Die Alten Chroniken berichteten, dass in grauer Vorzeit, als weite Teile Erdwelts noch mit Eis überzogen waren, das Land im Osten von Drachen bevölkert war und den Namen Anwar trug. Als sich die Drachen entzweiten und es zum Krieg zwischen ihnen kam, zerriss ihr Zorn das Land und teilte es in die Länder Anar im Norden und Arun im Süden. Dort, wo sich der Erdboden spaltete, entstanden die weite See des dwaímaras sowie das Ostgebirge, von den Elfen mainídian’y’codíalas genannt, dessen von Schwefeldämpfen durchsetzte Höhlen zur Heimat jener Drachen wurden, die die Katastrophe überlebten.
Die Festungen der dragdai erstreckten sich tief ins Innere der Berge, und wie es heißt, gibt es keinen Sterblichen, der sie je erkundet hätte. Die größte und stolzeste dieser Drachenburgen jedoch war Borkavor, der Hort des Feuers; hier hielt einst der Erste Drache Hof, und hier war es auch, wo unter König Parthalon das legendäre Bündnis zwischen Elfen und Drachen beschlossen wurde, das über Jahrtausende Bestand haben sollte und selbst den Großen Krieg überdauerte.
Nachdem die Drachen die Welt verlassen hatten, verwaisten ihre Festungen; die größte von ihnen wurde jedoch von den Elfen in Besitz genommen und einer neuen Verwendung zugeführt. Um vor jenen Abtrünnigen, die dem Dunkelelfen Margok gefolgt waren, für alle Zeit sicher zu sein, wurden sie in den Tiefen Borkavors eingekerkert; umgeben nicht nur von Wänden aus Stein und eisernen Gittern, sondern auch von giftigen Dämpfen, bewacht nicht nur vom Stahl unerschrockener Elfenkrieger, sondern auch von magischen Barrieren. Dort sollten sie bleiben, bis ihr lu erloschen und die Gefahr, die sie für die Welt darstellten, auf immer gebannt wäre. Viele Jahrhunderte lang hatten die Kerker Borkavors gute Dienste geleistet, nie war es jemandem gelungen, von dort zu entkommen.
Aber, wie Farawyn so treffend bemerkt hatte, es gab für alles ein erstes Mal …
Der Hohe Rat war weder über Ruraks Flucht noch über die kurzfristig anberaumte Untersuchung in Kenntnis gesetzt worden. Um kein unnötiges Aufsehen zu erregen, hatten Farawyn und die beiden Eingeweihten die Ordensburg zu nächtlicher Stunde verlassen. Borkavor lag weit im Osten, jenseits der yngaia und des Eismeers, fernab von jeglicher Zivilisation. Auf dem Landweg nahm die Reise mehrere Wochen in Anspruch und führte durch wildes, von Barbaren bevölkertes Land, doch Farawyn und seinen Begleitern stand ein anderes Fortbewegungsmittel zur Verfügung: eines, das in der Lage war, sie durch die eisig kalte Luft des Nurwinters zu tragen.
Granock erinnerte sich noch lebhaft, was er empfunden hatte, als er zum ersten Mal auf einen dragnadh gestiegen war. Furcht, Entsetzen und grenzenlose Verwunderung – von allem war etwas dabei gewesen. Aber da die furchterregenden Kreaturen die einzige Möglichkeit dargestellt hatten, aus Margoks Grabkammer zu entkommen, hatte er sich ihren Flugkünsten anvertraut und es nicht bereut.
Im Grunde, so hatte Farawyn ihm später erklärt, war ein dragnadh das, was von einem Drachen übrig blieb, wenn seine Seele den Leib verlassen und die Zeit sein Fleisch vertilgt hatte – das bloße Knochengerüst, das allerdings kraft eines Granock unbekannten Zaubers am Leben gehalten wurde. Da es sich obendrein um einen verbotenen Zauber handelte, war im Rat darüber diskutiert worden, die dragnadha zu vernichten. Am Ende war man aber, nicht zuletzt durch Farawyns Zuspruch, übereingekommen, sie in ihrer Existenz zu belassen und den Gelehrten und Alchemisten Shakaras zu Forschungszwecken zur Verfügung zu stellen, was sich nun als Vorteil erwies.
Aus dem Laboratorium Tavalians des Heilers entwendeten Farawyn und seine jungen Schützlinge die dragnadha – oder »borgten« sie, wie der Älteste es ausdrückte –, und schwangen sich auf ihnen hinaus in die kristallklare Nacht, die sich über der Yngaia erstreckte. Tief geduckt und sich an die ledernen Sättel schmiegend, die über die bloßen Wirbelknochen geschnallt waren, jagten die drei Reiter durch die Dunkelheit, trotzten der Kälte und dem Wind, der an ihnen zerrte.
Umgeben von der Weite der Eiswüste und einem Meer funkelnder Sterne hing Granock seinen Gedanken nach, während zu beiden Seiten die ledrigen Schwingen des untoten Drachen rauschten. Unzählige Dinge gingen ihm durch den Kopf, einige waren von höchst nebensächlicher Natur, andere nicht.
An seine Ausbildung musste er denken, an all das, was ihm widerfahren war, seit ihn Farawyn in den Gassen Andarils aufgelesen und nach Shakara gebracht hatte.
Und an Alannah …
Das Bild ihrer anmutigen, von weißblondem Haar umrahmten Züge begleitete ihn die Nacht und den darauffolgenden Tag hindurch und erfüllte ihn mit wohliger Wärme. Er trug es selbst dann noch in sich, als die dragnadha die in Wolken gehüllten Gipfel des Ostgebirges passierten und schließlich auf einem schneebedeckten Bergjoch zur Landung ansetzten.
Da Granock den Weg nicht kannte, war er stets nur Farawyn gefolgt, der sich an die Spitze der kleinen Gruppe gesetzt hatte. Sein Tier war das erste, dessen Krallen den Boden berührten. Glitzernder Firn wurde aufgeworfen, als der dragnadh mit den Flügeln schlug, um seinen Herrn abzusetzen. Auch Granock und Aldur brachten ihre Reittiere zur Landung, allerdings sehr viel weniger elegant. Aldur brauchte mehrere Versuche, bis er seinen dragnadh dazu bringen konnte, sich auf der schmalen Felsplattform niederzulassen, die nach zwei Seiten hin steil und in ungeahnte Tiefen abfiel. Granocks Tier setzte so hart auf, dass die bleichen Knochen knackten und es kurz so aussah, als würde es zusammenbrechen.
Müde und erschöpft ließen sich die Reiter aus den Sätteln gleiten. Zwar waren ihre Mäntel aus dem Fell des bórias gefertigt und daher überaus wärmend, jedoch hätten sie nicht ausgereicht, den Körper bei dieser Kälte und über eine so lange Zeitspanne hinweg vor Erfrierungen zu schützen. Zauberei hatte den Rest bewirkt, dennoch spürte Granock seine Beine kaum noch, als er endlich wieder festen Boden unter den Füßen hatte und im knirschenden Schnee die ersten Schritte tat.
Sie wurden bereits erwartet.
In graue Umhänge gehüllte Elfenwachen standen am Rand der Plattform. Drei von ihnen – allesamt betagte Krieger, die den Sommer ihres Lebens schon hinter sich hatten, traten vor, um sich um die dragnadha zu kümmern. Granock fiel auf, dass der Anblick der ungewöhnlichen Tiere sie nicht weiter störte; vermutlich war dies nicht der erste Besuch in Borkavor, den Farawyn auf diese Weise tätigte. In den letzten Monaten war der Älteste öfter für einige Tage weg gewesen, ohne dass er hätte verlauten lassen, wohin er gegangen war …
»Ehrwürdiger Farawyn!« Der Anführer der Wachen, ein ebenfalls betagter Elfenkrieger mit dünnem Bart und weißem Haar, das ihm bis zur Schulter reichte, verbeugte sich. »Seid uns willkommen in Borkavor.«
»Ich grüße Euch, Hauptmann Llewyn«, nannte der Älteste den Krieger beim Namen und bestätigte damit Granocks Vermutung. »Ich wünschte allerdings, der Grund für meinen Besuch wäre ein anderer.«
»Das geht uns ebenso«, versicherte Llewyn düster. »Wollt Ihr es sehen?«
»Deshalb bin ich gekommen«, bestätigte Farawyn. »Dies sind zwei Eingeweihte unseres Ordens, die mein volles Vertrauen genießen. Aldur, Granock – Hauptmann Llewyn, der Kommandant der Wache von Borkavor.«
Der Offizier verbeugte sich erneut, wobei Granock das Gefühl hatte, dass Llewyns prüfender Blick auf ihm ein wenig länger ruhte als auf Aldur. Er erwiderte die Begrüßung, dann setzte sich die Gruppe in Bewegung.
Schon der Zugang nach Borkavor war mit keiner anderen Pforte zu vergleichen, vor der Granock je gestanden hatte. Abgesehen von zwei eindrucksvollen steinernen Säulen ließ nichts darauf schließen, dass es auf dem einsamen Bergjoch noch etwas anderes gab als Schnee und Eis. Hauptmann Llewyn und Meister Farawyn jedoch gingen zielstrebig auf die Felswand zu, die sich zwischen den Säulen erstreckte – und waren im nächsten Moment darin verschwunden.
»Was, zum …?«
Es kam nur mehr selten vor, aber wenn er besonders überrascht war, verfiel Granock noch immer in die Menschensprache. Verblüfft wollte er stehen bleiben, als Aldur ihn am Arm packte und einfach mitzog. Granock stolperte auf den Fels zu und war sicher, dass er sich die Nase blutig stoßen würde – doch zu seiner Verblüffung traf er auf keinen Widerstand. Als bestünde das massive Gestein aus nichts als leerer Luft, glitt Granock geradewegs hindurch und fand sich im nächsten Moment in einem geräumigen Höhlengewölbe wieder, das von Fackeln beleuchtet wurde und in dessen Mitte es eine Zisterne gab. Einige der Elfenwachen, die hier ihren Dienst versahen, grinsten verstohlen, als sie Granock sahen – offenbar war er nicht der Erste, der das Tor passierte und ein ziemlich dämliches Gesicht dabei machte.
»Da staunst du, was?«, fragte Aldur, dem Granocks Verwunderung ebenfalls nicht verborgen blieb.
»Ein ar-aragyr, nichts weiter«, erläuterte Farawyn. »Der Fels wird für einen kurzen Augenblick durchlässig.«
»Wie ist das möglich?«, fragte Granock.
Sein Meister lächelte über seine Unwissenheit, fast wie früher. »Jedes Lebewesen und jedes Objekt«, erklärte er, »besteht aus kleinsten Teilchen, die einander fortwährend umkreisen. Dazwischen befindet sich nichts als leerer Raum. Gelingt es nun, diese Teilchen so zu lenken, dass sie einander ausweichen, ist man in der Lage, feste Materie durchlässig zu machen.«
»Ihr meint – wie Vater Cethegar?«, erkundigte sich Granock in Erinnerung an dessen magische Gabe.
»Nein.« Farawyn schüttelte den Kopf, und ein Anflug von Trauer huschte über seine Züge. »Cethegar war ein Meister unseres Ordens. Der Zauber des ar-aragyr wirkt nur für kurze Zeit und ist auf bestimmte Materialien beschränkt. Cetehgar hingegen konnte mit jedweder Art fester Materie verschmelzen – so hat er uns damals in Arun das Leben gerettet, wenn du dich erinnerst. Die Vorzüge des ar-aragyr liegen auf einem anderen Gebiet. Denn der Zauber ermöglicht es nicht nur, den Fels zu durchschreiten, sondern prägt sich auch ein, wer ihn passiert hat und aus welchem Grund. Für die meisten, die Borkavor betreten, öffnet er sich niemals wieder.«
»Also ist die Pforte eine Art magischer Wächter?«
Farawyn sandte Granock einen vielsagenden Blick. »Der erste von vielen«, bestätigte er dann.
Inzwischen hatten sie die Eingangshalle hinter sich gelassen und folgten einem breiten Stollen, der tiefer in die Festung führte. Die Wände waren glatt, so als wäre das Gestein unter immenser Hitze geschmolzen – aus dem Wenigen, das er über Borkavor und seine Entstehung erfahren hatte, folgerte Granock, dass es Drachenfeuer gewesen sein musste, das diese Gänge in den Berg getrieben hatte.
Über die Drachen selbst wusste er nur, was er im Zuge seiner Ausbildung über sie gelernt hatte, und das war nicht gerade viel. Fast hätte man glauben können, die Elfen mieden das Thema. Oder auch ihr Wissen über die einstmals größten und mächtigsten Kreaturen Erdwelts war beschränkt.
Nach allem, was Granock erfahren hatte, waren zu der Zeit, als die Elfen von den Fernen Gestaden ankamen und der historische Kalender begann, weite Teile Erdwelts Drachenland gewesen. Über die ersten Begegnungen mit den Töchtern und Söhnen Glyndyrs war nichts bekannt. War es zu einem Streit gekommen? Womöglich sogar zu kriegerischen Auseinandersetzungen? Granock wusste es nicht. Gesichert war hingegen, dass sich Drachen und Elfen unter der Regentschaft Parthalons des Weisen verbündet und über eine sehr lange Zeitspanne in Frieden miteinander gelebt hatten. Mehr noch, die Drachen waren schließlich sogar in den Dienst der Elfenherrscher getreten und hatten über Tausende von Jahren hinweg deren Schätze gehütet.
Aus Gründen, die nicht näher bekannt waren – oder wurden sie nur einfach verschwiegen? –, war die Zeit der Drachen jedoch irgendwann zu Ende gegangen. Ein rätselhaftes Sterben hatte unter ihnen eingesetzt. Die Letzten, die noch verblieben waren, hatten im Krieg auf der Seite des Elfenkönigs gegen Margoks finstere Horden gekämpft, worauf der größte und mächtigste unter ihnen zum Wächter der Königsstadt ernannt worden war; sein Feueratem hatte sie beschützt, bis er von Margok eigenhändig getötet worden war. Aber sein Geist, so hieß es, wache noch immer über Tirgas Lan.
Die Vorstellung, dass jene vorzeitlichen Kreaturen, um die sich so viele Lieder und Erzählungen rankten, einst genau die Höhlen und Stollen bewohnt hatten, die er nun durchschritt, erfüllte Granock mit Ehrfurcht. Selbst Aldur schien davon nicht unberührt zu bleiben.
Unvermittelt entließ sie der Korridor in eine Halle von ungeheurer Höhe. Wenige Schritte vor ihnen endete der Boden und fiel senkrecht ab, um sich in unergründlicher Schwärze zu verlieren. Auch die Decke des Gewölbes war so hoch, dass der Fackelschein sie nicht erreichte. Nur schemenhaft waren die Umrisse riesiger Stalaktiten zu erkennen. Fledermäuse flatterten geräuschvoll dazwischen umher, so als wären sie die winzigen, unscheinbaren Nachkommen jener, die diese Hallen einst beherrscht hatten.
Auf der anderen Seite des Grabens, der vor den Besuchern klaffte und an die fünfzehn Schritte breit war, ragte eine Felswand auf. Darin war, diesmal deutlich als solches zu erkennen, ein Tor eingelassen, das den Körperformen seiner Erbauer angepasst und eher breit als hoch war. Zwei aus dem Stein gehauene Drachenköpfe ragten über dem Tor aus dem Fels, Öllichter loderten in den Augenhöhlen. Das Tor selbst war mit einer riesigen Steinplatte verschlossen, die so massiv wirkte, dass keine Macht der Welt sie bewegen zu können schien.
Hauptmann Llewyn trat an den Rand des Abgrunds und vollführte eine Reihe von Handzeichen und Gesten. Daraufhin war ein markiges Knirschen zu vernehmen, und die Steinplatte senkte sich an mächtigen Ketten herab, die aus den Mäulern der Drachenköpfe kamen. Jedes einzelne Glied war so groß wie ein Wagenrad und so dick wie der Unterschenkel eines Mannes.
Das Quietschen und Ächzen des Mechanismus war unbeschreiblich. Granock fragte sich noch, wie ein Steinquader von solch ungeheurer Größe überhaupt bewegt werden konnte, als die Zugbrücke auch schon mit dumpfem Donner auf ihrer Seite des Grabens auftraf.
»Rasch«, sagte Farawyn nur, und sie überquerten die Kluft mit hastigen Schritten. Granock hatte keine Ahnung, was geschehen würde, wenn sie sich beim Begehen der Brücke zu viel Zeit ließen, und er verspürte wahrhaftig auch kein Verlangen danach, es herauszufinden.
Das schwere Eisengitter, das die Pforte zusätzlich verschloss, hob sich mit ohrenbetäubendem Rattern und ließ die Besucher und ihre Eskorte passieren. Kaum waren sie hindurch, senkte es sich wieder, und in Granocks Bewusstsein verbreitete sich das trostlose Gefühl, eingesperrt zu sein.
Es gab keine Fenster, durch die Tageslicht hereindrang, und die zahllosen Klafter von massivem Fels, die sich über ihnen türmten, drückten auf seine Seele. Dazu kam der beißende Gestank von Schwefeldampf, der schwer in der feuchtwarmen Luft lag. Die behelmten Wachen, die auf dieser Seite des Grabens ihren Dienst versahen, begrüßten die Zauberer respektvoll, fast unterwürfig. Auch wenn sie alle das königliche Zeichen auf ihren Brustpanzern trugen, schienen sie dem Orden jedoch nicht weniger treu ergeben zu sein. Vermutlich, so nahm Granock an, hing dies sowohl mit der gegenwärtigen Verwendung als auch mit der Vergangenheit dieser Festung zusammen.
Erst beim zweiten Hinsehen erkannte er, dass es gar keine Helme waren, die die Wachsoldaten trugen; vielmehr waren es lederne Kappen, deren zu beiden Seiten herabgezogener Wangenschutz eine Auswölbung nach vorn hatte und quer über Mund und Nase verlief. Darin steckte – Granock traute seinen Augen kaum – etwas, das wie der eingerollte Rüssel eines ilfantodon aussah. Noch ehe er fragen konnte, erklärte sich die Angelegenheit von selbst. Aus einer Vertiefung in der Wand nahm Llewyn drei der Lederkappen und reichte sie an die Besucher weiter mit der Aufforderung, sie aufzusetzen. Auch der Hauptmann und seine Leute zogen Kappen über, die sie am Gürtel bei sich trugen. Danach trat einer nach dem anderen an den steinernen Trog, der die Mitte der Torkammer einnahm, griff hinein, holte eines der rüsselähnlichen Gebilde heraus und steckte es in die dafür vorgesehene Halterung.
»Anadálthyra«, erklärte Aldur, als er Granocks verblüffte Miene bemerkte. »In den Gehäusen lebt eine Schneckenart, die man in den Höhlen Anars findet. Die Tiere atmen Schwefeldampf und geben dabei Atemluft an ihre Umgebung ab.«
»Sie geben sie ab?« Granock schaute den Freund ungläubig an. »Du meinst, wir atmen die … die …« Er stockte, weil ihm das Wort, nach dem er suchte, in der Elfensprache nicht einfiel. Er war sich nicht einmal sicher, ob es überhaupt einen adäquaten Ausdruck für das gab, was den Gedärmen hin und wieder zu entfleuchen pflegte.
»… die Körpergase«, half Aldur diplomatisch aus und grinste übers ganze Gesicht. »Genauso ist es.«
Granock brummte eine halblaute Verwünschung. Dann trat er ebenfalls an das Becken, tat es Aldur und Farawyn gleich und griff nach einem anadálthyr. Das Schneckenhaus, das tatsächlich einem eingerollten Rüssel ähnelte, war dunkelbraun und von schieferartiger Beschaffenheit. Das Tier, das darin lebte, war nicht zu sehen, aber das Gewicht des etwa faustgroßen Gebildes war weitaus größer, als Granock es angenommen hatte. Ein wenig zögerlich steckte auch er es in die dafür vorgesehene Halterung, und einer der Elfenwächter war ihm dabei behilflich, den Sitz der Haube seiner Gesichtsform anzupassen. Zuerst bemerkte Granock keine Veränderung – aber dann spürte er, wie sich etwas über seinen Mund und seine Nase stülpte. Weich, schleimig und klebrig! Panik und Ekel überkamen ihn, und er gab einen erstickten Laut von sich.
»Ruhig«, schärfte Farawyn ihm ein. Seine Stimme klang seltsam gedämpft durch den anadálthyr. »Das Tier sorgt dafür, dass keine Außenluft mehr in deine Lungen dringt, und das ist gut so. Denn die Dämpfe, die im Inneren Borkavors herrschen, sind so giftig, dass sie dich auf der Stelle töten würden.«
Granock kämpfte die Panik nieder, konnte sich aber nicht zum Atmen überwinden und hielt instinktiv die Luft an. Erst als er merkte, dass ihm schwarz vor Augen wurde, holte er zögerlich Luft. Der entsetzliche Gestank, den er erwartet hatte, blieb aus. Was der anadálthyr von sich gab, war tatsächlich nichts als reine Atemluft.
»Alles in Ordnung?«, erkundigte sich Farawyn.
Granock nickte zögernd, und der Zug setzte sich in Bewegung. Sie verließen das Torhaus durch einen schmalen Stollen, der immer weiter hinabführte. Tatsächlich schienen die Dämpfe mit jedem Schritt intensiver zu werden – Granock erkannte es an den gelben Schwaden, die wie dichter Nebel in der Luft lagen und im Fackelschein unheimlich leuchteten. Schrille Geräusche waren hin und wieder zu hören, die aus den Tiefen des Berges drangen, jedoch nicht eindeutig zuzuordnen waren. Waren es die Schreie verzweifelter Kreaturen, die dort unten ein elendes Dasein fristeten? Waren es irgendwelche Tiere, die in den Höhlen lebten? Oder war es gar der Berg selbst, dessen Gestein unter seiner eigenen Masse und der Last der Jahrtausende ächzte? Alles schien Granock an diesem Ort möglich.
»Du bist verunsichert«, sagte Farawyn, der neben ihm ging. Es war keine Frage, sondern eine Feststellung. »Du fragst dich, wie Elfen einen solch düsteren Ort unterhalten können.«
»Nun – ja«, gestand Granock.
»Auch ich habe mir diese Frage oft gestellt. Die Antwort ist, dass die Welt, in der wir leben, nicht vollkommen ist. Wir Elfen mögen uns damit rühmen, die Krone der Schöpfung zu sein und alle Dunkelheit hinter uns gelassen zu haben, aber es entspricht nicht der Wahrheit. Schon einmal, vor dem Großen Krieg, sind wir diesem Irrtum erlegen und haben teuer dafür bezahlt. Borkavor wurde eingerichtet, um jene zu strafen, die sich gegen das Gesetz gewendet hatten. In Wirklichkeit ist es aber auch eine Bestrafung unserer selbst, ein giftiger Stachel im Fleisch unseres Volkes. Denn solange wir diesen Ort brauchen – und ganz offenbar brauchen wir ihn mehr denn je –, ist er das steingewordene Eingeständnis der Tatsache, dass auch unsere Rasse nicht vollkommen ist und das Dunkel in uns nach wie vor existiert.«
»Aber warum wird dann behauptet, dass es keinen Mord mehr unter den Elfen gebe? Und dass die Todesstrafe abgeschafft worden sei?«
»Sie ist abgeschafft worden«, bestätigte Farawyn. »Was nicht dazugesagt wird, ist, dass es Strafen gibt, die weit schlimmer sind als der Tod – und Verbrechen, die noch schlimmer sind als Mord. Viele Elfen glauben nicht, dass es Borkavor gibt. Sie leugnen diesen Ort ebenso, wie sie unser dunkles Erbe leugnen. Und indem sie die Augen vor der Gefahr verschließen, sind sie die leichtesten Opfer der Dunkelheit. Das ist schon immer so gewesen.«
Ende der Leseprobe