen Offiziere am Spieltisch genau. »Oder ist Ihnen etwa die Lust vergangen?«
»Beileibe nicht, Majestät«, versicherte der fünf Jahre jüngere, in Diensten der Venus wie auch des Mars gleichermaßen erfahrene Adelsspross, während der Parkettboden des Bernsteinzimmers unter den Stiefeltritten des sibirischen Starez erzitterte. »Wo kämen wir hin, wenn wir uns von einem hergelaufenen Schmutzfink den Abend verderben ließen!«
Jekaterina Alexejewna, bereits zu Lebzeiten ›die Große‹ genannt, gab sich betont entspannt und setzte ein huldvolles Lächeln auf. Sie war 35 Jahre alt, hatte graublaue Augen und kastanienbraunes, mithilfe einer Schleife aus Silberbrokat zusammengehaltenes, Haar. Das eine Idee zu spitz geratene Kinn zeugte von großem Durchsetzungsvermögen, wenngleich sie sich Mühe gab, diese Fähigkeit hinter einer Fassade demonstrativer Jovialität zu verbergen. Für gewöhnlich die Ruhe selbst, gab es so gut wie nichts, was ihre Laune trüben konnte. Es sei denn, man erinnerte sie an ihre Herkunft, was der Tochter eines deutschen Duodezfürsten überhaupt nicht behagte.
»Recht so, mein lieber Orlow«, pflichtete die Zarin ihrem Favoriten bei, prostete ihren Tischnachbarn zu und nippte an ihrem rubinrot schimmernden Tokaier. »An einem Tag wie diesem sollten wir uns die Laune auf keinen Fall …«
»Fluch über dich, Deutsche!« Die Stimme des ungebetenen Gastes war jetzt ganz nahe, und während sich die Zarin wieder ihrer Whistpartie zuwandte, stieg ihr der Geruch von Schweiß, Kautabak und Schweinestall in die Nase. Die Verlockung, den Wandermönch auf der Stelle arretieren zu lassen, drohte übermächtig zu werden, doch wieder einmal setzte sich ihre Selbstbeherrschung durch.
»Ihr Anliegen, Monsieur?«, richtete sie das Wort an den Starez, ohne ihn auch nur eines Blickes zu würdigen. »Dépêchez-vous![5]«
Der Mönch ließ sich nicht lange bitten, entledigte sich des Kreuzes, das er über dem zerschlissenen Habit trug, und reckte es der Zarin aller Reußen entgegen. »Kehre um!«, herrschte er sie an, in einem Ton, der bei den konsternierten Höflingen für helle Aufregung sorgte. »Kehre um, deutsche Hure, auf dass unser geliebtes Mütterchen Russland …«
»Lebe, ich weiß«, vollendete Katharina die Große, geborene Sophie Friederike Auguste von Anhalt-Zerbst. »Wobei ich finde, dass sich unsere rüstige Babuschka durchaus sehen lassen kann. Im Vergleich zu anderen Ländern, meine ich.«
»Und ob, Majestät!«, pflichtete ihr Orlow bei und tat zunächst so, als sei der Wandermönch Luft für ihn. Schließlich rückte er mit kalkulierter Lässigkeit sein Seidenjabot zurecht, blitzte den Kraftprotz scheel an und zischte: »Und jetzt raus hier, Muschik[6], sonst wirst du dein blaues Wunder er…«
»Aber, aber, mein lieber Orlow«, fiel die Zarin dem gut gebauten Offizier, zugleich Vater ihres jüngsten Sohnes, mit unüberhörbarem Tadel ins Wort. »Mit der Kirche wollen wir es uns doch wohl nicht verderben, oder?«
»Das verhüte …«, schickte Orlow sich an, den Ball aufzunehmen, eine Schnupftabakdose in der linken Hand.
Es war der Wandermönch, der den Satz vollendete, und zwar so, dass es dem Offizier die Sprache verschlug.
»Wag es nicht, Sünder …«, presste der Starez hervor und funkelte den eingedenk seiner erotischen Kunstfertigkeit in den Grafenstand erhobenen Salonlöwen wütend an, »wag es nicht, den Namen des Herrn in den Mund zu nehmen. Sonst wird es ein böses Ende mit dir nehmen.«
»Oder mit dir!«, ergänzte die Zarin, des Schauspiels überdrüssig, während sie sowohl Orlow als auch der hereinstürmenden Palastwache mit erhobener Hand Einhalt gebot. »Und deshalb: Sage Er mir, was Er loswerden möchte, Mönch, und rede Er nicht andauernd um den heißen Brei herum!«
Unter den Offizieren, Lakaien und Hofdamen, die sich mit angehaltenem Atem Luft zufächelten, erhob sich affektiertes Gelächter. Katharina die Große schien es nicht zu bemerken. Anscheinend ganz in ihr Spiel vertieft, legte sie ein Ass auf den Tisch, ließ den Arm auf dem mit Seidendamast bespannten Stuhl ruhen und hauchte mit kaum hörbarer Stimme: »Ich höre.«
»Kehre um, Deutsche, bevor es zu spät für dich ist«, stieß der Mönch hervor, während draußen im Park allmählich die Abenddämmerung hereinbrach. Im Licht der Kerzen, welche die Wände des Bernsteinzimmers wie flüssiges Gold erstrahlen ließen, warf seine Gestalt einen unheimlichen Schatten an die gegenüberliegende Wand, was den Starez wie einen dem Erdboden entstiegenen Dämon erscheinen ließ.
»Und was, wenn ich es nicht tue?«, erwiderte die Zarin scheinbar ungerührt.
»Dann, Herrscherin aller Reußen«, dröhnte der Bass des Sibiriers von den mit Bernsteinpaneelen, Spiegelpilastern und Steinmosaikbildern geschmückten Wänden wider, »wird der Zorn Gottes auf dieses Land herniederfahren, und es wird ein Blutbad geben, wie es die Welt bis dato nicht gesehen hat.« Die pechschwarzen Augen des Mönchs verengten sich, und sein Blick, durchdringender denn je, schien die 35-jährige Herrscherin förmlich zu durchbohren. »Millionen werden elendiglich zugrunde gehen, der Leib von Mütterchen Russland wird auf das Widerwärtigste geschändet werden. Kein Stein wird auf dem anderen bleiben, und ein Feuersturm wird über das Land hinwegfegen, schlimmer als alles, was sich menschliche Fantasie auszumalen vermag.«
»Und wann wird es so weit sein?«, spöttelte Orlow und sah sich Beifall heischend um. »Damit ich Reißaus nehmen kann, bevor die Welt untergeht.«
Die erhoffte Wirkung seiner Worte blieb indes aus, und es gab nicht wenige, die sich spontan bekreuzigten. Doch das war erst der Anfang. Kaum waren Orlows Worte verklungen, war in der Ferne dumpfes Donnergrollen zu hören. Wie um den Spötter Lügen zu strafen, flog plötzlich eines der Fenster auf. Ein Windstoß fegte durch den Saal, mit einer Heftigkeit, dass er Dutzende von Kerzen zum Erlöschen brachte. Ein dämonisches Lächeln im Gesicht, sah sich der Sibirier triumphierend um. Dann reckte er sein Brustkreuz in die Höhe und setzte seine Tirade fort: »Und es wird kommen der Tag«, verkündete er, den Blick auf die wie versteinert wirkende Zarin geheftet, »an dem das Geschlecht, dem du, Herrscherin aller Reußen, angehörst, vom Angesicht der Erde getilgt werden wird, und mit ihm alles, was an dich und deinesgleichen erinnert. Und siehe, der Letzte aus dem Stamm der Romanows wird ein qualvolles Ende erleiden, und mit ihm alle, die sich um seinen Thron scharen werden. Aus dem Aschehaufen, den dein verderbtes Geschlecht hinterlässt, wird sich ein Tyrann erheben, schlimmer als alle Despoten, welche die Geschichte kennt. Neues, unermessliches Leid wird kommen über unser schwer geprüftes Land, aus dem Westen, von wo aus jene Horden, schlimmer noch als die Tataren, wie Luzifers Heerscharen über unser Land herfallen werden, mordend, sengend, plündernd und alle jene zermalmend, die sich ihnen in den Weg stellen. Nichts wird mehr so bleiben, wie es war, nicht einmal dieses Zimmer, welches der Beutegier der fremden Barbaren zum Opfer fallen wird. Hast du gehört, Herrscherin der Reußen? Nicht einmal dieses Kabinett, in dem du dich niedergelassen hast, um dem Laster, dem Müßiggang und der Sünde zu frönen.«
»Damit du es weißt, Mönch –«, entrüstete sich die Zarin und sprang erregt auf, »solange ich die Geschicke dieses Landes lenke, wird das, wovon du sprichst, ein Hirngespinst bleiben. Kein Widersacher, und sei er auch noch so mächtig, wird es je wagen, Hand an Mütterchen Russland zu legen. Und selbst wenn, wird dieser Jemand der gerechten Strafe nicht entgehen. Niemand wird die Kühnheit besitzen, die geheiligten Rechte der Romanows infrage zu stellen, von nun an bis in Ewigkeit. Keine Macht der Welt wird je imstande sein, unsere geheiligte Muttererde zu entweihen oder dieses Kleinod, welches ich, Jekaterina, geschaffen habe, in ihren Besitz zu bringen. Diese Ländereien, dieses Schloss und vor allem dieses Zimmer, mein liebstes Domizil auf Erden – sie werden auf ewig russisch bleiben, compris[7]?«
Einmal in Rage, hatte Jekaterina, Herrscherin aller Reußen, sowohl ihre guten Manieren als auch ihre sie entgeistert anstarrende Entourage vergessen. Außer sich vor Empörung, stürzte sie schließlich ihren Tokaier hinunter, doch als sie sich wieder beruhigt hatte und ihr Blick denjenigen des Mönchs suchen wollte, war ihr Kontrahent bereits verschwunden.
Puschkin
(15.09.1941)
›Um 4 Uhr morgens haben deutsche Truppen, ohne Kriegserklärung und ohne irgendwelche Forderungen an die Sowjetunion gestellt zu haben, unser Land angegriffen. Sie haben an vielen Stellen unsere Grenzen überschritten und unsere Städte bombardiert. Wir werden unsere Pflicht tun. Der Feind wird vernichtet werden. Der Sieg wird unser sein.‹
Radioansprache des sowjetischen Außenministers
Wjatscheslaw M. Molotow anlässlich des deutschen Angriffes auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941
Puschkin, vormals Zarskoje Selo | frühmorgens
»Die Deutschen, Genosse Direktor!«, rief ihm seine Kollegin schon von Weitem zu. »Die faschistischen Invasoren, hören Sie nicht?«
Und ob er es hörte. Der Kustos[9] des Katharinenpalastes, knapp 30, schmallippig und bebrillt, senkte den Blick und fuhr sich mit den Handkuppen über die hohe Stirn. Bei dem Lärm, den die Granaten, Haubitzen und Mörser der Heeresgruppe Nord veranstalteten, platzte einem glatt das Trommelfell. Höchste Zeit, sein Heil in der Flucht zu suchen.
»Die Deutschen, Anatoli Michailowitsch, die Deutschen!«
Der Kustos seufzte. »Ich bin weder schwerhörig noch taub noch lebensmüde, Genossin«, versicherte er seiner Assistentin, einer bildhübschen, noch dazu äußerst begabten Kunsthistorikerin. »Das können Sie mir getrost glauben.«
»Aber warum … warum bringen Sie sich nicht in Sicherheit?«
»Und wer passt dann auf das Zimmer auf?«, ereiferte sich der Kustos, dem der Hemdkragen beinahe die Luft abschnürte, strich über die Empire-Kommode zu seiner Rechten und bedeutete den verbliebenen Bediensteten, das Möbelstück hinauszutragen. »Die Deutschen vielleicht?«
Die brünette Leningraderin, aufgrund ihrer Figur für eine Karriere als Balletttänzerin geradezu prädestiniert, schüttelte ratlos den Kopf. »Weiß ich nicht, Genosse«, flüsterte sie geknickt, den Geschützlärm der Panzergruppe 4 im Ohr, der mit jeder Minute, die sie hier vertrödelten, näher zu kommen schien. »Was ich allerdings weiß, ist, dass Sie alles getan haben, um dieses Zimmer vor größerem Schaden zu …«
Ein Geschoss, das unweit des Puschkindenkmals einschlug, ließ die Kunsthistorikerin jäh verstummen. Ganz anders der Konservator, den der Gefechtslärm offensichtlich kaltließ. »Das sagt sich so leicht, Genossin«, sinnierte er, augenscheinlich ohne jeden Sinn für die Gefahr, in der sie beide schwebten. Und murmelte betrübt: »Das Bernsteinzimmer, ausgerechnet das Bernsteinzimmer. Nicht auszudenken, was passiert, wenn es den Deutschen in die Hände fällt.«
»Sieht so aus, als müssten wir uns damit abfinden«, erwiderte die Kunsthistorikerin lapidar, machte eine weit ausholende Handbewegung und folgte dem Blick des Kustos, der sich von dem leer geräumten, mit Pappe beklebten Zimmer partout nicht losreißen konnte. »Seien wir ehrlich, Genosse: Was zu tun war, haben wir getan. Wir haben die Bernsteinsammlung verpackt, die Gobelins, das Sèvresporzellan. Die Fenster mit Brettern vernagelt, das Parkett mit Teppichen und Sand geschützt, einen Wassertank samt Feuerlöscher bereitgestellt – ich weiß nicht, was wir beide uns vorzuwerfen hätten.« Die zierliche Russin, über deren Madonnengesicht unter den Museumsbediensteten allerlei frivole Witze kursierten, trippelte nervös auf der Stelle. »Kopf hoch, Anatoli Michailowitsch«, redete sie dem in sich gekehrten Bernsteinexperten gut zu. »Wenn der Krieg vorbei ist, werden wir hier wieder Ordnung schaffen.«
Die Antwort war ein desillusioniertes Schnauben, und während der Kustos ein Bernsteinfragment betrachtete, das er soeben aufgehoben hatte, bildeten sich Sorgenfalten auf seiner Stirn. »Wenn es dann noch da ist, Anna Semjonowa«, flüsterte er, nachdem in unmittelbarer Nähe eine weitere Granate detoniert war. »Wenn es dann noch da ist.«
»Sie glauben doch nicht etwa, dass die Deutschen uns das antun werden?«
Die Lippen des anerkannten Fachmannes kräuselten sich, auf seinem Mund erschien ein sibyllinisches Lächeln. »Auszuschließen ist es jedenfalls nicht«, versetzte er in nachdenklichem Ton. »Wenn man bedenkt, was sich allein dieser Göring so alles unter den Nagel gerissen hat, werden die Nazis bezüglich des Bernsteinzimmers wohl kaum irgendwelche Skrupel haben.«
»Aber es war doch ein Geschenk, vom preußischen König an Zar …«
»Peter den Großen, ich weiß«, vollendete der Kustos, runzelte die Stirn und sah seine Assistentin amüsiert an. »Wie Sie sich sicher vorstellen können, habe ich meine Hausaufgaben gemacht.«
»Verzeihung, Genosse, ich wollte Sie nicht kränken.«
»Was heißt hier ›kränken‹, Anna Semjonowa«, warf der Angesprochene mit hintergründigem Schmunzeln ein. »Dafür sind doch wohl die Deutschen zuständig. Wie gesagt: Bedenkt man, welche Schätze den faschistischen Invasoren bis jetzt in die Hände gefallen sind, besteht kein Grund zur Annahme, dass sie vor dem achten Weltwunder haltmachen werden.«
»Und was …«, flüsterte die sichtlich betroffene Kunsthistorikerin, während sie der Kustos behutsam Richtung Ausgang bugsierte, »was wird dann geschehen?«
»Zunächst einmal, Anna Semjonowa, wird unser aller Führer, der Genosse Stalin, den Krieg gewinnen müssen. Keine leichte Aufgabe, wie die vergangenen Wochen gezeigt haben.«
»Und danach?«
»Für den Fall, dass diese Utopie Wirklichkeit werden wird, Genossin, gibt es im Grunde zwei Möglichkeiten.«
»Welche denn?«
»Entweder wir bekommen das Bernsteinzimmer unversehrt zurück«, erwiderte der Kustos, drehte sich um und bedachte den Ort, der ihm mehr bedeutete als alles andere auf der Welt, mit einem wehmütigen Blick, »oder wir müssen noch mal ganz von vorn anfangen.«
Daraufhin schloss er die Tür und eskortierte seine Assistentin zum Wagen.
Ostberlin
(16.06.1953)
Berlin-Mitte, Psychiatrische Klinik der Charité, Charitéplatz | 04.40 h
Im schlimmsten Fall, dachte er, werden sie dich irgendwo verscharren. Oder deinen Leichnam in die Spree werfen. Oder, um ihre Spur zu verwischen, irgendwo aufknüpfen. Der Einfachheit halber am besten gleich hier, an den Gitterstäben.
Oder vielleicht im Park?
Wann, wo und wie auch immer: Er würde ihnen einen Strich durch die Rechnung machen. Er würde etwas tun, womit niemand rechnete. Etwas Unerwartetes, Überraschendes – Kompromittierendes. Er, das in die Enge getriebene Opfer, würde ihre Pläne durchkreuzen.
Hier und jetzt.
Der fragil wirkende, extrem kurzsichtige und viel zu blasse Patient in mittleren Jahren lächelte stillvergnügt vor sich hin. Zugegeben, letzten Endes würde er gegen seine Widersacher auf verlorenem Posten stehen. Das war ihm von Anfang an klar gewesen. Im Grunde schon seit dem Tag, an dem der Professor zum ersten Mal aufgekreuzt war. Der Mann, mit dem er im Krieg durch dick und dünn gegangen war.
Einer, der vor nichts zurückschrecken würde.
Auch davor nicht, ihn zu beseitigen.
Aber darüber brauchte er sich momentan keine Gedanken zu machen. Einmal gefasst, stand sein Entschluss fest. Ganz gleich, zu welcher Zeit, an welchem Ort und auf welche Weise man sich seiner sterblichen Überreste entledigen würde. Daran würden sämtliche Drohungen und Einschüchterungsversuche, ja nicht einmal die alten Zeiten etwas ändern.
Der Insasse von Zelle 5, trotz Verhör, Folter und zahlloser Schikanen kein gebrochener Mann, lachte verächtlich auf, griff in seine Brusttasche und betrachtete die Kapsel zwischen Daumen und Zeigefinger, an denen jeweils der Nagel fehlte, aus nächster Nähe. Bei ihrem Anblick empfand er klammheimliche Freude, weit davon entfernt, es sich noch einmal anders zu überlegen. Fünf Gramm Morphium, mehr als genug. Diese winzige Kapsel, gerade einmal ein paar Millimeter lang, würde ihn von sämtlichen Ängsten, Nöten und einer nicht enden wollenden Tortur befreien.
Von nun an bis in Ewigkeit.
Froh gelaunt wie schon lange nicht mehr, ließ der 33-jährige, kahl geschorene, knapp 1,80 Meter große Patient der psychiatrischen Abteilung der Berliner Charité die Kapsel wieder in seiner Brusttasche verschwinden, erhob sich und schlüpfte in seine Pantoffeln. Danach verrichtete er seine Morgentoilette. In all den Jahren, die er hier verbracht hatte, war er stets auf sein Äußeres bedacht gewesen. Die Frage, ob dies überhaupt einen Sinn ergab, war nicht aufgetaucht. Benjamin Kempa war nun einmal ein penibler Mensch. Und daran würde sich in der Stunde seines Todes nicht das Geringste ändern.
Knapp fünf Minuten später, im Licht der Deckenlampe, die ihn noch eine Spur blasser erscheinen ließ, war es schließlich so weit. Der entscheidende, von Kempa geradezu herbeigesehnte Moment war gekommen. Der gelernte und für unheilbar schizophren erklärte Ingenieur betrachtete sein Konterfei, rieb die graublauen Augen und hängte das Handtuch wieder an seinen Platz. Durch das Zellenfenster zu seiner Rechten flutete das Licht der Morgendämmerung, aber darauf verschwendete der spröde Dresdener keinen Blick. Heute, am 16. Juni, war sein Todestag. Je eher er seine Absicht in die Tat umsetzen würde, desto besser.
Im Begriff, sich wieder auf seine Pritsche zu legen, fiel Kempas Blick auf das Buch, welches neben ihm auf dem Nachttisch lag. Er kannte es fast auswendig, wie oft er es zur Hand genommen hatte, konnte er beim besten Willen nicht sagen. Genau genommen, wusste er nicht einmal, was genau ihn an seinem Inhalt so sehr faszinierte. Gehörte doch das, worum es sich in dem Buch drehte, unwiderruflich der Vergangenheit an. Einer Vergangenheit, an die er lieber nicht erinnert werden wollte.
Oder etwa doch?
Gegen seinen Willen und die Absicht, seinem Leben möglichst rasch ein Ende zu setzen, nahm der Insasse der geschlossenen Abteilung der Psychiatrie das Buch zur Hand und blätterte es durch. Er wusste, was er tat, war sich im Klaren, dass sein sorgsam ausgetüftelter Plan dadurch in Gefahr geraten würde. In weniger als einer Viertelstunde, vielleicht schon früher, würde der Stationsarzt seine Runde machen. Spätestens bis dahin, so sein Kalkül, musste er sein Vorhaben in die Tat umgesetzt haben. Sonst wäre alles umsonst gewesen und die Chance, über seine Widersacher zu triumphieren, ein für alle Mal vertan.
Doch daran schien Kempa in diesem Moment keinen Gedanken zu verschwenden. »Der Stil des Bernsteinzimmers von Zarskoje Selo«, murmelte er halblaut vor sich hin, während sich sein Blick verklärte und an der gegenüberliegenden Zellenwand haften blieb, »ist ein Gemisch von Barock und Rokoko und ein wahres Wunder nicht nur durch den großen Wert des Materials, der kunstvollen Schnitzerei und der Leichtigkeit der Formen, sondern hauptsächlich durch den schönen, bald dunklen, bald hellen Ton des Bernsteins, der dem ganzen Zimmer einen unaussprechlichen Reiz verleiht.« Er kannte den Text auswendig, in der Tat. Wort für Wort, Zeile für Zeile, jedes einzelne Kapitel. Ausgerechnet er, der er sich mit dem Auswendiglernen stets schwergetan hatte. »Rohde, Alfred«, rezitierte der schmächtige Bergwerkexperte wie in Trance, »Bernstein. Ein deutscher Werkstoff. Seine künstlerische Verarbeitung vom Mittelalter bis zum 18. Jahrhundert. Erschienen in …«
Ein Geräusch auf dem Gang, allem Anschein nach die Schritte mehrerer Personen, katapultierte den Insassen von Zelle 5 wieder in die Gegenwart zurück, und ein nervöses Flackern trat in sein hohlwangiges Gesicht. Die aufkeimende Hektik von Benjamin Kempa währte indes nur kurz. Kaum lag das Buch wieder an Ort und Stelle, hatte er die Giftkapsel geschluckt, deren Morphingehalt ausgereicht hätte, um drei Erwachsene zu töten, und sich mit entspanntem Lächeln auf seine Pritsche sinken lassen.
Er würde ihre Pläne durchkreuzen, so oder so.
»Na, wieder bei Kräften?«, schnarrte der Stationsarzt, die Hände vor der Brust verschränkt. »Oder fühlen wir uns am Ende wieder mal nicht …«
»Kein Grund zur Sorge«, kam ihm Kempa zuvor, ein beseligtes Lächeln im Gesicht. »Mit meinen Wehwehchen ist es ein für alle Mal vorbei.«
»Freut mich zu hören«, versetzte der wie aus dem Ei gepellte, mit Borsalino, dunklem Anzug und Seidenschal ausgestattete Begleiter des Stationsarztes, der wie der Prototyp eines Impresarios aussah. Der sorgsam zurechtgestutzte d’Artagnan-Bart, so etwas wie sein Markenzeichen, trug in erheblichem Maße zu diesem Eindruck bei. »Noch irgendwelche Wünsche?«
Die Reaktion bestand aus einem Achselzucken. »Nicht, dass ich wüsste«, erklärte Kempa lapidar, während sich seine Augenlider langsam senkten. »Könnte mir nicht besser gehen.«
»Na schön, Kleiner«, gab sich der schlanke, mindestens einen Kopf größere Offizier im besonderen Einsatz[10] betont jovial, »ganz, wie du willst.«
»Du sagst es, Professor.«
Der Mundwinkel des knapp 39-jährigen Oberleutnants der Staatssicherheit zuckte nervös, und der konturlose, auf einem schlanken Hals ruhende Schädel bewegte sich ruckartig nach vorn. »Wenn du denkst, Genosse«, raunzte er den ehemaligen Kriegskameraden ohne Rücksicht auf den Stationsarzt an, »wenn du denkst, du kannst uns verarschen, hast du dich geschnitten.«
»Tatsächlich?«
»Was deine Absichten betrifft«, ergänzte der Stasi-Beamte von oben herab, hinter dessen gepflegter Erscheinung sich der gelernte Folterknecht verbarg, »sind wir nämlich bestens im Bilde, Benjamin.« Und kurz darauf, nach einem Blickwechsel mit dem Stationsarzt: »Ist dir eigentlich klar, dass du uns beiden viel Arbeit abnimmst?«
»Keine Ahnung, wovon du sprichst, Kamerad.«
»Und ob du sie hast!«, widersprach Kempas Widersacher, nach außen weiterhin um Contenance bemüht. »Genug Morphium, um einen Elefanten zu erledigen, und du kleiner Klugscheißer denkst, wir kriegen davon nichts mit. Dazu dieser dilettantische Plan. Ich hätte dich wirklich für klüger gehalten, Benjamin.« Der Stasi-Beamte richtete sich zu voller Größe auf und ließ den Blick über den Todgeweihten wandern. »Damit du Bescheid weißt: Der Fetzen Papier, mit dem du uns beide in Atem gehalten hast, befindet sich seit gestern Abend in unserer Hand.« Der Oberleutnant ließ seiner Häme freien Lauf. »Schachmatt, Genosse Ingenieur.«
»Ich verstehe nicht, was …«
Erst im letzten Moment, als sich der Blick des Oberleutnants in den seinen versenkte, begriff Benjamin Kempa, dass er sich verkalkuliert hatte. Durch den Körper des 33-Jährigen ging ein Ruck, und während er den Stasi-Offizier am Kragen packte, begann sich die Welt um ihn herum zu drehen. Seine Pupillen verengten sich, die Atmung sank zu einem kaum wahrnehmbaren Lüftchen herab. Das Gesicht zu einer Fratze des Entsetzens verzogen, ergab sich der Dresdener, welcher die letzten acht Jahre seines Lebens hinter Gittern zugebracht hatte, in sein Schicksal. Der Kampf mit seinem Widersacher, über den sich das blutrote Licht der Morgendämmerung ergoss, war unwiderruflich vorbei.
Und er hatte ihn verloren.
»Mach’s gut, Genosse!«, höhnte der Oberleutnant, schüttelte Kempa ab und wandte sich mit angewiderter Miene zur Tür, gefolgt vom Stationsarzt, der den Sterbenden keines Blickes würdigte.
Kaum hatten die beiden seine Zelle verlassen, war Benjamin Kempa tot.
*
»Und was jetzt?«, fragte der Stationsarzt, ein Endfünfziger mit schlohweißem Haar, das die ideale Ergänzung zu seiner Montur darstellte. Alles an ihm war seriös, makellos, unauffällig: das Allerweltsgesicht, die mausgrauen, ans Farblose grenzenden Augen, der schmallippige Mund. Fast so unauffällig wie sein Gang, der ihm den Spitznamen ›Doktor Schleicher‹ beschert hatte. »Können Sie mir das vielleicht erklären?«
»Ich fürchte, hier gibt es nichts zu erklären«, antwortete der Stasi-Offizier, offenbar bester Laune. »Es sei denn, wie man von hier aus am schnellsten nach draußen kommt.«
»Durch die Tür«, zischte der Stationsarzt, mit den Gedanken noch immer beim toten Patienten von Zelle 5, und räumte ihm zähneknirschend den Vortritt ein. »Hier entlang.«
»Zu gütig«, bedankte sich der Offizier im besonderen Einsatz, den Stationsarzt auf den Fersen, dem es plötzlich nicht schnell genug gehen konnte. Vor der Gittertür angekommen, welche die geschlossene Abteilung mit der Außenwelt verband, blieb er schließlich stehen und wartete, bis sein Lakai sie entriegelt, aufgeschlossen und geöffnet hatte. »Wenn ich Ihnen einen Rat geben darf, Herr Doktor –«, flüsterte er dem Stationsarzt mit unbewegter Miene zu, den Türknauf in der feingliedrigen Hand, »sehen Sie zu, dass Sie Ihren unbequemen Patienten möglichst schnell loswerden.«
»Und wie, wenn man fragen darf? Ich kann ihn nicht so ohne Weiteres verschwinden lassen. Und wenn wir gerade dabei sind: Wer hat ihn denn auf dem Gewissen, Sie oder ich?«
»Vorschlag zur Güte, lieber Doktor«, raunte der Stasi-Offizier dem Stationsarzt über die Schulter und das Ächzen der Verbindungstür hinweg zu, welche sich soeben hinter ihm schloss, »wenn Sie schlau sind, vergessen Sie, was sich am heutigen Tage zugetragen hat. Sonst …«
Im Bewusstsein, sich den Rest des Satzes sparen zu können, zupfte der Oberleutnant seinen Seidenschal zurecht, begutachtete das Parteiabzeichen, das er auf dem Revers seines Anzuges trug, und strebte gemächlichen Schrittes dem Ausgang entgegen.
Der Stationsarzt, herrisch gegenüber seinen Untergebenen, ansonsten der geborene Duckmäuser, hatte verstanden.
Und machte sich an die Arbeit.
Königsberg / Ostpreußen,
(30.08.1944)
»Ich brauchte lange, bis ich vor dem Haus meiner Verwandten stand. Auch hier gab es lediglich Ruinen. In den Kellern glühte noch der Koks, und die Luft war von einem unangenehmen Geruch erfüllt. Weit und breit kein Mensch, den ich hätte fragen können. Mich packte das Grauen und ich hastete weiter. Später bekamen wir Nachricht, dass die ganze Familie Opfer eines Terrorangriffs geworden und unter Nummer sechstausendsoundsoviel begraben worden sei.«
Augenzeugenbericht über die Bombardierung Königsbergs durch die RAF in der Nacht vom 29. auf den 30. August 1944
Stadtzentrum | 01.02 h
Die Nacht, in der die Apokalypse über Königsberg hereinbrach, war wolkenverhangen, der vorletzte Tag im August, ein Mittwoch, gerade einmal eine Stunde alt. Der Wind, der vom Frischen Haff herüberwehte, roch bereits nach Herbst, und es schien, als würde dies eine Spätsommernacht wie jede andere werden.
Doch der Schein trog. Die fünfte Bombergruppe der Royal Air Force und ihre 189 Maschinen vom Typ Avro 683 Lancaster war nicht mehr weit. Zum Verdruss der Piloten, allen voran der Masterbomber, lag jedoch eine schützende Wolkendecke über der Stadt. Und so hatten sie keine Ahnung, wo genau sich ihr Zielgebiet befand.
Noch nicht.
Schon drohte den mit jeweils vier Rolls-Royce-Triebwerken, bis zu sechs Tonnen Bombenlast und acht MGs bestückten Maschinen der Sprit auszugehen, als sich mit 20-minütiger Verspätung die ersehnte Lücke auftat. Was folgte, war bloße Routine. Der Masterbomber, etwa 8.000 Meter über der Stadt, dirigierte die Markierer an Ort und Stelle. Kaum war dies geschehen, regneten Lichtkaskaden vom Nachthimmel herab, gleißend hell wie ein explodierender Stern. Kurz darauf, begleitet vom Sperrfeuer der deutschen Flak, hatte die letzte Stunde der Perle Ostpreußens geschlagen. Die Schalen des Zorns ergossen sich über der Stadt, und binnen Kurzem wurde die Nacht zum Tage. Die No. 5 Group, Eliteverband der Royal Air Force, kannte keine Gnade, weder jetzt noch im weiteren Verlauf des Krieges. Die tödliche Fracht in den Bombenschächten belief sich auf knapp 500 Tonnen, die aus einer Höhe von 4.000 Metern auf die Metropole am Pregel herabregneten, etliche der Sprengkörper fast 1.000 Kilo schwer. Es war ein Schauspiel, wie es selbst die Hartgesottenen unter den Piloten kaum je erlebt hatten, und der Feuersturm, der unter ihnen entfacht wurde, war mehr, als manche von ihnen ertragen konnten. Schlimmer als sämtliche biblischen Plagen zusammen bahnte er sich seinen Weg, begleitet vom Krachen unzähliger Explosionen, den Einschlägen der Stabbrandbomben und dem unaufhörlichen Phosphorregen, vor dem es kein Entrinnen gab. Nicht lange, und eine unaufhaltsame, alles vernichtende, auch noch das letzte Quäntchen Sauerstoff aufsaugende Feuerwalze rollte heran, die jeden, der sich im Freien aufhielt, in Sekundenbruchteilen tötete.
*
»Sie können da jetzt nicht raus, Herr Direktor!«, entschied der Luftschutzwart und blockierte kurzerhand die Bunkertür. Die Arme vor der Brust verschränkt, blickte der übergewichtige Mittfünfziger mit dem markanten Doppelkinn auf den 52-jährigen, mittelgroßen, mindestens einen Kopf kleineren Brillenträger hinab. Wenn hier jemand etwas zu melden hatte, dann er, mochte sich sein Kontrahent auch Doktor nennen, Kunstgeschichte studiert haben und einer der bekanntesten Bürger der Stadt sein.
»Und ob ich das kann!«, beharrte der unscheinbar wirkende Hanseate, seines Zeichens Direktor der Städtischen Kunstsammlungen von Königsberg. Obschon erst in den frühen 50ern, sah er wesentlich älter aus, gezeichnet von der parkinsonschen Krankheit, unter der er seit geraumer Zeit litt. »Es sei denn, Sie hindern mich mit Gewalt daran.«
Der Luftschutzwart, im Zivilleben Buchhalter, am heutigen Tage jedoch die personifizierte Autorität, rührte sich nicht vom Fleck. Als sei der Direktor Luft für ihn, rückte er seinen Stahlhelm zurecht, gab einen Stoßseufzer von sich und inspizierte den Tornister, in dem sich seine Gasmaske befand. Die Leuchtstoffplakette auf seiner Uniformjacke blitzte kurz auf, ebenso wie die graublauen, von sorgsam gestutzten Brauen überwölbten Augen. Ein Lächeln auf den farblosen Lippen, wandte er sich daraufhin wieder dem in seinen Augen überaus lästigen Querulanten zu. Von einem Zivilisten würde er sich nicht auf der Nase herumtanzen lassen, von einem der oberen Zehntausend schon gar nicht.
»Ob Sie es nun wahrhaben wollen oder nicht, Herr Rohde«, verschärfte der Luftschutzwart seinen Ton, »da draußen werden Sie vor die Hunde gehen. Schneller, als Sie denken.«
»Darüber machen Sie sich bitte keine Gedanken, Herr …«
»Luftschutzwart!«, ergänzte der Zweizentnermann, während in unmittelbarer Nähe des Bunkers eine Mine explodierte, welche die knapp 300 Meter nördlich des Königlichen Schlosses gelegenen Katakomben bis in die Grundfeste erzittern ließ. Putz rieselte von den Wänden, die Gesichter ihrer Insassen, zumeist Frauen, Kinder und ältere Bewohner aus dem Wohngebiet rund um den Paradeplatz, wurden vor Schreck aschfahl. Der Schrei, der den meisten auf den Lippen lag, blieb jedoch aus. »Und somit verantwortlich für sämtliche Bunkerinsassen. Auch für Sie, HerrRohde.«
»Haben Sie überhaupt eine Ahnung, was für mich auf dem Spiel steht?«, begehrte Rohde auf und umklammerte seinen Stock. Mit der hanseatischen Gelassenheit, die dem vor der Zeit gealterten Bernsteinexperten anhaftete, war es endgültig vorbei. »Nein? Falls es Sie interessiert, wäre es mir eine Freude, Sie umfassend ins Bild zu setzen, Herr Luftschutzwart.«
Der Angesprochene holte tief Luft, und nachdem sein Doppelkinn wieder die ursprüngliche Position erreicht hatte, schob er es nach vorn und knurrte: »Hören Sie mir gut zu, Sie Klugscheißer: Entweder Sie setzen sich unverzüglich auf Ihren Beamtenarsch, oder Sie kriegen eins auf den Deckel, dass es sich gewaschen hat, klar?«
»Auf die Gefahr, bei wem auch immer in Ungnade zu fallen – sollten Sie den Weg nicht freigeben, kriegen Sie eins auf den Deckel, Herr Luftschutzwart. Wenn nötig, vom Gauleiter persönlich.«
Der Wink mit dem Zaunpfahl wirkte, und die Fassade der Autorität, hinter der sich der Kleinbürger in Uniform verschanzt hatte, begann zu bröckeln. »Und was«, hielt er dagegen, die muskulösen Arme immer noch verschränkt, »ist so wichtig, dass Sie bereit sind, Ihr Leben aufs Spiel zu setzen?«
»Dinge von übergeordneter Bedeutung, Herr Luftschutzwart«, tat der Direktor die Frage mit einer gehörigen Portion Ironie in der Stimme ab. »Ein Kunstwerk aus dem Katharinenpalast in Puschkin.«
»Aus dem …«, begann der Zweizentnermann, unterließ es jedoch, die Frage zu vollenden. Die Genugtuung, im Beisein von einem guten Dutzend Zeugen als Idiot dazustehen, wollte er Rohde nicht gönnen. Der Grund, weshalb er auf ein anderes Terrain auswich. »Ja, wenn das so ist, haben Sie natürlich meinen Segen«, revanchierte sich der Luftschutzwart prompt. »Vor allem, was Ihren kleinen Morgenspaziergang betrifft.« Der Koloss stemmte die Fäuste in die Hüften und schüttelte den Kopf. Dann drehte er den Spieß um. »Für den Fall, dass es Sie ins Schloss ziehen sollte, Herr Rohde –«, tat er mit einer Mischung aus Spott und Herablassung kund, »mittlerweile dürfte dort kein Stein mehr auf dem anderen liegen. So tief können Sie Ihren Krimskrams gar nicht einlagern, als dass er vor den Bomben der Tommies sicher wäre.«
Was als Retourkutsche gedacht war, verfehlte allerdings seine Wirkung. Bevor der Zweizentnermann reagieren konnte, hatte ihn Rohde nämlich am Schlafittchen gepackt und zog ihn auf Augenhöhe zu sich hinab. »Für den Fall, dass es Sie ins Kittchen ziehen sollte –«, ahmte er sein Gegenüber mit feuerrotem Gesicht nach, »mittlerweile ist meine Geduld erschöpft. Zum Mitschreiben, Herr Luftschutzwart: Wenn Sie mir den Weg nicht freigeben, haben Sie mit ernsthaften Konsequenzen zu rechnen. Von welcher Art, werden Sie früh genug erfahren.« Alfred Rohde ließ von seinem Kontrahenten ab, rückte seine Krawatte zurecht und richtete sich auf. »Das heißt, falls Sie den heutigen Tag überleben.«
*
Als der Direktor der Städtischen Kunstsammlungen von Königsberg ins Freie trat, prallte er entsetzt zurück. In der Stadt am Pregel, insbesondere auf der Dominsel, war nichts mehr so wie früher. Die Stadt war dem Erdboden gleichgemacht, in nur neun Minuten von der Landkarte getilgt worden. Selbst jetzt, mehrere Stunden nach dem Angriff der Briten, loderten überall Brände empor, und der Qualm, der ihm entgegenschlug, raubte ihm fast den Atem. Je weiter er sich vom Bunkereingang entfernte, desto größer das Chaos, durch das er sich seinen Weg bahnte. Ein feuchtes Taschentuch vor dem Mund, tastete er sich Schritt für Schritt voran, vorbei an Schuttbergen, Trümmern und verkohlten, bis zur Unkenntlichkeit verstümmelten Leichen. Hin und wieder kreuzten Bekannte seinen Weg, in sich gekehrt, apathisch und tief gebeugt. Die einen mit Leiterwagen, auf denen sich ein paar Habseligkeiten befanden, die anderen mit Rucksack und die meisten nur mit dem, was sie am Leib trugen. Alfred Rohde rang nach Luft, vom Gestank nach verbranntem Fleisch und Phosphor wurde ihm speiübel. Der Asphalt war glühend heiß, an einigen Stellen sogar geschmolzen. Wo er auch hinsah, nichts als Ruinen, Autowracks und Geröllhaufen.
Auf dem Paradeplatz, einem weitläufigen, von der Universität, dem Theater und der Königshalle begrenzten Areal, reihte sich eine Schutthalde an die andere. Einzig das Reiterstandbild Friedrich Wilhelms III. befand sich noch an Ort und Stelle vor der Albertina, wie verloren zwischen Bombenkratern, verkohlten Bäumen und Straßenlaternen, die wie welke Grashalme umgeknickt worden waren. Wenn es die Hölle auf Erden gibt, kam es Rohde im Vorbeigehen in den Sinn, dann hier in Königsberg. Doch so sehr ihm die Trümmerlandschaft unter die Haut ging, er hatte noch eine Mission zu erfüllen. Ungeachtet der Tatsache, dass gerade eine Welt untergegangen war.