Etwas hatte sich verändert, und es war schnell gegangen.
Von einem Augenblick zum anderen schien die Zeit über dem Tal stillzustehen. Der kalte Nordwind, der von den Hängen des Scharfgebirges herunterwehte und den nahenden Winter ankündigte, hatte plötzlich ausgesetzt. Die Schreie der Tiere im nahen Wald waren verstummt, kein Vogel war mehr am Himmel zu sehen. Die Welt schien den Atem anzuhalten, so als wolle sie sich gegen ein nahendes Grauen wappnen …
Hienan ließ die Harke sinken, und mit ihm alle anderen Bauern, die auf dem Dorfacker ihrem Tagwerk nachgingen. In schweißtreibender Arbeit hatten sie dem steinigen Boden, der nach Süden zur Ebene von Scaria abfiel, karge Früchte abgerungen, die sie und ihre Familien mit etwas Glück über den Winter bringen würden. Nun aber war all dies vergessen, denn Unheil lag in der Luft, das konnten die Bewohner von Hod an diesem Morgen ebenso spüren wie die Vögel und die Waldtiere.
Hienan warf einen Blick zu seinem Vetter Kurn, der nur einen Steinwurf von ihm entfernt den Boden beharkt und einen halb gefüllten Korb Rüben neben sich stehen hatte. Auch Kurn hatte die Arbeit unterbrochen, und in seinen von der Feldarbeit gegerbten Zügen stand dieselbe Unruhe, die auch Hienan empfand.
Aber aus welchem Grund? Was war anders als noch vor wenigen Augenblicken?
Plötzlich hörten sie das schaurige Geräusch.
Trommelschlag.
Die schweigende Natur sorgte dafür, dass er deutlich zu vernehmen war, dumpf und aus westlicher Richtung – und er kam rasch näher. Nur zu gern hätte Hienan sich eingeredet, dass es eine der Zwergenpatrouillen wäre, die das Land südlich des Scharfgebirges hin und wieder passierten, die Siedler jedoch unbehelligt ließen. Aber der wilde, unstete Rhythmus und das grässliche Geklirr, das ihn begleitete, machten deutlich, dass es keine Zwerge waren, die sich da näherten.
Hienan wandte sich um und wollte zum Dorf laufen, um die Menschen dort zu warnen, als sein Vetter einen gellenden Schrei ausstieß und mit zitternder Hand nach Westen deutete. Hienan fuhr herum – gerade rechtzeitig, um den bleichen Schädel über dem Hügelgrat auftauchen zu sehen.
Ob er einst einem Menschen, einem Elfen oder einem Zwerg gehört hatte, war nicht mehr festzustellen – jemand hatte ihn bunt bemalt und als grausige Trophäe auf die Spitze einer Standarte gesteckt, die in diesem Moment über den Bergrücken stieg. Voller Entsetzen sah Hienan den dunkelroten, mit Blut gefärbten Stofffetzen, der darunter flatterte und auf den mit ungelenker Hand das Zeichen eines zerbrochenen Knochens gemalt war. Das Geräusch der Trommeln und das Klirren der Rüstungen schwollen an, und noch mehr Standarten und grausige Trophäen kletterten über den Hügel und schoben sich vor den aschgrauen Himmel. Und im nächsten Augenblick erklang der furchtbare Schrei.
»Unholde!«
Einige der Bauern warfen ihre Werkzeuge weg und ergriffen die Flucht. Andere, unter ihnen auch Hienan und sein Vetter, blieben stehen. Nicht, weil sie entschlossen waren, dem herannahenden Feind Widerstand zu leisten, sondern weil sie vor Entsetzen wie erstarrt waren.
Der einzige Unhold, den Hienan je zu sehen bekommen hatte, war tot gewesen. Ein Kopfgeldjäger, den die Dorfgemeinschaft angeworben hatte, damit er den nahen Wald von Orks säuberte, hatte ihn an sein Pferd gebunden und hinter sich hergezogen. Damals war Hienan noch ein Junge gewesen, und er hatte angenommen, dass der Unhold deshalb so grässlich ausgesehen hatte, weil der Jäger ihn über Stock und Stein geschleppt hatte. Nun jedoch musste er erkennen, dass jeder einzelne der grünhäutigen Krieger einen solch grässlichen Anblick bot.
Grobschlächtige, muskelbepackte Körper, die mit rostigen Rüstungsteilen und Fetzen von Kettenhemden behangen waren. Darüber spannten sich breite Gürtel, an denen die Schädel und das Haar jener hingen, denen sie ein grausames Ende bereitet hatten. Am grässlichsten jedoch waren die Häupter der Unholde anzusehen: Die Unterkiefer waren nach vorn gewölbt, Hauer wie die eines Keilers staken daraus hervor, und aus den kleinen, gelb leuchtenden Augen sprach namenloser Hass. In ihren Pranken hielten die Unholde stählerne Äxte, die einst Zwergenkriegern gehört haben mochten, aber auch steinerne Kriegshämmer und riesige Keulen, sowie den saparak, den gefürchteten Kurzspeer mit den Widerhaken und der messerscharfen Klinge, der entsetzliche Wunden zu schlagen vermochte, die vom Biss eines Bären kaum zu unterscheiden waren; wo ein saparak hineinfuhr und wieder herausgerissen wurde, hinterließ er zersplitterte Knochen und zerfetztes Fleisch, die keines Heilers Kunst wieder zusammenzuflicken vermochte.
Die Schilde der Orks – so sie überhaupt welche hatten, waren von unregelmäßiger Form und aus allem zusammengeflickt, was die Unholde auf dem Schlachtfeld hatten finden können. Der Rost und das dunkle Blut, die sie überzogen, zeigte an, dass sie eine Weile nicht mehr im Kampf getragen worden waren, aber diese Zeit schien zu Ende zu sein. Hienan gab sich keinen falschen Hoffnungen darüber hin, was die Unholde wollten.
Menschenfleisch …
Immer mehr von ihnen tauchten auf der Hügelkuppe auf, und weitere Standarten gesellten sich zu der grausigen Phalanx. Zuerst war es nur ein halbes Dutzend Krieger, dann zwei Dutzend, dann vier – und schließlich standen so viele von ihnen auf dem Hügelgrat, dass Hienan sie nicht mehr zählen konnte. Der blecherne Ton eines Horns erklang, und noch bevor der schaurige Ruf verklungen war, setzten die Orks zum Sturm auf die Senke an.
Aus Dutzenden von Kehlen scholl schauriges Kriegsgebrüll, und endlich begriff Hienan, dass er fliehen musste, wenn er am Leben bleiben wollte.
»Lauft! So schnell ihr könnt!«, riefen jetzt auch die anderen, warfen ihre Harken fort und begannen zu rennen, während der Boden unter ihren Füßen vom Ansturm der Feinde erbebte. Wie eine Naturgewalt schwappten sie über den Grat und ergossen sich in das Tal. Grobschlächtige Klingen wurden geschwenkt, die grausigen Banner flatterten im Wind – und schon im nächsten Moment wurden die ersten Bauern vom Zorn der Unholde eingeholt.
Speere, mit furchtbarer Wucht geworfen, zuckten durch die Luft und suchten sich Opfer unter den Fliehenden. Aus dem Augenwinkel sah Hienan, wie Nerb, der Sohn des Pflugschmieds, mit derartiger Wucht in den Rücken getroffen wurde, dass die Spitze in der Brust wieder austrat. In einer Fontäne schreiend roten Blutes ging Nerb nieder, und Hienan verfiel in entsetztes Geschrei, während er immer weiterrannte, so schnell ihn seine mit Fell umwickelten Füße trugen.
Plötzlich schoss ihm ein Gedanke durch den Kopf.
Kurn!
Im Laufen fuhr er herum, um sich nach seinem Vetter umzuschauen. Er erschrak, als er sah, dass sich der Hügel hinter ihm grün und schwarz verfärbt hatte. Schon hatten die ersten Unholde den Acker erreicht und trampelten auf ein versprengtes Häuflein Menschen zu, das den verzweifelten Entschluss gefasst hatte, dem Feind Widerstand zu leisten.
Hienan schrie entsetzt auf, als er unter ihnen auch Kurn entdeckte. Breitbeinig und mit erhobener Harke stand sein Vetter da und wartete tapfer auf den Gegner, der sich unaufhaltsam näherte.
Einen Kampf gab es nicht.
Die Orks überrannten Kurn und seine Kameraden kurzerhand. Ein Axthieb traf Kurns Hals mit vernichtender Wucht; noch einen Herzschlag lang hielt sich sein kopfloser Torso aufrecht, dann kippte er von den Beinen.
»Nein! Neeein!«, hörte Hienan sich selbst brüllen, während er sich umwandte und weiterrannte, zurück zum Dorf. Tränen schossen ihm in die Augen, Übelkeit stieg in ihm hoch, sein Herz hämmerte gegen seine Brust, als wollte es bersten.
Er konnte die Fachwerkhütten mit den strohgedeckten Dächern bereits vor sich sehen, nur noch rund zweihundert Schritte entfernt. Die Alarmglocke wurde geläutet, auf dem Dorfplatz herrschte helle Aufregung. Die Menschen kreischten vor Entsetzen und schrien wild durcheinander. Einige versuchten, eine Verteidigung zu organisieren, was zwar tapfer, angesichts des schrecklichen Feindes jedoch aussichtslos war. Andere – vor allem Frauen und Kinder – wandten sich zur Flucht in die nahen Wälder, wieder andere flohen in ihre Häuser, die ihnen vor dem Ansturm der Unholde jedoch keinen Schutz bieten würden. Gleichwohl schlug auch Hienan den Weg zum Haus seines Onkels ein, bei dem er lebte, seit er ein kleiner Junge war. Aber schon im nächsten Moment wurde ihm klar, dass er sein Ziel nicht mehr erreichen würde.
Die Unholde hatten den Acker bereits durchquert und eine Spur der Verwüstung hinterlassen. Jetzt rannten sie durch die Talsohle auf das Dorf zu; die Furcht ihrer Opfer, die sie wie Raubtiere zu wittern schienen, spornte sie nur noch mehr an.
Gehetzt blickte Hienan über die Schulter – die Orks waren jetzt nur noch einen guten Steinwurf entfernt! Noch deutlicher als zuvor konnte er ihre hässlichen grünen Gesichter sehen, die gelben Augen und die Hauer, von denen stinkender Geifer troff. Er hörte das Stampfen ihrer Schritte auf dem Gras und ihren schnaubenden, stoßweisen Atem.
Er rannte, so schnell er nur konnte, holte das Letzte aus seinen von der Arbeit erschöpften Muskeln heraus. Plötzlich merkte er, wie ihn etwas in das linke Bein biss.
Es war ein stechender Schmerz, der von der Wade aufwärts fuhr. Hienan stieß einen Schrei aus, und ohne dass er es hätte verhindern können, landete er bäuchlings im Gras. Hastig versuchte er, sich wieder aufzurappeln, aber es gelang ihm nicht – denn in seinem linken Bein steckte die Spitze eines saparak . Die Klinge hatte den Knochen verfehlt, aber die Widerhaken sorgten dafür, dass sie festhing und ihn am Weiterkommen hinderte. Auf allen vieren schleppte er sich weiter, den Hütten entgegen, die in unerreichbare Ferne gerückt waren.
Ringsum konnte er sehen, wie die Bauern, die mit ihm vom Feld geflüchtet waren, von rasenden Unholden erschlagen wurden. Brandgeschosse zuckten durch die Luft und schlugen in die Dächer, die sofort Feuer fingen. Die Luft erzitterte unter grässlichem Kriegsgebrüll und entsetztem Geschrei. Da fiel ein dunkler Schatten über Hienan.
Er warf sich herum. Ein Ork stand über ihm, grobschlächtig und riesig groß. Das Letzte, was Hienan sah, waren die gefletschten Zähne und die mordlüstern flackernden Augen des Unholds. Dann fiel eine riesige Axt herab.