2. ÁTHYSYR DAI SHAKARA

»Und vorwärts! Nicht so langsam! Das Gewicht gleichmäßig auf beide Beine, verstehst du?«

Granock hörte seine eigene Stimme von der Kuppeldecke der Arena widerhallen und konnte es selbst kaum glauben: Noch vor zwei Jahren war er selbst einer der Novizen gewesen, die in endlosen Übungsstunden im Umgang mit dem flasfyn unterrichtet wurden; nun erteilte er selbst die Lektionen. Ein wenig befremdet stellte er fest, dass er sich dabei kaum anders anhörte wie seinerzeit der gestrenge Meister Cethegar …

»Auf beide Beine, habe ich gesagt!«

»Warum?«, fragte der Novize unbedarft zurück.

Die Antwort folgte auf dem Fuß, und zwar im wörtlichen Sinne. Anstatt dem vorlauten Jungen zu erklären, weshalb man beim Kampf mit dem Zauberstab stets mit beiden Beinen auf dem Boden zu stehen hat, rempelte Granock ihn kurzerhand an, worauf der Novize das Gleichgewicht verlor, mit den Armen ruderte und – zur Belustigung seiner Mitschüler – auf dem Hinterteil landete. Schon für einen Menschen war dergleichen eine entwürdigende Erfahrung. Für einen Elfen kam es einem Frevel gleich.

»Deshalb«, erklärte Granock grinsend, wobei er sich sicher war, dass keiner der anwesenden Schüler diese Lektion je vergessen würde. »Es ist wichtig, dass ihr im Kampf stets das Gleichgewicht behaltet, und das könnt ihr nicht, wenn ihr das Gewicht auf ein Bein verlagert. Geht das in deinen Schädel?«

»J-ja«, versicherte der Novize, ein junger Elf aus dem Südreich, der auf den Namen Nimon hörte. Granock streckte ihm die Hand entgegen und zog ihn wieder auf die Beine. Zumindest in dieser Hinsicht unterschied er sich von Meister Cethegar.

»Machen wir eine kurze Pause«, schlug er vor, zur hellen Freude seiner Schüler. Erleichtert stellten sie die Übungszauberstäbe an der Wand ab und setzten sich mit verschränkten Beinen auf den Boden.

Sie alle waren erst wenige Wochen in Shakara und mit den Gepflogenheiten noch nicht vertraut. Granock erinnerte sich lebhaft an seine erste Zeit im Orden der Zauberer. Nicht nur, dass er die Elfensprache mühsam hatte erlernen müssen; ein junger Mitschüler namens Aldur hatte keine Gelegenheit ausgelassen, ihm, dem ersten Menschen in diesen Hallen, das Leben zur Hölle zu machen.

»Wollt Ihr uns eine Geschichte erzählen, Eingeweihter Granock?«, erkundigte sich ein Mädchen, das dem Aussehen nach kaum älter als sechzehn Jahre sein mochte. Granock hatte schon vor langer Zeit gelernt, dass dieser Eindruck bei Elfen täuschen konnte.

»Was für eine Geschichte?«, hielt er dagegen.

»Ist es wahr, dass Ihr den Eingeweihten Aldur mit einem Zauberstab verprügelt habt?«, erkundigte sich Nimon vorlaut, der sich von seiner Lektion schon wieder erholt zu haben schien.

»Wer hat euch das erzählt?«, wollte Granock wissen, aber eigentlich erübrigte sich die Frage. Er blickte an den Neuzugängen vorbei zu den beiden Gestalten, die drüben am Eingang standen und für die Wartung und Instandhaltung der Übungszauberstäbe verantwortlich waren.

Ogan und Caia.

Die beiden waren zusammen mit Granock nach Shakara gekommen, aber anders als bei ihm war ihre Ausbildung noch im Stadium des garuthan begriffen. Die erste Prüfung hatten sie schon abgelegt und den safailuthan, den theoretischen Teil der Ausbildung zum Zauberer, erfolgreich hinter sich gebracht. Aber sie waren noch keine Eingeweihten, und zumindest Ogan bezweifelte ernstlich, dass er diesen Grad der Reife jemals erlangen würde. Denn darüber entschied keine Prüfung, sondern ganz allein der Hohe Rat; nur wer sich in besonderer Weise um den Orden verdient gemacht hatte, trat in den dritten und letzten Abschnitt der Ausbildung ein.

Granock warf dem untersetzten Elf, der zu seinen besten Freunden gehörte, einen tadelnden Blick zu. »Gewissermaßen«, gestand er dann.

»Wie ist das passiert?«, wollte Nimon wissen.

»Nun ja, ich …« Granock suchte nach Worten, um die Angelegenheit möglichst harmlos klingen zu lassen – er konnte ja schlecht erzählen, dass Aldur keine Gelegenheit ausgelassen hatte, um ihm zu schaden, und er sich deshalb mit allen Mitteln hatte verteidigen müssen. »Ich war noch jung damals und ziemlich ungestüm«, erklärte er dann. »Meister Cethegar, der unsere Ausbildung leitete, ließ uns mit dem flasfyn gegeneinander antreten. Und da ich bis zu diesem Zeitpunkt nicht wusste, dass ein Stab auch zu anderen Zwecken dienen kann als dazu, einfach zuzuschlagen, habe ich eben zugeschlagen.«

Die Novizen lachten meckernd, auch Ogan und Caia grinsten breit. Die Erinnerung schien ihnen noch immer zu gefallen.

»Cethegar ist der Meister, der damals in Arun gefallen ist, nicht wahr?«, fragte ein anderer Novize, und das Gelächter erstarb.

»Ja«, bestätigte Granock leise.

»Wie ist das damals gewesen? Es muss furchtbar sein, seinen Meister zu verlieren …«

Granock schloss einen Atemzug lang die Augen. Fast schien es ihm, als wäre er rings von dichtem Grün umgeben. Er roch den Moder und die Fäulnis, sah die steinerne Bestie und hörte gellende Schreie …

»Das ist es«, versicherte er nickend. »Allerdings ist Cethegar nicht mein Meister gewesen, sondern der der Eingeweihten Alannah. Aber ich bitte euch, sie nicht danach zu fragen, denn die Erinnerungen sind für sie noch immer schmerzlich, trotz all der Zeit, die vergangen ist.«

»Und ist es wahr?«, erkundigte sich Nimon. »Stimmt es, was man im Südreich erzählt? Dass der Dunkelelf ins Leben zurückkehren wollte?«

Die Heiterkeit, die vorhin noch die Kuppel erfüllt hatte, war mit einem Mal nur noch eine ferne Erinnerung. Wie immer, wenn die Rede auf derlei Dinge kam. Granock konnte die Furcht der jungen Novizen beinahe körperlich spüren, ihre Neugier und ihre Unsicherheit. Gebannt schauten sie ihn an.

»Es ist wahr«, gestand er. »Ein Zauberer, der diesem Orden angehörte, wandte sich von seinen Brüdern ab und versuchte, die sterbliche Hülle Margoks wieder zum Leben zu erwecken. Glücklicherweise konnten wir ihn daran hindern, aber ich …«

Granock biss sich auf die Zunge. Die blassen Gesichter, in die er blickte, waren auch so schon verängstigt genug – ohne dass er Einzelheiten preisgab und ihnen vom Verrat der Meisterin Riwanon erzählte oder davon, dass es in den vergangenen zwei Jahren kaum eine Nacht gegeben hatte, in der er nicht von jenen grässlichen Ereignissen geträumt hatte und schweißgebadet aus dem Schlaf geschreckt war. Sein menschliches Naturell schien einfach nicht mit den Schrecken fertig zu werden.

Nimon und die anderen starrten ihn wissbegierig an und warteten darauf, dass er seinen Satz zu Ende brachte. Entsprechend froh war er, als die Tür zum Übungsraum aufglitt und genau jener Elf erschien, dem er vor etwas mehr als zwei Jahren tatsächlich just an dieser Stelle eine Tracht Prügel verpasst hatte.

»Was denn?« Über die schmalen, fast asketisch wirkenden Züge huschte ein Lächeln, seltene Heiterkeit sprach aus den stahlblauen Augen. »Gibst du schon wieder mit deinen angeblichen Heldentaten an?«

»Aldur!«

Das unverhoffte Auftauchen des Freundes ließ Granock für einen Augenblick alles andere vergessen. Er wandte sich von seinen Novizen ab und ging dem Elfen entgegen, umarmte dessen hagere Gestalt. Früher wäre es Aldur niemals in den Sinn gekommen, eine solch bäuerische Bekundung menschlicher Zuneigung über sich ergehen zu lassen, doch inzwischen erwiderte er sie sogar.

»Seit wann bist du wieder hier?«

»Eben erst angekommen.«

»Und? Wie war es draußen in der yngaia? Du musst mir alles erzählen.«

»Das werde ich«, versicherte Aldur ruhig, jetzt wieder ganz ein Sohn seines Volkes. »Wie ich sehen kann, arbeitest du mit den Novizen.«

»Meister Farawyn hielt es für eine gute Idee«, erklärte Granock ein wenig verlegen. »Er meinte, ich könnte ihnen ein paar besondere Tricks beibringen.«

Aldur grinste. »Davon bin ich überzeugt. Hast du ihnen auch von der Lektion erzählt, die ich dir im Umgang mit dem flasfyn erteilt habe?«

»Du mir?« Granock hob die Brauen. »Wenn ich mich recht entsinne, bin nicht ich es gewesen, der am Ende mit brummendem Schädel auf seinem Hintern saß.«

Beide lachten und umarmten einander erneut, was zumindest einige der Novizen mit Befremden zu erfüllen schien. »Eingeweihter Aldur?«, fragte einer von ihnen. Die Ehrfurcht war seiner Stimme deutlich anzumerken.

»Ja, Novize?«

»Warum unterrichtet Ihr uns nicht im Umgang mit dem flasfyn

»Weil ich dazu nicht beauftragt wurde, Novize«, erklärte Aldur kurzerhand.

»Ich verstehe«, räumte der junge Elf ein, aus dessen Blick grenzenlose Bewunderung sprach. »Aber wärt Ihr nicht die bessere Wahl? Könntet Ihr uns nicht sehr viel mehr beibringen als ein Mensch?«

Granock zuckte noch nicht einmal innerlich zusammen. Er hatte sich längst daran gewöhnt, dass Elfen ihm zunächst mit Misstrauen begegneten. Selbst sein Anteil an der Aufdeckung von Palgyrs Verschwörung hatte daran nicht allzu viel geändert. Angesichts der Tatsache, dass es in den von Menschen besiedelten Ostlanden wiederholt Unruhen gegeben hatte und einige Clansherren sich mehr oder weniger offen gegen die Krone stellten, konnte er es ihnen nicht einmal verübeln.

Anders als Aldur.

Der Eingeweihte straffte sich, und seine ohnehin schon schmalen Elfenaugen verengten sich zu Schlitzen, durch die er den Novizen durchdringend taxierte.

»Wie heißt du?«, wollte er wissen.

»Eoghan«, drang es leise zurück.

»Eoghan«, wiederholte Aldur. »Somit trägst du einen großen, königlichen Namen – den du soeben mit Unehre beschmutzt hast.«

»Mit Unehre?« Der Novize schnappte erschrocken nach Luft. »Aber ich …«

»Dieser Mann«, verkündete Aldur, auf Granock deutend, »ist ein Mitglied unseres Ordens, und er ist ebenso mein Bruder, wie es jeder Sohn Sigwyns ist, der in diesen Hallen wandelt. In dunkelster Stunde habe ich Seite an Seite mit ihm gekämpft und würde ihm jederzeit mein Leben anvertrauen. Wer sich erdreistet, seine Fähigkeiten anzuzweifeln oder seine Loyalität infrage zu stellen, der muss mir persönlich Rede und Antwort stehen. Habt ihr das verstanden?«

Er ließ seinen Argusblick über die Novizen streifen und erntete eifriges Nicken. Granock, der ebenso geschmeichelt war wie peinlich berührt, senkte den Blick.

»Es tut mir leid, Eingeweihter Aldur«, beeilte sich Eoghan zu versichern. »Ich wollte nicht …«

»Für Entschuldigungen ist es zu spät, Novize«, stellte Aldur klar. »Wer meinen Bruder beleidigt, der beleidigt auch mich, und das werde ich nicht ungestraft hinnehmen. Du wirst den dysbarth verlassen und dich umgehend bei Meister Duran melden. Du wirst dich aller deiner Kleider entledigen und zehn Tage und zehn Nächte in einer der Eiskammern verbringen. Dort wirst du darüber nachdenken, was es bedeutet, einen Mitbruder zu beleidigen.«

»J-ja, Eingeweihter Aldur«, bestätigte der Junge stammelnd. Das Entsetzen war seinen kreideweißen Zügen deutlich anzusehen.

»Aldur«, raunte Granock. So dankbar er seinem Freund dafür war, dass er für ihn Partei ergriff, so überzogen fand er die Strafe. Er hatte andere Mittel und Wege gefunden, um aufsässige Novizen dazu zu bringen, ihre Nase weniger hoch zu tragen.

»Du ergreifst für ihn Partei?«, fragte Aldur ihn in einer Mischung aus Wut und Erstaunen. »Obwohl er deine Fähigkeiten als Lehrer öffentlich angezweifelt hat?«

»Nur weil er meine Fähigkeiten öffentlich anzweifelt, bedeutet das nicht, dass ich keine habe«, konterte Granock gelassen. »Außerdem kannte ich einst einen jungen Elfen, der ähnlich dachte und nicht weniger hart in seinem Urteil war …«

Was in Aldurs Innerem vorging, war nicht festzustellen, seine Miene blieb unbewegt. »Fünf Tage«, erklärte er schließlich. »Das ist mein letztes Wort. Und bedenke, Novize Eoghan, dass es Menschlichkeit war, die dir die Hälfte der Strafe erspart hat.«

»Ja, Eingeweihter Aldur.« Der junge Elf verbeugte sich tief und respektvoll.

»Und jetzt geh mir aus den Augen.«

Eoghan verbeugte sich abermals. Dann flüchtete er rasch aus der Halle. Seine Knie waren sichtlich weich dabei. Wahrscheinlich, so nahm Granock an, würde er sich übergeben, sobald er die Arena verlassen hatte. Manche Dinge änderten sich vermutlich nie.

Die übrigen Novizen vermieden es, ihrem menschlichen Lehrer in die Augen zu schauen. Die meisten blickten betreten zu Boden oder zur Kuppeldecke hinauf, andere kehrten zu ihren Übungszauberstäben zurück und taten so, als würden sie sie prüfen. Die restliche Unterrichtsstunde, da war Granock ganz sicher, würde ohne weitere Zwischenfälle verlau…

Da bist du ja!

Die helle Stimme, die durch sein Bewusstsein quäkte, unterbrach Granocks Gedankengang. Er wandte sich dem Eingang zu, wo eine untersetzte, nur eineinhalb Ellen große Gestalt erschienen war, die blattgrüne Kleidung trug und einen umgedrehten Blütenkelch auf dem Kopf. Als Granock den Kobold Ariel zum ersten Mal in dieser Montur erblickt hatte, hatte er sich ausgeschüttet vor Lachen. Inzwischen war Ariel sein persönlicher Diener, und an die Blütenmütze hatte sich Granock ebenso gewöhnt wie daran, dass Kobolde sich mittels Gedankenübertragung zu unterhalten pflegten. Und dass der ehemalige Hausmeister dabei gern einen flapsigen Umgangston anschlug …

Ist dir klar, was es heißt, die halbe Ordensburg auf Füßen absuchen zu müssen, die so klein sind wie meine?, maulte Ariel missmutig.

»Ich habe dir gesagt, wohin ich gehe«, konterte Granock. »Leider sind deine Ohren genauso klein wie deine Füße.«

Versuchst du jetzt auch noch, witzig zu sein? Als ob es nicht genügen würde, dass ein Mensch das Zaubern lernt!

Granock musste grinsen. Sich fortwährend über etwas zu beschweren, gehörte ebenso zu Ariel wie die dicken Pausbacken und die spitze Nase. Aber es änderte nichts daran, dass er ein treuer und zuverlässiger Diener war.

»Was gibt es?«

Meister Farawyn wünscht dich zu sprechen. Und den hochnäsigen Elfenbengel gleich mit.

Granock war froh darüber, dass Aldur von ihrer Unterhaltung nichts mitbekam. Die eigenen Gedanken abzuschirmen gehörte zu den Dingen, die einem als Erstes beigebracht wurden, wenn man nach Shakara kam. Ariel hatte nie ein Hehl daraus gemacht, dass er Aldur nicht besonders leiden konnte, auch wenn Granock keine Gelegenheit ausließ, die Vorzüge seines Freundes aufzuzählen.

»Verstanden«, bestätigte er nur.

»Gibt es Probleme?«, wollte Aldur wissen.

»Wir sollen zu Farawyn, alle beide«, erklärte Granock knapp. »Ogan?«

»Ja, Granock?« Der Freund näherte sich nur zögernd. Furcht stand in seinen Augen zu lesen, die fraglos Aldur galt. Wegen seines rundlichen Körperbaus und seiner vergleichsweise harmlosen Gabe, es regnen zu lassen, hatte Aldurans Sohn den armen Ogan schon häufig vorgeführt.

»Ich möchte, dass du mit dem Unterricht fortfährst.«

»Ich? Aber ich bin nur ein Aspirant …«

»Du weißt, wie man mit dem flasfyn umgeht, oder nicht?«

»Nun ja.«

»Dann lehre sie den Schattenkampf. Oder bring ihnen zur Not bei, wie man jemandem das Ding über den Schädel haut«, fügte Granock grinsend hinzu. »Kriegst du das hin?«

»Ich denke schon«, versicherte der Elf, und ein Lächeln plusterte seine ohnehin schon vollen Wangen.

»Dann immer zu«, forderte Granock ihn auf, während Aldur und er sich zum Gehen wandten.

Wenn der Älteste des Ordens zur Besprechung rief, ließ man ihn besser nicht warten.

 

Auf dem Weg zur Kanzlei hatten sie erstmals Gelegenheit, sich zu unterhalten. Níobe, Aldurs Koboldsdienerin, war damit beschäftigt, seine Sachen auszupacken, und Granock hatte Ariel gebeten, ihr dabei zur Hand zu gehen – nicht, weil sie Hilfe gebraucht hätte, sondern weil er mit Aldur allein sein wollte. Und weil er wusste, dass der gute Ariel insgeheim ein Auge auf die kesse Níobe geworfen hatte …

»Und?«, erkundigte er sich, während sie durch die von blauem Kristallfeuer beleuchteten Gänge schritten. »Wie ist es da draußen gewesen?«

»Kalt«, entgegnete Aldur nur. »Schnee und Eis, wohin man blickt. Man fragt sich, wie diese Kreaturen das aushalten.«

Granock schaute ihn von der Seite an. »Und? Bist du erfolgreich gewesen?«

»Soll das ein Scherz sein?« Aldur schüttelte den Kopf. »Du weißt, ich habe nichts mehr dagegen, auch Menschen in den Orden aufzunehmen. Aber Farawyn hatte schon bessere Ideen, als ausgerechnet unter den Eisbarbaren nach Begabten zu suchen. Diese Kerle können von Glück sagen, wenn sie sich aus Dummheit nicht alle gegenseitig erschlagen – das ist Gabe genug.«

Granock musste lachen. Trotz aller Vorbehalte hatten sich die Zauberer von Shakara bereit erklärt, außer Granock noch weitere Menschen in den Orden aufzunehmen. Voraussetzung dafür war allerdings, dass sie wie jeder andere Anwärter über reghas verfügten, jene einzigartige magische Gabe, die jeder Zauberer sein Eigen nannte. Eine rege Suche nach magischen Talenten hatte daraufhin eingesetzt, die sich nicht nur auf die Ostlande, sondern auch auf die Außenbezirke erstreckte, und es war Farawyn selbst gewesen, der darauf bestanden hatte, auch die Barbaren des Nordens einzubeziehen. Und das, obwohl es selbst unter den Menschen eine ganze Reihe gab, die behaupteten, die grobschlächtigen und am ganzen Körper behaarten Bewohner der südlichen yngaia gehörten nicht zu ihrer Art.

Dass ausgerechnet Aldur die zweifelhafte Ehre zugefallen war, die Eiswüste nach Anwärtern zu durchsuchen, war sicher kein Zufall gewesen. Noch war ihre Ausbildung zum Zauberer nicht abgeschlossen, und Granock nahm an, dass Farawyn Aldur eine Lektion hatte erteilen wollen – in Kälte, in Demut oder was auch immer. Er hatte schon vor langer Zeit damit aufgehört, die Handlungen seines Meisters zu hinterfragen.

»Und Alannah?«, fragte Aldur.

»Was soll mit ihr sein?« Granock zuckte mit den Schultern. »Sie ist noch immer in Tirgas Lan.« Er gab sich Mühe, unbekümmert zu klingen, damit sein Freund nicht merkte, wie sehr ihm Alannah fehlte, die ebenso schöne wie kluge Elfin, die das Dreigestirn ihrer Freundschaft ergänzte. Gemeinsam hatten sie die erste Prüfung bestanden, gemeinsam die Hölle von Arun durchlebt. Seither waren sie unzertrennlich.

Zumindest theoretisch …

»Noch immer?«, fauchte Aldur und sprach ihm damit aus der Seele. »Aber es sind nun schon vier Monate!«

»Du weißt doch, sie wollte alte Freunde besuchen, aus der Zeit, als sie noch ein Kind der Ehrwürdigen Gärten war«, brachte Granock in Erinnerung. »Schließlich erlässt Lordrichter Mangon nicht jeden Tag eine Amnestie.«

Unwillkürlich musste er an die dramatischen Ereignisse denken, die Alannah zum Orden geführt hatten. Als Elfin von hohem Geblüt war sie in der Obhut der Ehrwürdigen Gärten aufgewachsen. Eines Tages hatte Iwein, der jüngste Sohn des Fürsten von Andaril, sie dort beim Baden beobachtet, und Alannah, von Scham und Furcht überwältigt, hatte sich mit ihrer Gabe zur Wehr gesetzt, von der sie bis zu diesem Augenblick noch nichts geahnt hatte. Von einer Eislanze durchbohrt, war Fürst Erweins Sohn tot niedergesunken und Alannah des Mordes beschuldigt worden. Die Flucht nach Shakara war ihre einzige Möglichkeit gewesen, doch die Ereignisse von Arun und der wesentliche Anteil, den sie bei der Aufdeckung der Verschwörung gespielt hatte, hatten sie in den Augen des Lordrichters rehabilitiert.

»Ehrwürdige Gärten hin oder her«, murrte Aldur. »Wir sind ihre Freunde, hat sie das vergessen? Ihr Platz ist hier in Shakara und nicht in Tirgas Lan …«

Sein Lamento wäre wohl weitergegangen, hätten sie nicht in diesem Moment das Vorgewölbe der Kanzlei erreicht. Mehrere Meister – unter ihnen auch Syolan der Schreiber und Tarana von der Zauberstab-Kongregation – hockten an den länglichen Tischen und waren in das Abfassen von Berichten vertieft. Falun, eine noch junge Rätin des linken Flügels, begrüßte die beiden Eingeweihten und führte sie durch den Säulengang zur Kanzlei. Die mächtigen Pforten schwangen auf, und Granock und Aldur sahen sich den beiden Ältesten des Ordens gegenüber.

Semias und Farawyn.

Vater Semias trug den Titel nicht nur ehrenhalber; infolge seiner gebückten Gestalt, des schlohweißen Haars und des Bartes, der ihm fast bis zum Bauch hinabreichte, sah er tatsächlich so aus, als weilte er schon länger als jedes andere Ordensmitglied auf dieser Welt. Wer den sanftmütigen, stets auf Ausgleich bedachten Zauberer jedoch näher kannte, der wusste, dass die Verschwörung Palgyrs und noch mehr der Verlust seines Freundes Cethegar sein lu, die Lebensenergie, die jedem Elfen innewohnte, beträchtlich gemindert hatten.

Auch an Farawyn waren die Vorfälle von Arun nicht spurlos vorübergegangen, aber im Vergleich zu Semias war er von geradezu jugendlicher Kraft erfüllt. Anders als die meisten Mitglieder des Ordens trug er das grauschwarze Haar und den Kinnbart kurz geschnitten, und aus seinen dunklen Augen sprach ein eiserner, unbeugsamer Wille. Seine Robe war von dunkelblauer Farbe und trug den stilisierten Elfenkristall auf der Brust, den er sich als Siegel gewählt hatte.

Sowohl an der Miene seines Meisters als auch an der des alten Semias konnte Granock sofort erkennen, dass etwas nicht stimmte. Während Farawyn auf seinen Lindenholzstab gestützt auf und ab ging, saß Semias am Ende der langen Beratungstafel, zusammengesunken und das Kinn auf die knochige Hand gestützt. Weder gab es ein Willkommen für Aldur noch ein freundliches Wort für Granock.

»Gut, dass ihr gekommen seid«, war alles, was Farawyn zur Begrüßung sagte. Dann deutete er auf zwei freie Stühle an der Tafel. »Setzt euch. Bruder Semias und ich haben mit euch zu reden.«

»Falls es um die Handhabung der flasfyn-Ausbildung geht«, meinte Granock, während Aldur und er Platz nahmen, »so möchte ich dazusagen, dass ich …«

»Nein, Sohn.« Semias schüttelte den Kopf. Über seine faltigen Züge glitt der Anflug eines Lächelns. »Darum geht es nicht, obwohl ich es wünschte. Glückliche Zeiten sind es, in denen wir uns um Nichtigkeiten sorgen.«

Granock kannte den Ausspruch. Es war ein Zitat aus dem Prolog der »Geschichte des Großen Krieges der Völker«, die ein Meister mit Namen Nevian vor vielen Jahrhunderten verfasst hatte. Das Studium der alten Schriften gehörte ebenfalls zur Ausbildung eines Zauberers, und wenn Semias wörtlich daraus zitierte, so signalisierte er damit, dass bedeutsame Dinge vorgefallen waren. Dinge von möglicherweise historischen Ausmaßen …

Granock merkte, wie seine Kehle trocken wurde. Seine Hände krallten sich in die Stuhllehnen, bis die Knöchel weiß hervortraten. »Was ist geschehen?«, fragte er gepresst – obwohl Farawyn ihn unzählige Male deswegen ermahnt hatte, war er seine Gewohnheit, Fragen zu stellen, nie ganz losgeworden. Ein Elf hingegen pflegte geduldig zu warten, bis, wie es hieß, die Weisheit zu ihm kam.

»Zwei Jahre lang«, erwiderte Semias leise, »war uns eine Zeit der Ruhe vergönnt …«

»Der trügerischen Ruhe«, verbesserte Farawyn, der seinen Stab in die dafür vorgesehene Halterung an der Wand gelegt und sich dann ebenfalls gesetzt hatte. »Ich war immer der Ansicht, dass sie nicht ewig währen würde. Zu vieles sprach dagegen.«

»Ich habe deinen Ausführungen stets mit Interesse gelauscht, Bruder Farawyn«, versicherte Semias. »Dennoch hatte ich wie wohl so viele Schwestern und Brüder unseres Ordens gehofft, dass sich deine Befürchtungen als unbegründet erweisen, dass die Geschichte uns nicht noch eine weitere Lektion erteilen würde. Aber damit habe ich mich wohl geirrt. Auch wenn ich nicht weiß, welchen Fehler wir begangen haben.«

»Der Fehler«, sagte Farawyn unbarmherzig, »bestand darin, ihn am Leben zu lassen. Er hätte getötet werden müssen und verbrannt und seine Asche in alle Winde zerstreut. Nur dann wären wir sicher gewesen.«

Semias’ Mund klappte in namenlosem Schrecken auf und zu. Der Älteste wirkte hilflos, wie ein Fisch, der auf dem Trockenen lag und nach Atem rang. Die Todesstrafe war unter Elfen längst abgeschafft worden und wurde als unzivilisiert und barbarisch erachtet. Ihr so unverhohlen das Wort zu reden, wie Farawyn es gerade getan hatte, kam einem Frevel gleich. Dass Semias nicht widersprach, ließ jedoch darauf schließen, dass es bei der ganzen Angelegenheit nur um jene Person gehen konnte, die den Orden wie kaum eine andere getäuscht und hinters Licht geführt hatte …

»Palgyr«, sprach Granock seinen Gedanken laut aus. »Es geht um Palgyr, nicht wahr?«

»Nenne ihn nicht so«, wehrte Semias ab. »Unser Mitbruder dieses Namens existiert nicht mehr. An seine Stelle ist der Verräter getreten, der sich Rurak nennt.«

»… und der aus Borkavor entkommen ist«, fügte Farawyn ebenso leise wie düster hinzu.

»Was?« Während Aldur nach außen hin keine Regung zeigte, konnte Granock kaum an sich halten. »Das darf nicht wahr sein! Wann ist das geschehen?«

»Vor zwei Tagen«, erwiderte Farawyn knapp.

»Aber … wie?« Granock hatte Mühe, sich zu fassen. »Ich dachte, Borkavor wäre ein sicherer Ort!«, rief er. »Sagtet Ihr nicht, dass noch niemandem der Ausbruch gelungen wäre?«

»Das sagten wir, und so ist es auch gewesen«, stimmte Farawyn zu. »Aber wie ihr Menschen treffend zu sagen pflegt, gibt es für alles ein erstes Mal.«

Granock lachte freudlos auf. Farawyn hatte die Eigenart, auch bestürzende Wahrheiten gelassen auszusprechen. Dabei war zu diesem Zeitpunkt noch nicht annähernd abzuschätzen, was Ruraks Flucht zu bedeuten hatte. Unwillkürlich dachte auch Granock, dass es besser gewesen wäre, dem Verräter den Garaus zu machen und dafür zu sorgen, dass er keinen Schaden mehr anrichten konnte. Aber diese Möglichkeit gab es jetzt nicht mehr.

»Wisst Ihr schon, wie es geschehen ist, Vater?«, erkundigte sich Aldur.

»Nein.« Farawyn schüttelte den Kopf. »Ruraks Zelle befand sich im caras , dem am besten gesicherten Bereich des Kerkers, aus dem selbst ein Drache nicht zu entkommen vermag. Viele Klafter Fels, stählerne Gitter und auch zahlreiche magische Barrieren umgeben die Zellen. Sie zu umgehen, ist eigentlich unmöglich. Es sei denn …«

»Ja?«, hakte Granock nach.

»Es sei denn, man hat Hilfe«, führte Semias den Satz zu Ende. »Hilfe von außen, um genau zu sein.«

»Von außen?« Granock sah die beiden Ältesten forschend an. »Was wollt Ihr damit sagen, Vater?«

»Ich denke, du weißt sehr genau, worauf wir hinauswollen«, war Farawyn überzeugt.

»Aber … wie könnte das sein?« Granock schüttelte den Kopf. »Die Verschwörung wurde aufgedeckt, Ruraks Pläne vereitelt. Die Rückkehr des Dunkelelfen wurde verhindert, die Aufrührer unter dem Schutt des Pyramidentempels begraben.«

»All das ist wahr«, gab Farawyn zu. »Aber wir wähnten den Dunkelelfen bereits einmal besiegt – und es hätte nicht viel gefehlt, und er wäre zurückgekehrt.«

»Außerdem«, fügte Semias mit brüchiger Stimme hinzu, »wurden nicht alle Verschwörer beim Einsturz des Tempels getötet, wie ihr euch erinnern werdet.«

»Die neidora haben überlebt«, sagte Aldur gepresst. »Margoks grausame Leibwächter.«

Das Unbehagen, das ihn beschlich, als er an die zehn Echsenkrieger dachte, die vor langer Zeit aus einer frevlerischen Kreuzung von Elfen- und Reptilienblut hervorgegangen waren, war ihm deutlich anzusehen. »Sie waren nicht zugegen, als wir den Tempel zum Einsturz brachten, und unsere Versuche, sie ausfindig zu machen und zu vernichten, haben sich allesamt als fruchtlos erwiesen.«

»Ich dachte, dass die neidora ohne die Bosheit ihres Herrn nicht lange überleben könnten«, wandte Granock ein. »Dass sie schon bald wieder zu Stein erstarren würden.«

»Das nahmen wir an, zumal Rurak es uns gestanden hat«, stimmte Farawyn düster zu. »Aber es wäre nicht das erste Mal, dass er uns belogen hat.«

Granock holte tief Luft. Was er hörte, gefiel ihm nicht, und er hätte am liebsten noch weitere Einwände erhoben. Aber was nützte das, wenn selbst die Weisesten unter den Zauberen Shakaras ratlos waren?

»Trotz ihrer Grausamkeit und Stärke sind die neidora tumbe Kreaturen«, erhob Aldur an Granocks Stelle Einspruch. »Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie allein Rurak befreit haben sollen.«

»Dann sind wir schon zu zweit, mein junger Freund«, stimmte Farawyn zu. »Es gibt zu viele Rätsel und offene Fragen, als dass sie aus der Ferne beantwortet werden könnten. Bruder Semias und ich haben daher beschlossen, den Vorfall vorerst geheim zu halten und in aller Stille zu untersuchen. Ich werde noch heute Nacht die Ordensburg verlassen und nach Borkavor aufbrechen – und ich möchte, dass ihr beide mich begleitet.«

Granock und Aldur tauschten einen verwunderten Blick. Sie waren nur Eingeweihte; noch vor den Ratsmitgliedern über solch dramatische Vorgänge in Kenntnis gesetzt zu werden, war ohnehin schon mehr, als selbst mancher altgediente Meister erwarten konnte. Dass Farawyn sie bei der Untersuchung auch noch dabeihaben wollte, erfüllte sie mit Ehrfurcht.

»Selbstverständlich«, schränkte Semias ein, als er die zurückhaltende Reaktion der beiden jungen Männer bemerkte, »steht es euch frei, Farawyns Bitte nicht zu entsprechen. Ihr könnt auch in Shakara bleiben und weiter eurem Dienst …«

»Nein, nein«, beeilte sich Granock zu versichern.

»Wir sind dabei«, fügte Aldur in fast schon menschlicher Beflissenheit hinzu. »Wir haben uns nur gefragt …«

»… warum ich euch beide mitnehmen will und keinen Zaubermeister, keinen Angehörigen des Rates«, brachte Farawyn den Satz zu Ende.

Die beiden nickten.

»Das will ich euch sagen: Ich will euch bei mir haben, weil ihr auch damals dabei gewesen seid. Was in Arun geschehen ist, hat ein Band zwischen uns geschaffen, das stärker ist, als jeder Schwur und jeder Eid es jemals sein könnte. Für die meisten Zauberer in Shakara ist Margok nur ein Name aus der Vergangenheit und die Bedrohung höchst abstrakter Natur – ihr beide jedoch wisst, welchem Gegner wir gegenüberstehen. Denn genau wie ich habt ihr dem Bösen ins Auge gesehen und seinen Pestatem gerochen.«