Das Goldene Zeitalter war vor langer Zeit zu Ende gegangen, nicht allmählich und in einem Jahrhunderte währenden Prozess des Verfalls, sondern schlagartig, in einem katastrophalen Ereignis, das als der »Große Krieg« in die Annalen Erdwelts eingegangen war … Schließlich konnte zu jener Zeit niemand wissen, dass ein noch verheerenderer Krieg folgen sollte, in dem das stolze Elfenreich im Rauch brennender Städte und in Strömen von Blut versank.
Dieser letzte Konflikt kündigte sich, so wie es alle Kriege tun, in vielen kleineren Ereignissen an, die unabhängig voneinander betrachtet das Ausmaß der Bedrohung kaum erahnen ließen. Die Menschen, die den Nordosten des Reiches bevölkerten, strebten zunehmend nach Unabhängigkeit; die Orks wagten sich erstmals seit Jahrhunderten wieder in größerer Zahl über den Kamm des Schwarzgebirges; in Tirgas Lan, der Hauptstadt des Reiches, saß mit Elidor ein schwacher König auf dem Thron; und in Shakara, der Ordensburg der Zauberer, war man sich uneins, wie man den Herausforderungen der neuen Zeit begegnen sollte.
Keine dieser Entwicklungen war für sich genommen bedenklich genug, als dass man in ihr den Auftakt zu Ereignissen gesehen hätte, die in der Lage waren, die Welt aus den Angeln zu heben. Erst die Verschwörung Palgyrs machte auch den Unbedarftesten unter uns klar, dass erneut ein Zeitalter im Begriff war, zu Ende zu gehen.
Palgyr war einer von uns gewesen. Ein Weiser, ein dwethan, oder, wie die Menschen uns nannten, ein Zauberer. Ein Angehöriger des Hohen Rates, der geschworen hatte, dem Elfenreich zu dienen und es kraft seines reghas zu beschützen, jener besonderen magischen Gabe, die ein jeder Zauberer sein Eigen nennt. Niemand von uns hatte geahnt, dass Palgyr im Geheimen dunklen, frevlerischen Künsten frönte und sein ganzes Streben darauf richtete, jenen zurückkehren zu lassen, der in alter Zeit das Reich gespalten und den Großen Krieg entfesselt hatte.
Margok.
Unter dem Namen Qoray war Margok einst ein angesehenes Mitglied des Ordens gewesen, bis er sich von diesem losgesagt hatte; in verbotenen Experimenten hatte er Orks gezüchtet und grässliche Chimären, die die Eigenschaften gleich mehrerer todbringender Kreaturen in sich vereinten. Und er hatte den Dreistern entdeckt, jene Verbindung, die das Reisen an weit entfernte Orte binnen eines Augenblicks möglich machte.
Nicht wenige behaupten bis zum heutigen Tag, dass Qoray der größte Zauberer gewesen sei, den Erdwelt jemals hervorgebracht hätte, aber er nutzte seine Fähigkeiten nicht zum Wohle aller, wie er geschworen hatte, sondern nur, um seinen eigenen Zwecken zu genügen. Besessen von dem Gedanken, die Welt zu beherrschen, stürzte er sie in einen blutigen Krieg, der viele Jahre währte und schließlich mit Margoks Niederlage endete; gefasst wurde er jedoch nie, und über all die Zeit, die verstrich, hielt sich das hartnäckige Gerücht, der Herrscher der Dunkelheit warte an einem entlegenen Ort darauf, ins Leben zurückzukehren und Erdwelt endgültig zu unterjochen.
Die meisten von uns gaben nichts auf derlei Gerede; wir verbrachten die Zeit damit, uns selbst zu genügen. Entsprechend blind waren wir gegenüber dem, was in der Welt geschah. An einem Richtungsstreit über die Zukunft des Ordens hatten sich unsere Gemüter erhitzt, und wir wähnten uns so sehr im Mittelpunkt des historischen Geschehens, dass wir nicht merkten, wie sich dieses an einen anderen, weit entfernten Ort verlagerte. Nach Arun, jenseits der Südgrenze des Reiches …
Dort, in einem verbotenen Tempel, warteten Margoks Überreste darauf, von neuer Kraft erfüllt und ins Leben zurückgeholt zu werden. Zwar gelang es, die Verschwörung des Verräters Palgyr, der sich nunmehr Rurak nannte und wie sein dunkler Meister vom Orden losgesagt hatte, zu vereiteln. Aber die Welt war danach nicht mehr dieselbe.
Verunsicherung hielt Einzug, Gerüchte machten die Runde, die Furcht vor einem neuen verheerenden Konflikt ging um. Palgyrs Verrat hatte Klüfte zutage treten lassen, deren Vorhandensein wir über die Jahrhunderte erfolgreich geleugnet hatten: Margoks Kreaturen hatten erstmals nach langer Zeit wieder die Modermark verlassen, und die Menschen waren offen als Feinde aufgetreten und hatten sich gegen den König gestellt, der sich als schwach und seinen Beratern hörig erwiesen hatte. Zwar wurden Strafexpeditionen in die Westmark durchgeführt, und man versuchte, die Rädelsführer unter den gywara zu fassen, doch sie waren halbherzig geplant und nur zum Teil erfolgreich; Palgyr jedoch, der Urheber der Verschwörung, wurde in die dunklen Kerker von Borkavor verbannt, wo er den Rest seiner Tage verbringen sollte, bis seine Bosheit und das Gift des Verrats ihn zerfressen hätten.
All dies warf kein gutes Licht auf die Zukunft des Reiches, aber wir alle, die wir dem Orden der Zauberer angehörten, trogen uns mit dem Schein einer friedlichen, unverdorbenen Welt. Wie Wanderer, die in einer mondlosen Nacht ihr Ziel verloren hatten, suchten auch wir am Firmament nach leuchtenden Fixpunkten, die uns den Weg weisen würden. Wir fanden sie in jenen, die in Arun dabei gewesen waren und die Pläne der Verschwörer vereitelt hatten, und wir nannten sie Helden.
Zuvorderst den Zauberer Farawyn, dessen Fähigkeit, in die Zukunft zu sehen, uns alle vor der Katastrophe bewahrt hatte. Nach dem gewaltsamen Tode des Ältesten Cethegar stand er nunmehr dem Orden vor, zusammen mit Vater Semias, der einst sein Meister gewesen war.
Als nächsten Aldur, den Spross eines stolzen Elfengeschlechts. Auf Geheiß seines Vaters war er nach Shakara gekommen, um der größte aller Zauberer zu werden.
Alannah, die Tochter der Ehrwürdigen Gärten, die lange nichts von ihren Fähigkeiten geahnt hatte und nur zum Orden gestoßen war, weil das Schicksal es so gewollt hatte.
Und schließlich Granock, den ersten Menschen, der jemals in unseren Reihen aufgenommen worden war, und dies auch nur, weil Farawyn allen Vorbehalten zum Trotz darauf bestanden hatte.
Als unwürdiger Verfasser dieser Chronik gestehe ich freimütig, dass auch ich zu jenen gehört habe, die die Anwesenheit eines gywar in Shakara als Frevel betrachteten, als Verstoß gegen die alten Werte und Traditionen, und dass ich noch immer eine gewisse Scheu dabei empfinde, seinen Namen zusammen mit den vorgenannten auf dieses Pergament zu bannen. Aber es steht außer Frage, dass Granock nicht weniger tapfer und mutig gekämpft hat als seine Verbündeten von elfischem Geblüt und dass auch er seinen Anteil an dem Sieg gehabt hatte, der in Arun errungen worden war.
Vielleicht war es der Blick auf jene Helden, der uns unsere Vorsicht vergessen ließ. Vielleicht auch nur unser Wunsch nach Frieden. Doch wir alle, die wir glauben wollten, dass die Gefahr gebannt und die Bedrohung beseitigt wäre, wurden schon bald eines Besseren belehrt …
Aus der Chronik Syolans des Schreibers
Anhang zum II. Buch, 8. Abschnitt