Raimund A. Mader
Schindlerjüdin
Kriminalroman
Personen und Handlung sind frei erfunden.
Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen
sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
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1. Auflage 2010
Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt
Herstellung/Korrekturen: Julia Franze / Doreen Fröhlich
Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart
unter Verwendung eines Bildes von: nschulle / photocase.com
ISBN 978-3-8392-3572-0
Meiner Mutter, die ihre Heimat verloren hat, aber uns eine gewesen ist …
Die Welt ist die Äußerung einer unvernünftigen und blinden Kraft; in ihr zu leben heißt leiden.
A.Schopenhauer
Da ist keiner, der von der schwarzen Milch der Frühe trinkt. Nur Schlangen, die sich am blutgetränkten Ufer tummeln. Die Brücke in Stein gehauen, für die Ewigkeit gebaut. Welche Ewigkeit? Ein grauer Mond steht über dem Fluss. Ein Rüde bellt in der Ferne und ist doch so nahe …
Ein schlanker, breitschultriger Mann, gekleidet in lederne Kniebundhosen, mit Wollkniestrümpfen und Filzhut, gehüllt in einen groben Lodenmantel, der ihm viel zu kurz ist – wohl hat er ihn sich nur geliehen –, eilt mit hastigen Schritten durch die engen Gassen der Regensburger Innenstadt, nähert sich der Steinernen Brücke. Die meisten Gebäude, an denen er vorbeihuscht, scheinen weitgehend unversehrt und nur an manchen noch sind Spuren von Zerstörung zu erkennen. Die gröbsten Trümmer sind beseitigt, wenngleich hier und da dunkle Schlunde links und rechts der Straßen und Gassen gähnen, Zeugnis ablegen von Barbarei und von Zeiten unmenschlichen Größenwahns.
Trotz der weit ausgreifenden Schritte wirkt der Mann bedrückt und zögerlich. Scheint sich selbst fremd. Als befände er sich nicht in seinem angestammten Revier.
Er sieht auf die Uhr. Es ist kurz nach halb drei.
Als er die Brücke erreicht hat, bleibt er stehen. Hier, am Zugang zur Brücke, dem alten Brücktor, sind die Zerstörungen durch die Sprengungen während der letzten Kriegstage noch deutlich zu sehen. Der Mann blickt auf den Fluss, ein fahles, dunkles Band, das sich zitternd um die mächtigen Brückenpfeiler wickelt. Er kramt in seiner Manteltasche, holt ein zerdrücktes Päckchen mit Ami-Zigaretten heraus, zündet sich eine davon an, nimmt zwei, drei Züge und schnipst dann den angerauchten Stummel weg.
Immer wieder dreht er sich um, und doch nimmt er dabei den grauen Schatten nicht wahr, der nur wenige Meter hinter ihm im Schutz einer Gartenmauer verharrt.
Erst nach einigen Minuten geht der Mann weiter, wagt sich durch das Brücktor hinaus auf die ungeschützte Brücke. Dort trifft ihn der kalte Nachtwind mit voller Wucht und er scheint noch tiefer in sich hineinzukriechen als zuvor. Als er etwa 50 Meter gegangen ist, leuchten am anderen Ende der Brücke plötzlich die gelben Scheinwerfer eines Fahrzeugs auf und verlöschen wieder. Der Mann zögert einen Moment, geht aber weiter, bis er den Scheitelpunkt der Brücke erreicht hat. Dort, direkt neben dem Bruckmandl, dem verwitterten, steinernen Wahrzeichen, bleibt er stehen und wartet.
Von der anderen Seite des Flusses nähern sich bald darauf drei dunkle Gestalten, Männer mit breitrandigen Hüten, tief in die Stirn gezogen. Es dauert eine Weile, bis sie den Einzelnen erreichen.
»Heil Hitler, Oskar«, grüßt einer der drei Männer.
Oskar Schindler nickt nur.
Aus dem Tor tritt der Schatten heraus, wird Teil der Brücke, huscht weiter, grau und lautlos, duckt sich hinter Vorsprüngen und Teilen der Brüstung, nähert sich den vier Männern, verharrt und wird selbst zu Stein.
Wir sind die Schatten, Asche, herabgefallen von einem leeren Himmel, zu beschützen die Gerechten, die, im Dunkel der Nacht verloren, uns ein Licht gewesen.
Wir sind die Schatten, zurückgekehrt aus dem Reich des Todes, unfähig zum Leben und doch bereit, dieses zu bewahren.
Melchior Koenig, seit Kriegsende zuständig für Kapitalverbrechen bei der Regensburger Schutzpolizei, schob eines der betagten Dienstfahrräder, die den Beamten seiner Dienststelle bei ihren Ermittlungen momentan als einziges Verkehrsmittel zur Verfügung standen, an einen Baum und lehnte es vorsichtig dagegen. Auf die Menschen, die in kleinen Gruppen am Straßenrand standen, achtete er nicht. Er bückte sich umständlich und etwas mühsam, löste die Wäscheklammer an seinem Hosenbein und steckte sie in die rechte Tasche. Dann zog er ein großes, blau-weiß kariertes Taschentuch heraus und wischte sich über die Stirn. Das Fahrradfahren strengte ihn an, was vor allem auch daran lag, dass sein linker Fuß seit den Tagen an der Westfront verkrüppelt geblieben war.
Und dennoch! Seit Jahresbeginn war er nun Beamter. Von der Militärbehörde und dem Präsidium der Landpolizei vor zwei Jahren zurückgeholt und nach dem Entnazifizierungsverfahren auch wieder eingestellt. Nunmehr als Polizeibeamter der Kriminalaußenstelle Regensburg. Trotz des kaputten Beins. Wie es schien, hatte er in seinem Leben also doch noch Glück. Ganz anders als die drei Männer, die da wenige Meter unterhalb von ihm, seltsam verkrümmt, auf der feuchten Erde des Donauufers lagen.
Alle drei waren nackt, was schrecklich obszön aussah, und er musste unwillkürlich an Schweine denken. Seine Eltern hatten regelmäßig geschlachtet. Bis ins letzte Kriegsjahr hinein. Er hatte sich dabei immer geekelt vor den toten Tieren, wenn sie zum Ausbluten weiß und dampfend an einem Haken vor dem Küchenfenster vom Dachbalken hingen.
Koenig rutschte die schlammige Uferböschung zur Donau hinunter, um sich die Leichen näher anzusehen. Trotz der Kälte glaubte er, einen brackigen Hauch vom Fluss her zu verspüren. Ihn fröstelte mit einem Mal. Schon als er von oben auf die Szene hinabgeblickt hatte, war ihm aufgefallen, dass die drei Männer schrecklich fett waren, sodass ihre Genitalien, die klein und verkümmert unter den mächtigen weißen Bäuchen hingen, kaum zu sehen gewesen waren. Aber erst, als er nun nähertrat, erkannte er, dass die Mörder ihre Opfer auf brutale Weise kastriert hatten. Dazu waren ihnen die Hände auf dem Rücken gefesselt worden. Einen Moment lang starrte er auf die grässlichen Verstümmelungen, spürte, wie sein Magen zu rebellieren begann, und er musste sich abwenden. Sie mussten noch gelebt haben, als die Mörder die Messer angesetzt hatten. Da waren jeweils große Blutlachen, dort, wo die drei Leichen lagen. Ein Zeichen, dass die Herzen der Männer zu diesem Zeitpunkt noch geschlagen und dicke Blutstrahlen aus den Körpern gepumpt hatten. Wieder musste er an zu Hause denken, erinnerte sich erneut an die Schweine seiner Eltern, wie sie fahl und haarlos und dampfend vor dem Küchenfenster gehangen hatten. Blutlachen auf gefrorenem Boden – auch dort.
Er schnaufte einige Male tief durch. Erstaunt stellte er fest, dass ihn der Anblick der drei geschändeten Toten in unerwarteter Weise berührte. Nach all dem Schlimmen, das er an der Front gesehen hatte, empfand er dies als ungewöhnlich. Der Alltag des Krieges, der Tod, das Sterben der Kameraden, alles schien bereits wieder in weite Ferne gerückt zu sein. Was zählte, war die Gegenwart. Ein gnädiger Mechanismus, der es den Menschen erlaubte, von einem Schrecken zum nächsten zu taumeln.
Koenig sah sich um. In einiger Entfernung saß auf einem Baumstamm ein junger Mann, fast noch ein Kind, zusammengesunken, den Kopf auf den Knien. Er hatte die Arme um seine Beine gelegt und schaukelte ganz leicht vor und zurück. Immerfort. Neben ihm ein uniformierter Schutzpolizist, der unbewegt in die Ferne starrte. Koenig wollte gerade zu den beiden hinübergehen, als oben auf der Straße ein amerikanischer Jeep heranfuhr.
Der Mann, der auf der Beifahrerseite ausstieg, war spindeldürr und hatte die abstehendsten Ohren, die Koenig je bei einem Menschen gesehen hatte.
»What the fuck …«, fluchte er derb, wobei er intensiv auf einem Kaugummi herumkaute. »Was zum Teufel ist denn hier passiert?«, fuhr er dann mit breitem Oberpfälzer Akzent fort.
Koenig zuckte mit den Schultern. Was sollte er auch sagen.
Der Mann, der mit schlaksigen Schritten auf ihn zukam, war Lieutenant Roth, der Public-Safety-Offizier der US-Truppen. Roth war gebürtiger Regensburger, einer von denen, die Deutschland schon bald nach der Machtergreifung verlassen hatten. Damals, als das Unheil Form angenommen hatte. Jetzt war er zurückgekehrt. Zurück in seine alte Heimat. Als amerikanischer Besatzungsoffizier … Aber natürlich war das nun nicht mehr seine Heimat.
»Wer sind die Männer?«, fragte er.
Wieder zuckte Koenig nur mit den Schultern, konnte nichts dazu sagen. Überhaupt wusste er nicht, was er von Roth halten sollte. Hatte noch nie mit ihm zu tun gehabt, obwohl er natürlich von ihm gehört hatte. Er fühlte sich unwohl in seiner Nähe, so als seien sie beide in unterschiedliche Rollen geschlüpft, die sie nun widerstrebend ausfüllen mussten. Auch der andere schien die Distanz zu spüren. Koenig schaute weg, auf den Fluss, der braun und öde vorbeizog. Ob die Amis die Ermittlungen in diesem Mordfall übernehmen wollten? Natürlich hatten sie das Sagen. Nun, er würde sehen.
»So ein Scheißtag«, brummte Roth. Koenig nickte. Fühlte, dass er etwas erwidern musste.
»Jemand hat ihre Kleider mitgehen lassen«, meinte er schließlich. »Und irgendjemand hat ihnen die Schwänze abgeschnitten.«
Roth wandte sich den drei Leichen zu, starrte sie einen Moment lang an. »Stimmt«, sagte er. In seinem Gesicht bewegte sich nichts. Nur die Kiefer, die den Kaugummi kauten.
»Die sehen verdammt gut genährt aus«, fügte er hinzu. »Habt ihr die … ähm … die fehlenden Teile schon gefunden?« Als er dies fragte, stand die kalte Märzsonne direkt hinter ihm und schien durch seine Ohren zu strahlen, die blutrot von seinem kahlen Kopf abstanden.
»Nein«, beteuerte Koenig. »Ich bin gerade erst gekommen.« Er schaute zu dem Schutzpolizisten hinüber, doch der stierte immer noch müde vor sich hin. »Wir warten noch auf den Fotografen und den Pathologen«, ergänzte er entschuldigend. »Vorher kann ich hier nicht anfangen.«
In der Ferne war in diesem Augenblick das Rattern eines Dieselmotors zu hören und kaltes blaues Licht zuckte durch die Bäume, kam langsam näher.
»Das Überfallkommando«, rief der Schutzpolizist. »Gott sei Dank … die haben sich aber Zeit gelassen.«
Koenig winkte den Mann zu sich. »Schauen Sie zu, dass niemand von den Leuten dort oben zu nahe an unsere Leichen kommt. Am besten, Sie nehmen die Namen von allen auf, die da herumlungern. Auch von den Kindern.«
Niemand hatte bislang daran gedacht, die Kinder wegzujagen. Die standen wie die Handvoll Erwachsener fassungslos gaffend herum.
Der Polizist salutierte, schaute ihn aber widerstrebend und missmutig an.
»Nun gehen Sie schon«, forderte Koenig ungeduldig.
Roth war in der Zwischenzeit näher an die drei Leichen herangetreten und hatte sich über sie gebeugt. »Sieht aus, als hätte ihnen jemand das Genick gebrochen«, vermutete er. »Der Mörder muss große Kraft gehabt haben. Aber vielleicht waren es ja auch mehrere Mörder, die …« Er führte den Satz nicht zu Ende und richtete sich auf. »Sehen Sie …«, sagte er.
Koenig blickte auf die Köpfe der Leichen. Roth hatte recht. In allen Fällen waren die Schädel in unnatürlicher Stellung nach links verdreht. Die Augen der Opfer waren dabei weit geöffnet. Es schien Koenig, als könne man in ihnen die schrecklichen Qualen im Angesicht des Todes noch erkennen.
Sie warteten, bis Fehlner, der Polizeifotograf, so weit war. Der schraubte seine Kamera auf ein hölzernes Stativ und suchte die günstigste Position, um die drei Leichen abzulichten. Er wetterte, als er aus Versehen in eine große Pfütze trat und ihm das Wasser in die Schuhe lief.
Dann endlich. Die Kamera ragte aus dem harten Boden und schien schließlich in einem grellen Blitz zu explodieren. Noch zwei, drei weitere Blitze, ein Versuch, das Böse aus nächster Nähe festzuhalten, es greifbarer zu machen. Als er die Aufnahmen erledigt hatte, sah Fehlner kurz zu Koenig, und als dieser nickte, packte er umständlich seine Ausrüstung wieder zusammen.
»Verdammte Sauerei«, knurrte er noch. Er seufzte, schien aber mehr wegen seines durchnässten Schuhwerks verärgert als wegen der Toten betroffen.
Koenig wandte sich um, hielt Ausschau nach Mayerhofer, dem Pathologen. Der kam in dieser Sekunde gerade vorsichtig die Böschung heruntergerutscht.
»Lassen Sie mal sehen, was wir da haben«, sagte er. Er nickte Roth zu, den er wohl kannte, und begrüßte Koenig. Dann griff er in seine Manteltasche und zog ein Paar Handschuhe heraus, die er sich sorgfältig überzog. Er trat auf die vorderste Leiche zu und beugte sich steif nach vorne.
Doktor Mayerhofer war erst vor wenigen Monaten zum Pathologen bei der Kripo in Regensburg bestellt worden. Auch er war von der amerikanischen Militärverwaltung wieder eingestellt worden, im Anschluss an die langen Jahre des Krieges, die er als Sanitäter an der Ostfront verbracht hatte. Koenig hatte schon einige Male mit ihm zusammengearbeitet und schätzte ihn wegen seiner ruhigen und ausgeglichenen Art.
Nach einer ganzen Weile winkte Mayerhofer Koenig zu sich. »Helfen Sie mir. Wir müssen die Männer auf den Bauch oder auf die Seite drehen.«
Koenig fühlte Ekel in sich hochsteigen. Es kostete ihn Überwindung, die Toten anzufassen. Er wünschte, er hätte Handschuhe dabei, wie Mayerhofer. Er beugte sich aber doch nieder und gemeinsam fassten sie die vorderste der drei Leichen unter den Achseln und hievten sie herum, bis sie auf der Seite lag. Koenig war erstaunt, wie schwer sie war. Das Fleisch war hart und kalt und glitschig, und als sie losließen, wäre der Körper beinahe wieder in die Ausgangsstellung zurückgerollt.
Als Koenig sich aufrichtete, wischte er sich die Hände an den Hosen ab, sah, wie Mayerhofer ihn mit einem spöttischen Ausdruck in seinen Augen betrachtete. Beide keuchten sie vor Anstrengung. Dann nahm der Pathologe ein kleines Messer aus seiner Bereitschaftstasche und durchtrennte die Fesselung des Mannes.
Koenig ging ein paar Schritte zurück, stellte sich neben Roth, der noch immer unbewegt auf seinem Kaugummi kaute. Gemeinsam verfolgten sie, wie Mayerhofer den Körper des Toten abtastete, den linken Arm der Leiche so weit es ging anhob und sich schließlich zu ihnen umdrehte.
»Sehen Sie«, wendete er sich dabei mit einem Seufzer an die beiden Beamten.
Koenig und Roth traten näher, blickten wohl beide auf den linken Unterarm der Leiche. Zuerst erkannte Koenig nicht, was Mayerhofer meinte. Erst als dieser auf den Oberarm deutete, nahm er das kleine, blaugrüne A zwischen Bizeps und Achselbehaarung des Mannes wahr. Ohne Zweifel war dies eine Blutgruppentätowierung – Kainsmal der ehemaligen SS-Angehörigen.
Ohne etwas zu sagen, nickte er und schaute zu Roth, der neben ihm stand. Der starrte noch ein Weilchen auf den Toten, ging dann wortlos an diesem und den beiden anderen Leichen vorbei, hin zum Rand des Flusses, und spuckte mit gewaltiger Kraft seinen Kaugummi in die braune, böse Flut.
Der junge Mann machte eine hilflose Geste. Er konnte kaum älter als 17 sein. Er sieht aus, als hätte er Hunger, dachte Koenig. Noch immer saß er auf dem Baumstamm, der vor ewigen Zeiten von irgendwoher angeschwemmt worden war.
Es lag etwas Abwartendes in seiner Haltung.
»Wie heißt du?«
»Paul Gemsa, Herr Kriminaler.«
Koenig musterte ihn. Er war also einer von den vielen Flüchtlingen aus dem Osten, die nach der Vertreibung in die Stadt gespült worden waren. Auch sie Treibgut. Aus Schlesien vielleicht. Oder aus dem Sudetenland, dem Baltikum. Aber da war nicht nur die andersartige Sprache, die ihm auffiel. Vielmehr war es das Geduckte, das zutiefst Heimatlose, die bittere Erfahrung, nicht willkommen zu sein, die dem Jungen ins Gesicht geschrieben stand.
»Du hast die Männer gefunden?«, fragte er behutsam. Der Junge nickte.
Koenig setzte sich neben ihn. »Woher kommst du?«
»Aus Makau … das ist in der Nähe von Ratibor.«
Koenig lachte ein bisschen. »Wo ist Ratibor?«
Der Junge schaute ihn verwundert an. »Das ist in der Nähe von Gleiwitz … Im Osten.«
»Das ist weit weg. Und deine Eltern?«
»Die Mutter und der Vater sind in der Heimat geblieben. Zusammen mit der Marie … das ist meine älteste Schwester.«
Einen Augenblick sah es so aus, als würde er anfangen zu weinen, aber dann schaute er doch nur geradeaus zum Fluss.
»Die Russen werden ihr schon nichts tun«, fügte er hinzu. »Die Marie hat nämlich schon ein Baby … Da tun sie ihr doch bestimmt nichts …«
»Wie bist du denn nach Regensburg gekommen?«
Der Junge zuckte mit den Schultern. »Im Viehwaggon mit dem Zug und zu Fuß … Über Prag … wir sind über Prag gekommen …«
Koenig lehnte sich ein wenig zurück und versuchte, sein linkes Bein auszustrecken. Er hatte Schmerzen, was wohl auch von der Kälte und der Feuchtigkeit hier am Fluss kam. »Wie kommt es, dass du schon so früh unterwegs warst?«
Der Junge schwieg.
»Wolltest wohl zum Neupfarrplatz, zum Organisieren?«
Koenig wartete. Er sah den Ausdruck von Müdigkeit im Gesicht seines Gegenübers und plötzlich musste er daran denken, was für ein eigenartiger Begriff dies doch war. Organisieren war zum Ersatzwort für den Überlebenskampf in einer kaputt gegangenen Welt geworden.
Der Junge nickte. »Mein Bruder ist krank. Er braucht Medizin.«
»Woher hast du Geld für Medizin? Geklaut? Oder hast du was zum Tauschen? Zigaretten?«
Wieder schwieg der Junge.
Koenig legte eine Hand auf seine Schulter. »Hör zu, es ist mir egal, wo du das Geld oder das Zeug herhast. Was mich interessiert, ist, was du gesehen hast. Hast du irgendwas gesehen? Bevor du die Leichen gefunden hast?«
Der Junge schüttelte den Kopf. »Ich habe nichts gesehen, ich schwöre es.«
»Niemanden?«
»Nein!«
Koenig betrachtete ihn von der Seite. Etwas stimmte nicht. Da war ein kurzes Zögern in der Stimme des Jungen gewesen. Er wartete. Das Schweigen hielt an. Schließlich begann der Junge zu sprechen.
»Ich bin mir nicht ganz sicher … Auf der Brücke dort oben, da war etwas …« Er deutete mit dem Kopf in die von ihm erwähnte Richtung. »Dort, wo die Figur ist, da war jemand. Ich glaube, es war ein Mädchen. Aber ich bin mir nicht sicher.«
»Warum denkst du, dass es ein Mädchen war?«
»Na, wegen der Zöpfe.«
Koenig betrachtete seinen Gesprächspartner aufmerksam. Was wohl in dem Kopf des Jungen vor sich ging?
»Kann ich jetzt gehen?«
»Natürlich.«
Mit einem Ausdruck der Erleichterung stand der Junge auf. Als Koenig hinter ihm herschaute, bemerkte er es plötzlich. Es war die Art und Weise, wie der 17-Jährige die Hand in seine Hosentasche steckte. So als ob er etwas suchte, so als ob er sich überzeugen wollte, dass es noch da war.
»Paul, da ist noch was!«
Der Junge sah sich um. Kurz glaubte Koenig, er würde davonlaufen. Doch dann senkte er den Blick und wartete, bis Koenig auf ihn zutrat. Der sagte nichts, hielt dem Jungen nur die offene Hand hin.
»Was?«
Trotz und eine Ahnung, dass er verloren hatte, zeigten sich in seinem Gesicht. Schließlich nahm er die Hand aus der Tasche und legte einen kleinen Samtbeutel in Koenigs wartende Hand. Tränen der Enttäuschung stiegen ihm dabei in die Augen.
»Das habe ich gefunden. Das lag dort drüben.«
»Wo?«
»Neben der Leiche.« Er deutete auf den hintersten der drei Körper, die noch immer bleich und nackt auf dem harten Boden lagen. Niemand hatte sich die Mühe gemacht, sie zu bedecken.
»Hast du sonst noch etwas gefunden?«
Der Junge schüttelte den Kopf.
»Na schön«, sagte Koenig. Der Bub tat ihm leid. »Geh nach Hause«, setzte er nach, aber der Junge schaute ihn nur verständnislos an.
Koenig ging zurück zu dem Baumstamm. Er setzte sich, nahm den kleinen Beutel und öffnete ihn. Etwas Hartes, das sich wie ein Kieselstein anfühlte, rollte auf seine Handfläche. Überrascht betrachtete der Schutzpolizist die geschliffenen Steine, die rötlich in der Morgensonne blitzten.
So blieb er nahezu regungslos eine geraume Zeit sitzen. Von irgendwoher ertönte der Schrei einer Elster und Koenig schloss die Hand zur Faust.
Er hatte Roth die Steine nicht gezeigt. Warum er seinen Kollegen von dem Fund nicht in Kenntnis gesetzt hatte, wusste er jetzt nicht mehr so recht zu sagen. Aber schließlich konnte er dies ja immer noch nachholen.
Melchior Koenig fuhr mit seinem Fahrrad an St. Peter vorbei, hin zur Domstraße und weiter in östlicher Richtung. Hier sah alles sehr friedlich aus. Die Häuser und die Straßen der Altstadt hatten durch die Bombardements der Alliierten kaum gelitten. Die meisten Bomben hatten ohnehin den Messerschmitt-Werken gegolten, die sich weit außerhalb der Stadt befanden. Wären die vielen zerlumpten Gestalten nicht gewesen, die frierend durch die Straßen geisterten, hätte man glauben können, dass hier niemals ein Krieg stattgefunden hatte.
Es lag eine große Kälte über der Stadt, aber zwischen den mächtigen Bürgerhäusern blies der Wind nur mehr verhalten, hatte nicht mehr die Kraft wie weiter nördlich, entlang der Donau. Dennoch strengte es Koenig an, in die Pedale zu treten. Ein steiler, lang gezogener Anstieg machte ihm zusätzlich zu schaffen. Das verkrüppelte Bein schmerzte und er beschloss, abzusteigen und zu schieben. Bis zur Dienststelle am Minoritenweg war es noch ein ganzes Stück.
Der Junge ging ihm nicht aus dem Kopf. Er hatte ihn so eigenartig angesehen, als er gegangen und die Böschung hinaufgeklettert war. Natürlich hatten sie seine Personalien aufgenommen, sodass sie ihn jederzeit nochmals vernehmen konnten. Er war im DP-Lager untergekommen, war einer der vielen Tausend Displaced Persons, der Entwurzelten des Krieges, die aus dem Osten nach Bayern und in die umliegenden Bundesländer geströmt waren. Dort, im Lager, lebte er seit der Flucht zusammen mit seinem Bruder und seiner kleinen Nichte. Das hatte er zumindest dem Polizisten erzählt, der seinen Namen notiert hatte.
»Gesindel«, hatte der halblaut gemurmelt, als er Bericht erstattet hatte. »Das sind keine von uns.«
Koenig hatte den Mann zurechtgewiesen, aber er wusste, dass die meisten Einheimischen so dachten. Auf jeden Fall war er sich sicher, dass er recht bald noch einmal mit Paul Gemsa aus Makau würde sprechen müssen.
Er wischte die Gedanken an den Jungen beiseite und versuchte, sich auf das zu konzentrieren, was als Nächstes zu tun war. Natürlich mussten sie als Erstes herausfinden, wer die Toten waren. Alle hatten sie die verräterische Tätowierung am linken Oberarm gehabt. Davon hatten sie sich noch am Fundort der Leichen überzeugt.
»Hatten denn nur die SS-Leute diese Blutgruppentätowierung?«, hatte Fehlner gefragt, der wie die anderen Mayerhofer bei seiner Untersuchung der Leichen zugesehen hatte.
Der Pathologe hatte genickt. »Na ja«, hatte er noch angemerkt. »Die Herrschaften wollten im Fall einer Verwundung schließlich keine Zeit verlieren. Keine langwierigen Blutuntersuchungen … die von der SS waren halt was Besseres …«
Man konnte also ziemlich sicher davon ausgehen, dass es sich bei den Opfern um ehemalige SS-Leute handelte. Koenig wusste, dass den Amis eine umfassende Kartei mit Lichtbildern von ehemaligen Parteimitgliedern in die Hände gefallen war. Auch gab es in Nürnberg eine Liste der SS-Angehörigen, die von den Kriminologen eingesehen werden konnte. Die Wahrscheinlichkeit, Hinweise auf die drei Toten darin zu finden, war recht hoch. Es sollte keine Schwierigkeiten bereiten, die Männer zu identifizieren. Sie brauchten nur auf die Aufnahmen, die Fehlner gemacht hatte, zu warten, um einen Bildabgleich machen zu können.
Trotz allem fühlte sich Koenig unbehaglich. Es war ein eigenartiges Gefühl und er wusste nicht so recht, woher es kam. Ungefähr so, als wenn man plötzlich aus einem Traum erwacht und noch eine vage Ahnung hat von tiefen Ängsten, durch die man gerade gegangen ist, während man dann doch in rasender Eile jegliche Erinnerung daran verliert.
Eng verbunden mit diesem Gefühl des Unbehagens war etwas anderes, das ihn zutiefst beunruhigte, die Ahnung eines möglichen Scheiterns nämlich. Es breitete sich eine innere Unsicherheit in ihm aus, die aber vielleicht auch andere Gründe haben konnte und eher auf die äußeren Umstände zurückzuführen war.
Es waren die Zeitumstände, wie er vage verspürte. Das Leben nach dem unbegreiflichen Sündenfall. Die Menschen hatten kein Interesse daran, Ordnung herzustellen. Zu nahe waren noch die Abgründe, in die sie geblickt hatten, um bereits wieder an etwas wie das Allgemeinwohl, an Recht und Ordnung denken zu können. Und war denn nicht das ganze deutsche Volk in eine kriminelle Affäre hineingetaumelt? Da galt es für die meisten in erster Linie, über die Runden zu kommen, zu überleben, die tägliche Not zu ertragen. Und es blieb kein Platz, sich dabei mit den Rätseln eines einzelnen banalen Kriminalfalles zu beschäftigen, mochte dieser noch so bizarr sein.
Schließlich musste er sich aber auch selbst als Mensch und als Polizist infrage stellen. Er dachte an seine Zeit in Frankreich. Mit welcher Begeisterung er damals in den Krieg gezogen war. Nun, die hatte er recht schnell verloren, als er verwundet worden war. Dort im Lazarett, neben all den schreienden und wimmernden Kameraden, den verstörten Männern, die mit leerem Blick vor sich hingestarrt hatten, dort hatte er seine Begeisterung verloren. Wie lange war das her? Sieben, höchstens acht Jahre. Auf keinen Fall verjährt … Was gab ihm nun das Recht, nach Ordnung zu rufen? Ein Gefühl der Pflicht? … Schon wieder? … Und wem gegenüber galt es nun, seine Pflicht zu erfüllen? Melchior Koenig wusste keine Antwort, ahnte nur, dass er sich zusammennehmen, sich anstrengen musste, um seine Empfindungen in den Griff zu bekommen.
Er schaute auf die Menschen, die an ihm vorbeieilten, hungrig und ausgezehrt, manche in zerschlissener Kleidung, andere in seltsam gediegenem Zustand. Neben ihm, an einer Hausecke, scherzten drei Mädchen mit grellrot geschminkten Lippen und ebenso grellem Lachen mit zwei amerikanischen GIs, die lässig an ihrem Jeep lehnten. Die Welt war aus den Fugen geraten.
Er schaute auf seine Uhr. Es war kurz vor halb vier. Er stieg wieder auf sein Fahrrad. Das Leben ging weiter …
Das 1. Polizeirevier am Minoritenweg war in einem jener trostlosen Behördengebäude untergebracht, wie es sie vorwiegend in alten, traditionsreichen Städten gibt, wuchtige Steinbauten, die die Menschen in sich hineinsaugen wie in dunkle Löcher, um sie auf gnadenlose Weise ihrer Seele zu berauben.
Hier, im Zimmer 114 des ehemaligen Direktionsgebäudes, hatte der Standgerichtsprozess gegen den Domprediger Dr. Johann Maier und gegen Josef Zirkl, den Rentner, stattgefunden. Die beiden hatten mit anderen Regensburgern versucht, eine kampflose Übergabe der Stadt an die vor den Toren stehenden Amerikaner zu erreichen. Da waren sie durch dumpfe Büttel der NSDAP festgenommen worden. Waren herausgerissen worden aus der Menschenmenge.
»Volksverräter, Volksverräter, Volks…«
Was dann folgte, war eine gnadenlose Abrechnung durch die Schergen des Regimes gewesen. Kurzen Prozess hatten sie mit den beiden gemacht.
Hier, in diesem Raum … Hatten Recht gesprochen … Recht?
»Volksverräter …«
Dann hatte man sie aus dem Zimmer hinausgezerrt, den Prediger und den Arbeiter, und vor aller Augen ermordet, hingerichtet – als ob da ein Unterschied wäre –, während bereits die anrückenden amerikanischen Panzer zu hören waren.
Jedes Mal, wenn er nun an dem Zimmer mit der riesigen Flügeltür vorbeikam, musste Koenig daran denken. Da war ihm, als hörte er den Landgerichtsdirektor, der den unwürdigen Prozess geleitet hatte, brüllen. Sein blutig gurgelndes ›Tötet sie! Tötet sie!‹ gellte noch immer durch die Hallen.
Und hinterher hatte es für ihn nichts gegeben, um die besudelten Hände reinzuwaschen …
Koenig konnte sich noch gut an den Domprediger erinnern. Ein Mann mit hoher Stirn und weichen Zügen. Mit einer randlosen Brille. Ein richtiger Denker. Die Menschen hatten ihn gemocht, auch wenn sie seine Kirche kaum noch besucht hatten.
›Unseren Dr. Maier‹, hatte seine Mutter immer gesagt, ›den werden die auch noch kleinkriegen.‹
Drei Jahre war das nun her.
Ein Ort des Unrechts und der Schande war das graue Monstrum eines Polizeireviers geblieben. Ob auch er seine Seele darin verlieren würde?
Koenig quälte sich die Stufen zur zweiten Etage hinauf und öffnete die schwere Eichentür, die zu dem Dienstraum führte, der den Kollegen der Kripo zur Verfügung stand.
Judenmann, der zweite Beamte neben Koenig, telefonierte gerade und blickte nur kurz hoch, als Koenig eintrat. Er hob die Hand zum Gruß, ließ sie aber schnell wieder sinken. Judenmann hatte schütteres blondes Haar, das nach hinten gekämmt war. Er war Junggeselle und wohnte seit einiger Zeit zur Untermiete bei einer ältlichen Kriegerwitwe, die ihn hätschelte und verwöhnte wie ihren eigenen Sohn. Er war ein ungemein hagerer, knochiger Mann, der es anscheinend verstand, bei der Witwe Mutterinstinkte zu wecken.
Koenig setzte sich an seinen Schreibtisch und zog die Stiefel aus. Bis Judenmann aufhörte zu telefonieren, saß er lediglich da und massierte das schmerzende Bein.
»Das war das Zentralamt«, informierte der ihn, nachdem er aufgelegt hatte. »Sie schicken uns eine Liste mit führenden SS-Größen aus dem Gebiet um Regensburg. Mit Lichtbildern. Vielleicht hilft uns das bei der Identifikation der Leichen ja weiter.«
»Gut, gut.« Koenig nickte etwas abwesend. »Ich brauche auch noch die Vermisstenliste der letzten 48 Stunden … Raum Oberpfalz.«
»Kein Problem.« Judenmann erhob sich und griff in einen Stapel mit Papieren auf der Ablage hinter ihm. »Das ist in den letzten Stunden reingekommen.« Er schob Koenig eine dünne, mit Schreibmaschine getippte Liste hin. »Da ist niemand dabei, der zu unseren Leichen passen würde. Nur ein paar frauleins, die abgängig sind … Die tauchen aber sicher bald wieder auf.«
»Na ja, vielleicht kommt in den nächsten Stunden noch was herein.« Koenig seufzte. Er war müde. Der Tag war lang gewesen und er hatte kaum etwas zu essen gehabt.
Wieder fiel ihm der Junge von heute Morgen ein. Der hatte auch so ausgehungert gewirkt. Als habe er seit geraumer Zeit nichts Anständiges mehr zu beißen bekommen. Ganz anders als die drei Leichen. Die hatten nicht den Eindruck erweckt, als hätten sie in lebendigem Zustand je Hunger leiden müssen. Zumindest nicht in den letzten Monaten.
Was für ein beschissener Tod, dachte er. Ob die Männer ihn verdient hatten? Er äugte zu Judenmann hinüber, der einen grauen Bogen Papier in die Schreibmaschine gespannt hatte, um einen Bericht zu fertigen. Er tippte nur mit zwei Fingern und wirkte gereizt.
»Scheiß Amis!«, fluchte er. »Jeden Dreck wollen die wissen.«
»Immerhin haben sie uns aus Not und Elend befreit«, sagte Koenig, ohne das Gesicht zu verziehen. Judenmann grunzte angewidert und hämmerte weiter auf die uralte Triumph ein. Sein Gesicht sah verbissen aus.
»Warum man ihnen wohl die Schwänze abgeschnitten hat?«
»Wie?« Judenmann sah irritiert hoch.
»Na, warum hat man die drei Toten kastriert?«
Judenmann hob die Schultern. »Da hatte wohl jemand noch eine Rechnung offen … Schwarzmarktgeschäfte vielleicht … oder jemand wollte sie zum Reden bringen … ich weiß es nicht.«
Koenig dachte an die Edelsteine. Sollte er sie dem Kollegen gegenüber erwähnen? Einen Moment zögerte er, ließ es aber letztendlich sein.
»Und warum hat man ihnen die Kleider genommen?«
Judenmann zuckte nur mit den Schultern und begann weiterzutippen. Jeder Anschlag wie ein Peitschenknall.
»Der Junge hat von einem Mädchen gesprochen … Das Mädchen müssen wir finden.« Koenig überlegte in den Rhythmus der Tastenhiebe hinein.
Judenmann murmelte etwas vor sich hin, schrieb missmutig weiter.
»Was hast du gesagt?«, fragte Koenig, während er sein Taschentuch herauszog und sich schnäuzte. Wie es schien, hatte er sich in der morgendlichen Eisesluft, unten an der Donau, eine Erkältung geholt.
»Das wird schwierig werden«, wiederholte Judenmann nun etwas lauter, aber ohne großes Interesse.
Es war kurz vor zehn, als Koenig das düstere, kaum beleuchtete Dienstgebäude verließ und sich auf den Weg nach Hause machte. Die Straßen waren um diese Zeit wie ausgestorben und doch war ihm bewusst, dass an den vielen dunklen Ecken und Plätzen und Wegen der Stadt, im Schatten der alten Bäume und der kahlen Sträucher, Gefahren lauerten. Im Grunde für jeden, der sich in die Dunkelheit hinauswagte. Und doch war er als Polizist in besonderem Maße gefährdet.
Die Entbehrungen der letzten Jahre hatten die Menschen roher werden lassen und die nackte Angst, nicht zu überleben, hatte ihnen Hemmungen genommen, hatte sie bereit dafür gemacht, Grenzen zu überschreiten. Natürlich wusste Melchior Koenig von den Kollegen, die in den vergangenen beiden Jahren ihr Leben gewaltsam verloren hatten. Polizisten wie er. Und er hatte gelernt, wachsam zu sein.
Trotzdem nahm er an diesem Abend nicht den kürzesten Weg, um zu seiner Wohnung zu gelangen. Er hatte keine Eile. Nichts trieb ihn in die zwei kalten, ungeheizten Zimmer, die er zur Untermiete bewohnte. Was auch? Da gab es nichts und niemanden, der auf ihn wartete. Und bei den herrschenden Temperaturen würde ihm sowieso nichts anderes übrig bleiben, als sofort in sein Bett zu kriechen, nur um etwas warm zu werden.
Das Gehen tat ihm gut. Wenn nur die Schmerzen im Bein nicht gewesen wären. Als er nach einer Weile von der Graf-Spee-Straße nach links in die Alfons-Auer-Straße abbog, hatte er urplötzlich das eigenartige Gefühl, beobachtet zu werden. Er ging einige Schritte weiter und blieb im Schatten eines dunklen Mietshauses stehen. Sämtliche Fenster des Gebäudes waren unbeleuchtet und der riesige Kasten schien, als der Polizeibeamte an ihm hochschaute, geradewegs in den Himmel hineinzuwachsen.
Koenig verharrte, lauschte in die Stille. Aus einem der Zimmer im Erdgeschoss drangen die Stimmen eines jungen Paares in die Kälte hinaus, verebbten wieder. Irgendwo wurde eine Tür zugeschlagen. Er blickte um sich. Nichts.
Dann ging er weiter.
Er trottete bis zum Ende der Straße, bis er vor einem zweistöckigen Wohnhaus stand. Oben, in der Mansarde, war der Schein flackernden Kerzenlichts zu sehen. Ein heller Schatten, der sich hin- und herbewegte. Wie gerne er jetzt dort oben in der Wärme gewesen wäre … »Hallo, Fräulein Anni«, murmelte er leise, ohne dass ein Laut zu hören war. Ob sie auch an ihn dachte? Unvermittelt kam er sich sehr albern vor und mit einem schiefen Grinsen im Gesicht machte er sich hastig auf den Weg …
Geh hin, Polizist, du trauriger Ritter ohne Furcht und Tadel. Bring Licht ins Dunkel dieser Welt, zeig, dass das Anständige noch nicht verloren ist.
Doch dring nicht ein in den Bannkreis des Todes … unsere schaurige Welt …